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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[725]

No. 43.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Sicilische Rache.

Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans.
(Schluß.)


Der Abbate trat in den Hof. Er schaute sich nach den Tarantellatänzern um. Eine Maske schritt auf ihn zu. Dort an der Treppenthür hielt ein herrschaftlicher Wagen. Die beiden Männer traten in dessen Schatten.

„Höre!“ sagte Scaglione leise, „der Hauptmann ist in dem Fischerhäuschen, wo Ninas Verwandte wohnen …“

„Tod und Teufel! Felicita ist heute abend dort!“

„Vor Mitternacht kehrt er nicht zurück.“

„Vor Mitternacht muß Felicita bei ihrem Vater sein!“

„So handelt rasch! Wie lautet Deine Losung?“

„Tod!“

„So lautet auch der Gräfin Befehl!“

Er hatte das Wort noch nicht ausgesprochen, als eine mächtige breite Hand aus dem Wagen herausfuhr und ihn beim Kragen faßte, und wie ein Strauch auf der Heide von der Windsbraut, so wurde Scaglione von dem in wilder Wuth tobenden Marchese geschüttelt.

„Diesmal hab’ ich Dich ertappt, Du Schurke! Bis unter die Fenster Eurer Paläste bestellt Ihr Eure Mordgesellen, Ihr niederträchtiges neapolitanisches Gesindel! Ja, rufe nur um Hilfe, – Deine Worte habe ich gehört und für die Vergeltung werde ich schon sorgen. Und mit Stumpf und Stiel, mit Feuer und Schwert werden wir dies Ungeziefer ausrotten, das unser Land entehrt!“

Bei den letzten Worten schleuderte er den um Hilfe schreienden Abbate auf die Stufen der Treppe und sprang aus dem Wagen. Die Diener waren herbeigeeilt.

„Ein Betrunkener! Schafft ihn hinaus!“ schrie Scaglione.

Mit erhobenen Peitschen und Stöcken stürzten die Kutscher und die Diener auf den Marchese los. Dieser aber drehte sich mitten im Hofe gegen seine Angreifer um und, das mächtige Haupt gesenkt wie ein Stier, der sich zum Kampfe rüstet, schüttelte er die geballten dicken Fäuste gegen sie hin.

„Wage es einer! – Kennt Ihr mich nicht? Ich bin der Marchese della Rovere! Und wer von Euch mich heute noch nicht kennt, der wird morgen von mir hören.“

Ein Fenster im Palazzo war aufgerissen worden. Ein schweizer Offizier rief in das wilde Getümmel hinunter: „Wer ist’s? Was giebt’s?“

Es war Robert von Büren. Der Marchese drehte sich zu ihm hin und rief hinauf:

„Hört mich, Ihr Schweizer, und werft nicht auf unsere Schultern, was andere verbrochen haben. Dem Hauptmann von Hattwyl, Eurem Kameraden, hat dieser da, der Abbate Scaglione, Mörder nachgesendet. Und wollt Ihr wissen, wer den Abbate und die Mordgesellen gedungen hat – so fragt bei der Gräfin von Cellamare nach!“ Und er verschwand unter dem Thorweg in dem Gedränge des zusammengelaufenen Volkes.



Ein Armer bittet!
Nach einem Gemälde von A. Echtler.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

[726]
20.

Die Mitternachtsstunde nahte. Immer dichter wurde das Gedränge auf den Straßen.

Romeo saß in seinem engen Stübchen in ernstem Gespräch mit Salvatore zusammen, als Felicita und Nina hereintraten.

„Du kommst spät, Felicita,“ sagte der Vater. Ein Glück war’s, daß er das Antlitz seiner im Schatten stehenden Tochter nicht sehen konnte und die Gluthröthe nicht bemerkte, die sich über ihre Wangen ergoß.

„Wir gingen noch zur Kirche,“ erwiderte das Mädchen, „ich wollte noch beichten, bevor …“ ihre Stimme stockte.

„Bevor?“

„Ich habe eine Ahnung,“ sagte sie mit langsamer und seltsam fester Stimme, „daß ich sterben werde. An Deiner Seite will ich kämpfen, Vater – und kommt der Tod, so sei er mir willkommen. Heute abend habe ich mit dem Leben abgeschlossen.“

Salvatore zuckte verächtlich die Achseln.

„Dummes Mädchengeschwätz!“ murmelte er vor sich hin.

„Laß gut sein, Kind!“ sprach sanft begütigend Romeo zu ihr; „Du siehst schwarz seit jener Schreckensnacht. Zusammen werden wir die Freiheit unseres Volkes feiern!“

„Ich feiere keine Feste mehr!“ war Felicitas Antwort.

Es lag etwas Ungewohntes in ihrem Wesen. Betroffen schaute Romeo zu ihr hin.

„Lassen wir das!“ fuhr er, zu Salvatore gewendet, fort; – „ich sage Dir: heute nacht muß losgeschlagen werden! Ein Kriegsschiff ist von Neapel unterwegs, in wenigen Tagen wird es hier ankommen; ehe es aber den Hafen anläuft, muß die Stadt in unserer Gewalt und Sicilien befreit sein!“

Salvatore nickte lächelnd.

„Es steht alles bereit, Romeo. Heute nacht greift das Volk zu den Waffen.“

„Wie lassen wir’s unsere Leute wissen?“

„Sie warten nur auf ein verabredetes Zeichen.“

„Was ist das Zeichen?“

„Wenn der Strohmann, den die Masken vor Dein Haus führen und dem sie hier das übliche Miserere singen werden, die Uniform eines Schweizers trägt, – so läuten morgen bei Tagesgrauen die Glocken Sturm.“

„Ist’s besorgt?“

„Mein Sohn hat’s besorgt; – die Uniform ist gefunden.“

Lautes Schreien ertönte von der Straße herauf. Der Zug rückte heran. Die beiden traten auf den Balkon.

Vom Ende der Straße her bewegte sich, von der Volksmenge umgeben, eine lange Reihe von Lichtern und Fackeln. Sonderbare Leichengesänge vermischten sich mit dem Rufen und Lachen der Masken und der Zuschauer. Als der Zug sich dem Hause Romeos näherte, erkannte man die von einem breiten weißen Tuche noch verhüllte Bahre, auf welcher der todte Karneval lag. Sie ward von sechs vermummten Gestalten getragen, weißen Büßenden, deren Augen unheimlich aus den zwei runden in die spitzen Kapuzen geschnittenen Löchern hervorblitzten. Andere Kapuzenmänner mit brennenden Kerzen in der Hand umstanden singend den von Laken bedeckten Strohmann.

Der Zug machte vor Romeos Hause Halt. Die Bahre wurde langsam niedergesetzt.

„De profundis!“ sangen die Stimmen. Lautlos harrte jetzt die Menge.

Romeos Thür öffnete sich. Ein Vermummter trat herein. Er schaute sich um. Als er Felicita gewahr wurde, schien es, als zucke er zusammen. Dann verneigte er sich vor ihr und bot ihr die Hand.

„Ach, Vater!“ flehte das Mädchen, „eine andere als ich … nicht heute!“

„Geh’, Felicita!“ sprach aber Romeo; „unsere uralte Sitte erheischt, daß ein Mädchen dem todten Karneval das letzte Lebewohl zurufe. Daß meine Tochter heute vom Volke dazu erwählt wurde, ist gerade jetzt eine Ehre für uns, – eine Antwort für Deine Verleumder. – Thue es!“

Sie folgte dem Vermummten und trat auf die Straße.

„Weine, weine, schönes Mädchen!“ sang eine der Masken, indem Felicita zu dem Kopfende der Bahre geführt wurde; „weine um deine Lebenslust, die wir heute begraben. Die Lust ist todt! Die Liebe ist todt!“

Es rieselte kalt durch Felicitas Glieder. Sie mußte sich Gewalt anthun, um die ihr in dieser Faschingstragödie auferlegte Rolle zu spielen.

„Schlafe ruhig, armer Todter!“ sang sie, in das phantastische Klagelied einstimmend, – „all unsere Lust und Liebe nimmst du mit dir hinunter in das kühle Wellengrab!“

Im selben Augenblick wurde das Laken, das die Bahre bedeckte, emporgehoben; die Umstehenden drängten sich näher; – es war die Uniform der schweizer Garde!

Eine starke Faust umklammerte Felicitas Arm und riß das Mädchen zu dem Strohmann hin. – Der hier lag, war aber kein Strohmann! Das bleiche Antlitz eines Todten starrte sie an; – ein Messer in der Brust, lag, auf der Bahre hingestreckt, Eckart von Hattwyl!

„Liebe ihn jetzt!“ raunte ihr Antoninos Stimme ins Ohr.

Mit einem markerschütternden Aufschrei sank Felicita zusammen.

„Zu den Waffen! zu den Waffen!“ jubelte das Volk.


21.

Der Aufruhr war ausgebrochen. Die Stadt hatte sich mit Barrikaden bedeckt. In hellen Haufen strömten die Bewaffneten in die Straßen. Die Schweizer räumten das Innere der Stadt und zogen sich in die Citadelle zurück. Auf jeden, der sich den Mauern nahte, auf jedes Boot, das zu der Festung hinruderte, so lautete der Befehl des Gouverneurs, sollte mit Kartätschen geschossen werden.

An der Spitze der Aufständischen kämpfte Romeo, an seiner Seite Felicita. Eine seltsame Veränderung war mit dem Mädchen vorgegangen. Kein Wort entrang sich ihren zusammengepreßten Lippen. Eine düstere Gluth brannte in ihrem Auge. Eine weihevolle Hoheit lag in ihrem Wesen. Wie eine von dem nordischen Götterhimmel herabgestiegene Walküre bewegte sie sich unter den Kämpfenden.

Bevor sie ihr Haus verlassen hatte, war sie vor dem Vater in die Kniee gesunken.

„Vater!“ hatte sie zu ihm gesagt, aber mit so fester, tonloser Stimme, daß es den Vater schauderte, – „ich habe mich an Dir und an meinem Volke versündigt; – aber mit meinem Blute will ich die Sünde auswaschen; – lege Deine Hände auf das Haupt Deines Kindes und segne mich, zum letztenmal!“

„Kind!“ schluchzte Romeo, „das Meinige hatte ich gethan, um das Dir theure Leben zu schützen. – Wie es geschah, ich weiß es nicht! – Verzeihe mir!“

Aber mit abwehrender leidenschaftlicher Gebärde rief Felicita:

„Nein! Dem Kinde hat der Vater, nicht dem Vater das schuldige Kind zu verzeihen.“

Klanglos sprach sie die Worte vor sich hin. Fragend, bestürzt blickte der Vater zu ihr nieder, während er segnend die Hände auf ihren Scheitel legte.

War das Felicita, seine Tochter? Eine stille, hohe Würde, eine himmlische Entsagung umschwebte ihre Gestalt.

Sie erfaßte seine Hand und bedeckte sie mit inbrünstigen Küssen.

„Lebe wohl, Vater, geliebter Vater! Wenn ich sterbe, so gedenke meiner als Deines treuen, um Verzeihung flehenden Kindes! – Und sollte die Kugel, die ich suche, mich nicht treffen, – so lasse mich mein Leben im Kloster beschließen, – dort in jenem Kloster, wo das wunderthätige Bild hängt, – das in der Kirche der Badiazza war, – in der Kirche, – wo meine Schuld anfing …“

Sie konnte nicht weiter sprechen, – und von dieser Stunde an sprach sie keine Silbe mehr.

Während der Kampf in den Straßen tobte, sah man Romeos Tochter an den gefährlichsten Stellen.

„Sie sucht den Tod!“ flüsterten sich die Kämpfenden unter dem Kugelregen zu.

Der Tod mähte rechts und links; das Mädchen aber verschonte er.

Die Königlichen hatten Verstärkung erhalten. Eine Reitertruppe sprengte aus der Citadelle gegen die Barrikaden hervor. Die Munition ging den Aufständischen aus. Eine letzte mit Kartätschen geladene Kanone stand auf dem Steinwall; neben der Kanone, die brennende Lunte in der Hand, Felicita.

Die Reiter stürmten in das aufgelöste Volk, das nach allen Seiten hin auseinander stob.

Plötzlich funkelte Felicitas Auge auf; – den ersten der Fliehenden hatte sie erkannt.

[727] „Zu Hilfe! Verloren!“ schrie Antonino, die Barrikade erkletternd.

Da erschien vor ihm, eine Pistole in der Rechten, wie eine rächende Kriegsgöttin, das Mädchen.

„Feigling! Wer flieht, der sterbe!“

Und zu Tode getroffen, brach Antonino zu ihren Füßen zusammen.

Die Reiter sprengten näher. Siegesjubel ertönte aus ihren Reihen.

Da stürzte Felicita zu der Kanone, – der letzte Schuß konnte retten! – Sie legte die Lunte auf das Pulver; – ein dröhnender Schlag – und in wirrem Getümmel flohen die Feinde der Citadelle zu; – die Stadt war erobert![1]
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ein bewaffneter Volkshaufe hielt vor dem Palazzo Cellamare.

„Das ist meine Sache, Romeo!“ rief der alte Marchese seinem Freunde zu; „hier habe ich zu befehlen, – meinem elenden Rechtspraktikanten, dem Schufte, dem Marchesendieb, habe ich vorhin schon mit der flachen Klinge und in blutigen Striemen ein ewiges Gedenkblatt über den Rücken gezeichnet. – Hier habe ich eine andere Vergeltung auszuüben. Bringt die Gräfin und ihren Abbate herunter!“

Stolz, Verachtung im Blicke, trat die Gräfin zu ihm; mehr geschleppt als geführt, in den Knieen schlotternd und jammernd um Gnade flehend, folgte der Abbate.

„Habt Ihr Euren Rausch noch nicht ausgeschlafen?“ warf Teresina dem Marchese höhnend zu.

Der Hohn erstarb aber auf ihren Lippen, – dort, neben ihrem Vater, den Arm auf die pulvergeschwärzte Büchse gelehnt, stand Felicita! – Felicita, – Eckarts Geliebte! – die vormals Glückliche, – durch ihre Hand ihres Liebesglücks Beraubte! – Wie eine furchtbare vergeltende Nemesis stand das Mädchen da! – Es grauste der Gräfin vor diesem starren, wie gedankenlos auf sie stierenden Blicke! Was glühte in diesen Augen? War es Rache? War es Verachtung?

Rache? Verachtung? – Wie hätte Felicita an Rache oder an Verachtung gedacht? Was wußte die Aermste von der Gräfin Unthat? Wie konnte sie ahnen, daß vor ihr die Mörder ihres Geliebten standen? Ihr Herz wiederholte beim Anblick der Gräfin nur jubelnd Eckarts Schwur, – den Schwur, den er dort in der stillen Mondnacht auf der engen Steintreppe ihr zugerufen, – und ein kaltes Lächeln wie ein Wiederschein verlornen Glücks irrte um ihre Lippen. – „Nein!“ sang es in ihrer Seele, „Dich liebte er nicht! Mein aber, und auf ewig mein war sein Herz!“

Romeo hatte krampfhaft eine Pistole aus seinem Gürtel gerissen. Mit furchtbarem Ernste rief er den Gefangenen zu:

„Nun schlägt Eure Stunde! – Erinnerst Du Dich meiner Worte, Abbate? – Erinnert Ihr Euch meiner, Gräfin? – Verrichtet Euer Gebet! In die Kniee! In den Staub, Schlangengezücht!“

Aber rasch fiel ihm der Marchese in den Arm.

„Was beginnst Du, Romeo?“ rief er mit schallendem, höhnendem Lachen. „So leichten Kaufs sollten diese Elenden wegkommen? Bringet Stricke! Und holt mir aus dem gräflichen Stalle die längste Reitpeitsche her, daß ich mit eigener Hand dieses Mordgesindel auf ewige Zeiten brandmarke.“

Als säße schon der Hieb über ihren Schultern, so fuhr die Gräfin zusammen.

„Des Pöbels Rache!“ rief sie ihm zu.

Wie ein Traum aber erschien es ihr jetzt, – wie ein wunderbares, fast überirdisches Gesicht, – als Felicita zu den beiden Männern hintrat. Mit gebietender Gebärde, mit Hoheit und edler Würde legte sie ihre Hand auf den Arm des Marchese, und wie aus dem Munde einer Königin klangen die Worte, die sie langsam, und ohne die Gräfin eines Blickes zu würdigen, sprach:

„Mörder? … Rache? … Was haben diese beiden verbrochen?“

„Kein Wort davon zu ihr!“ flüsterte Romeo schnell dem Marchese ins Ohr; – „erspare ihr diesen letzten Schmerz!“

Der Marchese verstand; er wandte sich rasch zu Felicita:

„In diesem Hause, … von dieser beiden Hand … fiel, meuchelmörderisch getroffen, gestern ein edler Freund Siciliens! Der Mord muß gesühnt werden!“

„Nicht aber mit diesem Blut!“ erwiderte das Mädchen; – „edler und größer als diese da … sollen die Sieger denken! Mit dem Blute dieser Elenden darf unsere heilige, freie Erde nicht besudelt werden! Sie mögen das Land, das ihr Fuß entehrt, verlassen! Siciliens Verachtung sei ihre Strafe, – sei unsere Rache!“

Ihre Hand wies auf ein Boot, das am Strande angekettet lag. Ihr Blick traf Teresinas Auge.

„Fort!“ rief sie der leichenblaß nach Worten ringenden Gräfin zu.

Die verachtenden Worte Felicitas trafen die stolze Frau schwerer noch als es die Geißelhiebe vermocht hätten, die der Marchese ihr zugedacht hatte. So sollte sie, die Gräfin von Cellamare, den Hohn dieses Bürgermädchens ertragen? So sollte sie der Großmuth ihrer Nebenbuhlerin das Leben verdanken? So sollte die Tochter dieses Tischlermeisters edler gedacht und gehandelt haben als sie? – Den Gedanken vermochte sie nicht zu ertragen; – eine blinde Wuth erfaßte sie; ihre Glieder bebten; sie vergaß, wer sie war, wer sie sein wollte, mit wem sie sprach; als wäre niemals gräfliches Blut in ihren Adern geflossen, so sprang sie plötzlich mit vorgestreckten geballten Fäusten auf Felicita zu.

„Dirne!“ schrie sie; – „so rächst Du Deinen …“

Rasch und wuchtig verschloß ihr aber Romeos Hand den Mund.

„Hinunter ins Boot!“ rief er, die Wüthende mit sich reißend. „Ins Boot, Abbate! – Nun rudert los! – Eine Viertelstunde geb’ ich Euch, um Euch aus unserer Schußweite zu entfernen! Rudert, – oder bei der heiligen Madonna, wir schießen auf Euch wie auf einen Flug wilder Enten.“

Schon hatte sich der Abbate auf ein Ruder geworfen. „Rasch, Frau Gräfin!“ rief er der unbeweglich auf Felicita starrenden Frau zu, – „rasch! In der Citadelle ist Rettung!“

Ein höhnendes Gelächter erhob sich vom Strand, als die Gräfin plötzlich in das Boot sprang, ein Ruder ergriff und hurtig in die Wellen schlug. –

Auf den Zinnen der Citadelle, an eine Kanone gelehnt, saß der Major von Büren. Sein Auge folgte den Bewegungen der Menge, die sich auf der Marina umhertrieb. Plötzlich erhob er sich, griff zu seinem Fernglas und schaute unverwandten Blickes auf eine bewaffnete Gruppe, die sich vor dem Palazzo von Cellamare gebildet hatte.

„Verflucht!“ rief er halblaut vor sich hin; „Romeo stiehlt mir meine Rache!“

Dann schaute er wieder hin und wieder. Ein kaum unterdrückter Freudenschrei entrang sich seiner hochathmenden Brust; – ein Boot war vom Strande abgestoßen und ruderte auf die Citadelle los. Er drehte sich zu den an der Brüstung lehnenden Artilleristen um.

„Achtung! Ein Boot naht!“

„Herr Major!“ bemerkte ein alter neapolitanischer Unteroffizier, „eine Frau und ein Abbate sitzen drin, – es mögen wohl Freunde sein, die sich vor dem Aufstande retten.“

„Oder Spione!“ entgegnete ein Schweizer.

„Still!“ herrschte sie der Major an. „Ihr kennt des Gouverneurs Befehl: auf jedes Boot, das sich der Citadelle naht, ist mit Kartätschen zu schießen! – Achtung! – Feuer!“

Der Schuß krachte.

Als der Pulverdampf sich verzog, sah man einige zersplitterte Planken auf den bewegten Wellen schwimmen.

Der Major wischte sich den Schweiß ab, der auf seiner Stirn perlte. Dann wandte er sich langsam zu der Seite hin, wo, von den letzten Strahlen der Abendsonne beleuchtet, die Leichensteine des Militärkirchhofes sich weiß und blendend von dem tiefblauen Meeresspiegel abhoben, und, das Haupt entblößend, als spräche er mit einem unsichtbar seinem Geiste Vorschwebenden, murmelte er vor sich hin:

„Nun schlummere sanft, armer Freund! Und ruhig mag der ewige Schlaf Dich umfangen in der fremden Erde!“
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eine verschleierte Frauengestalt klopfte bei anbrechender Nacht an das Portal des Klosters della Scala, dort, wo der Torrente sich zum Thale der Badiazza wendet.

Vor der Oberin knieete Felicita nieder.

„Nimm mich auf unter Deine Schwestern. Da, wo das wunderthätige Bild der Badiazza hängt, will ich mein Leben beschließen. Das heilige Bild möge mir Vergessen und Vergebung meiner Sünden bringen!“




[728]

Karl I. von England im Atelier vam Dycks.
Nach einem Gemälde von E. Gelli.

[729] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[730]

Die deutschen Meistersinger.

Von Rudolf Rost.

Unter die Gedenktage, an denen das gegenwärtige Jahr so reich ist, gehört auch der 21. Oktober, an welchem vor 50 Jahren, also 1839 die Meistersingerschule zu Ulm a. D., nachdem sie bis auf vier Mitglieder zusammengeschmolzen war, ihre Sitzungen schloß und ihre noch vorhandenen Kleinodien dem dortigen Gesangverein „Liederkranz“ mit folgender Urkunde übergab:

„Wir unterzeichneten, einzig noch übrigen Mitglieder der von altersher in Ulm bestehenden Meistersingergesellschaft haben in der Voraussicht, daß mit uns die letzten Weisen des alten Meistergesanges verklingen werden, und in der Absicht, soweit es von uns abhängt, die Wahrzeichen einer ehrwürdigen, in den Tagen der Väter weithin und tief einwirkenden Anstalt den kommenden Geschlechtern zu erhalten, rücksichtlich des von den Vorfahren überkommenen Eigenthums folgenden Beschluß gefaßt: Es soll dieses Eigenthum, bestehend in der Schultafel mit den Originalgemälden unserer Fahne, sammt dieser Fahne und den dazu gehörigen alten Kleinodien, desgleichen der Lade, den Tabulaturen, Schul- und Liederbüchern und einigen anderen Gegenständen dem Liederkranze zu Ulm, als dem natürlichen Nachfolger und Stellvertreter des alten Meistersingerthums in der neuen Zeit, hiermit zu einem freien Geschenke gegeben sein, mit der Bitte, dasselbe wohl zu bewahren und die Fahne bei Festzügen und anderen Gelegenheiten, getragen von Einem von uns, so lange noch Einer von uns am Leben, neben der seinigen als die seinige zu führen – und mit dem Wunsche, daß, gleichwie der Meistersinger Tafel Jahrhunderte herab die frommen Väter zum Hören ihrer Weisen lud, so Jahrhunderte hinab das Banner des Liederkranzes wehen und seine Lieder späten Enkeln tönen mögen.

Ulm, den 21. Oktober 1839.

Das Gewerk der letzten deutschen, der Ulmschen Meistersinger.“ (Unterschrift des Büchsenmeisters, des Schlüsselmeisters, des Merkmeisters, des Kronmeisters.)

Mit vollem Recht bestimmten diese Männer einen Gesangverein zum „natürlichen Nachfolger des alten Meistersingerthums“, da von jeher in den Meistersingerschulen der Schwerpunkt in der Musik lag, denn nur der führte ja den Namen „Meister“, welcher einen neuen „Ton“, das heißt eine neue Melodie, erfunden hatte. Deshalb also sollten die deutschen Gesangvereine jenen Tag hoch halten!

Als einst der heitere Gesang in den Schlössern des Adels verstummte und die Luftgebilde abenteuerlicher Sagen bei dem verwilderten Adel keinen Glauben mehr fanden, da waren es die Städte, welche der bildenden und dichterischen Kunst freundliche Heimath und gedeihliche Pflege bereiteten. In den Raubburgen konnte die Muse nicht mehr weilen; sie flüchtete aus dem Waffengeklirre der rohen Söhne des Krieges in die sichern Ringmauern der friedlichen Städtebewohner. Die ehrsamen, kunstgeübten Bürger und Handwerker, besonders in den hochbegünstigten Reichsstädten Süddeutschlands, fanden großes Vergnügen daran, an Winterabenden, wenn die Arbeit ruhte, die Lieder und poetischen Erzählungen der Minnesänger zu wiederholen, zu lesen; bald fielen wohl auch die begabtesten unter ihnen darauf, diese Minnelieder nachzuahmen und neben dem Schustern, Zinngießen oder Weben auch fleißig Verse zu machen. Kaum hatten mehrere dieser Dichter einander gefunden, so konnte es nicht fehlen, daß sie gewohnheitsmäßig nach dem damaligen Zunftgeiste an eine ordentliche Gilde, wie die Handwerker, zusammentraten. Die alten ritterlichen Minnesänger waren ihre Muster. Jedoch dienten ihnen diese Dichter weniger dem Inhalt als der Form nach zu Vorbildern; von der wahren Poesie hatten diese ehrlichen Handwerker ohnehin keine Ahnung. Der Name „Meister“, anfangs wohl nur im allgemeinen Sinne oder von dem Verhältniß des Schülers zum Lehrer aus einzelnen Dichtern beigelegt, ward mit der Zeit ein charakteristisches Kennzeichen der kunstreichen, in Schulen vereinigten Dichter im Gegensatze zu den Volkssängern. Nur hüte man sich vor der Annahme, als ob dieser Titel nur Dichtern bürgerlichen Standes zukomme oder nur von Handwerkern aufgebracht worden sei. Wenn das letztere der Fall wäre, so würde sicher ein anderes Wort gewählt worden sein, da doch ein jeder ihrer Mitbürger ein Meister, wenn schon nicht im Gesang, war, woraus sich wohl erklärt, daß sie selten das Wort Meister allein gebrauchen, sondern das Wort „Singer“ hinzuzusetzen pflegen.

So entstanden in den Städten die deutschen Meistersinger, Dichter, welche vielleicht schon vom Ende des 13., am rührigsten und vollständigsten ausgebildet aber im 15. Jahrhundert in sogenannten Singeschulen eine Art von handwerksmäßiger Poesie trieben, sich des Versemachens und Singens wegen regelmäßig versammelten, nach festgestellter zünftiger Einrichtung darin zu vervollkommnen suchten und nach strengen Gesetzen Lieder, meist sittlich-religiösen oder auch allegorischen Inhaltes, verfertigten. Nach einer alten, von den Meistersingern hochgehaltenen Sage, die aber offenkundige Verstöße gegen die Zeitrechnung enthält, sollen 12 Meister, darunter die berühmtesten Dichter aus dem 13. Jahrhundert und z. B. auch diejenigen, welche am Sängerkrieg auf der Wartburg betheiligt gewesen sein sollen, zur Zeit Kaiser Ottos I. im Jahre 962 den Meistergesang erfunden haben, alle zu gleicher Zeit, ohne daß einer von den andern gewußt hätte. Der liederreiche Meister Adam Puschmanm giebt in seinem „Gründlichen Bericht des deutschen Meistergesanges 1571“ ihre Namen folgendermaßen an: Herr Walther, ein Landherr von der Vogelweide, der Ritter Wolfgang Röhn, der edle Ludwig Marner, Heinrich Frauenlob, Heinrich Mügelin, Klingsohr, der starke Poppo und noch fünf ehrbare Bürger: Barthel Regenbogen, ein Schmied, Sigmar der Weise, sonst der Römer von Zwickau genannt, Kanzler, ein Fischer, Konrad Geiger oder Jäger aus Würzburg, ein Musikant, und der alte Stoll, ein Seiler. Da sie aber des Papstes und des Klerus übles Leben in ihren Gedichten gegeißelt haben, seien sie bei dem Papste Leo VIII. der Ketzerei beschuldigt worden; der Kaiser habe sie später nach Pavia berufen, wo sie in Gegenwart des Kaisers, des päpstlichen Legaten, vieler Edeln und Gelehrten herrliche Proben ihrer Kunst abgelegt und sich vom Vorwurf der Ketzerei gereinigt haben, worauf sie vom Kaiser als Verein bestätigt und mit verschiedenen Freiheiten begnadet worden seien.

Freunde des Gesanges vereinigten sich schon früh zur gemeinschaftlichen Ausführung desselben. So soll Frauenlob in Mainz einen Verein von Dichtern und Freunden der Dichtkunst gestiftet haben, dem er festere Formen gab, wenn auch nicht in der Weise, wie wir sie bei den späteren Meistersingern finden. Doch mag jener Verein den ersten Anstoß zu den Meistersingerschulen der Folgezeit gegeben haben, eine Annahme, die darin ihre Bestätigung zu finden scheint, daß die Meistersinger jenen Frauenlob als ihren ersten Meister anerkennen und daß jene alte Sage hinzufügt, Kaiser Otto habe die den Meistersingern bei der Versammlung in Pavia ertheilten Freiheiten auf einem Reichstag zu Mainz bestätigt, vermehrt und die Zunft mit einer goldenen Krone beschenkt, die in der Mainzer Sängerschule aufbewahrt wurde. Die älteste Urkunde, welche die Meistersinger betrifft, ist vom Jahre 1377; es ist ein Freibrief Kaiser Karls IV., worin er den Meisterschulen Wappenrecht bewilligt und bestätigt. Dieses Wappen ist ein geviertes Schild, in dessen erstem und viertem (goldenen) Felde der schwarze Reichsadler, im zweiten und dritten (rothen) Felde der silberne, mit Gold gekrönte böhmische Löwe ist. Ueber dem ganzen steht ein blaues Schildlein mit einer goldenen königlichen Krone. Auf dem Schilde ist ein offener gekrönter Helm, aus welchem ein böhmischer Löwe hervorgeht, und hinter ihm sieht man einen doppelten, übereinander gelegten schwarzen Flügel mit goldenem Herzen.

Seit dieser Zeit entstehen Meistersingerschulen in den meisten großen Städten Deutschlands. Außer in Mainz, wo die schriftlichen Urkunden der Gerechtsame dieser Sanges- und Dichterzunft, ihr kaiserlicher Wappenbrief und allerlei darauf bezügliche Reliquien aufbewahrt wurden, entstanden die berühmtesten Sängerschulen des 14. Jahrhunderts in Straßburg, Frankfurt, Würzburg, Prag und Zwickau, ferner in Kolmar, wo die Schuster im vorzüglichen Besitz der Dichterehre waren; im 15. Jahrhundert zu Nürnberg und Augsburg, wo die bedeutsamen dichterischen Erinnerungen sich am treuesten bewahrten; im 16. Jahrhundert zu Ulm, wo namentlich die Weber, wie schon gesagt, bis in dieses Jahrhundert hinein das klang- und sangreiche Zunftspiel fortgesetzt haben, zu Regensbrg, München, in der Steiermark und in Mähren, zu Breslau [731] und Görlitz; im 17. Jahrhundert zu Memmingen, Basel und Dinkelsbühl. Diese Städte können als wirkliche Sing- oder Dichterakademien der damaligen Zeit gelten. Auffallend ist es dabei, daß die eigentlichen Hauptstädte der Hansa, welche die nördlichen Meere beherrschten, keine Spur von Meistersingerschulen zeigen, sondern daß solche nur in den blühenden Reichsstädten des südlichen und westlichen Deutschlands vorkommen.

Die Kunstleistungen dieser dichtenden Handwerker, namentlich in der späteren Zeit, da ihnen fast allen der Genius mangelte, konnten nur unbedeutende sein; diese poetischen Erzeugnisse waren gedankenarme, langweilig breite Spielereien mit Wörtern und Reimen, ein ängstliches, mechanisches, handwerksmäßiges Singen nach der „Tabulatur“, das heißt den Vorschriften und Gesetzen, nach welchen ein Meistergesang abgefaßt und vorgetragen werden mußte. Da scholl kein freier, frischer, seelenerhebender Ton, kein tiefes, sehnsüchtiges Lied der Liebe und Lust; es sprach kein Gott aus diesen Sängerherzen! Von den eigentlichen schulgerechten Meistergesängen sind die meisten wohl noch ungedruckt. Obgleich man vor dieser geistlosen Dichtung mit Recht erschrickt, so wird ihre Untersuchung vielleicht doch noch einige ganz unerwartete Früchte bringen. Die königliche Bibliothek in Berlin besitzt unter ihren Handschriften 4 mit Meistergesängen angefüllte Bände, die wahrscheinlich der Singschule in Nürnberg zugehörten; in zweien sind auch Musiknoten aufgezeichnet. In der königlichen Bibliothek zu Dresden liegen 22 Bände Meistergesänge aus dem 16. und 17. Jahrhundert, der dreizehnte enthält auch deren aus dem 15. Jahrhundert.

Die Dichter waren ruhige, um täglichen Lohn und Brotverdienst arbeitende, schlichte Handwerker, welche den lange vorher eingeladenen Zuhörern das mühsam aufgeführte Gebäude ihrer Kunstfertigkeit zeigen und dafür klingenden Preis, nach der Taxe bestimmte Zahlung erringen wollten; Männer, die ihr poetisches Meisterstück mühsam durchdacht, niedergeschrieben, sattsam gefeilt, auswendig gelernt hatten, wie ein ängstlich nach Regel und Gesetz zusammengefügtes Mosaikgebilde schriftlich und mündlich zur Prüfung ausstellten, damit alle es kennen lernen und die Kunstrichter es kritisieren möchten.

Dennoch aber war der Einfluß der Meistersingerschulen für das städtische Leben, die Gesinnung und sittliche Bildung des deutschen Volkes segenbringend, nicht minder für Kunst, Sprache und die geistige Hebung der Zeit überhaupt wohlthätig; sie verdienen daher unsere volle Anerkennung. Zunächst würden wir unrecht thun, die Meistersinger nur vom poetischen Standpunkt zu betrachten; denn wie schon die genauere Charakteristik und Würdigung des Minneliedes eigentlich Sache und Aufgabe des Tonkünstlers sein müßte, wofern uns nur die Musik dazu erhalten wäre, ebenso kann der Meistergesang seine vollständige künstlerische Werthschätzung auch nur in der Geschichte der Musik finden. Diese Sänger ließen sich eben nur singend hören; ihre höchste Aufgabe, ihr Meisterstück, war die Erfindung eines neuen „Tones“, einer neuen Melodie; der Text galt ihnen weniger; war es doch erlaubt, dieselben Texte immer wieder zu nehmen, nur die Melodie mußte eine andere sein.

Aber selbst auch als Dichter begrüßen wir sie als eine freundliche Erscheinung im deutschen Kunstleben. Wo ist ein Volk, welches mit solchem feierlichen Ernste, solcher aufopfernden Hingebung eine ähnliche Kunstanstalt gegründet und Jahrhunderte lang so beharrlich aufrecht erhalten hätte? In dem 14. und 15. Jahrhundert gährte es gewaltig in den unteren Ständen des Volkes, die Sucht nach Genuß und Erwerb hatte alle mächtig ergriffen, Mißgunst, Anfeindung, Verfolgung unter den einzelnen Ständen und unter den verschiedenen Handwerken zerriß die bürgerliche Gesellschaft. Mit richtigem Blick betrachteten die Meistersinger die Dichtkunst als die Würze des Lebens, sahen in ihr die Trösterin, die Spenderin der Freude und Lust in dem beklagenswerthen Wirrwarr der düstern Zeit, etwas wie eine Aufmunterung bei ihrer schweren, drückenden Handarbeit. Die Meister setzten ihre Kraft daran, sich selbst geistig aufrecht zu erhalten und ihre Mitbürger für das Höhere zu begeistern. So wie ihre fleißige Hand das materielle Wohl ihrer Handwerkskunden beförderte und behagliche Wohlhabenheit in ihrem eigenen Stande schuf, so bewirkte ihr Dichten, daß weder die Insassen des Hauses, Weib und Kind, Gesell und Lehrbursch, noch die ganze Zunft gedankenlosem Stumpfsinn erlag; sie retteten durch ihre Sangeskunst, ihren musikalischen Wetteifer, ihre dichterischen Kämpfe, ihr öffentliches, feierliches Auftreten, durch die Verbreitung ihrer Lieder das Edlere und Schönere, das bessere Ich der Mitbürger; sie lehrten durch ihr Beispiel die geistige Kraft des Menschen achten, im glänzenden Gegensatze zu den verwilderten Edelleuten, die im Trotze auf ihre Faust mit Speer und Waffe auf ihren Burgen lauerten; zu den schwelgenden Patriziern, die nur auf Gewinn und Erwerb oder auf Erweiterung ihrer Macht sannen.

Die Meistersinger waren recht eigentlich die Volksredner ihrer Zeit, auf deren Worte mehr gehört, deren Weise herzlicher aufgenommen, deren Ermahnungen inniger beherzigt wurden als die gelehrten, unverständlichen und unfruchtbaren Disputationen der Universitätslehrer, und da der Stoff ihrer Gedichte meist der Bibel entlehnt war, so erwärmten sie mehr als die stolze, prunkende Geistlichkeit, sie läuterten die Ansichten und lenkten die Aufmerksamkeit auf die höchsten Angelegenheiten des Menschen.

Welch heilsamer Einfluß ergab sich daraus auch auf äußere Zucht und Ordnung! War es doch allgemein bekannt, daß jedes Meistersingers Haus sich auszeichnete durch Reinlichkeit und Ordnung. Im Kreise der arbeitenden Gesellen und Lehrbuben sollen die Meister gesessen haben, streng haltend auf gute Arbeit, aber auch richtend über Ehrbarkeit und gute Sitte, aufmunternd zu jeglicher Tugend durch Sang und Lied.

Die Meistersinger spielen demnach in der Kulturgeschichte Deutschlands eine wichtige Rolle; sie bezeichnen den großen Abschnitt in dem germanischen Leben, wo der Bürgerstand für Bildung und geistige Erhebung interessiert und gewonnen wurde. In dieser Periode, in welcher die Herberge, die Werkstätte der Schuster, Weber, Zinngießer und Schmiede Theilnahme an Sprachbildung und an Dichtung zeigte, bildete sich deswegen auch die Grundfeste aller nachherigen religiösen, staatlichen, sprachlichen und wissenschaftlichen Umwälzungen. Der deutsche Mittelstand erwuchs seit dieser Zeit zum Träger der deutschen Wissenschaftlichkeit, jener höheren Bildung, die am Ausgang des Mittelalters vom Adelstande aufgegeben wurde. Man möchte die Meistersinger aus diesem Grunde nicht das Echo des sterbenden Mittelalters, sondern den ersten freudigen Ton der anbrechenden neuen Zeit nennen. Durch sie übernahm das weitere Volk beim Verfalle des Herrenstandes auch die Pflege des dichterischen Blüthenbaumes, und eine völlig neue Gestaltung des deutschen Kunstlebens wurde angebahnt. Während die unvolksthümliche Geistlichkeit und die gelehrten akademischen Laien mit Hohn und Mißachtung auf die Muttersprache und auf diese niederen Sänger sahen, während sie in lateinischer Sprache stritten, schrieben und beteten, waren diese schlichten, einfachen Handwerker die einzigen, denen von dem still, doch mächtig waltenden Genius des Volkes die Bildung und Veredelung der Muttersprache anvertraut wurde. Während in der unruhigen, zerrissenen Zeit wieder die vielfachsten Mundarten der deutschen Sprache bunt unter einander geworfen wurden, durch Vermischung der feindlichsten Sprachelemente eine chaotische Sprachverwirrung entstand und die Sprache unharmonischer, härter, roher, unreiner denn je wurde, strebten die Meistersinger in ihrer Tabulatur nach einem reinen Geschmack, einer reineren Sprache. Die Strenge ihrer Regeln beförderte diese Reinheit, verschaffte dem Silbenmaße eine festere, bestimmtere Haltung, und indem sie überhaupt alles, was sie dichteten, auch absangen, Musik und Dichtung, Lyra und Lippe ihnen Eins war, so mußten sie zugleich den Wohlklang der Sprache befördern und dieselbe zu schriftstellerischer Veredelung geeigneter machen. Dadurch legten sie mit den Grund zu unserer neuhochdeutschen, jetzigen Schriftsprache, sie pflanzten die kräftigsten Keime unserer Poesie und Prosa und bereiteten die Empfänglichkeit für die Reformation und die Geistesfreiheit im deutschen Volke vor.

Bei der großen Verbreitung des Meistergesanges und der eigenthümlichen Entwickelung desselben muß die Zahl derjenigen, welche sich mit der „holdseligen Kunst“ beschäftigt haben, sehr groß gewesen sein; der von den Meistersingern herrührenden Gedichte giebt es eine zahllose Menge, doch ist, wie schon erwähnt, bisher nur ein kleiner Theil derselben durch den Druck veröffentlicht worden. Die wenigen Meistersinger, von denen wir, mehr wegen ihrer übrigen Dichtungen als wegen ihrer Meistergesänge, Kenntniß haben, sind Heinrich von Müglin (oder von Mügeln im Meißnischen), Suchensinn, Muscatblüt, der Teichner, Michael Beheim, Hans Rosenblüt und Hans Folz, alle aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Außer [732] Hans Sachs sind aus dem 16. Jahrhundert höchstens Adam Puschmann, Georg Hager und Ambrosius Metzger zu nennen. Der letzte, einer der wenigen Gelehrten unter den Meistersingern, Lehrer an der Schule zu St. Egidien in Nürnberg, hat außer einer gedruckten Psalmenübersetzung und einer Uebersetzung von Ovids Metamorphosen viele Meistergesänge gedichtet. Er lebte von 1573 bis 1632. Von Georg Hager, einem Schuhmacher in Nürnberg, dessen Vater bei Hans Sachs zugleich das Schuhmacherhandwerk und die Dichtkunst erlernt hatte, ist eine handschriftliche Sammlung von Meisterliedern erhalten, welche in der königlichen Bibliothek zu Dresden aufbewahrt wird und in welcher sich mehrere recht artige, weit über die geistlosen Reimereien der übrigen Meistersinger sich erhebende Lieder befinden. Adam Puschmann endlich, Schuhmacher aus Görlitz (1532 bis 1600), erlernte die „Singekunst und deutsche Poeterei“ zu Nürnberg „bei dem sinnreichen Herrn Hans Sachs“, dessen Leben und dichterisches Wirken er in drei Liedern besang, die sich freilich in meistersingerlicher Breite und Unbeholfenheit bewegen, aber doch ein rührendes Zeichen von der kindlichen Liebe und Dankbarkeit sind, die er zu seinem ehrwürdigen Meister im Herzen trug.

Vor allem aber glänzt als vorzüglichster Dichter des 16. Jahrhunderts Hans Sachs; mit ihm schließt eigentlich die Reihe der altdeutschen Volksdichter ab. Er steht im Mittelpunkte zwischen alter und neuer Zeit; er weist in seinen Werken auf Aelteres, das die Vergangenheit erschaffen hat, auf Neueres, was die Gegenwart damals Dichterisches erschaffen konnte, und auf Zukünftiges, was die Zeit einst noch erschaffen sollte. Hans Sachs, Vorsteher einer Meistersingergesellschaft von 250 Mitgliedern, dichtete für diese Schule allein über 4200 Lieder in Meistertönen (16 derselben waren von seiner eigenen Erfindung) und war in Vers und Reim ein Muster der Tabulatur.

Wie bekannt, ist über Hans Sachs verschieden geurtheilt worden, bald lieblos, bald günstig! Der Altmeister Goethe schrieb unter einen alten Holzschnitt, welcher Hans Sachs’ poetische Sendung vorstellte, als Erklärung folgende Verse:

„Wie er so heimlich glücklich lebt,
Da droben in den Wolken schwebt,
Ein Eichkranz, ewig jung belaubt,
Den setzt die Nachwelt ihm aufs Haupt,
In Froschpfuhl all das Volk verbannt,
Das seinen Meister je verkannt.“




Edison und sein Phonograph.

Es ist eine eigenartige Erscheinung in der Geschichte des technischen Fortschritts, daß die große Menge die Verdienste mancher Männer, man möchte sagen, geflissentlich übersieht, andern Männern dagegen alle möglichen Erfindungen zuschreibt, an denen sie so unschuldig sind wie neugeborene Kinder. Unter hundert Menschen ist, selbst in Deutschland, vielleicht kaum einer, der da weiß, daß Philipp Reis der eigentliche Erfinder des Fernsprechers (vgl. „Gartenlaube“ 1886, S. 254) und der Anatom und Physiolog Samuel Thomas von Soemmerring, † 1830 in Frankfurt a. M. (vergl. „Gartenlaube“ 1864, S. 318), der geistige Vater des elektrischen Telegraphen ist. Der Schreibtelegraph wird zumeist dem Amerikaner Morse zugeschrieben, während der Deutsche Steinheil ihn erfand (vergl. „Gartenlaube“ 1887, S. 605). Den Fernsprecher schreibt man aber Edison auf Rechnung, wobei abgesehen von Philipp Reis noch einem Landsmann des „Erfinders von Menlo-Park“, Graham Bell, insofern bitter Unrecht geschieht, als dieser dem Fernsprecher in der Hauptsache die jetzige praktische Gestalt gegeben hat.

Woher jene Erscheinung, jene bittere Ungerechtigkeit der Menge gegen eine Anzahl hochverdienter Männer? Vielleicht kommt sie daher, daß diese Männer ihre Verdienste nicht ins rechte Licht zu setzen verstanden? Vielleicht ist auch jene Ungerechtigkeit auf eine gewisse Trägheit zurückzuführen? Ist es doch weit bequemer und leichter, sich einen Namen zu merken, als eine ganze Reihe.

So ist es gekommen, daß das Publikum ohne weiteres Edison alles aufzupacken pflegt, was auf dem weiten Gebiete der Elektrotechnik geschieht, etwa wie die Engländer dem in Großbritannien naturalisirten Wilhelm Siemens die weltbewegenden Erfindungen seiner Brüder Werner und Friedrich zuschreiben. In Wahrheit hat Edison an dem Fernsprecher einen nur sehr geringen Antheil – er erfand nur den ersten Kohlen-Heber, welcher aber durch das Mikrophon längst verdrängt ist, sowie ein wenig verbreitetes lautsprechendes Telephon. Viel weniger bestreitbar sind dagegen Edisons Verdienste um das elektrische Glühlicht. Allerdings veröffentlichte der Franzose Sidot bereits 1870 in den Denkschriften der Pariser „Akademie der Wissenschaften“ eine Beschreibung der Glühlampe; allerdings haben Swan und andere zur Vervollkommnung dieser weltbewegenden Erfindung wesentlich beigetragen und wurde der Antheil des eben Genannten an der Sache von den englischen Gerichten ausdrücklich anerkannt. Doch vermag dies alles die Thatsache nicht zu verdunkeln, daß Edison der Glühlampe zuerst die praktische Gestaltung gab und ihr damit zum Siege verhalf (vergl. „Gartenlaube“ 1880, S. 81). Wer es gesehen, welche unendliche Sorgfalt namentlich die Bereitung der lichttragenden Kohlenfäden in den Glühlampen und das Luftleererhalten der niedlichen Glasbirnen erheischt, und wer da weiß, daß diese Errungenschaften im wesentlichen auf Edison zurückzuführen sind, wird dem genialen Amerikaner schon daraufhin einen der ersten Plätze in der Ruhmeshalle der Erfinder anweisen und ihn zu den größten Wohlthätern der Menschheit zählen.

Merkwürdigerweise scheint Edison auf die Ausgestaltung des Glühlichts, welchem er doch hauptsächlich seinen Ruhm und auch seine Millionen verdankt, weniger zu geben, als auf ein etwas ungerathenes Kind seines erfinderischen Genies, welches in letzter Zeit, besonders aus Anlaß der ersten europäischen Reise des „Erfinders von Menlo-Park“ in aller Munde war. Wir meinen den Phonographen oder „Stimmschreiber“, jenen vielbewunderten und allerdings an sich in hohem Grade bewunderungswürdigen Apparat, welcher die Stimme des Menschen, wie überhaupt jedes Geräusch verzeichnet und hierauf, so oft man es begehrt, „phonographisch getreu“ wiedergiebt.

Mit dem Phonographen trat Edison zuerst 1877 auf (vergl. „Gartenlaube“ 1878, S. 169 und S. 464). Der erste Apparat war jedoch so mangelhaft, daß das Ansehen des Erfinders bei den Fachleuten und einem Theil des Publikums dadurch einen bedenklichen Stoß erhielt. Durch diesen Mißerfolg ließ sich aber der Vater des Glühlichts keineswegs entmuthigen. Er hat vielmehr seitdem unablässig an der Vervollkommnung seines Stimmschreibers gearbeitet, und das Ergebniß des heißen Kampfes liegt nunmehr in einem wissenschaftlich nahezu vollkommenen, praktisch allerdings noch an manchen Mängeln leidenden Apparate vor, welchen wir unseren Lesern heute im Bilde vorführen.

Dem Grundsatze getreu, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, müssen wir hier eine Einschaltung machen und der Wahrheit gemäß berichten, daß Edison keineswegs als der alleinige Urheber des jetzigen Phonographen anzusehen ist. Kurz bevor er mit dem verbesserten Apparat auftrat, wurde bekannt, daß ein Deutsch-Amerikaner, Emil Berliner, andererseits aber ein Vollblut-Yankee Namens Tainter „Stimmschreiber“ erfunden hatten, welche sie mit den griechischen Namen „Grammophon“ bezw. „Graphophon“ belegten. Mit dem Apparat von Berliner, dessen Urheber hauptsächlich die galvanoplastische Vervielfältigung der Phonogramme, die sogenannte Phonogravüre, im Auge gehabt zu haben scheint, haben wir uns hier nicht zu befassen, wohl aber mit dem Graphophon, auf welches Tainter bereits 1886 ein Patent erhielt. Den Forschungen Tainters haben wir es nämlich zum guten Theil zu verdanken, daß der Phonograph leistungsfähig geworden ist. Zur Aufspeicherung der Laute bediente sich Edison ursprünglich einer Zinnfolie, Tainter überzog dagegen seine Walzen mit einer Schicht durch einen Zusatz von Paraffin gehärteten Bienenwachses. Die Zinnfolie erwies sich aber als unbrauchbar, und Edison war genöthigt, seinem Mitbewerber Tainter das Recht zur Benutzung des Wachsüberzugs abzukaufen. Andererseits aber war es Tainter nicht gelungen, mit seinem Graphophon Töne naturgetreu wiederzugeben, und es war Edison vorbehalten, diese letztere, sehr bedeutende Schwierigkeit zu überwinden. So ergänzen beide Forscher einander.

Das Princip des Apparates ist nun folgendes: Unter der Einwirkung des Schalles, also z. B. der menschlichen Stimme, [733] welche durch das rechts in der Abbildung dargestellte Sprachrohr zu dem Apparat geleitet wird, schwingt ein äußerst dünnes Häutchen, dessen Schwingungen auf einen Stift übertragen werden. Dieser gräbt in die Wachsschicht der sich vermittelst eines kleinen Elektromotors mit gleichmäßiger Geschwindigkeit drehenden Walze (in der Abbildung der weiße Cylinder; vorräthige derartige Cylinder stehen links unten) eine Furche, deren Tiefe der Stärke der Schwingungen entspricht. Soll umgekehrt der Phonograph die aufgespeicherten Schallwellen wieder von sich geben, so zieht sich der Stift durch die Furchen und überträgt seine auf- und abgehenden Bewegungen auf das Häutchen, welches dadurch in Schwingungen versetzt wird, die den ursprünglichen genau entsprechen. Legt man nun eines von den in der Abbildung sichtbaren dünnen Höhrrohren ans Ohr, so vernimmt man eine vollständig getreue Wiederholung der Töne, welche der Stift in den Wachscylinder eingekritzelt hat.

Die übrigen Vorrichtungen, welche auf unserer Abbildung sichtbar sind, haben den Zweck, die regelmäßige Drehung und die Seitwärtsbewegung der Walze zu sichern.

Thomas Alwa Edison.

Etwas Sinnreicheres läßt sich kaum denken, und wer eine phonographische Vorstellung veranstaltet, ist eines völligen Erfolges sicher. Ganz anders verhält sich aber die Sache, sobald man den Phonographen auf seine praktische Brauchbarkeit hin prüft. Offen gestanden, wir glauben an diese Brauchbarkeit kaum, es sei denn, daß das Edisonsche Schoßkind nach drei Seiten hin bedeutende Verbesserungen erfährt.

Ein Hinderniß gegen die Einbürgerung des Apparates liegt in seinem hohen Preise. Er kostet nämlich über 500 Mark. Wünschen also zwei entfernt lebende Personen den Briefwechsel durch Phonogramme zu ersetzen, indem sie ihre Mittheilungen in einen Phonographen hineinsprechen und die „beschriebene“ Walze dem andern übersenden, so hat die Erfüllung dieses Wunsches eine Ausgabe von mindestens 1000 Mark zur Voraussetzung. Wie viele können sich jedoch eine solche Ausgabe leisten? Was aber die kaufmännischen Geschäfte anbelangt, auf welche doch in erster Linie zu rechnen wäre, so ist ihnen mit der getreuen Wiedergabe der Stimme der mit der Korrespondenz betrauten Gehilfen wenig gedient. Viel lieber ist dem Principal sicherlich ein von seinem Geschäftsfreund unterschriebener altmodischer Brief.

Ferner bietet die Walze nur Raum für etwa 200 Worte, das heißt so viel, wir müssen auf die phonographische Wiedergabe längerer Reden, Musikstücke etc. verzichten. Allerdings kann man stets neue Walzen einsetzen, doch entsteht dadurch eine Lücke, es sei denn, daß der Redner oder der Sänger so gefällig ist, gerade dann einen Augenblick innezuhalten.

Der Phonograph.

Endlich, und das ist wohl der Hauptübelstand, verzeichnet der Phonograph nur ziemlich starke Geräusche, obenein durch Vermittelung eines Schalltrichters, und seine Stimme ist nur vernehmbar, wenn man das mit dem Häutchen verbundene Hörrohr ans Ohr hält.

Doch werden diese Uebelstände sicherlich in absehbarer Zeit beseitigt. Ist namentlich der letztgenannte behoben, so dürfte dem Phonographen eine sehr wichtige Rolle als Ergänzung des Fernsprechers zufallen. Er könnte, mit diesem in Verbindung gesetzt, die telephonischen Gespräche fixiren und damit einen Hauptfehler des Fernsprechers beseitigen, den nämlich, daß die Unterredungen keine Spur hinterlassen, es sei denn, daß man sie stenographirt. Ist der Phonograph erst empfindlicher, so wäre auch der Fall denkbar, daß z. B. ein Schriftsteller seine Gedanken dem Phonographen diktirt, das Phonogramm in die Druckerei wandert und dort seinen Inhalt dem Setzer zuflüstert. Die Sache erscheint insofern schon durchführbar, als der Empfänger der honographischen Botschaft es in der Hand hat, den Lauf des Apparates zu hemmen, in dem „Ableiern“ Pausen eintreten zu lassen. – Es erübrigt noch ein Blick auf die sonstigen Erfindungen Edisons sowie auf das Leben des hervorragenden Mannes.

Vor einigen Jahren trat Edison mit einem laut sprechenden Telephon sowie mit einem sogenannten Zugtelegraphen auf, das heißt einem Apparate, welcher die Verbindung eines fahrenden Zuges mit der nächsten Station und umgekehrt gestattet. Beide Erfindungen haben sich jedoch bisher unseres Wissens nicht [734] einbürgern können. Wird der von der Abschußstelle aus zu lenkende Torpedo ein besseres Schicksal haben, den Edison im Verein mit Sims erfunden hat? Darüber fehlt es an zuverlässigen Nachrichten. Bisher sind solche lenkbare Torpedos nur in England zur Einführung gelangt.

Edison hat sich auch mit dem größten Problem der Jetztzeit, der unmittelbaren Erzeugung der Elektricität aus der Verbrennungswärme der Kohle, eingehend beschäftigt. Er trat vor einigen Jahren mit einem Ofen auf, welcher dieses Problem allerdings zum Theil löst; jedoch fehlt noch viel daran, daß der Apparat ökonomisch arbeitet und damit gewerblich verwerthbar wird. Seitdem ruht die Sache anscheinend ganz. Vielleicht nimmt Edison sie, nachdem der Phonograph zustande gekommen ist, wieder auf und liefert etwas Brauchbares. Er ist noch jung und bereitet uns sicherlich noch manche Ueberraschungen, falls ihn das angestrengte Arbeiten nicht vorzeitig aufreibt.

Thomas Alwa Edison wurde 1847 im Staate Ohio geboren und erhielt von seiner Mutter nur den nothdürftigsten Unterricht. Frühzeitig mußte er sich seinen Lebensunterhalt selbst erwerben. Seine riesige Arbeitskraft und erstaunliche Bedürfnißlosigkeit sind eine Errungenschaft dieser harten Lebenstage. Er trat als Zeitungsjunge bei einer Eisenbahn seiner engeren Heimath ein und gründete, erst zwölf Jahre alt, eine Zeitung, den „Grand Trunk Herald“, die er mit solchen Nachrichten füllte, welche die Reisenden der Bahn interessiren konnten. Die Zeitung druckte er selbst in einem Winkel des Packwagens mit einer alten Presse und alten Schriften, die er billig gekauft hatte. Nebenbei studierte er in dem Winkel eifrig Chemie und Physik. Als er aber beim Experimentieren einmal den Wagen in Brand gesteckt hatte, wurde er entlassen. Edison trat alsdann als Telegraphist bei dem Telegraphenamt in Port-Huron ein, vervollständigte dort seine Kenntnisse und konnte endlich 1868 in Boston die erste elektrische Werkstätte eröffnen. Nachdem er sodann in den Dienst der „Western Union Telegraph Company“ getreten war, errichtete er in Newark eine Telegraphenbauanstalt, die sich besonders mit dem Bau von Börsentelegraphen befaßte.

Bald hatte er es hier so weit gebracht, daß er seine Stellung aufgeben und das berühmter gewordene Laboratorium in Menlopark eröffnen konnte, von welchem seine epochemachenden Erfindungen ausgegangen sind. Kürzlich hat er jedoch diesen Wohnsitz verlassen und in Orange eine umfangreiche Fabrik errichtet, wo er sich angeblich vor allem der Herstellung von Phonographen widmen will. G. van Muyden.



Unter dem Glockenstuhl.

Novelle von Gerhard Walter.
(Fortsetzung.)


Am andern Tage saß ich, Gertruds harrend, auf moosbewachsenem Stein, unter den im Winde rauschenden dunklen Tannen. Eilige Wolken zogen, vom Winde getrieben, oben am Himmel hin, dem mißfarbigen, trüben; hier, wo ich auf sie wartete, war’s sicher und still. Das alte Heidengrab mußte uns Schutz geben. Wie’s finster unter den finsteren, starren Stämmen und Kronen sich rundete! Ich trat vor an den Waldrand und blickte den aufgeweichten Landweg hinab, der mit spärlichen jungen Obstbäumen bepflanzt war. Hoch schlug mein Herz auf: da kam sie her, windumweht, hochgeschürzt; jetzt war sie nah; ich sah, wie ihre Wangen glühten, wie die klaren, blitzenden Mädchenaugen spähend das Dunkel unter den Tannen zu durchdringen suchten; nun war sie selbst in ihrem Schatten vor dem Blick der Welt verborgen. Da trat ich vor.

„Konrad, da bin ich!“ rief sie und flog in meine Arme. Zum erstenmal waren wir allein, ganz allein, sicher, ungestört; sie als Braut an meinem Herzen; sie zwanzig, ich sechsundzwanzig Jahre alt; hier war die Welt; das Draußen gehörte zunächst nicht mehr dazu.

Sie saß neben mir auf dem Stein. Ihr blondes Haupt lehnte an meiner Schulter. Sie erzählte mir von zu Hause. Sie war eines Gymnasiallehrers Tochter, die älteste von sechsen, und die Sorge war oft der neunte Gast am Tisch daheim gewesen, und war’s wohl noch, und würde es wohl noch lange sein.

„Darf ich’s ihnen denn nicht schreiben?“ bat sie mit reizendem Aufblick.

„Laß es!“ bat ich, „wir wollen auch etwas für uns haben. Und zu Weihnachten mache ich meinen ‚Doktor‘, und im Frühherbst mein Examen – dann komme ich stolz und frei und werbe um Deines Vaters älteste Tochter! Es sieht besser aus. Und wenn ich erst hier fort bin – ich wäre sonst länger geblieben! – und sehe, wie ich uns das Nest baue, dann wird Frau Hedwig wohl auch nichts mehr dagegen haben, daß eine junge Braut ihre Kinder lehrt.“

„Ich thu’, was Du willst!“ sagte sie.

So saßen wir und bauten an unserm Nest – allerdings nur in Gedanken! Und wir wollten beide nicht viel vom Leben, nur uns selbst, eines das andere, und dazu ein bescheidenes Dach über uns, einerlei wo. Gelbpolirte Tannenmöbel fanden wir beide viel schöner in Farbe und wenigstens ebenso schön in der Maserung als Mahagoni, und wenn ich mit sechshundert Thalern nach dem Probejahr an einer Schule angestellt werden könnte und die Miethe durch Privatstunden dazu verdiente, was konnte uns dann fehlen?

Es waren unpraktische, aber köstliche Luftschlösser, die wir uns miteinander erbauten. Was wußten wir vom Leben und seiner harten Nothwendigkeit!

Und unser Geheimniß wahrten wir. Die Tannen waren stumm und die Steine verriethen nichts; und unsere Blicke hielten wir in Zucht, und wenn ich unterm Tisch meinen Fuß auf ihren setzte, dann lachte Gertrud so harmlos fröhlich, als wäre gar nichts geschehen – und es hieß doch: „Ich habe dich so rasend lieb!“

Das war unser Brautstand.

Und so ward es Frühling. Mit Macht zog er plötzlich ins Land, daß der Landmann bedenklich ob der warmen Sonne im April die Stirn in Falten legte. Aber die Lerchen waren glückselig darob in ihrer blauen Höhe, und wie der Mai noch nicht über die Schwelle getreten war, da sang schon die Nachtigall mit süßem Schall.

Aus den Tannen waren wir geflohen. Mit Mühe nur hatte ich eines Tages Gertrud hinter dem jungen Anwuchs eilig geborgen vor dem Jäger, der durchs Holz streifte und sich zum Glück durch lautes, vergnügtes Pfeifen verrieth. Ich stöberte anscheinend eifrig hinter und zwischen den Steinen umher.

„Was suchen Sie denn da, Herr Doktor?“ fragte er herantretend.

„Na, Sie wissen ja, immer nach Rhus toxicodendron!“ log ich frech.

„Ach, lassen Sie das doch laufen!“ sagte er breit und behaglich und setzte sich zu meinem Entsetzen auf den Stein, um seine Pfeife zu stopfen, und blieb da eine gute Viertelstunde hocken, um eine seiner Räubergeschichten zu erzählen.

„Wie spät ist’s denn?“ fragte er endlich. Ich gab drei viertel Stunden zu. Da sprang er auf und ging. Von Stund an mieden wir das Grab des Heidenhelden und trafen uns unterm Glockenstuhl auf dem kleinen Hügelkirchhof. Da meinten wir, sicher zu sein, denn von da konnten wir das umliegende Land beobachten.

Eng an einander geschmiegt, saßen wir da im jungen Frühlingslicht auf einem der Balken; über uns hing ernsthaft die große Glocke und um uns blühte und leuchtete und duftete es. – Solchen Frühling erlebt man nur einmal. Und auch dieser sollte verblühen, und der Sturm sollte die welken Blüthen zerstreuen und übers Feld jagen. Wir sahen keine Wolken am Himmel. Aber tief unterm Horizont ballten sie sich zusammen.


[735] Ich war hinübergeritten nach Wulfshagen. Es war eigentlich gegen meinen Plan, denn ursprünglich hatte ich mit dem Baron zur Stadt fahren sollen. Aber daraus war nichts geworden, weil der Kutscher krank geworden war, und zwar merkwürdigerweise, nachdem er gestern anstatt seines Vaters die Betglocke gezogen hatte auf jenem Kirchhof mit dem verschwiegenen Glockenstuhl.

Beinah wäre uns – Gertrud und mir – diese Abänderung verhängnißvoll geworden. Den Alten kannten wir zwei nach seiner Gewohnheit und kümmerten uns deshalb nicht arg viel um ihn; schlürfend kam er durch das Gitterthor gegangen, sah nicht rechts und nicht links, zog seine zwölf Mal am Glockenseil, ließ es fahren und ging ab, mit klirrendem Wurf das Gitter wieder hinter sich schließend.

Wir hatten uns diesmal ein wenig miteinander verspätet; der Frühlingsabend in seinem Goldlicht war gar zu herrlich und die Nachtigall fing schon an zu schlagen in dem blühenden Fliederbusch über uns, unter dessen Schirm wir auf einem Stein saßen. Gertrud war über die Maßen reizend und berückend und immer wieder hielt ich sie zurück, wie rührend auch ihre Bitte klang: „Laß mich los, Konrad, ich muß ja gehen, oder wir verrathen uns!“ Und doch ließ sie sich so gern halten, und schwach nur war ihr Widerstreben und Erschrecken gewesen, als ich den silbernen Pfeil aus ihrem Haar gezogen hatte und es nun in mächtiger Fülle gleich einem goldenen Schleier an ihr und um sie niederwallte.

Da klirrte die Pforte; wir blickten kaum hin durch die schwache Schutzdecke des Fliederbusches, der uns zur Noth nur verbarg – aber mit leisem, entsetztem Schrei fuhr Gertrud auf und aus meinem Arm und floh mit leichtem eiligen Fuß hinter eine schön gewachsene Balsamtanne. Es war nicht der Alte diesmal – es war sein Sohn, der langsam dahergeschlendert kam und gerade jetzt herüberschaute nach unserem Busch, wie die Nachtigall aufs neue anhub, noch gedämpft und abgebrochen, aber doch mit süßem Ton zu schlagen. Mich entdeckte er nicht, aber Gertruds helles Kleid und ihr goldiges Haar hätten ihm in die Augen fallen müssen. So standen wir da und wagten kaum zu athmen.

Aber unsere Angst wuchs, als er nach vollbrachtem Läuten nicht, während das Erz noch summte und der Glockenstrang noch hin und her pendelte, davonging, sondern, die Hände in den Hosentaschen, behaglich pfeifend, sich offenbar anschickte zu einem Rundgang durch den Kirchhof. Seine Mittel an Zeit erlaubten ihm das. Wir zitterten vor einer Entdeckung. Aber es ging gut. Nachdem er faul hier und da sich einen Leichenstein besehen und ebenso ein schief stehendes Kreuz auf dem verfallenen Grabhügel eines seiner Ahnen gerade gerückt hatte, stieg er zu unserer unendlichen Erleichterung mit seinen langen Beinen ziemlich fern von uns auf die niedrige Mauer. Dabei verlor er offenbar etwas; er stieg wieder herab, bückte sich und suchte längere Zeit in dem grünen Blattwerk längs der Mauer, bis er es gefunden hatte; dann schwang er sich hinüber und wandelte auf schmalem Fußsteig durch das grüne wogende Korn weiter.

Mit einem tiefen Seufzer der Entlastung trat Gertrud hinter ihrem Schirm hervor, eifrig an ihrem losen Haar mit den feinen Fingern arbeitend, das, immer nicht gehorsam genug, sich jetzt erst recht nicht bändigen lassen wollte.

„Konrad, das geht nicht; das darfst Du nicht wieder thun!“ klagte sie – aber der Blick entzückender, unbewußter bräutlicher Koketterie, der das Verbot begleitete!

„Gieb mir eine Locke!“ bat ich, „liebste Gertrud!“

Sie lachte mich mit ihren weißen, blitzenden Zähnen an, noch immer beide Hände gehoben in anmuthreicher Arbeit.

„Nein, Du hast wirklich schon genug; ich glaube, Du treibst Unfug damit und verschenkst sie selbst wieder als Haarlocken von Dir in Deiner Jugend –“

„Etwas gieb mir, zum Andenken an die Angst, die ich ausgestanden habe.“

Sie stieß mit dem zierlich schlanken Fuß an einen gelben, kantigen Flintstein und schob ihn mir mit übermüthigem Blick ein wenig hin.

„Hier; Du wünschtest Dir ja immer einen Briefbeschwerer –“

Sie hielt inne und sah mich an; dann legte sie mir schnell die beiden nun freien Hände auf die Schulter und neigte sich, ihren Blick in meinen senkend, mir zu, und schöner stiller Ernst lagerte sich um ihren Mund.

„Nein, verzeih, Du sollst Dich nicht vor mir bücken, es war unrecht von mir!“

Und sie bückte sich und reichte mir den Stein. „Nun bitte ich Dich, nimm ihn und lege ihn auf Deinen Schreibtisch; und jeden Morgen, an dem ich Deinen Tisch abstäube und ordne, wenn ich Deine Frau bin, wird er mir die Inschrift tragen: ‚Er soll Dein Herr sein!‘“

Am nächsten Morgen war, wie gesagt, der Kutscher krank zum tiefen Verdruß des Baron, der über die Stärkung entrüstet war, welche der Aberglaube der Leute daraus wieder ziehen würde. Der Kranke lag zu Bett an einer recht bedeutenden, rosenartigen Entzündung des Gesichts und der Hände.

Da hatte ich denn mein Rößlein gesattelt und war hinübergeritten nach Wulfshagen. Immer die alte Herzlichkeit und Freundlichkeit drüben, so oft ich kam; ein sehr offenbarer Händedruck außerdem von Gertrud, und dann und wann ein schneller, heimlicher Blick – so war’s ja stets, und mir war’s wieder so recht urbehaglich zu Muth. Ich hatte die Geschichte von dem Kutscher und dem merkwürdigen, scheinbar begründeten Widerwillen der Leute gegen das Glockenläuten erzählt, da bemerkte ich einen Reiter, der in scharfem Trab näher kam und auf den Hof einbog. Ein Gefühl körperlichen Unbehagens beschlich mich; ich erkannte Sternhagen von Finkenfelde. Aber was konnte ich machen?

Kurz darauf saß er breit und dick am Kaffeetisch und war die Liebenswürdigkeit selbst. Auch gegen mich.

„Sind Sie denn nicht mit Ihrem Herrn Baron zum Vortrag gefahren?“ fragte er verwundert; „das wäre doch etwas für Sie gewesen.“

Ich erklärte auch ihm den Fall. Er hörte aufmerksam zu.

„Hören Sie ’mal,“ sagte er plötzlich, „die Sache ist offenbar mehr als Aberglaube; da steckt etwas dahinter. Ich hatte im vorigen Jahre einen ganz ähnlichen Fall. Hinter meiner Kegelbahn tummelten sich die Kegeljungen gewöhnlich in ihren Freizeiten, und bei ihnen traten auch immer allerlei sonderbare Krankheitserscheinungen auf, so daß ich zuletzt kaum noch einen bekommen konnte; die Kegelbahn galt für verhext. Endlich kam ich darauf, den Platz zu untersuchen, und fand die Stelle hinter dem Bretterhaus dicht mit einem sehr hübschen Gewächs bestanden, mit Stauden etwa zwei bis drei Fuß hoch, die blanke grüne Blätter und weiße Blüthen trugen. Da hatte ich mit einem Male die Lösung des Räthsels: das infame Unkraut war so teufelsmäßig giftig, daß mein Tagelöhner, den ich mit der Ausrottung beauftragt hatte, vier Wochen lang krank lag mit Blasen und Geschwüren am ganzen Körper unter starker Lähmung der Hände –“

Da fuhr ich auf Sternhagen los und packte seine Schulter und jubelte: „Herr, das ist ja das leibhaftige Rhus toxicodendron!“

Er sah mich erstaunt an. „Na, Ihnen rappelt’s wohl ein bißchen, Herr Doktor, daß Sie so vergnügt aussehen darüber! Mir war die Geschichte ganz verdammt unangenehm, und ich hab’ mich den Henker drum gekümmert, wie das Zeug hieß.“

„Herr Sternhagen, haben Sie alles ausrotten lassen?“ fragte ich gespannt.

„Unkraut vergeht nicht!“ lachte er; „habe nicht wieder nachgeschaut, aber es sollte mich wundern, wenn nicht ein Stück Wurzel drin geblieben wäre beim Ausreißen. Der dicke weiße Saft quoll nur immer so heraus.“

„Und wurde bald schwarz an der Luft und an der Sonne?“

„Zu dienen; und nachher kratzten und pickten die Hühner in der frischgegrabenen Erde – es war Mitte Mai – und sämmtliche Hennen hielten sofort inne mit Eierlegen und – ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf! – wir hatten bis Mitte August kein einziges Ei mehr; von da an aber so überaus reichlich bis zum Winter, wie noch nie sonst.“

„Giftsumach, Giftsumach!“ jubelte ich, ein entzückter Botaniker; „erlauben Sie, daß ich einmal in Ihrem Garten Nachsuchungen halte?“

Ich mußte ihm mit meiner Bitte einen großen Gefallen gethan haben, denn er sah mich sehr vergnügt an.

„Prächtig!“ sagte er schnell – und sich an Herrn Erhard wendend, setzte er hinzu: „Aber dann mache ich Ihnen einen Vorschlag: kommen Sie gleich einmal alle zu mir armem Junggesellen, auch die edlen Frauen,“ – er verneigte sich gegen Frau [736] Erhard – „und nehmen Sie einmal vorlieb in meiner zeitweiligen Scheunenwohnung.“

„O ja, ich möchte das Pflanzenungeheuer wohl ’mal sehen!“ sagte Frau Hedwig, offenbar von der Einladung keineswegs unangenehm berührt; „nicht wahr, Fräulein Zorn?“

Ich hielt meinen Kaffeelöffel aufrecht; das hieß bei uns „ja“. Ließen wir etwas auf dem Finger balanciren, dann bedeutete es „nein“. So wurde denn also durch Veranlassung des Giftsumachs für Sonntag nachmittag eine Fahrt nach Finkenfelde verabredet.

Es war ein herrlicher Tag, als wir hinüberfuhren. Die Lerchen hielten Massenübungen ab oben in der blauen Höhe, Licht und Glanz überall – und mir gegenüber saß Gertrud. Ich wollte, wir wären so weiter gefahren, immer zu, immer die Straßen der Welt entlang. Wenn mir an dem Tage einer gesagt hätte: „Es ist ein Unglück, geboren zu sein!“ – ich hätte mit ihm gerauft und über dem Geworfenen hingerufen: „Es ist ein herrlich, köstlich Ding, das Leben!“

Wir fanden ihn, den Giftsumach; er wuchs noch aus rankender Wurzel in einer Ecke des Gartens und mein fröhlich Herz klopfte vor Freude, als ich vor ihm stand. Nur wer das Entzücken des Forschers kennt, der ans Ziel gekommen ist, begreift es, daß ich mich nicht trennen konnte von dem fremdartigen, seltenen, furchtbaren Gaste; daß ich mir ruhig das gutmüthige Lachen der andern gefallen ließ, als sie gingen und ich allein zurückblieb bei der schönen Pflanze, um sie vorsichtig, aber mit innigem Behagen zu untersuchen und zu zeichnen. Leicht, ganz leicht hatte Gertruds Finger mich gestreift, als sie sich zu den andern wandte; zum erstenmal hing mein Blick nicht an ihrer schlanken Gestalt, wie sie davonging, sondern wie gebannt an der tückischen Giftpflanze allein.

Plötzlich – ich weiß nicht, wie lange Zeit schon vergangen – als ich mitten im Zeichnen war, fühlte ich mich von hinten umschlungen und meinen Kopf zurückgebogen; mit gerötheten Wangen stand das schöne Mädchen hinter mir und in ihren Augen blitzte es wie heiße schöne Leidenschaft – hastig warf sie die Arme um mich, stumm und hastig küßte sie mich – und wie ein gescheuchtes Reh eilte sie davon, den dunklen Lindengang hinab.

Was war das? Und hatte in ihren blauen Augen nicht gar etwas gefunkelt, was einer Thräne glich? Woher kam die Thräne? Was sollte sie? So dachte ich und griff wieder zum Stift und hörte nichts und sah nichts – als die Lebenzerstörerin vor mir, hier auf dem Grund und Boden des Mannes, den ich nicht leiden mochte, vor dem ich einen mir selbst unbegreiflichen Widerwillen hatte.

Da schrak ich auf. „Herr Doktor!“ schallte es vom Hause her, „Sie versäumen ja alles, Essen und Trinken und Freundschaft!“ So rief Herr Erhard im Näherkommen. „Wissen Sie auch, daß Sie sich schon beinah anderthalb Stunden dieser Pflanze gewidmet haben?“ – er faßte mich vertraut unter den Arm und sagte leise: „während ein anderer sich einem andern Pflänzlein widmet, das Sie unter die Familie der Rosen einreihen!“

Ich sah ihn verwirrt und fassungslos an.

„Nun, thun Sie nur nicht so! Diesmal bin ich schlauer gewesen als meine Frau – und es bleibt ganz unter uns! Aber, wenn Sie das Röslein brechen wollen, dann nutzen Sie die Zeit aus, es leuchtet so hell, daß auch andere Knaben es sehen und begehren möchten; und ich weiß ganz gut, weshalb der Herr Nachbar Gutsbesitzer so liebenswürdig geworden ist und uns heute sogar eingeladen hat; meiner schönen Augen wegen nicht! Merkwürdig, daß meine kluge Frau darin offenbar so blind ist!“ Und ehe ich noch in meiner namenlosen Verwirrung eine Antwort fand, zog er mich hinüber zu den andern.

Das Bier schäumte und die Kugeln rollten, die Speisen dufteten und der edle Wein funkelte in den Gläsern; alle andern Gäste – es waren noch mehrere dazu gekommen – waren munter und ihre Fröhlichkeit ging in hohen Wogen auf der Kegelbahn des Herrn von Finkenfelde; aber wenn unsere Augen – seine und meine – sich trafen, dann funkelte in ihnen etwas wie aufglimmender Haß, den wir beide tief innen spürten. Und das alles um das Mädchen, das mir bald wieder im heimrollenden Wagen gegenübersaß, hinaufschauend in den Glanz des Vollmondes, der in ihren Augen sich spiegelte.

In lieblichem Ernst saß sie da. Nun nahm sie den Hut ab; auf ihrem Haar lag der Mondschein und meine Blicke hingen voll süßer Sehnsucht an dem geliebten Angesicht.

„Es war wirklich nett heute bei ihm,“ brach Frau Erhard das allgemeine Schweigen; „finden Sie nicht auch, Fräulein Zorn? Er ist ja ein bißchen plump, aber er hat so etwas Angenehmes.“

„Ja,“ fiel ihr Mann in seiner breiten, gemüthlichen Art ein – „wo der hinküßt, da spürt’s eine; kann sich selbst auf beiden Seiten zugleich etwas in die Ohren flüstern.“

Ach was,“ rief sie ärgerlich, „Ihr hackt auch immer auf ihm herum! Ich muß sagen, ich würde es für eine unverzeihliche Thorheit halten –“

Sie brach ihre etwas hastige Rede plötzlich ab, wohl durch einen gutgemeinten Stoß ihres Gatten gewarnt; und neben meinen Fuß stellte sich ein schlanker, schmaler Fuß mit leisem Druck; ich holte tief, tief Athem:

„Du bist meine, deß sollt’ Du gewiß sein –“

zog es mir tröstend durch den Sinn. Und auch ich blickte hinauf, wo in der lichtdurchglänzten Höhe Stern an Stern funkelte. Da löste sich einer aus der unendlichen, herrlichen Schar und zog in feurigem Bogen am Himmelsgewölbe dahin, aus Nacht in Nacht, verlöschend, vergehend, nur ein Himmelskörper, nur eine kleine, ganz kleine Welt, die da, kurz aufleuchtend, spurlos im Raum zerstob – wie manche Herzenswelt wird ebenso in Trümmer geschlagen und sinkt in finsterer Nacht zusammen! Ein gefallener Stern! Kleinigkeit! Ein Menschenleben! Nichts! –

Am nächsten Tage ging ich mit dem Baron auf den Kirchhof, dorthin, wo Johann, der Kutscher, über die Mauer gestiegen war und in dem Gestrüppe gesucht hatte. Ja, da war auch hier des Räthsels Lösung; dort stand es voll von dem schönen Gewächs mit den spitzen, zu dreien an einem Stengel sitzenden Blättern von glänzend dunkelgrüner Färbung.

Mit denkbarster Vorsicht wurde die Ausrottung vorgenommen; schon die Ausdünstung des Giftsumachs wirkt schädlich auf viele. Der Baron hatte viel Nachdenkliches in seinem Wesen. Als wir nach zwei Tagen wieder da standen, wo jetzt jede Spur der Giftträger verschwunden war, nahm er etwas von der Erde auf den Spaten. „Nun sehen Sie nur diese Erde, reiner, schwerer, schwarzer Humus! Und den gerade muß sich das Gift aussuchen, und könnte sonst so viel Gutes da wachsen, wo der Unhold widerstandslos seine Wurzeln einschlägt und üppige Nahrung zieht. Muß irgendwie von Finkenfelde hierher verschleppt worden sein, vielleicht bei einer Beerdigung – sie begraben auch hier von altersher – mit einer Blume, oder sonst irgendwie –“

Jawohl, Herr Baron, auf Finkenfelde war’s gediehen, das üppige Giftgewächs, und von daher kam es; und es suchte sich guten, reinen Boden aus, der nur leider eigentlich einem andern gehörte und andere Blüthen hätte tragen sollen! Rosen, für mich, und Myrthen, und junge, frische grünende Reislein – –!

So kam die Zeit des Examens heran.

„O, wenn Du erst fort bist!“ klagte Gertrud und schmiegte sich in meinen Arm, „wie werde ich es ertragen! Und zu Hause all das Leid; mein armer, kranker Vater, der sich mühsam durchs Amt und durchs Leben schleppt! Wie soll’s noch werden! Wäre ich nur erst Dein, unter Deinem Schutz und lieben Schirm!“

Immer inniger waren wir verwachsen; es war ein gottgesegneter heimlicher Brautstand. Ich glaub’, sie wußten’s alle, oder ahnten es doch, auch Frau Hedwig. Aber alle waren still, keiner rührte daran. Auch der von Finkenfelde nicht. Seit jenem Nachmittage hatte er sich merkwürdig ruhig verhalten. Ich sagte es einmal zu Gertrud. Sie wurde roth und sah mich an. „Freu’ Dich drüber, wie ich mich freue!“ sagte sie. –

Verbarg sie mir doch etwas? – Warum?

So kam der Tag des Abschieds.

Es war Hochsommer und auf den Feldern wurde das Korn gemäht. Die Lerchen waren still geworden. Wir standen Hand in Hand unter dem Glockenstuhl, aufrecht, lieblich, jungfräulich stand sie da und sagte leise:

„So zieh’ mit Gott, und hol’ mich bald!“ – Und wie ich sie zum letztenmal an meine Brust zog, die süße Gestalt, und wie sie den letzten, heißen Kuß auf meinen Mund drückte, da sah ich über ihre Schulter hinaus ins Feld und die Augen brannten mir; ich hob ihr Gesicht empor, und es kam über meine Lippen,

[737]

Das Recht des Stärkeren.
Nach einem Gemälde von J. Schmitzberger.

[738] ohne daß ich’s wollte und wußte, ein einst gehörtes, lang schon in meinem Herzen verschollenes Dichterwort:

„Und so segne dich Gott, ob du mein vergißt;
Doch viel tausend Mal mehr, so du treu mir bist!“

„Ich Dein vergessen?“ fragte sie, und rein und stolz hob sie den Blick. Dann ging sie. Kein Jammern und Klagen; sie machte mich stark und freudig mitten im brennenden Leid. Ich sah ihr nach, als sie durchs gelb wogende Korn dahinschritt, bis sie am Waldsaum noch einmal sich wandte und mit ihrem Tuch mir winkte.

Als ich am nächsten Morgen in der Frühe von Mittelstein wegfuhr, gar herzlich verabschiedet, daß mir das Herz groß ward, da erklang, als ich kaum auf der Landstraße war, mit weichem hallenden Klang die Frühglocke! Und ich faltete die Hände, für sie – für mich!


Ich bestand ein ausgezeichnetes Examen, das beste, das seit Jahren gemacht worden war. Jubelnd schrieb ich an Gertrud; jauchzend tauchte ich wieder die Feder ein, um an ihren Vater zu schreiben, er solle mir seine holde Blume zu eigen geben, daß ich sie in meinen Garten pflanze, sie hege und pflege wie ein guter Gärtner, damit sie im Frühlingslicht bei mir Wurzel schlage.

Da klopfte es an meine Thür. In großer Aufregung trat der Geheimrath bei mir ein, der berühmte Direktor des botanischen Gartens. Ohne alle Einleitung rief er:

„Liebster Doktor, machen Sie sich reisefertig, Sie müssen heute über fünf Tage in Plymouth sein!“

Ich starrte ihn begriffs- und fassungslos an.

„Die Sache ist die,“ sprudelte er hervor, nach seiner Gewohnheit eilig im Zimmer auf- und abpendelnd und bei jeder Wendung mit der Hand durch das krause weiße Haar fahrend – ich sehe das ja alles noch so deutlich vor mir, als wäre es gestern geschehen – „die Sache ist die: Sie wissen, daß Doktor Sartori die Expedition des ‚Loki‘ als Botaniker begleiten sollte. Eben bekomme ich ein Telegramm von ihm, daß er seit gestern schwerkrank im Hospital zu Bremen am Typhus liegt und daß der ‚Loki‘ ohne ihn hinausgegangen ist. Ersatz für ihn hat über Calais-Dover sofort nachzureisen und sich am fünfundzwanzigsten in Plymouth an Bord zu melden. Sie müssen hinaus, Doktor, hören Sie? Ich bitte und beschwöre Sie! Sie leisten unschätzbare Dienste; Sie bereichern Ihre eigene Gelehrsamkeit in nie wieder möglicher Weise und sichern Ihre ganze Zukunft; ich verbürge mich persönlich dafür, daß Ihnen nach Verlauf der zwei Jahre eine besoldete außerordentliche Professur eröffnet wird!“

Ich hatte das Gesicht in die Hände gelegt. Da hatte ich eine Art von Traumbild oder Wahnvorstellung: ein lichtdurchstrahltes Gemach, viele Menschen; die Thür ging auf und es traten noch zwei ein: eine wunderschöne blonde Frau, die Gertruds Züge trug, an meinem Arme, demüthig stolz um sich schauend, und ich hörte ein Zischeln und Flüstern: „Sehen Sie, das ist also die jüngste Frau Professorin – ein entzückendes Weib; für die lohnt es sich schon, eine Fahrt um die Welt zu machen –“

Ich sprang auf und streckte dem greisen Freunde beide Hände hin. „Hier, Herr Geheimrath, nehmen Sie mich mit Haut und Haaren; ich reise!“

Er wäre mir beinahe um den Hals gefallen.

Und nun schrieb ich mit fliegender Hand eine Nachschrift hinter den Brief an Gertrud, und dann den an ihren Vater, siegesgewiß, des Gelingens sicher. Zwei Tage nachher, kurz ehe ich nach dem Bahnhof fuhr, bekam ich des Vaters Antwort: er fühle sich sehr geehrt, indessen kenne er mich nicht genügend, um die Zukunft seines Kindes schon jetzt in meine Hände zu legen und Gertruds Geschick an das eines noch nicht seßhaften Mannes unwiderruflich zu binden. Wenn meine Hoffnungen, die ich an die Reise knüpfte, in Erfüllung gingen, alsdann würde er seine Einwilligung nicht zurückhalten etc. „Mit großer Hochachtung Dr. Zorn.“

Ich warf den Brief in den Ofen und zündete das Papier an. – Das war anders, als ich’s mir gedacht hatte. Zerknirscht meldete ich in ein paar fliegenden Zeilen den Bescheid des Vaters an Gertrud; in Plymouth fand ich Antwort von ihr.

„Konrad, das ist ja ganz gleich, was in meines Vaters Brief gestanden hat. Deine Frau konnte ich doch noch nicht werden und Deine Braut bleibe ich mit ihm und ohne ihn. Dies Hochhinauswollen in allen Dingen ist meines armen, krankhaft reizbaren Vaters traurige Erdenmitgift von je gewesen und hat uns viel, viel Kummer gemacht im Leben und ist an manchem Unglück schuld. Wenn wir alle Grafen heiratheten, würde er es schwer empfinden, daß sich kein Fürst gemeldet habe.“

Und was sie sonst noch schrieb – ja – ich hatte den Brief auf meinem klopfenden Herzen und ging hinunter in die Offiziersmesse und lud mir den Stabsarzt zu einer Flasche Sekt ein.

„Donnerwetter, Ihnen scheint’s ja merkwürdig gut zu gehen!“ lachte er; „lassen Sie ’mal Ihren Puls fühlen; Ihre Augen leuchten ja ganz verdächtig! Na, prosit! Ich denke mir, es gilt dem bildsauberen klassischen Profil, das man in Ihrer Kammer beobachten kann.“ –

Der „Eddystone“ hatte uns Europens letzten Lichtgruß durch die sinkende Nacht zugeleuchtet; über uns Sternenglanz, um uns der Ocean. Ich lehnte über das Geländer des Hinterdecks; rauschende, spülende, überkämmende Seen rollten unter mir weg und im Heimweh zogen meine Gedanken hinüber nach Deutschland in jenes stille Haus im stillen Lande. – –

Und die Zeit ging dahin. In der Heimath waren Stadt und Dorf und Feld und Friedhof und Glockenstuhl weiß eingeschneit gewesen; und der Schnee war geschmolzen, und die ersten Frühlingsblumen waren zum Leben erwacht; aber meine Blume daheim stand in Leid und Trauer und schaute aus nach Sonnenschein. Immer trüber lauteten ihre Briefe; bei ihr zu Hause stand es schlimmer von Woche zu Woche – „Du weißt ja, Konrad, ich bin kein weinerliches Geschöpf; aber ich habe doch manche bittere Thräne in einsamer Stunde vergossen ob all dem Jammer – – ach, wärest Du hier!“

Es klang wie ein zurückgedrängter Aufschrei eines gequälten Herzens. Ich trank keinen Sekt mehr!

Wir lagen vor der westindischen Insel Dominika. Vor dem Fenster meiner Kammer zog sich in langem, schöngeschwungenem Bogen ein prachtvoller Palmenstrand hin, von weißer Brandung in gleichmäßigem Rauschen bespült, drüber erhoben sich tiefeingeklüftete, hohe, mit dunklem Wald bestandene Berge; wenn ich gerade hinausschaute, fiel mein Blick zwischen den Palmen auf ein malerisches, unter tropischem Grün fast verborgenes Negerdorf, über dem ein Kirchthurm hoch aufragte. Drüben setzte unser Kutter vom Land ab; er mußte uns die Post bringen. Mein Herz klopfte. Ich gab mir Mühe, ruhig zu sein. Ich präparirte gerade ein Exemplar des wunderlichen Bryophyllum Calycinum[WS 1], das aus jedem in der Luft aufgehängten Blatt eine ganze Anzahl neuer Pflänzchen treibt, für mein Herbarium. Nun klopfte es an und die Ordonnanz trat ein und legte meine Postsachen auf den Tisch. Eilig suchte meine Hand nach einem Brief von Gertrud – es überlief mich: keiner da! Aber ein offener Brief von unbekannter Hand adressirt war dabei und ein Brief aus Wulfshagen von Frau Hedwigs Hand. Das offene, zusammengefaltete Blatt zog mich an; das sah ja beinahe wie eine Todesanzeige aus; meine Hand griff danach, mir war’s, als ob meine Haare sich ein wenig sträubten – – nein, eine Todesanzeige war’s nicht, sondern eine Verlobungsanzeige; aber was war das für ein wunderliches Ding – was stand da? – Unsinn – sie ist ja mit mir verlobt – das ist ihre Schwester – aber heißt die denn auch „Gertrud“ –? Ich hielt das Blatt dicht ans offene Fenster und las und las – ja, da stand: „Die Verlobung unserer ältesten“ – also ausdrücklich ältesten! – „Tochter Gertrud mit dem Herrn Rittergutsbesitzer Sternhagen auf Finkenfelde und Kleinwulkow beehren sich ergebenst anzuzeigen Gymnasiallehrer Dr. Zorn und Frau.“

Sonderbar! – Und da, auf der andern Seite, stand:

Gertrud Zorn,
Oskar Sternhagen,
 Verlobte.

Ich legte das Blatt auf den Tisch und sah es in einem fort an. Allmählich bekamen die Buchstaben Leben und fingen an sich zu bewegen, zu tanzen; der Tisch auch, schließlich die ganze Kammer; sie feierten alle Verlobung, nun drehte ich mich auch mit, ich fing an zu taumeln; ich hatte zu viel Sekt auf das Wohl der schönen Braut getrunken – ich war gänzlich betrunken, mein Kopf brannte und es donnerte mir wie brausende Brandung vor den Ohren – ich griff mit den Händen um mich und schlug zu Boden, ohne Bewußtsein. –

(Fortsetzung folgt.)
[739]

Das Deutsche Volkstheater in Wien.

Von Ferdinand Groß.

Im Oktober 1888 öffneten sich die Pforten des neuen Burgtheaters, des stolzen, in der Fülle seiner Pracht strahlenden Palastes, welcher durch Fürstengunst aufgerichtet worden war. Kaum ein Jahr später, im September 1889, hatte Wien wieder das Wiegenfest einer Bühne zu feiern. Diesmal aber galt es nicht bloß einen Wohnungswechsel, nicht bloß die Uebersiedelung aus einem alterthümlich beengten in ein neues, dem Zeitgeschmacke entsprechendes Heim, sondern eine Schöpfung, die ihren ersten Schritt auf ihrem Lebensweg that und sich überhaupt erst als lebensfähig zu zeigen hatte.

Das „Deutsche Volkstheater“ ist etwas völlig Neues, nicht nur dem Namen und der äußeren Erscheinung, nein, auch dem innersten Wesen nach. Man müßte viel zu weit ausgreifen, wollte man dem Nichtwiener eingehend klarlegen, wie viel Bedeutungsvolles in der Schöpfung des Deutschen Volkstheaters für die Kaiserstadt an der Donau liegt. Diese Anstalt hat mit ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Artung weit tiefer Wurzeln gegriffen in der Theilnahme der Wiener, als die nächste beste neue Bühne dies an und für sich vermocht hätte. Vor einigen Jahren wurde die schwarzseherische Losung ausgegeben: „Wien war eine Theaterstadt.“ Man glaubte mit Entsagung an dieses Urtheil, trotzdem früher – und zwar noch nicht lange vorher – Wien als die eigentliche Pflegestätte des Theaters gegolten hatte. Nun bedarf allerdings diese letztere im freundlichen und günstigen Sinne verbreitete Fabel einer Berichtigung. Die Mehrzahl der Bevölkerung Wiens hatte immer für Geschichten aus der Coulissenwelt und für Privaterlebnisse seiner theatralischen Lieblinge mehr Sinn und Theilnahme als für die dramatischen Werke und deren Vorführung selbst. Und da dieser wunderliche Zug sich bis hart an unsere Tage forterbte, fand man Gelegenheit, wahrzunehmen, wie der Theaterbesuch nachließ, die Zeitungen dagegen ihren Lesern nicht genug von den Theatern und ihren Sternen erzählen konnten. Der Schauspielerkultus schlug in Wien Jahrzehnte hindurch stolz und wohlgemuth seine Wogen. Das Burgtheater sogar war in seiner besten Zeit mehr Schauspielerbühne als Dichter- oder Litteraturbühne. Da auch auf dem Kunstmarkte Nachfrage und Angebot regelnd auf einander einwirken, so sammelten sich vorzügliche darstellende Kräfte an der Stätte an, wo der begabte Künstler sicher war, begeisterter Zustimmung zu begegnen. Während der Jahre des sogenannten „volkswirthschaftlichen Aufschwunges“ wurden natürlich auch Theater gegründet, kostspielige Theater, angewiesen auf das Wohlwollen der reichlich besitzenden oder doch reichlich gewinnenden Klassen. Der Börsenkrach vom 9. Mai 1873 mit der aus ihm entspringenden Verarmung mochte in dem nüchternen Beobachter das Bedenken wachrufen, es sei denn doch nicht das unbestreitbar Richtige, ein Schauspielhaus so zu stellen, daß es ohne Mäcenatenthum nicht leben könne. Selbst Heinrich Laube, von der allgemeinen Strömung erfaßt, hielt sich an die hohe Finanzwelt; als diese seine Anstalt, das Stadttheater, fallen ließ, war es verloren. Es fristete sein Dasein weiter, aber von dem Programm, unter welchem es entstanden, war keine Rede mehr. Um Einnahmen zu erzielen, griff es in volksthümlichen Nachmittagsvorstellungen zu der „Kameliendame“ von Alexander Dumas; an den Abenden wurden Raimund und Anzengruber gespielt, und es gab Leute, welche sich wunderten, daß das an Dumas verdorbene Publikum keinen Geschmack mehr fand an gesunder poetischer Kost und weder vom „Verschwender“ noch vom „Pfarrer von Kirchfeld“ etwas wissen wollte.

Das Ringtheater, gegründet als „Komische Oper“, um dann ziellos zwischen allerlei unglücklichen Versuchen hin und her zu irren, war ein Raub der Flammen geworden. Das Stadttheater folgte nach. Nun blieben nur noch unsere Vorstadtbühnen übrig. Ist es nöthig, über deren jammervolle Führung ein Wort zu sagen? Ohne bestimmtes Wollen leben sie von der Hand in den Mund.

Nachgerade ward für jedermann eine klaffende Lücke in der Wiener Theaterwelt sichtbar und fühlbar. Ein Dichter wie Ludwig Anzengruber hatte kein Obdach. Eines seiner besten Stücke, „Stahl und Stein“, wurde ein Mal im Opernhause von Hofschauspielern zu wohlthätigen Zwecken aufgeführt. Was in Deutschland dramatisch hervorgebracht wurde, blieb, wenn es nicht Eingang fand ins Burgtheater, den Wienern verschlossen. Man hatte die Empfindung, daß etwas geschehen müsse, wenn in den breiten Schichten der Wiener Bevölkerung der Sinn für edle Bühnenkunst nicht ersterben solle. So that sich denn ein Kreis von Wiener Bürgern zusammen, um aus eigener Kraft das Fehlende zu schaffen. Bei der Gründung des Wiener Stadttheaters hatte das eigentliche Bürgerthum nur in geringem Maße mitgewirkt. Dazu waren die Antheilscheine zu hoch gestellt. Andererseits trat diese Bühne mit schweren Belastungen ins Leben. Die Geldgeber hatten satzungsgemäß soviele Rechte auf Freilogen und Freisitze, daß gerade bei den vollsten Häusern die Kasse am leersten blieb.

Das Deutsche Volkstheater wurde unter ganz andern Bedingungen geboren. Den Bauplatz – in unmittelbarer Nähe der neuen großen Hofmuseen und des Maria Theresia-Denkmals – überließ der Stadterweiterungsfonds auf Befehl des Kaisers Franz Joseph I. so billig, daß man ihn fast als ein kaiserliches Geschenk bezeichnen darf. Die Antheilscheine wurden zu 500 Gulden bemessen, so daß der Mittelstand sich leicht betheiligen konnte. Es wurden 1060 Antheilscheine, also 530 000 Gulden gezeichnet. Verausgabt hat man alles in allem für den Bau sammt Möbeln, Dekorationen und elektrischen Beleuchtungskörpern etwas über 452 000 Gulden – eine kleine Summe angesichts der 17 oder 18 Millionen, welche das neue Burgtheater verschlungen hat. Die Antheilinhaber wahrten sich nur gewisse Begünstigungen beim Bezugsrechte von Karten; im übrigen bezahlen sie ihren Eintritt wie jeder andere Besucher. Nur bis zu fünf Prozent darf ihr Geld verzinst werden; geht ein höherer Gewinn ein, so wird dieser zwischen einem Reservefonds und öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten getheilt. Gesellschaftsklassen, welche sich bisher künstlerischen Gründungen fernhielten, haben hier mitgewirkt. Mit Behagen konnte man sich bei der festlichen Eröffnung überzeugen, daß ein völlig neues Publikum gewonnen sei; da war nicht bloß jenes „Ganz Wien“ versammelt, das keinem öffentlichen Ereignisse fernbleiben zu dürfen glaubt, sondern das ganze gute Bürgerthum hatte sich eingefunden, und bildschöne junge Wienerinnen unverfälschtester Art zu Hunderten gaben dem Hause ein frisches und freudiges Gepräge.

Nicht in letzter Reihe hat der Titel „Deutsches Volkstheater“ dazu beigetragen, dem Unternehmen eine herzliche Aufnahme zu bereiten. Als es in Oesterreich keine öffentliche Stelle gab für politische Meinungsäußerung, lernten die Wiener, im Theater ihrem inneren Drange Luft zu machen; sie benutzten jeden Anlaß, um durch Kundgebungen im Schauspielhause über das Regierungssystem zu urtheilen, und manche Dramatiker verstanden es, zwischen den Zeilen so geschickt Politik zu treiben, daß selbst die wachsamste Censur ihnen nichts anhaben konnte. Namentlich Eduard Bauernfeld hatte darin eine große Fertigkeit erlangt. Heutzutage findet gar mancher einen begreiflichen Reiz darin, wenigstens auf theatralischem Wege betonen zu dürfen, daß er Wien als eine deutsche Stadt betrachte, und daß, allen gegentheiligen Strebungen und Absichten zum Trotze, das Volk von Wien sich nur in einem „Deutschen Volkstheater“ heimisch fühle.

Abgesehen aber von allen offenen oder verborgenen Nebenabsichten darf man an der neuen Heimstätte der Musen seine vollste Freude haben. Für den genannten verhältnißmäßig geringen Betrag haben die bewährten Theaterarchitekten Fellner und Helmer Erstaunliches geleistet. Das Deutsche Volkstheater ist nicht prunkvoll, aber von anmuthiger, herzgewinnender Schönheit. Es faßt 2100 Personen im Parkett und in zwei Galerien; absichtlich wurde nur eine sehr geringe Anzahl von Logen angebracht. Selbst von dem letzten Platze sieht und hört man vortrefflich, die Preise sind mäßig – es sind also alle Vorbedingungen erfüllt, um die Absichten der hochherzigen, selbstlosen Urheber des Werkes zu erreichen und die neue Kunststätte zu einem wirklichen Volkstheater zu machen. Nach allen Seiten freistehend, bietet das Haus jeden erdenklichen Schutz gegen Feuersgefahr. Das Aeußere tritt in italienischer Renaissance auf, nicht überladen reich, aber gefällig. Gartenanlagen umgrünen und umblühen den Bau. Das Giebelfeld auf der Seite des Haupteinganges hat ein junger Bildhauer, Franz Vogl, mit einem lebhaft bewegten Dionysoszuge geschmüekt. Die Büsten von Lessing, Schiller und Grillparzer prangen über den Thüren, die zu der Terrasse über der Auffahrtrampe führen. Im Innern herrscht Wiener Rokoko, Roth und Gold sind die Leitfarben der Ausschmückung. In dem Tonnengewölbe, welches das Proscenium beschirmt, ist die „Bekränzung Raimunds“ (dem Dichter des „Verschwender“, dem ein Genius den Lorbeer reicht, folgen Nestroy und Anzengruber) bildlich dargestellt; die an das Gewölbe sich schließende Decke des Zuschauerraums, welche beiläufig die Form eines Schildkrötenrückens aufweist, trägt ein Gemälde, „Huldigung an Vindobona“. In der Mitte schwebt die Vindobona mit ihren Genien, und ihr nahen sich Vertreter aller Stände, Gelehrte, Arbeiter, Bauern, Krieger, Künstler etc., der Hehren ihre Verehrung darzubringen.

Beide Deckengemälde rühren von dem Maler Eduard Veith her, der auch den Hauptvorhang „Maifest zur Zeit Leopolds des Glorreichen“ geliefert hat.

Der Schale fehlt es nicht an Reiz; ihr einen würdigen Kern zu gewinnen, wird Sache des Direktors, Emerich Bukovics, sein. Dieser war bisher Journalist, und von seinem Bruder, dem kürzlich verstorbenen Hofschauspieler Karl Bukovics, mag er theatralische Erfahrung gewonnen haben. Hoffentlich wird er sich auf dem schweren und verantwortungsvollen Posten bewähren, auf welchen ein entgegenkommendes Vertrauen ihn gestellt hat.

Als Eröffnungsstück wurde eine Bauernkomödie, „Der Fleck auf der Ehr’“ von Anzengruber gespielt. Die Zuhörerschaft brachte dem Drama wie den Darstellern ehrliche Begeisterung entgegen. Alles war in hellster Feststimmung, und in dieser nahm man das Stück ohne kritische Prüfung in hochaufloderndem Jubel hin, erquicklich angeregt durch die Thatsache, daß das neue Haus dem größten unter den lebenden Dramatikern Oesterreichs seine Thüren angelweit aufgethan hatte. Einen Triumph feierte mit der Darstellung eines Dorflumpen Ludwig Martinelli, ein Volksschauspieler ersten Ranges. Auch er hatte seit langem in Wien keinen Boden. Er mußte in blöden Operetten auftreten oder an kleinen Provinzbühnen Gastrollen geben. Jetzt kann er endlich den weiten Umfang seiner Fähigkeiten zeigen. Für ihn wie für Anzengruber besagt das „Deutsche Volkstheater“ eine Auferstehung von den Scheintodten. Solche Erweckung dünkt mir ein verheißungsvoller Beginn. Und von diesem auf die Zukunft schließend, meine ich, meinen Bericht nicht passender schließen zu können als mit den Worten aus der Festhymne, welche Ludwig Ganghofer zur Schlußsteinlegung des „Deutschen Volkstheaters“ gedichtet hatte:

„Sei, junges Haus,
Der schönen Kunst
Zur Wohn- und Heimstatt allerwege,
Und Volkes Lieb’
Und Volkes Gunst
Sei dir auf immer treu und rege.“




[740]

Blätter und Blüthen.

Karl I. von England im Atelier van Dycks. (Zu dem Bilde S. 728 und 729.) Betrachtend sitzt der König im Armstuhle, den feingeschnittenen Kopf nach der Staffelei gewendet, nach der Leinwand, auf welche des niederländischen Meisters Hand die drei kleinen königlichen Kinder hingezaubert hat. Schier weiblich zart muthet das Antlitz dieses Regenten uns an, und ebenso – wie eine Lady – hält er mit der vornehm geformten Linken den Spazierstock. Wie beredt ist diese Linke, die nur für einen Damenhandschuh gemacht zu sein scheint! Der König hält sie hin, und wir lesen in ihren Umrissen die Geschichte eines Geistes, der zu schwach war, um edel zu sein, die Geschichte eines in den brausenden Ocean geworfenen Schiffleins, das im besten Falle nur die Kraft hatte, auf spiegelglatter See dahinzugleiten. Auf elegante Verkörperung des Königthums ist dieses Mannes Sinn gerichtet, auf eine Pracht, welche den Stempel der Vornehmheit trägt – und zwischen seiner Eignung und seiner Bestimmung lag eine so tiefe Kluft! Diese schmale Hand mit den aristokratischen, langgezogenen Fingern mochte liebenswürdig ritterlich zu winken wissen, und sie sollte ein Steuerruder lenken inmitten eines Sturmes, der mit übermächtiger Gewalt dahinfuhr!

Nichts an diesem Gentleman verräth, daß er sich auf einem Vulkan weiß, daß er bange der nächsten Zukunft entgegenlebt. Das Verhängniß hat deine Stirn geküßt, schon damals, als es dich in die Wiege eines Königs legte. Du hättest ein großer englischer Magnat werden sollen; die Krone ist deinem Haupte zu schwer . . . die meisten, die mit dir zu Rathe gesessen, sind dem Untergänge geweiht: Laud, Hamilton, Strafford . . . alle mit dir selbst . . . Und wie wir dich hier behaglich in des Meisters Werkstatt sitzen sehen, ist es uns, als tauchte hinter dir der Schatten Oliver Cromwells, als strebte das Blutgerüste empor, das deinen letzten Athemzug empfangen soll.

Hier aber, im Atelier des großen Malers, ist Karl I. an seinem richtigen Platze. Dem Künstler, der, die Werkzeuge seiner Kunst in den Händen, an des Königs Seite steht, soll dieser ein Urtheil sagen. Und der König versteht sich auf die Kunst; er schwärmt für ihre Hervorbringungen. Zur Zeit, da man ihm vorzuwerfen beginnt, er neige nach Rom hin, führt man als Beweis für diese Anklage an, der päpstliche Hof erweise ihm Aufmerksamkeit, Kardinal Barberino habe ihn bei seiner schwächsten Seite gefaßt: ihm Gemälde geschenkt, und damit sei der König gewonnen. Als ein Mäcen erweist er sich dem Maler gegenüber, der in England eine zweite Heimath gefunden hat. Wie glänzend hat er ihn einquartiert! Dieser säulengeschmückte Raum, prunkvoll ausgestattet, ist dem Meister von dem Könige eingeräumt worden. Da mag Anton van Dyck nun schalten und walten, da mag er sich wohl fühlen, da mag er seine innerste Verwandtschaft erkennen mit der Umgebung, in welche ihn das Schicksal versetzt hat. Er ist fast gleichalterig mit dem Könige. Von 1599 bis 1641 währte des Künstlers Leben, von 1600 bis 1649 jenes des Königs. Aber nicht nur die Jahre haben sie gemeinsam, auch die Neigungen. Van Dycks Eigenart ist eine aristokratische, und besonders in seiner englischen Periode, nachdem er erst unter dem Einfluß von Rubens gestanden und dann die Venetianer hatte auf sich wirken lassen, schlägt er einen salonfähigen, den Athem der erlesensten Gesellschaft verrathenden Ton an, er malt nicht nur an einem Hofe, sondern auch für einen Hof. Was elegant ist, was zu den obersten Zehntausend gehört in England, will von ihm gemalt sein. Diesmal sind es wie gesagt die drei ältesten Kinder des Königs, „die letzten Stuart“, die er festgehalten hat, links Karl, der spätere Karl II., in der Mitte Maria, nachher Gemahlin Wilhelms II. von Nassau-Oranien, Statthalters der Niederlande, rechts der spätere Jakob II., im langen Kinderkleid; das Bild ist heute eine Zierde der Turiner Gemäldesammlung.

Im Jahre 1621 hielt van Dyck sich zum erstenmal in England auf. In den Registern des englischen Finanzministeriums vom genannten Jahre steht wohl verzeichnet: „Dem Anthony van Dicke die Summe von 100 Pfd. Sterl. zur Entschädigung für Specialdienst, Sr. Majestät (Jakob I.) geleistet“, aber man weiß weder worin dieser „Specialdienst“ bestand, noch sonst Genaues über diese Episode. Im Frühling 1632 ging er zum zweiten Male nach England. Der neue König Karl I. setzte ihm ein Jahresgehalt von 200 Pfd. Sterl. aus, und um ihm einen höheren Rang zu geben als dem Hofmaler Cornelius Janssen und dem Hofzeichner Daniel Martensz Mytens, wurde er zum „Principal paintre ordinaire de Leurs Majestés à St. James“ ernannt. Dann erfolgte die Ernennung zum Ritter, die Verleihung einer goldenen Kette mit des Königs diamantenbesetztem Medaillonbilde (van Dyck trägt sie auf unserem Bilde), Gunst um Gunst wurde auf den Künstler gehäuft, aber die Verwicklung der englischen Verhältnisse trieb ihn fort – er that, was König Karl vielleicht am liebsten auch gethan hätte: er versuchte außerhalb Englands sein Glück. Indessen litt es ihn nicht in dem mit keinem Hofleben ausgestatteten Antwerpen. In Paris bewirbt er sich vergebens darum, daß die Ausschmückung der großen Louvregalerie ihm übertragen werde. So kehrt er im Januar 1641, kurz vor seinem Tode, nach England zurück.

Karl I. überlebt ihn. Es ist ein trauriges Ueberleben . . . Längst schläft der Meister in der St. Paulskirche, da irrt sein König wie ein gehetztes Wild umher, indessen ein Bürgerkrieg, der zugleich ein Religionskrieg ist, England durchtobt. Ein Diener, der den Unglücklichen vier Jahre lang auf diesen Irrfahrten begleitet hat, schrieb in sein Tagebuch: „Bald schliefen wir in dem Palast eines Bischofes, bald in der Hütte eines Dorfbewohners . . . Heute kein Mittagessen gehabt . . . Sonntag kein Mittagessen. Abends in Worcester. Ein gräßlicher Tag . . . Wir marschirten, ohne etwas zu genießen, von sechs Uhr morgens bis Mitternacht . . . Wir marschirten lange in den Bergen, der König aß zwei Aepfel . . . Es war uns unmöglich, vor morgens vier Uhr etwas an Lebensmitteln aufzutreiben, und wir nächteten im Freien vor dem Schlosse Donnington . . . Der König schlief in seinem Wagen auf der Heide von Bockonnock und hatte nichts zu essen. Den anderen Morgen frühstückte der König bei einer armen Witwe mitten im Walde . . .“ All das klingt uns doppelt befremdlich, wenn wir unser Bild nun wieder überblicken – den König mit Gefolgschaft und den Meister, der ihn mit dem Blicke zu fragen scheint: „Hab’ ich es Euch recht gemacht?“ F. G.

Das Recht des Stärkeren. (Zu dem Bilde S. 737.) Im hohen Riedgras einer einsamen herbstlichen Au, am Rande eines Gehölzes, von dessen Bäumen der Oktoberwind längst das Laub zu Boden gefegt hat, liegt ein stattlicher Rehbock verendet, den erst vor wenigen Minuten des Jägers Blei erreichte. Neben ihm stehen die Hunde; hier der kleine schwache, aber „schneidige“ Dachshund, dort der große starke und gelehrige Hühnerhund. Jener hat das Wild im Lager „hoch gemacht“ und laut auf der Fährte jagend seinem Herrn vors Rohr gebracht, diesen hat der Weidmann, von dessen Fuß er sich früher nicht entfernen durfte, erst nach dem Schuß dem flüchtigen „kranken“ Stück zur Verfolgung nachgeschickt. So finden sich beide beim Verendeten zusammen.

Welch ein Hochgenuß wäre es für den kurzläufigen kleinen Burschen, jetzt an seinem todten Opfer zu zerren, den warmen, aus der Schußwunde triefenden „Schweiß“ (Blut) zu lecken oder das Wildbret „anzuschneiden“, um so auf eigene Faust sich den Antheil an der Beute zu nehmen, die der im Hintergrunde auftauchende Jäger am Ende doch nur ihm zu verdanken hat! Und wie hübsch ließe sich das nun ausführen, wenn er allein wäre!

Aber leider hat sein Unstern eben den stärkeren Kameraden, den Hühnerhund, hergeführt, der gleichfalls auf den Bock Anspruch erhebt. Dieser steht nun, dem Dachshund die Zähne weisend, drohend hinter dem erlegten Wilde und läßt den kleinen lüsternen Gesellen keinen Schritt näher herankommen.

Armer Dächsel! Was bleibt dir unter solchen Umstanden übrig? – Nichts, als ärgerlich über die Vereitelung deiner schönsten Hoffnungen und Wünsche mit eingezogener „Ruthe“ davonzutrollen und knurrend das Recht des Stärkeren anzuerkennen. J. C. Maurer.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

J. M., Buchen. Nach unseren Erkundigungen sind Klima und Verdienstgelegenheit für deutsche Handwerker der von Ihnen bezeichneten Art auf der Insel Java nicht günstig.

F. in Magdeburg. Wenden Sie sich an den Verfasser selbst.

Friedrich in Berlin. Nicht verwendbar. Wir bitten um gefl. Angabe Ihrer Adresse behufs Rücksendung des Manuskriptes.

A. Str. in Shovel, Texas. Besten Dank für Ihre Anregung. Wir werden aus ihr Veranlassung nehmen, demnächst in einem weiteren Zusammenhange auf die fraglichen Wunderbäume zurückzukommen.


Inhalt: Sicilische Rache. Ein Kulturbild aus den vierziger Jahren von A. Schneegans (Schluß). S. 725. – Ein Armer bittet! Illustration. S. 725. – Die deutschen Meistersinger. Von Rudolf Rost. S. 730. – Edison und sein Phonograph. Von G. van Muyden. S. 732. Mit Abbildungen S. 733. – Unter dem Glockenstuhl. Novelle von Gerhard Walter (Fortsetzung). S. 734. – Das Deutsche Volkstheater in Wien. Von Ferdinand Groß. S. 739. – Blätter und Blüthen: Karl I. von England im Atelier van Dycks. S. 740. Mit Illustration S. 728 u. 729. – Das Recht des Stärkeren. Von J. C. Maurer. S. 740. Mit Illustration S. 737. – Kleiner Briefkasten. S. 740.


In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
2 Bände. Eleg. broschiert M. 7.50. Eleg. gebunden in 1 Lnbd. M. 8.50.
Die Familie Melville.
Roman von Balduin Möllhausen.
3 Bände. Eleg. broschiert M. 9.—. Eleg. gebunden in 3 Lnbde. M. 11.—.
Lore von Tollen.
Roman von W. Heimburg.
2 Bände. Eleg. broschiert M. 7.—. Eleg. gebunden in 1 Lnbd. M. 8.—.
ORA ET LABORA!
Roman von F. Boettcher.
Elegant broschiert M. 5.—. Elegant in Leinen gebunden M. 6.—.
Deutsche Art, treu gewahrt.
Eine Hofgeschichte aus dem 17. Jahrhundert von Stefanie Keyser.
Eleg. broschiert M. 4.—. Eleg. in Leinen gebunden M. 5.—.
Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Historisch.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Calyunum