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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[533]

No. 32.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Gold-Aninia.

Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué.

(Fortsetzung.)

4. Das Gericht der geschworenen Leute und eine Verlobung.

Der Sonntag war gekommen, und wohl noch nie hatte Surley zur Zeit des Gottesdienstes ein solches Zusammenströmen von Bewohnern der Umgegend, Genossen der Pfarrgemeinde, gesehen. Die kleine Kirche war gedrängt voll, doch draußen harrte eine weit größere Menge, die den Platz vor dem Gotteshause vollständig füllte. Die Männer standen beisammen und dem Eingang zunächst, ferner im weiten Ring die Frauen und Mädchen, denn erstere nur hatten das Recht, dem Gericht Auge in Auge anwohnen zu dürfen. Eine Anzahl abgesägter, dicker Baumstümpfe und Wurzelstöcke, als Sitze geeignet und wohl schon ein paar Jahrhunderte alt, war an verschiedenen Seiten der Kirche aufgestellt; sie dienten zu allerlei Zwecken, sowohl zu heiterem Beisammensein und Plaudern an schönen Abenden und freien Sonntagnachmittagen, wie auch zu ernsten Verhandlungen über das Wohl der Gemeinde. Denn solche wurden stets unter freiem Himmel, im Beisein von jedem, der Interesse daran hatte, abgehalten. Am Sonntag vorher hatten die Blöcke, so weit sie reichten, als Stützen der Festtafeln und als Bänke dienen müssen; heute waren ihrer fünf in einem Halbkreis vor der Kirche aufgestellt worden für die fünf geschworenen Leute, zu denen der Cavig Gian Madulani als Ammann und Richter zählte. Die Männer ringsum sprachen nur leise zusammen oder blieben stumm und ernst. Die Frauen aber schauten mit ängstlichen Mienen, sichtlich ergriffen, den Vorgängen, die sich hier bald entwickeln mußten, entgegen. Endlich war der Gottesdienst, die mahnende Predigt des alten Geistlichen zu Ende, jetzt hatten die weltlichen Richter das Wort.

Die Glocke des kleinen Thurmes zeigte dies an; einzelne in Pausen aufeinander folgende Schläge erklangen, und dies ernste, einfache Läuten machte sichtlich einen tiefen Eindruck auf die harrende Menge. Kündeten diese einzelnen Glockenschläge doch nach altem Brauch, daß es sich um eine Blutthat handle, die, erwiesen, nur mit dem Tod durch den Strang gesühnt werden konnte. Eine Bewegung entstand unter den bisher unbeweglichen Gruppen; ein schwaches Tönen, wie von tiefem Aufathmen in Begleitung einzelner furchtsam geflüsterter Worte herrührend, wurde laut und die Männer traten bei Seite, denen, die unter dem steten Läuten der Glocke das Gotteshaus verließen, Raum zu geben.

Endlich, nachdem die gewöhnlichen Beter die Kirche verlassen hatten, erschienen die Hauptpersonen vier alte, würdig aussehende Männer mit dem Cavig und Ammann Gian Madulani, der sie alle fast um Kopfeslänge überragte. Dann folgte ein Mann in schlichter Tracht, in der Hand ein altes Schwert und einen zusammengerollten Strick; es war der Büttel, der Wächter eines verhafteten Angeklagten und wohl auch der Henker des Verurtheilten. Von ihm und dem Geistlichen, der unter der Kirchenthür zurückblieb, wurde der Franzosen-Peider seinen Richtern überliefert. Diese hatten sich auf den Baumstümpfen im Halbrund niedergelassen und in ihrer Mitte thronte, etwas erhöht sitzend, der Ammann. Vor ihn legte der Wächter Schwert und Strick auf den Boden nieder, dann

Der Gläserslowak.
Nach einer Zeichnung von J. R. Wehle.

[534] trat er zurück und Peider stand nun allein vor dem Halbkreise. Er hatte seine modischen Kleider angelegt, sogar sein zierlicher Unglücksdegen fehlte nicht, doch seine Miene war keineswegs festfreudig. Eine fahle Blässe bedeckte sein Gesicht und die Zähne biß er aufeinander, seine gewaltige innere Aufregung zu bekämpfen. Was er sah, der verhängnißvolle Strick, die tiefernsten Mienen seiner Richter – die Augen der zahlreichen Menge rings umher, die nur auf ihn gerichtet waren – dies alles konnte nicht anders, als ihm, trotz aller heimlichen Zuversicht auf einen glücklichen Ausgang des hochnothpeinlichen Verfahrens, eine tödliche Angst einflößen. Auch in den Zügen Madulanis vermochte er nichts zu entdecken, was ihn hätte ermuthigen oder an den zukünftigen Schwiegervater erinnern können; es waren nur die des strengen unerbittlichen Richters.

Das Gericht begann. Mit den ersten Worten des Ammanns hörte das unheimliche Läuten der Glocke auf – um erst nach einer etwaigen Verurtheilung wieder zu beginnen.

„Peider,“ hub Madulani mit tiefernster, weithin hörbarer Stimme und unter einer Stille, daß man jeden Hauch hätte vernehmen können, zu reden an. „Wessen Ihr hier vor den geschworenen Männern, vor der ganzen versammelten Pfarrgemeinde angeklagt seid, das wisset Ihr – wie wir alle es wissen: einer Blutschuld, die nur durch den Tod vermittelst des Stranges gesühnt werden kann. Saget, was Ihr zu Eurer Vertheidigung vorbringen könnt.“

Aller Augen wandten sich jetzt auf den Franzosen-Peider, der eine Gewaltanstrengung machte, seine gewohnte Keckheit herauszukehren. Allein es glückte ihm nicht sogleich, er fühlte einen bösen Druck in der Kehle, der nicht weichen wollte und ihm die Stimme verschlug. Stoßweise im Anfang, dann allmählich zusammenhängender und sicherer sagte er:

„Was ich zu meiner – Vertheidigung vorbringen kann – das sollt Ihr hören! Ihr, die geschworenen Leute – und alle, die hier versammelt sind. – Eure Tochter, Ammann Gian Madulani, habe ich unter den Arven des Crestalta – geküßt! Der Beppo hat mir dies widerrechtlich und mit Gewalt gewehrt; er hat mich überfallen, niedergeworfen, mißhandelt – und ich habe meinen Degen gebraucht, mich zu vertheidigen und ihn zu züchtigen, zugleich die Schmach und Schande, welche meiner Person, meiner Ehre – angethan worden war, zu rächen, wie dies unter Leuten, die den Degen tragen dürfen, Gebrauch und Recht ist. Und ich darf meinen Degen tragen, der mir von einem Prinzen königlichen Geblütes, dem Grafen von Provence, verliehen worden ist. Dies meine erste Rechtfertigung, und nun hört die andere!“ – Er war bereits wieder der alte, kecke Franzosen-Peider geworden, und mit funkelnden Augen blickte er der Reihe nach seine Richter, die geschworenen Männer an, dann flüchtig in die Menge hinein. Nun fuhr er stolz und siegesgewiß fort: „Hätte der Beppo ein Recht gehabt, mir den Kuß, den ich der Aninia gab, zu wehren, so könnte mich wohl die Schuld, deren Ihr mich zeiht, theilweise treffen. Doch der freche Bergamasker hatte kein Recht dazu, wohl aber hatte ich ein vollgültiges Recht, das Mädchen zu küssen, denn seit dem Morgen jenes verhängnißvollen Sonntags – war die Aninia – mit Wissen und Willen ihres Vaters, Gian Madulani – meine mir verlobte Braut! Nun sprecht Euer Urtheil – überliefert mich dem Strang – wenn Ihr es dürft!“

Wenn jetzt ein Stück vom Piz Surley niedergestürzt wäre, es hätte keine größere Ueberraschung und Aufregung hervorbringen können, als diese Erklärung, die niemand in der ganzen Menge für möglich gehalten hätte. Und dem Madulani, seinem Richter, hatte der Franzosen-Peider sie ins Gesicht gesagt, somit konnte sie nicht anders als buchstäblich wahr sein. Die allgemeine Aufregung machte sich, gegen alle Gewohnheit bei ähnlichen Verhandlungen, in Rufen des Erstaunens Luft, und selbst unter den ernsten Geschworenen gab sich eine heftige Bewegung kund. Als die Ruhe wieder einigermaßen hergestellt war, erhob sich der älteste der geschworenen Leute, der von Islas oder Isola, der kleinsten zur Pfarrgemeinde gehörenden Ortschaft, ein ehrwürdiger Greis mit schneeweißem Bart und Haupthaar. Auf seinen Stab gestützt, schaute er dem Ammann lange und scharf in das Antlitz, das während der ganzen Rede des Peiders nicht mit einer Miene gezuckt, auch jetzt nichts von seinem ernsten Ausdruck verloren hatte, dann sprach er:

„Ammann Gian Madulani, ist das die Wahrheit, was der Angeklagte soeben zu seiner Vertheidigung geredet hat?“

Da wurden die Züge des Ammanns lebendig; hochauf reckte er seine mächtige Gestalt und während alle förmlich an seinem Munde hingen, beantwortete er die schwerwiegende Frage laut und fest: „Ja! der Angeklagte hat die volle Wahrheit gesagt; er war in seinem Recht, als er mein Kind küßte, denn am – selben Morgen hatte ich, Gian Madulani, ihm auf seine Werbung um Aninia – mein Jawort gegeben.“

Nun war unter den Anwesenden kein Zurückhalten mehr möglich; alle Bande der althergebrachten Ordnung schienen gesprengt, denn allerwärts wurden laute Rufe der Verwunderung hörbar. Die Freunde des Franzosen-Peiders – und es waren ihrer viele zur Stelle! – riefen sogar aus Leibeskräften, die Filzhüte und Mützen schwenkend, ein über das andere Mal: „Hoch, der Franzosen-Peider! – Der Peider hoch!“

Da schwenkte der Ammann mit drohendem Unwillen seinen Stab und mit einer Stimme, die das Tönegebraus ringsum beherrschte, rief er dreimal: „Ruhe – Ruhe, im Namen der Richter! – Ruhe! – Und wer dem Ruf nicht Folge leistet, verfällt der Klage und der Buße. Der Mann von Islas will weiter reden.“

Sofort stellte sich die Ruhe wieder ein, und der weißbärtige Alte, der sich nach seiner Frage nicht niedergesetzt hatte, fuhr mit ernst zürnendem Blick auf den Ammann also zu reden fort:

„Ammann Gian Madulani, ich frage Euch weiter: Warum habt Ihr solches Bekenntniß den geschworenen Leuten der Pfarrgemeinde nicht vor der Verhandlung kundgegeben? Ihr mußtet doch wissen, daß ein solcher Umstand die Schuld des Angeklagten hinfällig machen würde. Im Namen meiner Landgenossen begehre ich auch darüber Auskunft.“

„Die soll Euch und der ganzen Pfarrgemeinde werden,“ entgegnete der Ammann sofort und wiederum mit lauter, weithin tönender Stimme, mehr zu der Menge, als zu den Geschworenen redend. „Ich wäre ein schlechter, ungerechter Richter, hätte ich das gethan, Euer freies Urtheil durch ein solches Bekenntniß beeinflussen wollen. Ihr sollt entscheiden, ob den Angeklagten eine Schuld trifft für seine Handlung, wenngleich er sie beging als mein erklärter Eidam. Hat er unrecht gehandelt, so sage ich mich von ihm los und hebe das Verlöbniß auf, und gerichtet soll er werden wie jeder andere Mann. Und so frage ich Euch, Landgenossen und erwählte Geschworene unserer Pfarrgemeinde, auf Pflicht und Eid, so wahr Euch Gott helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath: Ist der Peider von Sils-Baseglia, nach den Euch jetzt bekannten Umständen, schuldig der geziehenen Blutthat, oder war er in seinem Recht und kann er frei seiner Wege gehen? Antwortet! – Der Reihe nach!“ –

Da erhob sich der Mann von Sils-Baseglia und sprach laut, mühsam seine Freude unterdrückend:

„Auf Pflicht und Eid, so wahr mir Gott helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath, der Angeklagte Peider ist der Blutthat nicht schuldig; er war in seinem Recht und kann frei seiner Wege gehen.“

Ihm folgte, sich erhebend, mit gleicher Rede der von Sils-Maria.

Der Mann von Silvaplana blickte seinen Nachbar einen Augenblick fragend an, dann sprach er, sich ebenfalls erhebend, mit kräftiger Stimme die schwerwiegende Formel seinem Vorgänger nach.

Nun standen drei der geschworenen Leute, auf ihre Stäbe gestützt, mit ebenso vielen Stimmen für den Freispruch des Peiders neben dem Ammann. Da wandte dieser sich an den Alten von Islas, der sich noch immer nicht niedergesetzt hatte, mit der kurzen Frage:

„Und Ihr, geschworener Mann von Islas?“

„Der Mann von Islas kommt zuletzt,“ erwiderte dieser ruhig, „an dem Manne von Surley ist die Reihe zu urtheilen.“

„Nun denn,“ hob der Ammann mit voller, fester Stimme zu reden an, „so sage ich, Gian Madulani, der Cavig, und als geschworener Mann von Surley: Auf Pflicht und Eid, so wahr mir Gott helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath, der Peider von Sils-Baseglia ist der geziehenen Blutthat nicht schuldig; er war in seinem Recht und kann frei seiner Wege gehen.“

Da reckte der alte Weißbart von Islas sich höher an seinem Stabe empor; dem Ammann fest ins Antlitz schauend, die Rechte zum Himmel erhoben, sprach er mit der tiefernsten Stimme eines zürnenden Richters:

[535] „Euren Wahrspruch bei Pflicht und Eid habt Ihr vor Gott zu rechtfertigen; möge er Euch und Euer Kind nicht dafür strafen! Ich, Nout Zavarit, der geschworene Mann von Islas, spreche den Peider von Sils-Baseglia, trotz des vorgebrachten Entlastungsgrundes, nach Pflicht und Eid, so wahr mir Gott in meiner letzten Stunde helfe, im Angesicht des Himmels und von Grund und Grath – schuldig der geziehenen Blutthat und verurtheile ihn zum Tod durch den Strang!“ Dann setzte er sich nieder.

Peider war bei diesen verdammenden Worten erdfahl geworden, die freudige Bewegung, welche sich bereits allenthalben kundgegeben hatte, war verstummt, selbst der Ammann schien durch die Rede des alten Mannes tief erschüttert zu sein, denn unwillkürlich hatte sich sein Haupt wie das eines Schuldigen auf die Brust niedergesenkt, und finster, ingrimmig blickte er zu Boden. Doch plötzlich wurde er wieder der Bedeutung des schwerwiegenden Augenblicks inne, und sich aufrichtend sprach er, ohne den Alten von Islas zu beachten, zu der lautlos harrenden Menge:

„Hört, Bündner Landgenossen! Der Wahrspruch ist gefällt. Von fünf geschworenen Männern haben vier auf Pflicht und Eid und nach dem altehrwürdigen Brauch den Angeklagten der geziehenen schweren Schuld los und ledig gesprochen. Peider von Sils-Baseglia, Ihr seid frei und unbehelligt könnt Ihr Euch heimbegeben.“

Jetzt erhob sich unter einem großen Theil der männlichen Zuschauer ein jubelnder Tumult, während andere stumm und ernst, wie mißbilligend, dreinblickten. Der glückliche Franzosen-Peider war auf seinen „gerechten Richter“ und zukünftigen Schwiegervater zugeeilt und hatte ihm mit leuchtenden Augen mehrmals die Hände gedrückt und geschüttelt. Dann ging er zu den anderen geschworenen Männern, denen er seinen Dank in gleicher Weise und mit beredten Worten kundgab, um dafür deren Glückwünsche über die unerwartete Verlobung mit der schönen Gold-Aninia entgegenzunehmen. Nun aber drangen die Bewohner der beiden Dörfer Sils, zunächst die näheren Freunde des Peiders in den Kreis, und ein Hochrufen und Glückwünschen ging los, daß für den Augenblick alle Bande der Ordnung gelöst waren. Da erhob sich Gian Madulani, der ebenfalls mit wohlgefälliger Herablassung die Glückwünsche eines nur geringen Theils seiner Landgenossen entgegengenommen hatte, und mit seiner kräftigen Stimme Ruhe gebietend, rief er der gerne verstummenden Menge zu:

„Da der Peider schuldlos und frei ist, soll er denn auch schon am nächsten Sonntag mein lieber Tochtermann werden. Um diese selbe Stunde wird hier die Trauung stattfinden und alle Pfarrgenossen werden als Zeugen willkommen sein!“

„Und ich lade alle – alle, die nur kommen wollen, zum Hochzeitsschmause, der dann folgen wird!“ rief nun seinerseits der Franzosen-Peider.

Jetzt ging ein Freudenlärm los, in den nun auch der Theil der Anwesenden, welcher sich bisher schweigsam verhalten hatte, mit einstimmte. Nur einige wenige entfernten sich, still und bedenklich die Häupter schüttelnd. – Der alte Nout Zavarit hatte schon längst der erregten, lauten Menge den Rücken gekehrt und wanderte in schweren, düsteren Gedanken seinem nur aus wenigen Feuerstellen bestehenden Dörfchen Islas, über Sils-Maria hinaus, am westlichen Ende des Sees von Sils gelegen, entgegen.

Sobald der Ammann durch die aufgeregte Menge zu Peider dringen konnte, trat er hinter ihn, legte ihm die Hand schwer auf die Schulter und sagte in seiner gewohnten Weise, die keinen Widerspruch duldete: „Jetzt geh’ heim, Peider! Nach der Mittagssuppe komme ich zu Dir, um alles sonst noch für die Heirath und die Folge Nöthige – verstanden? – mit Dir zu besprechen. Gott befohlen!“ Hierauf wendete er seine Schritte, mit einem ganz andern Ton vor sich hin murmelnd: „Und nun – zu den Weibern! Ich müßte nicht Gian Madulani sein, wenn ich die Alte – und die Junge nicht zwingen könnte, nach meiner Pfeife zu tanzen.“

Während der Ammann seinem Gehöfte zuschritt, die Menge sich nach allen Richtungen hin verlief, trat der Franzosen-Peider mit seinen Freunden und engeren Landsleuten in einem wahren Siegeszuge über Sitvaplana die Heimkehr an. Das sang, schrie und johlte aus wohl hundert jugendlich kräftigen Kehlen, daß es von den Bergen wiedertönte und erst nach einer langen, langen Weile in weiter Ferne verhallte. Doch seltsam! Der am längsten der Lustigste hätte sein müssen, wurde am ehesten still: der Peider begann nachzudenken.


5. Wie Mutter Barbla spricht und handelt.

Als der Cavig sein Haus betrat, fand er seine Frau beschäftigt, den Mittagstisch zu ordnen. Eine bunte Decke war des Sonntags halber aufgelegt worden und zwischen den drei einfachen Gedecken lagen auf einem wie röthlicher Marmor blinkenden Anschneidebrett aus Arvenholz große Scheiben des köstlichen, an der reinen und frischen Luft des Hochthals gedörrten Fleisches, während im Nebenraum auf dem Herde in mächtiger Schüssel eine Suppe dampfte, die aus in Speck gerösteten Kastanien und einem zerkleinerten Huhn äußerst schmackhaft bereitet war. Stumm erwiderte Frau Barbla ihres Mannes kurzen und barschen Gruß, ohne sich dabei in ihrer Hantierung stören zu lassen. Madulani hielt eine kleine Weile an sich, während er den Hut umständlicher an den Nagel hing, als gerade nöthig war, und dabei sein Weib scharf von der Seite beobachtete. Endlich entschloß er sich, zu reden, und fragte:

„Warst Du in der Kirche – bei dem Gedinge?“

„Ich war dort,“ antwortete die Frau kurz und ohne aufzuschauen.

„Und das Mädchen?“

„Hat das Haus nicht verlassen. Sie ist bei dem Verwundeten, der – dem Herrn sei Dank! – in wenigen Tagen das Bett wird verlassen können.“

„Das ist gut – ich kann ihn hier nicht länger brauchen, Du wirst wissen, warum: denn wenn Du auf dem Plan warst, so hast Du auch gehört, was dort vorgegangen ist – laut genug wurde gesprochen.“

Da hielt Frau Barbla in ihrem Thun inne und richtete sich auf. Voll und scharf blickte sie ihrem Manne in das Angesicht, dann sagte sie mit starker Stimme: „So laut wurde gesprochen, daß es bis zum Himmel und zu dem dringen mußte – auf den Ihr geschworen habt.“

„Ich frage Dich, ob Du gebört hast, was wir geredet, was ich zugesagt und – beschworen,“ unterbrach sie der Ammann, der ebenso viel Ungeduld wie Unbehagen empfand.

„Ich habe gehört,“ fuhr Barbla unbeirrt fort, „daß der alle Nout von Islas zu Dir gesagt hat: ‚Euren Wahrsprach bei Pflicht und Eid habt Ihr vor Gott zu rechtfertigen; möge er Euch und Euer Kind nicht dafür strafen!‘ Und ich, Gian, sage Dir“ – hierbei trat sie ganz nahe an ihn heran und bohrte ihre scharfen Blicke in seine Augen – „ich sage Dir, daß des Himmels Strafe über uns alle kommen – uns alle verderben wird, wenn wir nicht wieder gutmachen, was Du gesündigt hast – denn Du hast als Ammann und Vater – einen Meineid geschworen!“

„Weib!“ schrie Madulani auf, am ganzen Körper vor Wuth zitternd, und einen Schritt von ihr zurückweichend, streckte er ihr die geballte Faust entgegen.

Doch die Frau ließ sich durch diesen Wuthausbruch nicht stören. Die Stimme mäßigend, sprach sie mit dumpfem bebenden Ton, doch um so eindringlicher weiter: „Du hast einen Meineid geschworen, Gian, denn an jenem Unglückssonntage hast Du den ganzen Morgen das Haus nicht verlassen – und der Peider hat es nicht betreten. Du sahst ihn nicht während des Festes! Du sahst ihn zum erstenmal, nachdem die Blutthat geschehen war!“

Madulani hatte bei diesen Worten, deren Richtigkeit er anerkennen mußte, die Farbe gewechselt. Verwünscht, daß er an diesen Umstand nicht gedacht hatte! Sein Athem stockte und mit weit aufgerissenen Augen starrte er sein Weib an, das den Blick gleichmüthig aushielt. Aber seine Betroffenheit währte nur kurze Augenblicke, dann raffte er sich mit einer starken Willensanstrengung zusammen, suchte seinem Gesicht wieder den gewohnten gebieterischen Ausdruck zu geben und polterte in barschem Ton:

„Was weißt denn Du? – Ich habe dem Peider die Hand der Aninia zugesagt und am nächsten Sonntag, heute in acht Tagen, ist die Trauung – vor allen Pfarrgenossen. Es muß schnell gehen, damit die leidige Geschichte zur Ruhe kommt. Du magst es dem Mädchen sagen, in einer Woche könnt Ihr mit allem fertig sein, was sie zur Hochzeit braucht, – die Ausstattung liegt ja ohnedies schon jahrelang im Schrank. Am Sonntag führst Du sie dann zur Kirche, wie es sich für die Mutter ziemt. Zeit genug zum Ueberlegen habt Ihr heute, denn nach dem Mittagessen gehe ich nach Sils-Baseglia zu dem Peider, um alles Weitere zu ordnen. So habe ich es beschlossen und dabei bleibt’s!“

Frau Barbla war wieder ruhig, wie zu Anfang dieser bedenklichen

[536]

Bilder aus dem Sächsischen Erzgebirge.
Nach der Natur gezeichnet von Olof Winkler.
Schwarzenberg. Freiberg. Kreuzgang, Dom Freiberg.
Scharfenstein. Purschenstein. Wolkenstein. Grube Daniel bei Schneeberg. Stein. Rauenstein. Goldene Pforte, Dom Freiberg. Teufelskanzel, Dom Freiberg.
Alter Pferdegöpel bei Brand. In der Grube. Augustusburg.
Kaeseberg & Oertel X. A.. Olof Winkler.

[537] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [538] Unterredung, und in ihrer Hantierung fortfahrend, sagte sie gelassen, aber mit fester Stimme:

„Du hast als Vater Dein Jawort gegeben, ohne das Mädchen zu fragen; ich als Mutter habe auch ein Recht auf mein Kind, und ich werde die Aninia fragen; antwortet sie ‚ja‘, so mag es in Gottes Namen nach Deinem Willen geschehen; sagt sie aber ‚nein‘, dann gebe ich meine Einwilligung zu dieser Heirath nicht und der Peider bekommt die Aninia nicht zum Weibe.“

„Oho! das wollen wir doch sehen!“ rief der Cavig voll verächtlichen Hohns.

„Am nächsten Sonntag wirst Du es sehen und erleben,“ lautete die kurze, äußerst ruhig gegebene Antwort.

„Jetzt aber habe ich’s genug!“ rief Madulani und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Rufe das Mädchen und bringe die Suppe herein, auch was zu trinken, ich habe einen Gewaltshunger, und meine Kehle brennt wie Feuer von dem verdammten Geschwätz ohne Ende.“

Wenige Augenblicke später stand eine riesige Schüssel mit der dicken dampfenden Suppe, welcher ein würziger Duft entstieg, auf dem Tische und Aninia trat in die Stube.

Das hübsche Antlitz des Mädchens war lebhaft geröthet, ihre dunklen Augen strahlten und eine große Freude stand ihr im Gesicht geschrieben. „Beppo ist wirklich genesen!“ rief sie beim Eintreten, und dann erst wurde dem Vater Handschlag und Gruß. „Er fühlt sich so wohl und kräftig, daß er heute schon vom Bett aufstehen könnte.“

„Das ist mir gerade recht,“ entgegnete Madulani, bereits den Löffel zum Munde führend, kurz und gleichgültig. „Je eher er das Haus verläßt, desto besser!“

Aninia stutzte und blickte fragend nach der Mutter hinüber. Diese sagte nur:

„Iß und trink jetzt! Nach dem Essen, wenn der Vater nach Sils gegangen ist, werde ich mit Dir reden.“

Nun wurde kaum noch ein Wort gesprochen. Madulani aß mit einer auffallenden Heftigkeit, scheinbar um seinen nagenden Hunger zu stillen, in Wirklichkeit, um nichts Weiteres reden zu müssen. Aninia schwieg verlegen und besorgt, und die Mutter that wie immer, still und geräuschlos erfüllte sie ihr Amt als Hausfrau.

Endlich war das Mittagessen und das unbehagliche Beisammensein zu Ende, Madulani erhob sich, ergriff seinen Hut, den derben Stock und verließ nach kurzem Gruß die Stube. Da diese sich in ein großes Gelaß öffnete, das ins Freie führte und zugleich den Eingang in das Haus bildete, so vermochten die beiden Frauen, welche unbeweglich und schweigend sitzen geblieben waren, die schweren, dröhnenden Schritte des Davongehenden bis auf die Gasse zu verfolgen – wenn man die unregelmäßigen Durchgänge zwischen den einzelnen freistehenden Wohnstätten, an denen hier der Surleybach vorbeifloß, also benennen konnte. Da hörten sie plötzlich, wie der Cavig draußen vor dem Hauseingang zu jemand redete. Kurz und bestimmt, wie er stets zu sprechen gewohnt war, sagte er, den Horchenden deutlich hörbar: „Geht nur hinein zu dem Bergamasker, der wieder geheilt und heute noch imstande sein soll, das Bett zu verlassen. Frau und Tochter haben mitsammen zu reden und werden dann schon zu Euch stoßen. Mit Gott!“ – dann verhallten die Schritte auf dem festgetretenen, steinigen Dorfwege.

„Es kann nur Fra Battista sein,“ meinte Aninia mit einem erleichterten freudigen Aufathmen.

Frau Barbla war zu dem Stubeneinlaß gegangen, hatte durch eine kleine, dort angebrachte Oeffnung geschaut, während draußen schlürfende Schritte, hierauf das Oeffnen und Schließen einer Thür vernehmbar geworden waren. Dann kehrte sie zu ihrem Sitz zurück und murmelte kaum hörbar vor sich hin: „Der Himmel sendet ihn uns – zur rechten Stunde!“

Mutter und Tochter waren allein.

Noch eine ganze Weile blieben beide stumm einander gegenüber sitzen. Frau Barbla schaute wie in schweres Sinnen versunken vor sich nieder. Endlich mußte sie wohl einen letzten Zweifel überwunden haben, zu einem festen Entschluß gelangt sein, denn nun hob sie den Kopf und ohne irgend eine Aufregung zu verrathen, sagte sie in ihrer gewohnten ruhigen Weise, doch ernst und bestimmt:

„Nun merk’ wohl auf, Aninia, was ich Dir zu sagen habe, denn es ist ernst – sehr ernst, und viele Worte mache ich nicht. Heute morgen, vor den Geschworenen, – die außer einem, dem alten Nout Zavarit aus Islas, den Angeklagten freigesprochen haben, – hat Dein Vater Dich im Beisein der ganzen versammelten Pfarrgemeinde dem Franzosen-Peider verlobt und heute in acht Tagen soll die öffentliche Trauung sein.“

Aninia stieß bei diesen Worten einen lauten Wehschrei aus und fuhr mit der Hand nach dem Herzen. Dann sank sie wie vernichtet auf ihrem Sitz zusammen.

Nun erhob sich Mutter Barbla, faßte ihr Kind in die Arme und sagte, indem sie ihre rauhe Stimme und Weise so viel wie möglich zu mildern suchte:

„Sei ruhig, Aninia, nur Dein Vater hat ‚ja‘ gesagt.“

„Und Ihr, Mutter?“ Die großen Augen des Mädchens starrten angstvoll fragend der Frau ins Gesicht.

„Ich sagte und sage: ‚Nein‘! – oder Du müßtest denn selbst den Franzosen-Peider wollen?“

„Lieber den Tod!“ rief Aninia, vom Stuhl emporspringend. In heftiger Erregung warf sie die Arme um den Hals der Mutter und verbarg ihr blondes Köpfchen Schutz suchend an der treuen Brust. Frau Barbla strich mit einer Rührung, die gegen ihr gewohntes trockenes Wesen seltsam abstach, über den goldenen Scheitel und sagte leise:

„Hab’s gewußt, Aninia, und auch – wie es um Dich steht. Der Beppo hat’s Dir angethan – wehre Dich nicht! Und zu schämen brauchst Du Dich auch nicht. Ist er auch nur ein armer Bergamasker Hirte, so ist er doch ein wackerer, braver Mensch. Ist er Dir recht, so gebe ich ihn Dir zum Manne.“

„Ach, Mutter, ist es denn möglich?“ rief Aninia der Mutter gebräuntes, faltiges Antlitz mit Küssen bedeckend. „Aber woher wißt Ihr –“

„Ich weiß alles! Habe Dich tagtäglich und auch noch am gestrigen Abend belauscht – es war keine Sünde, was mich dazu trieb, einzig und allein nur die Liebe zu meinem Kinde. Jetzt sprich, willst Du den Beppo wirklich zum Manne?“

„O Mutter, er ist mein Leben – mein alles! Er kann nicht mehr ohne mich sein – und ich nicht mehr ohne ihn. Aber – der Vater! O Gott, das wird fürchterlich werden!“

Ruhig löste Frau Barbla die umschlingenden Arme ihres Kindes und ließ die Zitternde auf den Sitz nieder. Dann sagte sie mit einem ernsthaften Kopfnicken:

„Der Vater! Ja freilich wird er Dich mit Gewalt zwingen wollen, wie er bis jetzt mich und alles nach seinem Willen gezwungen hat. Aber diesmal –“ sie richtete sich hoch auf, „verzeih mir’s Gott! – diesmal soll er seinen Willen nicht durchsetzen, um Dich elend zu machen, wie ich es seit fünfundzwanzig Jahren bin. Ja,“ fuhr sie ausbrechend fort, als Aninia mit verwunderten Augen aufsah, „schau mich nur an! Auch ich habe einstmals einen braven, armen Burschen gern gehabt und mußte den reichen Madulani nehmen, weil mein Vater auch meinte, nur das Geld mache glücklich. Nun, und glücklich bin ich denn auch geworden in seinem steinernen Hause –“ sie lachte bitter auf – „ich habe ja immer satt zu essen gehabt und eine warme Stube, drin ich mich ducken und fügen konnte, jahraus, jahrein. Und ich habe es auch mit ansehen dürfen, wie das viele Geld gemacht wird, mit Hartherzigkeit und Uebervortheilung, und ich habe mich dagegen ist meinem Innersten empört, aber helfen konnte ich nicht. Als Dein Großvater starb – tröste ihn Gott! – da reute es ihn, daß er seine Tochter, die Büssin, dem Elend überlassen hatte, und er band’s Deinem Vater aufs Gewissen, dem armen Ding einen Antheil vom Erbe zu geben. Ich stand hinter der Thür, ich hab’s gehört – und als er todt war –“ fuhr sie fast schreiend fort, „da steifte sich Dein Vater aufs Recht und gab ihr nichts und konnte es mit ansehen, daß seine leibliche Schwester Hunger litt. O!“ sie hob die Hand wie anklagend zum Himmel, „was ist das für ein Recht, das gegen Gottes Gebot geht! – Ich wollte es gutmachen, ich dachte mir, wenn Du den Clo heirathetest, wäre es eine Vergeltung – nun, es hat nicht sein sollen, und die Büssin muß ihre Armut weitertragen, bis ihr die himmlische Vergeltung wird, denn vor Gottes Augen gilt nur sein Recht!

Aber nun hat neulich vor seinem Angesicht Dein Vater einen Meineid geschworen, um den Franzosen-Peider zu retten und sein Gold zu gewinnen – ich thue nur, was recht ist vor den Augen Gottes, wenn ich ihn jetzt verhindere, die Todsünde vollkommen zu machen. Und Du sollst nicht geopfert werden, wie ich es dereinst worden bin. Mag kommen, was wolle, ich nehme alles auf mich, aber das darf nicht geschehen!“

[539] Frau Barbla stand hochaufgerichtet, ihre Augen strahlten in einem heiligen Feuer; so hatte Aninia die Mutter noch nie gesehen. Schüchtern faßte sie ihre Hand, führte sie an die Lippen und fragte dann, nach einer langen Pause, zaghaft:

„Aber was wollt Ihr thun, Mutter, um es zu verhindern?“

„Das sollst Du bald sehen,“ erwiderte die Frau entschlossen. „Wir haben nur einen Weg, Dich vor dem Peider zu retten und Dir den Beppo zu gewinnen; – freilich wird Dich dadurch der Zorn Deines Vaters treffen. Also bedenke wohl, hast Du den Muth, ihn zu ertragen, wenn er über Dich hereinbricht? Es wird ein schwerer Augenblick werden bei seinem Starrsinn, seinem harten Herzen. Fühlst Du die Kraft in Dir, alles für den Beppo zu wagen und zu ertragen? – Deine Mutter steht Dir bei und sagt Dir zum Trost: es ist zum Guten, was wir thun. – Jetzt rede!“

„Alles! – Alles, das Schlimmste und Schwerste will ich freudig ertragen, denn wenn Du meinst, daß es so recht ist, dann habe ich auch den Muth dazu,“ rief Aninia in hellauflodernder, freudiger Begeisterung mit fester Stimme. „Und der Vater, wenn er sich ausgetobt hat, wird auch zuletzt seinen Sinn ändern und mir vergeben.“

„Darauf rechne nicht – Du würdest Dich betrügen! Ich kenne Gian Madulani seit fünfundzwanzig Jahren und weiß sicher, daß er niemals vergiebt und vergißt, um so weniger, wenn er unrecht gethan hat, um sein Ziel zu erreichen. Das müssen wir in Gottes Hand stellen. Aber auf seine Gnade darfst Du hoffen und auch auf den Trost Deiner armen Mutter. – Jetzt komm!“

Damit schritt sie auf eine Seitenthür zu, die durch mehrere Gelasse in die Stube führte, wo der Verwundete und nun Genesene lag. Wie im Traume folgte ihr Aninia.

(Fortsetzung folgt.)




Im Sächsischen Erzgebirge.

Von Anton Ohorn. Mit Abbildungen von Olof Winkler.

Frauenstein.

Die fröhlichen Tage sind gekommen, da die Schreibtische und die Pulte in den Amts- oder Studirstuben sehr ansehnliche Lücken zeigen, da die Lehrsäle der Universitäten, die Thore der Schulhäuser geschlossen bleiben und auf den Bahnhöfen die ränzchenbelasteten Gestalten mit derberen oder zarteren Stäben sich drängen, da in den Städten die vornehmeren Häuserzeilen mit ihren geschlossenen Läden ein merkwürdig ungastliches Gepräge tragen, als ginge eine Seuche darin um oder „stünde der Schwed in der Nähe“. Die Wanderzeit und Wanderfreude ist überall erwacht und fessellos bricht der Erfrischung suchende Strom nach allen Seiten aus.

Die Steige des grünen freundlichen Thüringerwaldes, die malerischen Bergschluchten des Harzes, die tannenschattigen Pfade des schönen Schwarzwalds beleben sich, denn längst begründeter Ruf und alte Gewohnheit locken dahin, und nur die Sächsische Schweiz darf sich allenfalls noch rühmen, mitgenannt zu werden, wo man von Deutschlands landschaftlichen Reizen spricht. In neuerer Zeit bemühen sich aber mit Recht auch das Riesengebirge und das Erzgebirge, zur gebührenden Geltung zu kommen. Letzteres zumal war immer als eine Art Aschenbrödel angesehen worden, als ein nüchterner, unfruchtbarer Gebirgsstrich, ohne besondere landschaftliche Schönheiten und mit einer dürftigen, oft wohl auch hungernden Bevölkerung; und doch darf es sich kühn neben seine vielgepriesenen Genossen stellen, denn es vereinigt in sich Gegenden von dem rauhen, malerischen Ernst des Harzes mit solchen, welche an die lieblich idyllischen Thäler Thüringens gemahnen, und der rührige Sinn und der Gewerbfleiß seiner Bewohner, der in den freundlichen Städten, in den zahlreichen schön gelegenen und wohlgebauten Dörfern jedem Auge sich bemerkbar macht, verleiht ihm noch einen besonderen Reiz.

Das Erzgebirge dehnt sich wie ein langgestreckter, mächtiger Wall zwischen Böhmen und Sachsen hin, der nach Süden ziemlich steil abfällt, nach Norden zu sich langsam verflacht, so daß seine Ausläufer sich weit ins Sachsenland hinein erstrecken. Stattliche Gipfel heben ihre stolzen Häupter über den grünen Kamm empor, und mancher von ihnen, wie der Keilberg (1238 m) und der Fichtelberg (1213 m), überragt die höchsten Höhen des Harzes und des Thüringerwaldes um ein gutes Stück. Durch die anmuthigen Thäler brechen muntere, forellenbelebte Flüsse sich ihre vielgewundene Bahn, und stattliche, thurmreiche Herrensitze spiegeln sich in ihren Wellen. Herrliche Fichten- und Buchenwälder sind des Erzgebirges Schmuck und Stolz und durch Jahrhunderte hieß es schlechthin „Waldgebirge“ oder „böhmischer Wald“, bevor die jetzige Bezeichnung sich Bahn brach. Es verdankt sie dem Reichthum an Erzen, zumal an Silber, die seit langem besonders in der Freiberger und Schneeberger Gegend gewonnen werden.

Freiberg ist noch heute der Mittelpunkt des Bergbaus im Erzgebirge und eine seit alten Zeiten hochangesehene Stadt. Sie gehört dem östlichen Theile des Gebirges an und nahe an ihrem Weichbilde fließt die Freiberger Mulde vorüber. Salzfuhrleute, die von Halle aus durch das Meißner Land gegen Böhmen zogen, sollen mit dem Einschnitt ihrer Wagenräder Silbererz hier angeschürft haben, und Harzer Bergleute begannen den Abbau mit solchem Erfolge, daß Freiberg schon 1175 durch Markgraf Otto den Reichen zur Bergstadt erhoben ward. Und den Charakter einer solchen verleugnet es auch heute nicht, trotzdem der Silberbau gering geworden ist; in seinen Gassen und seiner ganzen Umgebung lebt bergmännisches Wesen und Treiben und seine 1765 gegründete Bergakademie hat einen Weltruf. Die alte Bergstadt wird freundlich umrahmt von einem Kranze grüner Baumanlagen und sieht noch immer, obwohl ihre eigentliche Glanzzeit entschwunden ist, recht stattlich und wehrhaft drein mit ihren grauen Mauerresten, ihren alten Thürmen, vereinzelten ansehnlichen Giebelhäusern und ihrem ehrwürdigen Dom, dessen sogenannte „goldene Pforte“ ein wunderbar schönes Denkmal romanischer Kunst ist. Die Wölbungen des Gotteshauses selbst ruhen auf 10 stattlichen Säulen, welche dasselbe in drei Schiffe theilen. Bemerkenswerth sind die beiden steinernen Kanzeln, von welchen die ältere völlig freisteht und mit ihrem aus kunstvollen steinernen Verschlingungen sich aufbauenden Fuß und ihrem zu einer mächtigen, schönen Tulpe [540] sich erweiternden Predigtstuhl einen seltsamen Eindruck macht. Um ihrer Schönheit willen soll nach der Sage der Geselle, welcher sie gefertigt hat, von dem darüber eifersüchtigen Meister erschlagen worden sein, weshalb sie wohl auch hie und da die „Teufelskanzel“ genannt wird. An der Südseite des Domes umschließen gothische Kreuzgänge den ehemaligen Friedhof, und in der Begräbnißkapelle des Domes selbst schläft eine Anzahl sächsischer Fürsten den ewigen Schlaf.

Rings um die alte Bergstadt her hat die Natur keine Reize ausgestreut, als wollte sie selbst den Sinn nicht ablenken von dem, was im Schoße der Erde ruht; in den Tiefen aber entfaltet sich weithin ein reges Leben, von welchem die überall dem Auge begegnenden Förderungswerke Zeugniß geben, und eine Einfahrt in einen der zahlreichen tiefen Schachte ist von höchstem Interesse. Was man hier gewinnt, das wird in den nahen Muldner Hütten, wie z. B. in der Halsbrückner Hütte, bergmännisch weiter behandelt, und so eigenartig ernst und grau, fast wie an Bilder aus einer fernen, fremden Landschaft gemahnend, diese Hüttenwerke sich dem Blicke darstellen, so fremdseltsam ist auch das Treiben in ihnen. Die Werke, welche in der „Gartenlaube“ 1879, Nr. 40, eine ausführliche Beschreibung gefunden haben, sind Staatseigenthum, und seit 1887 befindet sich selbst die königlich sächsische Münzstätte in den Muldner Hütten.

Annaberg.

Barbara Uttmann’s Grab   Spitzenklöpplerin.

Eine Fülle charakteristischer Eindrücke, wie man sie in dieser Art in Deutschland wohl kaum wiederfindet, bietet sich, wenn man nach dem südwärts gelegenen Stollenhaus wandert und, nachdem man hier noch einmal auf das freundliche Städtebild zurückgeschaut hat, den Weg nach der benachbarten kleinen Bergstadt Brand einschlägt. Da geht es unaufhörlich vorüber an Schächten und Stollen, an grauem Geröll und an karg überwucherten Berghalden, an modernen Dampf- wie an alterthümlichen Pferdegöpeln, durch welche die metallischen Schätze aus der Tiefe gehoben werden; um uns her tönen die Glöckchen aus den Werken, fleißige Knappen in ihrem eigenthümlichen Anzug, die Grubenlampe an der Brust, eilen von oder zu der Schicht und der treuherzige Bergmannsgruß schlägt uns ans Ohr. Die Landschaft selbst ist grau und einförmig, aber wer sich nach rauschenden Waldwipfeln und duftigem Föhrenhauch sehnt, den führt der Schienenweg von Freiberg schnell genug in das an der Freiberger Mulde gelegene und von den herrlichsten Forsten umrahmte Mulda, das neuerdings auch als Luftkurort in Aufnahme gekommen ist.

Von hier aus empfiehlt es sich, an dem Burgberg vorüber nach Frauenstein zu wandern, einem freundlichen Städtchen, das anmuthig und wie unter der sichern Hut des stattlichen Schlosses und der mächtigen alten Thürme ruht, welche sich über dasselbe erheben; denn der neuere aus dem Jahre 1588 stammende Schloßbau lehnt sich an altersgraue, weitausgedehnte Ruinen, die zu den ansehnlichsten vielleicht in ganz Deutschland zählen. Von hier hatten schon die Meißner Burggrafen und nachmals Sachsens Kurfürsten weit ins Land hinein gesehen, und noch heute ist der „Lärmstange“ genannte Thurm, von welchem wohl in mancher Kriegesnoth ehedem die warnenden Feuerzeichen aufflammten, ein trefflicher Luginsland und bietet eine entzückende Fernsicht auf des Erzgebirgs ragende Höhen und grüne Wälder. Weiter unten an der auf drei Seiten bewaldeten Berglehne steht der Thurm, welchen man den „dicken Märten“ nennt und dessen Tiefen ernste, düstere Geschichten zu erzählen wissen.

Von Frauenstein führt die Straße über Bienenmühle, das freundlich in der Niederung liegt, und durch den prächtigen Wald des Klötzerwegs nach Kämmerswalde und hinab in das Thal der Flöha, die mit ihrem hellen, munteren Wasser uns leitet, bis uns aus den grünen Gehägen seines Parkes das hochragende, thurmgeschmückte Schloß Purschenstein, der Edelsitz der Herren von Schönberg und ehedem ein böhmisches Krongut, begrüßt. Unweit davon liegt das zu dieser Herrschaft gehörige Bad Einsiedel, das mit seinen schwefelhaltigen Eisenquellen manchen Badegast anlockt. Dem Laufe der Flöha das freundliche Thal hinabfolgend, kommen wir hart an die Grenze des Königreichs Sachsen, in das reizend gelegene Grünthal, in dessen ehemaliger Saigerhütte Peter der Große sich einst auf einen der riesigen Hämmer setzte und auf und nieder schwingen ließ, und von da nach Olbernhau, einem gewerbfleißigen Orte, der von seinen landschaftlichen Schönheiten bei Touristen und Sommerfrischlern einen sehr guten Namen hat. Vom Bruchberg aus bietet sich ein entzückendes Bild auf die theils lieblichen, theils, wie das malerische Thal der Natschung, trotzig wilden Flußniederungen und auf die prächtigen Bergwälder mit ihren dunklen Fichten und Tannen und dem helleren Grün der herrlichsten Buchen. Im Kriegwald steht auch die Königstanne, eine Fürstin des Waldes, deren Alter man auf 500 Jahre schätzt, deren Stamm über den Wurzeln einen Durchmesser von 2,10 Metern hat und deren Scheitel 47 Meter hinauf zum Himmel ragt. Der Leser findet eine Abbildung derselben in der „Gartenlaube“ 1883, Nr. 4.

Von Olbernhau aus läßt es sich wandern, als ob man im Harzgebirge mit seinen gerühmten düsterschönen Thälern wäre, und wir gerathen allmählich immer tiefer in das mittlere Erzgebirge mit seinen wildromantischen, zerklüfteten Felsen und seinen von dichter Waldesdämmerung beschatteten Thälern, durch welche klar und lustig die Gebirgswässer eilen. Durch das herrliche

[541]

Bei Neustädtel.
Greifenstein.   Mulde bei Aue.
Filzteich bei Schneeberg.

Natschungthal geht es über das stille Rübenau hinab in das Pockauthal, und hier stehen wir mitten in Landschaftsbildern, welche in der That den Vergleich mit jenen des Harzes nicht zu scheuen haben. Hoch und steil abfallend ragt als Glanzpunkt dieser Wanderstrecke der Katzenstein empor und von seiner Felsplatte aus beherrscht man die großartig düstere Schönheit der Gegend. Unten rauscht und schäumt über das Steingeröll ihres Bettes die schwarze Pockau, zwischen dunklen Föhren erhebt sich die röthlich schimmernde Felsenbrust der sogenannten „Ringmauer“, und ihr gegenüber, umrahmt von den mächtigen Forsten des Kriegwalds, der Rabenberg. Der Weg durch das Pockauthal abwärts, wobei das freundliche Zöblitz mit seinen Serpentinbrüchen rechts liegen bleibt, führt uns wieder in das liebliche, wenn auch mit minder hervorragenden Reizen ausgestattete Thal der Flöha zurück, die uns heiter und geschwätzig weiter leitet, bis uns von Bergeshöhe das Schloß Rauenstein entgegenwinkt. Ein einziger niedriger Thurm ragt über die grauen Schindeldächer des Herrensitzes, der mit einer gewissen trotzigen Anmuth, keck und idyllisch zugleich, aus seinen die Berglehne bedeckenden Gartenanlagen herauslugt. Nachkommen des großen Dichters und Denkers J. G. Herder haben sich hier ein traulich Heim geschaffen. Der herrliche Buchenwald in der Nähe lockt zur Rast und das freundliche Städtchen Lengefeld zum Absteigequartier.

Im Flöhathal weiter abwärts liegt auch Grünhainichen, ein stattliches, wohlhabendes Kirchdorf. Hier hausen jene freundlichen Wichtelmännlein, die nach dem seligen Kinderglauben für das liebe Christkind arbeiten, und hundert fleißige Hände werden von der Spielwarenindustrie beschäftigt, welche überhaupt im Erzgebirge, besonders bei Olbernhau und Seiffen, daheim ist. Grünhainichen besitzt auch eine Fachschule für Spielwarenarbeiter und eine sehenswerthe Musterausstellung. Munter rollt das klare Bergwasser seine Wellen daran vorüber und führt uns gegen Leubsdorf, wo wir das Flüßchen überschreiten und nun in völliger Nähe den stattlichen Schellenberg vor uns haben, der zwischen den Thälern der Flöha und Zschopau sich als der mächtigste Ausläufer des mittleren [542] Erzgebirges darstellt und auf seinem hohen Gipfel die Augustusburg trägt. Zu ihren Füßen, malerisch an den Bergeshang gruppirt, liegt das Städtchen Schellenberg, dessen weiße, freundliche Kirche weit ins Land hineinschaut; die Burg selbst aber, ein mächtiger, mit vier schwerfälligen, kurzen Thürmen versehener Schloßbau, beherrscht die ganze Gegend. Vorbei ist die Zeit der glänzenden Feste, welche einst die weiten, herrlichen Hallen erfüllten, still und öde ist’s in den verfallenden Prunksälen der sächsischen Kurfürsten, aber eines ist geblieben, die umfassende und bezaubernde Fernsicht, die das Königreich Sachsen nach seiner ganzen Breite beherrscht; denn das Auge schweift nach Norden bis über den Rochlitzerberg mit seinem Thurme hinweg nach dem Colmberg, erblickt nach der andern Seite die fernen Riesen des Erzgebirgs, den Fichtelberg und Keilberg, den Pöhlberg und den Greifenstein, und in unmittelbarer Nähe liegen grüne Fluren, malerische Thäler und herrliche Wälder. Und wenn wir den etwa 180 m tiefen Brunnen, die seltsame uralte Linde und vielleicht das Bild von Lukas Cranach in der Kapelle noch gesehen haben, wandern wir auf gutgepflegten Waldwegen nach dem Kunerstein, einer Felsbastei mit anmuthigem Ausblick in das Thal der Zschopau, wo gleich einem Vogelneste eine kleine gute Gastwirthschaft auf der steilen grauen Wand thront, und von da aus hinab nach dem hübschen Erdmannsdorf, dessen idyllisches Behagen durchaus nicht gestört wird durch die hohen Essen, welche die Industrie hier gebaut hat, und wo der sächsische Finanzminister von Könneritz ein freundliches kleines Schloß besitzt.

Nun sind wir im Thale der Zschopau, welche als die Pulsader des mittleren Erzgebirges gelten kann, an deren grünen Gestaden die Industrie ihre mächtigen Werkstätten errichtet hat, deren Windungen das Dampfroß folgt und in deren Niederungen schöne, schmucke Dörfer und Städte liegen, die das Auge des Wanderers erfreuen. Es ist ein köstliches Wandern durch dieses anmuthige, malerische Thal, das so reich ist an landschaftlichen Schönheiten, erfüllt von waldfrischem Hauche und belebt von einer geschäftigen, segensvollen Kultur. Und zwischen den lachenden Ufern zieht der klare, helle Gebirgsfluß sein glitzerndes Band, bald im eifrigen Dienste des Gewerbes, bald zwanglos und übermüthig über das Steingeröll seines Bettes hüpfend, in welchem gefleckte Forellen im hellen Sonnenschein spielen. Wir benutzen von Erdmannsdorf ab die Bahn und gelangen im Flußthal aufwärts über Hennersdorf, wo uns rechts von grüner Bergeshalde das flatternde Fähnchen der Wirthschaft „Onkel Tom“ winkt, über Witzschdorf und Waldkirchen, immer vorbei an hohen, rauchenden Essen, nach Zschopau, einer nicht unansehnlichen Stadt, die seit alten Tagen bekannt war, da sie an der Heerstraße lag, die aus dem Reiche ins Böhmerland führte und die beherrscht wird von dem stolzen Schlosse Wildeck.

Steigt man hinter dem Bahnhofe den Berg hinan, so kommt man auf einen Weg, der in gleicher Linie mit dem Flusse läuft und immer aufs neue durch seine herrlichen Ausblicke auf Thal und Bergeshöhen erfreut und uns erquickt mit seinem Waldeshauch. Er leitet uns endlich auch hinab nach dem reizend gelegenen Scharfenstein, dessen altes, hoch auf der vom Fluß bespülten Felswand thronendes Schloß trutzig und wehrhaft in das Thal niedersieht, heute auf ein friedliches Treiben – unter anderm auf eine sieben Stockwerke hohe Spinnerei – ehedem wohl auch auf anrennende Feindeshaufen, wie beispielsweise der tapfere Bernhard von Weimar solche sieghaft gegen sie heranführte. Eine dumpfe, schwer beängstigende Luft scheint noch immer das alte tiefe Burgverließ zu erfüllen, aber frei und froh athmet die Brust auf der Höhe des alten Wartthurms.

Und weiter geht es durch Wald und Thal über das malerisch gelegene Floßhaus nach dem kleinen Warmbad Wolkenstein im stillen Hüttengrunde, dessen Quelle Hunderte von Leidenden herbeiführt und vielen ersehnte Heilung gebracht hat. Es ist ein friedliches, schlichtes, aber idyllisches Fleckchen Erde, in welchem wohlthuende Ruhe herrscht im Gegensatze zu dem, was man gewöhnlich unter Badeleben versteht. Nicht fern davon, etwa 130 m höher, liegt das Städtchen Wolkenstein mit seinem unansehnlichen, alterthümlichen Schlosse, in welchem einst Herzog Heinrich der Fromme mit Vorliebe wohnte. Es thront auf hoher Felswand über dem spiegelnden Flusse, und von seinen Fenstern senkt sich der Blick hinab ins Thal, wo über die Eisenbahnbrücke der Zug hinrollt gegen das lieblich gelegene Wiesenbad, einen Nebenbuhler des Warmbads Wolkenstein, und schweift hinüber auf die grünen nahen Höhen und den fernher blauenden Gebirgszug.

Westwärts von Wolkenstein liegt die kleine Stadt Ehrenfriedersdorf mit hochragender alter Kirche; von ihrer Vergangenheit und von dem einstigen Gewinn an Zinn- und Silbererzen reden die ringsum zerstreuten Berghalden; auch die Sage von der langen Schicht des Bergmanns, der 1407 verschüttet und dessen Leiche 1568 wohlbehalten aufgefunden und beerdigt wurde, erhält die Erinnerung an den vormaligen Bergbau. Im nahen Freiwalde liegt der Greifenstein oder richtiger „die Greifensteine“, sieben seltsam geformte Granitkuppen, wie aus übereinander geschobenen, theilweise überhängenden Platten bestehend und stattlich emporragend über die Gneißunterlage. Es lohnt sich, eine derselben zu besteigen, was bei zweien der Kuppen ohne Gefahr und große Beschwerde geschehen kann; den Blick gegen Süden gewendet, überschauen wir den langgestreckten Gebirgskamm mit seinen ansehnlichsten Gipfeln, während ringsum Städte und Dörfer, Schlösser und Thürme von den Höhen und aus den Thälern grüßen. Es mag wohl auf der Nordseite des Gebirgszugs keinen Punkt geben, welcher einen so umfassenden freien und schönen Ausblick gewährt, und dazu tritt noch die Anziehungskraft, welche dieser Punkt für den Mineralogen und Geologen besitzt. Durch herrlichen Wald geht es hier abwärts nach der alten, freundlichen Bergstadt Geyer, die vordem gleichfalls nicht unansehnliche Silbergruben besaß, an welche die vor der Stadt liegende, etwa 50 m tief eingesunkene „Pinge“ – wie man die von zusammengestürzten Grubenbauen an der Erdoberfläche entstehenden, meist trichterförmigen Vertiefungen nennt – erinnert. Von hier aus schreitet man das anmuthige Thal entlang gegen die bedeutendste Stadt des mittleren Obererzgebirgs, das hochgelegene Annaberg.

Herzog Georg der Bärtige hat den eigentlichen Grund zu der Stadt gelegt (1496), nachdem schon vorher „die wilde Ecke“ am Abhang des Pöhlbergs durch ihren Silberreichthum bekannt und von Leuten mancherlei Schlags bewohnt worden war. Die Fundgruben waren im 16. Jahrhundert höchst ergiebig und die Annaberger Bergherren hatten ihre Säckel reich gefüllt mit den von ihnen geprägten „Engelsgroschen“ und konnten sich theilweise fürstlichen Luxus erlauben; aber die Schätze der Erde versiegten auch hier, der Feuerbrand raste verheerend durch die Gassen, der Krieg pochte rauh an die Thore und die reiche Bergstadt war im 17. Jahrhundert recht klein und arm geworden. Die blinkenden Bergesadern fanden sich nicht wieder, aber in der Rührigkeit und dem Gewerbfleiß der Bewohner lag das Zaubermittel, welches die Stadt wieder ansehnlich und blühend machte. Die Industrie Annabergs ist heute eine vielseitige, besonders eigenthümlich aber ist ihr die Spitzenklöppelei. Auf dem alten Friedhofe, nicht weit von einer riesigen, durch ihren seltsamen Wuchs auffallenden Linde, deren weitausgreifende Aeste durch zahlreiche Pfeiler gestützt werden, steht ein Denkmal, das in steinernem Reliefbild eine Frauengestalt zeigt, die, auf einem Bienenkorbe sitzend, mit Klöppeln beschäftigt ist, während ein Genius den Lorbeerkranz über ihr Haupt hält. Darunter aber steht schlicht und einfach geschrieben: „Hier ruht Barbara Uttmann, gest. d. XIV. Januar MDLXXV. Sie ward durch das im Jahre MDLXI von ihr erfundene Spitzenklöppeln die Wohlthäterin des Erzgebirges.“ In diesen Worten liegt eine ganze Geschichte von Noth und Elend und vom Segen der Arbeit. Ob des Bergzehnters Heinrich von Elterlein Tochter, des Bergherrn Christoph Uttmann Weib, diese Kunst wirklich erfunden oder sie von einer flüchtigen Niederländerin erlernt hat, ändert nichts an ihrem Verdienste, „ihr thätiger Geist, ihre sinnige Hand“ hat hundert und tausend Armen im Laufe der Jahrhunderte Brot verschafft, und noch heute ist das Klöppeln im ganzen obern Erzgebirge bekannt und wird von vielen fleißigen Händen geübt; der Staat selbst unterstützt eine sehr große Zahl von Klöppelschulen und das dankbare Annaberg hat seiner Barbara Uttmann auch auf dem stattlichen Marktplatz ein würdiges Standbild errichtet. Auch die anmuthig im Thale der Sehma gelegene Schwesterstadt Annabergs, Buchholz, mit ihrer schönen gothische Kirche und ihren freundlichen Anlagen ist sehr gewerbfleißig und rührig und darf sich namentlich rühmen, der Posamentenfabrikation, welche in der ganzen Gegend heimisch ist, zu hohem Aufschwung verholfen zu haben.

Trotziger scheinen die hohen Gebirgsriesen ihre Häupter um die einstige Bergstadt her zu erheben und geradezu zum Besuche [543] herauszufordern. Das thut zumal der nahe Pöhlberg, noch mehr aber der zu den Beherrschern des Erzgebirgs gehörige Fichtelberg und der König des Gebirgsreviers, der Keilberg. Vom Aussichtsthurm des Fichtelbergs schweift das Auge weit über die grünen Höhen des Erzgebirges, über einen Strich des Fichtelgebirges, über die Vorberge des Thüringerwaldes und grüßt nach Osten den Fürsten des böhmischen Mittelgebirges, den Milleschauer. Erst kürzlich, am 21. Juli, ist auf dem Fichtelberge auch ein Unterkunftshaus eingeweiht worden; am Abhang des Berges aber, 1092 m hoch, liegt ein Gasthof und seine Bewohner sind Sr. Majestät des Königs von Sachsen „allerhöchste Unterthanen“. Nicht allzufern befindet sich endlich die höchstgelegene Stadt des ganzen Deutschen Reichs, Oberwiesenthal, welche die „Gartenlaube“ 1879, Nr. 11, in Wort und Bild geschildert hat, schlicht, still und ziemlich weltfern, auf ihrer Höhe die ganze Rauhheit des langen Erzgebirgswinters durchkostend, der meist viele Monate lang riesenhohe Schneewälle um das kleine gewerbfleißige Nestchen baut.

Für das westliche Erzgebirge bildet die Flußader die Zwickauer Mulde. Um in ihr Gebiet zu gelangen, wandern wir von Annaberg über Buchholz und Schlettau nach dem Städtchen Scheibenberg, wo gleichfalls an die Stelle des einstigen Bergbaus die Posamentenfabrikation getreten ist, dann herab in das Thal der Mittweida, die bereits in das Flußgebiet der Zwickauer Mulde gehört und bei Schwarzenberg sich in das Schwarzwasser ergießt. Um diese Stadt her glühen Nacht und Tag die Hochöfen, und in den Walz- und Hammerwerken stehen wie berußte Cyklopen die kernhaften, kräftigen Gestalten der Schmiede und schwingen die Hämmer und dämmen den flüssigglühenden Eisenstrom, der aus den Hochöfen kommt, in Sandgruben ab, wo er zu schwarzen Klumpen, den sog. „Gänzen“ wird. Gebräunte Wangen, rauhe Hände und eine derbe Art haben diese Söhne Vulkans, aber dabei auch schlichte treue Herzen. Auch Schwarzenberg ist Bergstadt; es lehnt sich an den Felsen, der über dem Schwarzwasser aufragt, und sein alterthümliches, malerisches Schloß blickt trutzig auf den freundlichen, fleißigen Ort an seinem Fuße und über die grünen Wälder und die herrlichen Landschaftsbilder, die sich unter ihm hindehnen. Und wer diese besonders genießen will, der besuche die malerischen Felsgruppen des nahen Ottensteins, an dessen Fuße, malerisch hineingebettet in das liebliche Thal, das Bad gleichen Namens sich befindet, oder er wandere die Todtensteinpromenade entlang und labe Herz und Auge an den reizvollen, wechselnden Scenerien.

Wenn wir der Führung des Schwarzwassers uns anvertrauen, so leitet uns dies an den zerklüfteten Felswänden des Teufelsteins und an dem rührigen Korbmacherdorfe Lauter vorüber allgemach hinein in das idyllische Thal von Aue, in welchem an der Mündung des Schwarzwassers in die Mulde die Stadt Aue liegt. Sie ist der Mittelpunkt einer ansehnlichen Blechwarenindustrie und besitzt auch eine Fachschule für Blecharbeiter. Wer eine Perle des westlichen Erzgebirgs kennen lernen will, der wandere von hier in das wildromantische Muldenthal und gehe den alten Floßgraben entlang, über dessen Anlage und Ausführung alte Chronisten gar seltsame Sachen zu erzählen wissen. Es ist ein entzückender Weg mit immer neuen mannigfaltigen Bildern, der bald unter leise rauschendem Laubdach, bald unter hochstämmigen Riesenfichten hinleitet. Hier verengt er sich, so daß sich fast hart neben uns mit schroffem Abfall eine tiefe Schlucht aufthut, während an der andern Seite hoch, steil und mit wunderlich zerklüfteter Brust graue Felsen emporragen, aus deren Bruch und Spalten es grünt und blüht, dort wieder weitet sich das Thal zu anmuthigem Wiesengrund und zwischen durch, vorbei an Felswand und grünem Wald, fließt mit spiegelklarem Wasser die Mulde über die großen erratischen Blöcke ihres Bettes; der glänzende Schienenstrang der Eisenbahn zieht sich dem Fluß entlang auf hohen Dämmen hin, überschreitet ihn da und dort auf zierlichen Brücken, ja einmal sogar läuft er in einem 150 m langen Tunnel unter dem Graben selbst hinweg. Beim sogenannten „Rechenhaus“ wendet sich der Floßgraben von der Mulde ab, und über die stattliche Brücke leitet der Weg nach dem Dorfe Bockau, das sich lang in dem Thale hindehnt. In den kleinen, wohlgepflegten Gärten, die um die freundlichen, sauberen Häuser liegen, werden noch immer wie seit uralten Tagen zahlreiche Heilkräuter angebaut, die vordem von hier aus weit versendet wurden. Noch immer heißt der Ort ein Arzneidorf, noch lebt hier manch wunderlicher Laborant, welcher der Natur besondere Kräfte abgelauscht zu haben vermeint und nicht abfallen will von dem Glauben und Aberglauben wie von der Thätigkeit seiner Väter. Auch viele tausend Schachteln „Schneeberger Schnupftabaks“ wandern von hier in die Welt, und er soll die Kraft haben, den „verlorenen Verstand“ wieder herbeizuschaffen.

Von Bockau geht es in der Richtung nach Zschorlau über die Höhe beim Rittergut Albernau, wo Auge und Herz sich erfreuen mag an dem herrlichen Ausblick über das weite grüne Thal, über die ragenden steinernen Wächter an der Mulde, die ihre stolzen Granithäupter gen Himmel recken, und über den dunklen Föhrenwald des mächtigen Ochsenkopfs. Beim Weiterwandern treffen wir immer mehr auf Berghalden, auf die rauchenden Essen der Förderungsschachte und gewinnen die Ueberzeugung, daß wir wieder in ein Gebiet gerathen sind, wo die Schätze der Erde für den menschlichen Fleiß noch nicht erschöpft sind. Und wenn wir auf der Halde des Bergwerks Siebenschlehen uns befinden, liegt weit vor uns ausgebreitet der umfangreiche Filzteich. Still und friedlich ruhen seine grünen Wasser in dem freundlichen Rahmen der Höhenzüge und des dunklen Waldes, aber nicht immer ist er so harmlos gewesen; im zornigen Wallen hat er im Jahre 1785 seine Dämme durchbrochen und seine Fluthen verheerend hineinergossen in das Thal von Zschorlau.

Wir stehen in dem Schachtrevier von Neustädtel und von jeder freien Höhe aus sehen wir ein freundliches Bergpanorama und von seinem Hintergrund heben sich Bilder bergmännischen Lebens und Treibens ab, die landschaftlich allerdings jenen in der Freiberger Gegend weit überlegen sind. Neustädtel selbst ist eine kleine, freundliche Stadt, die freilich gegen ihre größere Schwester Schneeberg zurückstehen muß, welche die wichtigste Stadt des westlichen Erzgebirgs und der Mittelpunkt eines noch immer ansehnlichen Bergbaus ist. Wohl sind auch hier die Zeiten lange vorüber, da ein sächsischer Fürst auf einer Silberstufe von 80000 Mark Werth aus der Georgenzeche sein Mahl einnehmen konnte, aber freundlich und traulich läuten noch immer die Bergglocken von den Halden und neben Kobalt und Wismut blinkt wohl auch noch da und dort dem Bergmann das helle Silber entgegen. Die Stadt liegt sehr malerisch am Bergeshang und wird überragt von der ansehnlichen gothischen Pfarrkirche, in deren Thurm die große Donnerglocke hängt.

Von Schneeberg wenden wir uns gegen Niederschlema und von da durch das Poppenholz nach Wildbach, in dessen Nähe sich über der Mulde die Trümmer der einstigen Isenburg zeigen; von größerem Interesse aber ist eine am andern Ufer, nach welchem uns eine einfache Fähre bringt, gelegene Felsenhöhle. Es ist ein alter Bergstollen, der in Sachsens Geschichte eine besondere Bedeutung erlangt hat. Eine Marmortafel am Eingang kündet uns kurz und bündig: „Aus dieser Kluft wurde Prinz Ernst von Sachsen am 11. Juli 1455 nach dreitägiger Gefangenschaft befreit.“ Hier fand der bekannte sächsische Prinzenraub seinen Abschluß, sein Nachspiel fand er in Freiberg, wo man heute noch als ein düsteres Wahrzeichen am Marktplatz die Stelle zeigt, auf welcher der Prinzenräuber Kunz von Kauffungen enthauptet ward. Die Kluft bei Wildbach aber heißt noch heute die „Prinzenhöhle“.

Im Muldenthal nur wenig abwärts liegt eine der malerischsten alten Burgen Sachsens, Schloß Stein. Es ist, als ob es herauswüchse aus seinem Felsengrunde, und seine grauen Mauern spiegeln sich in dem hart darunter vorbeiziehenden Flusse. Von hier führt uns das Dampfroß binnen kurzem nach dem mächtig aufblühenden Zwickau, wo wir scheiden wollen von dem Erzgebirge und seinen Schönheiten.

Nur flüchtig haben wir es kreuz und quer durchflogen, aber mancher der freundlichen Leser hat doch wohl den Eindruck erhalten, als ob es nicht gerade arm sei an Reizen. Seine ernsten Fichtenwälder, seine spiegelklaren Flüsse, an denen graue Felsenriesen Wacht halten, seine zahlreichen Burgen und Schlösser, seine fleißigen Dörfer und Städte sind wohl des Besuches werth. Ueberall raunt und erzählt es von alten seltsamen Sagen, die ihre Silberfäden spinnen über die Höhen und durch die Thäler, und mit dem Zauber der Vergangenheit eint sich der freundliche, gefällige und entgegenkommende Sinn der heutigen Bewohner. Und vor allem seit der rührige Erzgebirgsverein von Schneeberg aus sein Banner entfaltet und das ganze Gebirgsgebiet mit seinen Zweigvereinen umspannt hat, ist das Wandern beinahe überall bequem und behaglich geworden: Wegweiser zeigen die besten Steige, [544] die Pfade sind geebnet und gut, gleich Spazierwegen, und auf vielen Höhen erheben sich Aussichtsthürme und winken grüßend einander zu und locken weit hinein ins Land, als wollten sie mahnen: O kommt herbei und haltet unser schönes Berggebiet nicht länger für das Aschenbrödel der deutschen Berge!

Daß auch der Südabhang des Erzgebirgs nach Böhmen hinein seine reichen Schönheiten hat, sei noch angedeutet und dabei besonders hervorgehoben, daß auch jenseit des Bergkamms gutes deutsches Blut daheim ist, das sich freut des Besuches aus dem Reiche, und dem ein Druck der deutschen Hand den Muth stählt in dem bösen Streite, den es ausfechten muß für sein bestes Vätererbe: die deutsche Art und Sprache.




Schatten.

Novelle von C. Lauckner.
(Fortsetzung.)


Das alte Dienstmädchen der Miß begegnete Gertrud auf der Treppe.

„Ach – Fräulein waren oben,“ sagte sie, Gertrud ängstlich anblickend. „Es gab eine solche Aufregung bei uns. Mein Fräulein hat einen Brief erhalten, in dem jedenfalls eine besondere Nachricht stand – sie schien zu erschrecken und lief, das Blatt in der Hand, die Treppe hinunter. Ich wollte sehen, wo sie bliebe, konnte sie aber nicht finden; darüber fiel mir ein, daß ich alles offen gelassen hatte – ich hoffe, Fräulein werden mich nicht verrathen,“ fügte sie bittend hinzu.

Gertrud schüttelte den Kopf.

„Hatte Miß Sikes denn nicht kurz vorher Besuch?“ fragte sie zögernd.

„Ja, einen fremden Herrn, der wohl eine Stunde da gesessen hat. Unterdessen kam auch der Brief, den ich aber erst abgab, als der Herr gegangen war. Da muß sie dicht hinter ihm her gelaufen sein.“

„Doch nicht,“ sagte Gertrud, „ich sah den Herrn aus der Hausthür treten – Miß Sikes dagegen nicht.“

Eine Frage nach der schönen Frau schwebte ihr auf den Lippen, aber – sie wußte selbst nicht weshalb – sie unterdrückte dieselbe, beruhigte mit einigen freundlichen Worten die besorgte Dienerin und ging ihres Weges.

Das eben Erlebte hatte sie doch gewaltig erregt. – Wie wunderschön die Fremde, und wie entsetzlich, daß sie krank, augenscheinlich geisteskrank war! – Ophelia hatte sie sich genannt? Gertrud schauderte. Wie alle gesunden, jungen Menschen hatte sie eine unwillkürliche Furcht vor Gemüthskranken, nun war sie ohne Vorbereitung mit einer solchen in Berührung gekommen – freilich war das Entsetzliche bei diesem holdseligen Weibe verklärt zu Anmuth und Lieblichkeit, wie bei ihrer unglückseligen Namensschwester.

„Schwermuth und Trauer, Leid, die Hölle selbst
Macht sie zur Anmuth und zur Artigkeit.“

Diese Worte des Laertes fielen ihr ein, und eine tiefe Traurigkeit überkam sie. Welche Tragödie mochte sich in diesem Frauenleben abgespielt haben, wie viel Jammer und Weh mochte dieses schöne Wesen getroffen haben, ehe die schreckliche Nacht über sie hereinbrach, die so endlos lang war, wie sie klagte!

„Werner“ – wie die Kranke den Namen gerufen hatte! So voll jauchzender Freude, voller Leidenschaft. Ob sie, Gertrud, wohl auch den Namen des Geliebten so ausprechen könnte: „Konrad“ . . . Sie erröthete und schüttelte den Kopf . . .

Nein, nicht so, aber leise, zärtlich, nur für ihn und sie hörbar. – O, wie sie sich nach ihm sehnte! Es war ihr, als ob sie unendlich Trauriges erlebt hätte und damit zu ihm flüchten müßte, um sich von ihm Trost zu holen.

Zu Hause angekommen, suchte sie alle kleinen Erinnerungszeichen an ihn zusammen, von deren Dasein er gar nicht einmal wußte, eine Stranddistel, die er ihr gepflückt, eine hübsche Feder, die sie zusammen gefunden, ein Vierblatt, das sie von ihm erhalten hatte, und dergleichen kleine Andenken mehr, bei deren Anblick sie sich die glücklichen Stunden vergegenwärtigte, denen diese Liebeszeichen entstammten.

Und dann sprang sie aus ihren Träumereien auf und lief in die Küche, um noch einmal genaue Anweisungen wegen des besonders feiertäglichen Abendessens zu geben, das sie dem Geliebten zu Ehren herrichten ließ: er sollte seine künftige Hausfrau bewundern!

Mitten in ihrem geschäftigen Treiben aber flogen ihre Gedanken wieder zu der schönen Träumenden – sie sehnte sich danach, Konrad ihr Abenteuer mitzutheilen und von ihm vielleicht einigen Zusammenhang in ihre romantischen Voraussetzungen bringen zu lassen.

Dann kam Tante Karoline, in nicht geringer Erwartung des Gastes, von dem der Bruder kurz vor seiner Abreise gesprochen und den er ihr beziehungsvoll anempfohlen hatte. Gertrud mußte von ihm erzählen, aber die kluge alte Dame hörte bald auf, zu fragen, denn die tiefe Röthe, die der Nichte Wangen färbte, sagte ihr mehr als die halb gezwungenen Worte. Sie erzählte in ihrer hübschen, lebhaften Weise allerlei komische Geschichten, die an ihrem Stifte vorgekommen waren, und Neuigkeiten, die sie in ihrem großen Bekanntenkreis gehört hatte, und beachtete anscheinend die Zerstreutheit und Schweigsamkeit der sonst so theilnehmenden Gertrud nicht, die in der erregten Erwartung der kommenden Stunden der Tante sogar ihr seltsames Abenteuer mitzutheilen vergaß.

Und nun schlug die Glocke an, und das Mädchen meldete Herrn Rechtsanwalt Herrendörfer. – Gertrud ging ihm in das kleine Vorzimmer entgegen, mit strahlenden Augen, ihm beide Hände entgegenstreckend.

Er nahm sie, aber er führte sie nur leicht an die Lippen und machte eine scherzende Bemerkung über des Vaters Wunsch.

Gertrud erschrak.

Es war recht von ihm, aber daß er diesen Wunsch berücksichtigte, welche Beschämung für sie! Thränen stiegen in ihre Augen – sie wendete sich halb ab.

Und Konrad? Er empfand die Stimmung seiner Braut, ohne sonderlich gerührt zu sein – er sagte nur leise: „Sie haben es ja so gewollt!“

Aber das bereute er, denn auf diese Worte versiegten plötzlich die Thränen, die grauen Augen, die so weich und träumerisch blicken konnten, blitzten ihn stolz an und trotzig stand das „Kind“, wie er sie oft bei sich nannte, vor ihm.

„Natürlich,“ sagte sie rasch, „und es war hübsch von Ihnen, mich darauf aufmerksam zu machen.“

Und sie führte ihn in das Wohnzimmer, der Tante Karoline zu, die bald eine lebhafte Unterhaltung in Gang brachte, sich im Stillen aber über die jungen Leute von heutzutage wunderte. Das sollte ein angehendes Brautpaar sein? Wo war denn das schüchterne Erröthen der Braut, wo das heimliche Hin- und Widerblicken – der ganze poesievolle Hauch, der ein solches unausgesprochenes Verhältniß sonst umgiebt?

Auch Konrad wunderte sich, wenn er Gertrud so kühl beherrscht die Unterhaltung führen hörte – eine ganz andere als die erwartungsvolle, strahlende Gertrud, die ihn im Vorzimmer begrüßt und die er gewissermaßen beleidigt hatte.

Er würde ganz gewiß nie wieder in die Lage kommen, ihre bräutliche Zärtlichkeit zurückzuweisen, dachte er mit leichtem Bedauern; sie war stolzer, herber, als er sich das lachende Kind vorgestellt hatte. Aber mit diesem Erkennen regten sich zugleich wieder die Zweifel an der Echtheit der Liebe Gertruds zu ihm. Würde sich ein so junges Wesen so vollständig in der Gewalt haben wie das Mädchen vor ihm, wenn ihr Herz voll und ganz mitspräche?

Gerade so war es mit – der andern gewesen, mit der seine Gedanken selbst jetzt sich beschäftigten. Scheu, kühl, voller Selbstbeherrschung ihm gegenüber – aber als der Rechte kam, besinnungslos, leidenschaftlich in ihrer Liebe, bis zum äußersten, bis zum Verlieren des Verstandes.

Arme Magdalene!

Doch er rüttelte sich gewaltsam aus seinen Gedanken; wie undankbar, wie unlogisch, das einmal Erlebte auf das liebe Mädchen vor ihm anzuwenden! Hatte nicht er sie gerade wegen ihrer

[545]

Süßes Glück.
Nach einem Gemälde von M. Volkhart.
Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.

[546] Unbesonnenheit getadelt, gestern, als sie ihm auf die Straße entgegengeeilt, war er nicht heute wieder ihrer naiven Zärtlichkeit entgegengetreten? Nein, sie liebte ihn – fort mit den Vergangenheitsschatten, fort mit der blonden Ophelia, fort mit allen Bedenken! Sein Blick flammte auf – und endlich, endlich machte Tante Karoline die Entdeckung, auf die sie bisher vergeblich gewartet hatte: daß der stattliche, vornehme Mann sterblich verliebt in das Trudchen sei.

Da erinnerte sie sich plötzlich, daß sie doch eigentlich in der Küche nachsehen wollte, aber so schnell konnte sie das einmal begonnene Gespräch nicht abbrechen, also erzählte sie weiter.

Sie war am Tage zuvor in einem Konzert gewesen, in dem es etwas Neues zu bewundern gegeben hatte, Señor Pablo, den berühmten Konzertmaler.

Gertrud äußerte sich wegwerfend über diese Entweihung der Kunst und wunderte sich, daß Tante Karoline Gefallen daran gefunden hätte.

„Ja, Kind,“ sagte die enthusiastische alte Dame, „die Sache liegt für mich anders als für Euch Kenner. Ich bin keine Kennerin, und es machte mir wirklich Spaß, unter den Klängen bekannter Musikstücke ein hübsches Bild, eine Waldlandschaft mit See bei Mondschein, entstehen zu sehen. Dann aber war auch der Maler eine interessante, vornehme Erscheinung. Man erzählte im Publikum, daß er ein sehr gefeierter Künstler gewesen sei, der Gott weiß wie auf diese Bahn gerathen.“

„Unmöglich!“ rief Gertrud, „ein wirklicher Künstler wird sich nie so weit herabwürdigen, eine Gaukelei aus seiner Kunst zu machen.“

„Das dürfen Sie nicht so schroff behaupten, wenn es auch eigentlich so sein sollte, wie Sie sagen,“ meinte Konrad. „Gerade bei genialen Naturen treten solch jähe Umschläge am leichtesten ein, wenn die sittliche Kraft der geistigen nicht das Gleichgewicht hält. Die Erfahrung lehrt das, und Sie werden täglich Beispiele dafür finden.“

„Hier ist das ganz sicher auch so, oder ähnlich,“ sagte Tante Karoline lebhaft. „Justizrath Berner hat den Maler erkannt und ihn auch darauf hin angesprochen, daß sie sich vor langen Jahren in Gastein getroffen hätten. Man hat damals das Höchste von ihm erwartet, und er soll dann auch ein Bild ‚Ophelia‘ gemalt haben, das geradezu Aufsehen erregt hat. Der Name, unter dem er hier auftritt, ist natürlich ein falscher, er ist auch gar kein Spanier, sondern ein guter Deutscher und heißt Lemberg –“

Konrad Herrendörfer wurde sehr blaß, erschreckend blaß sogar.

Gertrud sprang auf.

„Fehlt Ihnen etwas?“ rief sie besorgt. „Sie sehen plötzlich krank aus.“

Sie legte die Hand auf seine Schulter, und er, unbekümmert um Tante Karoline, lehnte sich an sie, als ob sie seine Stütze wäre und nicht das „Kind“, dem er den Halt für das Leben geben wollte.

Die Aufregungen, welche die letzten Tage ihm gebracht hatten, die Enttäuschung der Gegenwart, die Erinnerung an die Qualen der Vergangenheit überwältigten ihn; als er nun noch den Namen des Gehaßten unvorbereitet hören mußte, gab er sich – Stimmungsmensch, wie er war – einen Augenblick ganz dem trostlosen Gefühl hin, das ihm so oft in vergangenen Zeiten das Leben grau und trübe gemacht hatte.

Tante Karoline entfernte sich zartfühlend. Er stand auf und zog Gertrud an sich.

„Es ist, als ob ein Fluch auf meinem Aufenthalt hier ruhe,“ sagte er zu dem erschreckten Mädchen nach der Versicherung, daß er sich körperlich wohl fühle. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß im gewöhnlichen Leben eine solche Reihe von Zufälligkeiten zusammentreffen könnte, um die sonderbarsten Verkettungen zustande zu bringen. Du ahnst nicht, was alles auf mich einstürmt, welche Erinnerungen, welch peinvolle Begegnungen.“

Gertrud hielt seine Hand und sah ihm so theilnahmsvoll, so herzlich in die Augen, daß er vergaß, daß es seine Braut, ein junges liebendes Mädchen ohne Welterfahrung und Menschenkenntniß war, zu der er sprach – und er erzählte ihr von seiner Jugendliebe, in den warmen Worten, die ihm sein Empfinden in den Mund legte – er vergaß, daß es kein Selbstgespräch war, in dem er jetzt nach Jahren um die verlorene Geliebte klagte, seinem Haß gegen den plötzlich aufgetauchten Nebenbuhler in leidenschaftlichen Worten Ausdruck gab.

Er erzählte von dem Opheliabilde, von Miß Sikes, ihrer blonden Schülerin, von dem ungetreuen Freunde und dem Verrath, den man an ihm begangen, als ob er gestern das alles erlebt hätte, und erst das leidenschaftliche Schluchzen Gertruds ließ ihn wie aus einem Traume auffahren. –

Welche Unklugheit hatte er begangen, wie thöricht, wie taktlos war seine Aussprache gewesen! Nun er sich alles vom Herzen gesprochen hatte, gewann die Gegenwart ihr Recht – und es war ihm plötzlich, als sei alles, alles ein wüster Traum gewesen – und nun lockte ihn das Leben in der Gestalt des liebreizenden Geschöpfs, das sich von ihm losgemacht und schluchzend und zitternd in einen Lehnstuhl geworfen hatte.

„Gertrud, liebe Gertrud,“ sagte er zärtlich, „das ist nun alles vorbei, wir haben uns ja gefunden und –“

„Nein, nein,“ rief Gertrud da leidenschaftlich und entschieden, „Du hast Dich geirrt, Du sahst, daß ich Dich liebte, und da hast Du Dir eingeredet, daß auch Du mir gut wärest. Deine Liebe gehört der schönen Frau – ach, ich habe sie ja heute selbst gesehen, als ich zu Miß Sikes ging. Du kamst an mir vorüber, ohne mich zu sehen. Ich Aermste glaubte, Deine Gedanken wären bei mir, aber sie weilten bei der schönen Irrsinnigen oben, die Du nie vergessen wirst, wenn sie Dir auch das Herz gebrochen hat – Du hast jetzt nach vielen Jahren gesprochen, als ob Du das alles eben erlebt hättest, Deine Augen sahen träumerisch und unglücklich aus – Deine Worte kamen so aus tiefem Herzen, wie ich sie für mich noch nie von Dir gehört habe. Für mich hattest Du engherzige Schicklichkeitsbedenken, als ich Dir ohne Ziererei zeigte, wie es mir ums Herz war – natürlich, Du hast keins mehr für mich, nur Mitleid und ein wenig Zärtlichkeit, und ich will Dich ganz, mit ganzer Seele, mit ganzer Liebe, denn in mir ist nicht ein Gedanke, der nicht Dir gehörte – –“

Konrad stand stumm vor ihr. Er konnte ihre Worte nicht ernsthaft nehmen – er war auch nicht mehr verstimmt über seine begangene Thorheit – er war nur sehr glücklich, denn aus des Mädchens Erregung sprach die leidenschaftliche Liebe, an der er unter den Eindrücken des letzten Tages zu zweifeln begonnen hatte.

Und wie schön sie war, mit ihren stolzen, thränenfunkelnden Augen, dem zuckenden, kleinen Munde und der heißen Röthe auf den sonst nur leicht gefärbten Wangen!

„Ich habe Dich lieb, Gertrud,“ sagte er einfach, aber voll überzeugender Wahrheit, und wollte sie an sich ziehen.

Aber sie duldete es nicht. Die schlichten Worte verklangen gegen die von leidenschaftlicher Trauer durchbebten, in denen er von der Vergangenheit gesprochen hatte.

Sie trocknete ihre Thränen und richtete sich stolz auf.

„Ich will kein Almosen,“ sagte sie. „Mein Gefühl sagt mir das Richtige, und ich weiß nun auch, weshalb mein lieber Vater mich Ihnen nicht geben wollte. Er hat es auch gemerkt, daß Sie mich nicht liebten, wie es sein soll –“

Konrad wurde ungeduldig. „Aber Gertrud, das ist kindisch,“ sagte er. „Hast Du es denn vergessen, wie wir uns gefunden, wie ich um Dich geworben habe?“

„Du wußtest es vom ersten Augenblick an, daß ich Dir gut war, Du hast nicht einen Augenblick gezweifelt, daß ich Dir ‚Ja‘ sagen würde – so hast Du selbst mir erzählt,“ kam es hastig von Gertruds Lippen, und der trotzige Zug in ihrem Gesicht vertiefte sich.

„Das war gerade schön so,“ sagte er beruhigend, „und dieses unwillkürliche, unbegrenzte Vertrauen zu Deiner Liebe, das allerdings einen Augenblick schwankend wurde, als Du gestern früh dem Wunsche Deines Vaters so schnell nachgabst, – das hat mich jetzt thörichterweise veranlaßt, Dir Bekenntnisse zu machen, für die Du noch zu jung bist.“

Gertrud sah auf ihre krampfhaft ineinander geschlungenen Hände. „Du hättest Dich nicht so erregen können, wenn Dir die schöne Magdalene nicht noch lieb wäre – Du warst ein anderer, als Du mir von ihr erzähltest. – Und ach, warum mußte ich sie auch noch sehen in ihrer zauberhaften Schönheit: nur um wie ein armes Aschenbrödel mich zurückziehen und erst recht begreifen zu müssen, daß, wer eine solche Frau geliebt hat, sein Herz keiner andern mehr geben kann.“

In Konrad wurde die Ungeduld übermächtig. Er versuchte noch einmal, einen Kuß auf die zuckenden Lippen zu drücken, die Aufgeregte in seine Arme zu nehmen, – es gelang ihm nicht, – sie schluchzte und weinte schon wieder und hörte nicht [547] einmal mehr auf die beschwichtigenden Worte, die Vernunftgründe, die ihr lau und nichtssagend klangen nach den Worten der Leidenschaft.

„So bleibt mir nichts anderes übrig,“ sagte er halb entmuthigt, halb ungeduldig, „als Dich zu verlassen und uns beiden zu wünschen daß Du Dir bis morgen überlegt hast, wie unrecht Du mir thust. Es war ein großer Fehler von mir, das kühle Urtheil eines Unbetheiligten bei Dir vorauszusetzen, aber eine so harte Strafe habe ich nicht verdient. Ich bin überzeugt, daß Du mir morgen, wenn die erste Erregung vorüber ist, mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen wirst. Sieh, mein Liebling, ich bin so viel älter als Du, – aber ich sehe, Du bist jetzt nicht zugänglich für meine Worte, wenn Du später darüber nachdenkst, vergiß nie, daß ich Dich über alles lieb habe. Gute Nacht, Gertrud!“

Damit ging er, aber trotz seiner Niederlage war ihm warm und leicht ums Herz, denn die Gewißheit, daß Gertrud ihn, ihn selbst mit allem Feuer ihrer warmen Jugend liebte, gab ihm ein echtes Glücksgefühl und ließ ihn augenblicklich vergessen, daß ein neuer Schatten aus der Vergangenheit auf seinen Weg gefallen war.

Nur zu bald sollte er wieder daran erinnert werden. – – – – – – – – – – – – – – –

Tante Karoline hörte von der Küche aus mit Staunen, daß der Gast sich entfernte.

„So hat sie ihn abgewiesen,“ dachte sie und konnte einen kleinen aufsteigenden Aerger nicht unterdrücken; denn der stattliche Mann hatte ihr besser gefallen als andere ihr bekannte jugendlichere Verehrer Gertruds.

Sie ging ins Wohnzimmer, und da fand sie ihren Liebling in heißen, leidenschaftlichen Thränen, wie sie wohl noch nie aus diesen lachenden Augen geflossen waren.

„Gertrud, Kind,“ sagte sie erschreckt, „hat es einen Streit zwischen Euch gegeben? Beruhige Dich doch, das gleicht sich wieder aus.“

Das weinende Mädchen warf sich in die Arme ihrer zweiten Mutter. „Nie, nie,“ sagte sie unter Thränen, „aber frage mich jetzt nicht, ich will Dir später alles erzählen, nur jetzt nicht!“

Und Tante Karoline streichelte das braune Haar des Mädchens, setzte sich mit ihm auf das kleine Ecksofa, das Gertrud ihr Beichtwinkelchen nannte, weil sie da schon oft mit der Tante vertraut geplaudert hatte, – und begann davon zu sprechen, daß das Leben im Grunde hart sei, wie die Natur, daß man Unvermeidlichem sich mit möglichst wenig Geräusch fügen, aber wo Aussichten für die Erreichung eines Zieles wären, bis aufs äußerste kämpfen müsse, die entgegenstehenden Hindernisse zu besiegen. Mißverständnisse vor allem wären solche Hindernisse, die oft schon dem Glück den Weg verlegt hätten – und in dem Ton weiter.

Gertrud hörte kaum, was Tante Karoline sagte, aber der sanfte Klang ihrer Stimme legte sich beruhigend auf ihre Nerven, und bald hatte sich der leidenschaftliche Aufruhr in ihr in eine sanfte Trauer verwandelt. Eben wollte sie nun doch der mütterlichen Freundin ihr Herz ausschütten, als die Glocke gezogen wurde.

Beide Frauen fuhren erschrocken auf und warteten mit einer gewissen Spannung die Meldung des eintretenden Mädchens ab.

„Ein Brief an Fräulein Gertrud; die Ueberbringerin wartet auf Antwort.“

Eckige, fremde Schriftzüge, „Alice Sikes“ unterzeichnet …

Was bedeutete das nur wieder? Ob Miß Hein imstande wäre, fragte Miß Sikes, ihr die Adresse von Mr. Herrendörfer anzugeben. Sie wüßte, daß er mit ihrem Hause bekannt wäre, und hätte Unaufschiebbares mit dem Herrn zu besprechen. Miß Hein würde sie durch eine sofortige Angabe der augenblicklichen Wohnung des Mr. Herrendörfer zu großem Dank verpflichten.

Was war das wieder? Gertruds Herz schlug von neuem voller Angst und Eifersucht. Eine innere Stimme sagte ihr, daß es sich bei einer so wichtigen Unterredung um die blonde Jugendgeliebte Konrads handeln müsse.

Aber was konnte es sein? Am Vormittag war er erst dort gewesen, und nun diese Eile, ihn wieder zu sprechen? Vielleicht war die schöne Magdalene aus ihrem Traum erwacht, – vielleicht, – doch was nützte es, sich in alle diese „Vielleicht“ zu vertiefen – Gertrud ging seufzend zum Schreibtisch und schrieb die Adresse des „verlorenen Geliebten“ auf, – denn verloren war er für sie, das stand in ihrem Trotzkopf fest, trotz der brennenden Schmerzen, die sie dabei empfand. Sie fragte auch draußen die ihr so gut bekannte Dienerin Miß Sikes’ nichts weiter. Mochte da geschehen, was sein wollte, – es war alles, was im Zusammenhang mit der alten Engländerin seit vorgestern vorgegangen war, so tückisches Schicksal, daß Gertrud sich machtlos fühlte, auch nur im geringsten handelnd einzugreifen.

Was sollte eigentlich nun auch noch kommen? Er liebte sie nicht, was konnte sie da noch Aergeres treffen? Weinend suchte sie zu später Stunde ihr Lager auf und beängstigende Träume von der schönen Ophelia quälten sie auch im Schlaf weiter. –

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Etwas gegen die Langeweile in der Sommerfrische. Meine Schwiegermutter stammt aus dem Krähwinkel X Y Z in der norddeutschen Tiefebene. Darum hatten wir im vorigen Sommer beschlossen, dorthin als Sommerfrischler zu gehen. Der Wald sollte sehr nahe sein – aber man mußte in Wirklichkeit eine halbe Stunde laufen, bis man seine grünen Hallen erreichte, sonst war in der nächsten Umgebung nur Acker, Wiese und ein kleines Flüßchen, in dem es vor Jahrzehnten Krebse gegeben haben soll. Ich war nicht „hereingefallen“, wie man meinen möchte, denn ich war in jene Sommerfrische ohne Ansprüche gegangen, und den Regen des Sommers 1888 mußte ich in Kauf nehmen ebenso gut wie die Badegäste an der See und die Touristen in den Bergen.

Hereingefallen war aber nach seiner eigenen Meinung ein Postbeamter, der in seiner Heimath den vierzehntägigen Urlaub verbringen wollte und über die langweiligen Spaziergänge sich beschwerte. „Die Natur bietet hier nichts!“ klagte er. Führt den Blinden in die Berge, dachte ich mir, und er wird auch dort nichts sehen! Der Postbeamte war naturblind und verdanke dies ohne Zweifel seiner gediegenen Gymnasialbildung. Es gelang mir, ihm die Augen zu öffnen.

Am achten Tage seines Aufenthaltes in dem Krähwinkel, als wir gerade ein paar trockene sonnenhelle Tage hatten, führte ich ihn auf die „Wiese“, um ihm ein Naturschauspiel zu zeigen. Dieses Schauspiel hatte ich am vorhergehenden Tage nach der Anleitung eines Altmeisters der Naturforschung beobachtet, und was wir beide nunmehr auf der „langweiligen Wiese“ gesehen haben, das will ich mit den eigenen Worten des Meisters wiedergeben:

„Ein trockener Graben bietet uns zu unserer Beobachtung gute Gelegenheit. Wie Wegelagerer ducken wir uns hinein, und über seinen Wall lugen wir über die Wiesenfläche hin. Kein Lüftchen bewegt die zahllosen Grashalme, über die wir von hier aus wie über ein wallendes Kornfeld hinwegschauen. So brauchen wir’s. Nun aufgeschaut! Richtet das Auge! O, daß die blüthenbeladenen Grasrispen gerade vor jenem gegenüberliegenden Waldesdunkel hell hervortreten! Wäre es nicht eine rohe Beleidigung des stillen lebenzaubernden Vorgangs, so würde ich, was wir erblicken, mit einem Tirailleurfeuer vergleichen. Bald hier, bald dort fahren aus dem Gewimmel der Grasblüthen kleine Rauchwölkchen auf, die ebenso schnell verweht sind, wie sie erscheinen, um immer wieder neuen Platz zu machen, die bald näher, bald ferner, bald rechts, bald links aufsprühen. Was wir sehen, sind wirklich kleine Entladungen, und vergleicht man die Größe der geworfenen Geschosse und die von ihnen durchflogene Strecke mit denen einer Kanone, so ist vielleicht hier wie dort das Kraftverhältniß das gleiche. Die Kanonen sind die Staubbeutel der Gräser, welche ihren Blütenstaub verschießen. – – – Jetzt haben eben Tausende der vor uns an ihren haarfeinen Fädchen aufgehängten reifen Staubbeutel in dem warmen Sonnenschein den letzten Rest der Feuchtigkeit vollends verdunstet, welche in ihren Zelten eingeschlossen war. Erst wenn das geschehen ist, springt die bis dahin ringsum verschlossene Haut der Staubbeutel mit einer gewissen Gewalt auf, welche den Blüthenstaub weit umherschleudert.“

„Das ist wirklich merkwürdig!“ rief mein Postbeamter und konnte sich an der langweiligen Wiese nunmehr nicht satt sehen. Ich aber trat ihm meinen lieben Begleiter auf Wanderungen durch Feld und Flur, „Die vier Jahreszeiten“ von E. A. Roßmäßler, ab.

Seit jenem Tage war die „Natur von Krähwinkel“ für meinen neuen Bekannten voller Wunder und Reize; einmal führte er mich an eine mächtige Fichte im Walde, die auf drei starken Wurzeln wie auf wunderlichen Beinen stand, und sagte erfreut: „Hier habe ich endlich einen Baum gefunden, der in einen Urwald gehörte! Jetzt weiß ich, daß das Samenkorn der Fichte einst auf einen gestürzten Baumriesen fiel, um diesen die Wurzeln trieb, bis sie getrennt das Erdreich erreichten. Die Zeit zerstörte den Baumstamm und nun steht die Fichte, die einst in der ersten Handvoll Moder seines zerfallenden Körpers keimte, als stattlicher Baum mit hohen breiten Füßen auf der leeren Stelle seines Grabes, für den des Baumlebens Kundigen sein Gedächtniß erhaltend. Ist das nicht eine Scene aus dem Urwaldleben?“ schloß mein Postbeamter, frei nach Roßmäßler dozierend.

Mein vorjähriges Erlebniß ist mir aber durch einen anderen erfreulichen Umstand ins Gedächtniß zurückgerufen worden. Unter den Büchern, die mir zur Besprechung eingesandt wurden, fand ich auch „Die vier Jahreszeiten [548] (Stuttgart, Otto Weisert) in einer neuen, der 6. Auflage, die mit großer Sorgfalt von Dr. O. Dammer durchgesehen worden ist. Ich las wieder einmal darin; Winter war es damals und ob auch noch der Schnee draußen lag, es wehte mir aus den Zeilen wie Lenzeshauch und Waldesduft entgegen.

In unserer nervenaufreibenden Zeit suchen wir immer nach Zerstreuung, Erholung, Unterhaltung, geben haufenweise Geld aus, um sie zu erlangen, und kehren oft von dem genossenen Vergnügen noch mehr abgespannt in die vier Wände unserer Arbeitsstube zurück. Alles paßt nicht für jeden . . . das ist wahr, aber ich glaube, Tausende würden an solchen Spaziergängen, die mit der Beobachtung der Natur vereint sind, Freude finden, wenn sie überhaupt beobachten könnten und in dem grünen Wald mehr als nur eine Menge von Bäumen und Blättern sehen lernten. Diese mögen sich Roßmäßler anvertrauen und sie werden sehen, daß Erholung und Unterhaltung von der allgütigen Mutter Natur selbst in dem ödesten Krähwinkel kostenlos geboten werden. *

Der Gläserslowak. (Zu dem Bilde S. 533.) Es ist kein beneidenswerthes Dasein, das der Stamm der Slowaken im nordwestlichen Ungarn am Oberlauf der Flüsse Waag und Gran führt, eingeengt von Polen, Tschechen und Magyaren, scheinen sie zum allmählichen Verlust ihres Volksthums bestimmt zu sein. Das Land ist nicht gerade fruchtbar und der slowakische Bauer erntet meist nur kärglichen Ertrag; Wohlstand ist selten, um so zahlreicher sind die ärmlichen Gestalten, die mit allerhand Waren, mit Leinwand, Spitzen, Mäusefallen etc. umherziehen von Dorf zu Dorf. In die Klasse dieser wandernden Hausirer gehört auch der Gläsermann auf unserem Bildchen. In einem großen flachen Korbe trägt er seine zerbrechlichen „Kunstwerke“ von Haus zu Haus; sein Absatz mag nicht eben groß sein, denn noch ist sein Korb gefüllt, und der Bauer unter der Hausthür scheint keine Lust oder kein Geld zu solchen Dingen zu haben, wenn sie auch seinem Kartoffeln schälenden Weibe und seinem Buben verführerisch in die Augen stechen. Den Künstler zieht an diesen armen Gesellen immer wieder die merkwürdige malerische Tracht an, die sich wohl als eine Erbschaft aus besseren Tagen mit zäher Ausdauer in der Ueberlieferung des Volksstammes erhält.

Eine deutsche Volksbühne in Sicht. In Berlin war von einem Komitee eine Versammlung Anfang des Sommers einberufen worden, um der schon oft erörterten Frage der Errichtung deutscher Volksbühnen näher zu treten. Etwa 100 Damen und Herren haben der Einladung Folge geleistet; man bemerkte darunter viele hervorragende Schriftsteller, Männer der Kunst, der Wissenschaft, des Baufachs. Freiherr Hermann v. Maltzan behandelte in längerem Vortrage das Thema: „Die Errichtung deutscher Volksbühnen, eine nationale Aufgabe.“ Das Volksleben brauche einen geistigen Mittelpunkt, nichts sei dazu geeigneter als die Schaubühne. Das Hoftheater und die anderen Berliner Bühnen seien bei den an sie gestellten Ansprüchen genöthigt, hohe Eintrittspreise zu fordern. Die unendliche Vergrößerung Berlins habe die Errichtung neuer Theater nothwendig gemacht; um nun den Bedarf an neuen Stücken für diese neuen Theater zu decken, hätten die Bühnenleiter ihre Zuflucht zu den Werken der fruchtbaren französischen Dichter genommen, da die deutschen Dichter weniger produktiv seien und sich zuletzt veranlaßt gesehen hätten, die französischen nachzuahmen. Die französischen Theaterstücke entsprächen aber nicht dem Geschmack des deutschen Volkes. Es müsse, zunächst in Berlin, eine Bühne gegründet werden, deren Besuch durch möglichst niedrige Eintrittspreise auch dem Unbemittelten zugänglich gemacht werde und auf welcher nur Stücke gegeben würden, die von einem deutschnationalen Geiste durchweht seien. Auch die deutschen Schriftsteller würden sich dann wieder dazu verstehen, deutschnationale Stücke zu schreiben. Im weiteren Verlauf der Debatte wurde, was den Bau des zu errichtenden Theaters betrifft, empfohlen, an etwas Bestehendes anzuknüpfen und den Ankauf des Viktoriatheaters wegen seiner großen Räumlichkeiten ins Auge zu fassen. Es wurde beschlossen, einen „Verein zur Errichtung deutscher Volksbühnen“ zu bilden, der zunächst eine Musterbühne in Berlin zu begründen habe.

Soviel wir ersehen, handelt es sich hier nicht um eine Volksbühne im Sinne derjenigen von Worms, Rothenburg oder Oberammergau, wo das Volk selbst mitspielt, sondern um ein Theater, in welchem Schauspieler die Rollen der Dramen darstellen und welches den Namen einer „Volksbühne“ nur auf seine billigen, für möglichst weite Kreise des „Volkes“ erschwinglichen Eintrittspreise gründet. Wenn außerdem in Berlin ein sogenanntes „freies Theater“ (Théâtre libre) in Aussicht genommen ist, an welchem die Werke der Dichter zur Aufführung kommen sollen, die von anderen Bühnen vernachlässigt werden, weil sie zu kühn oder zu genial oder nicht bühnengerecht genug sind, eine Art dramatischer „Salon der Zurückgewiesenen“, wie er neben Gemäldeausstellungen aufzutauchen pflegt, so muß man eingestehen, daß der Eifer, an dem deutschen Theater herumzudoktern, ein sehr großer ist, und daß dasselbe allgemein für einen bedenklich erkrankten Patienten gehalten wird. Ob aber die verschiedenen Methoden der Heilversuche ihm zum Heile gereichen werden, das kann nur die Zukunft lehren, die uns zeigen wird, wieviele dieser Verheißungen ein größeres oder geringeres Maß von Lebensfähigkeit besitzen.

Ein gutes Mittel gegen Fußschweiß. Seit längerer Zeit wurde gegen schweißende Füße die Chromsäure als ein vortreffliches Mittel empfohlen, welches wirksamer als die bisher bewährten Salicylpräparate sein sollte. Die Zahl der Menschen, die an diesem Uebel leiden, ist eine sehr große und namentlich im Hochsommer wird es bei Marschtouren den Ausflüglern unangenehm. Es dürfte darum vielen erwünscht sein, ein zuverlässiges Urtheil über das zur Bekämpfung desselben empfohlene Mittel zu erfahren. Dies ist leicht möglich, dank den Versuchen, welche die Medizinalabtheilung des preußischen Kriegsministeriums im vorigen Jahre anstellen ließ. Es wurden infolge dessen 18 000 an Fußschweiß leidende Soldaten mit Chromsäurelösung behandelt, eine Ziffer, die eine richtige Werthschätzung gestattet.

Das Ergebniß des an diesen 18 000 Soldaten gemachten Versuches ist folgendes: 42% wurden geheilt, 50% gebessert, 8% blieben ungeheilt. Unangenehme Nebenwirkungen wie Blasenbildung, Wundwerden, Hautausschläge wurden nur bei 0,75 Prozent und zwar namentlich bei Anwendung starker Lösungen beobachtet. Es empfiehlt sich darum, stets mit der schwächsten Lösung anzufangen.

Was zunächst das Mittel selbst anbelangt, so wird eine Lösung chemisch reiner Chromsäure angewandt, deren Stärke der Arzt zu bestimmen hat. Soll der Fuß damit behandelt werden, so darf er keine Wunden aufweisen; ist dies der Fall, so muß die Abheilung derselben abgewartet werden. Der Fuß wird rein gebadet und mit grobem Handtuch gut abgetrocknet. Hierauf trägt man die Chromsäurelösung vermittelst eines Haarpinsels auf und wartet, bis die Säure mit der Haut sich fest verbunden hat. Ist dies geschehen, so kann man den Fuß wieder bekleiden. Am besten aber wählt man zu dieser Einpinselung die Zeit unmittelbar vor dem Zubettgehen. Die Wirkung der Chromsäurelösung besteht darin, daß die Haut trocken, derber und widerstandsfähiger wird. Oft ist jedoch nach 8 bis 14 Tagen eine wiederholte Einpinselung nöthig, worauf die Wirkung länger anhält.

Das neue Mittel ist in seiner Wirksamkeit den Salicylpräparaten gleichwerthig, es hat aber den Vorzug, daß es das reinlichste Fußschweißmittel und leicht anzuwenden ist. Es ist unschädlich, wenn ein vollständig chemisch reines Präparat und in richtiger Stärke angewandt wird. In der Armee wird es unter steter ärztlicher Aufsicht angewandt, und dies sollte auch im Privatleben der Fall sein. *

Unter dem geflügelten Rad. Die Eisenbahnen des Deutschen Reiches besaßen am Schluß des am 31. März 1888 ablaufenden Betriebsjahres eine Armee von 343 400 Beamten und Arbeitern. Bei einer Bevölkerung von 48 Millionen ist hiernach jeder 140. Mensch ein „Eisenbahner“, ein überraschendes Ergebniß, wenn man bedenkt, daß dieser Stand vor noch 50 Jahren kaum vorhanden war. Ein gemeinschaftliches Vermögen von 105½ Millionen Mark, welches in 319 Pensions-, Unterstützungs-, Kranken- und Sterbekassen angelegt ist, bildet den wirthschaftlichen Kitt, der diese Armee auf dem Boden gegenseitiger Interessen zu einem großen Ganzen verbindet.




Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

B. E. in K. Hans Arnold dankt bestens für den hübschen „Stoff“ und freundlichen Brief und hofft, daß der erstere früher oder später in der „Gartenlaube“ zur Erscheinung kommen kann.

Gustav Gr. in Tegel. Die von dem „Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen“ vor mehreren Jahren ins Leben gerufene allbekannte Einrichtung der zusammenstellbaren Rundreisen hat sich längst weit über die Grenzen des genannten Vereins ausgedehnt. Nachdem sich in diesem Jahre die schweizerischen und die skandinavischen Personenbeförderungsanstalten angeschlossen haben, bilden zur Zeit die Eisenbahnen Deutschlands, Luxemburgs, Oesterreich-Ungarns, Rumäniens, Belgiens, der Niederlande, der Schweiz und Skandinaviens einen einheitlichen Rundreisebezirk.

Paul K., St. Avold. Derartige Zeitschriften, wie Sie eine suchen, giebt es verschiedene, so z. B. das „Echo littéraire“, herausgegeben von Aug. Reitzel in Lausanne (Depot für Deutschland bei K. Gustorff in Leipzig) und, erst seit kurzem neu ins Leben gerufen, „Le Salon et la Famille“, unter Redaktion von Professor Feller herausgegeben von A. Dressel in Berlin. Beide Zeitschriften, jene monatlich zwei-, diese dreimal erscheinend, verfolgen den Zweck, durch Darbietung eines guten unterhaltenden, fesselnden und belehrenden französischen Lesestoffes das Studium dieser Sprache zu fördern und möglichst anregend zu gestalten.

Frau Br. in Wiehl. Die „Palmen“ in dem Ausdrucke „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen“ sind eine sinnbildliche Bezeichnung des Reiches der Ideale, das für den, welcher darin wandelt, seine Schmerzen und Enttäuschungen birgt. Das Citat stammt aus Goethes „Wahlverwandtschaften“.

L. O. in Straßburg. Die Zither hat, wie schon der Name verräth, in der Kithara der alten Griechen ihr Vorbild.

J. P. in Neuwied. Ein solches Werk, wie Sie es wünschen, ist eben im Erscheinen begriffen. Es betitelt sich „Deutsches Fürstenbuch“, verspricht Lebensbilder der zeitgenössischen deutschen Regenten aus durchweg berufenen, sachverständigen Federn und erscheint, herausgegeben von Professor Dr. Anton Ohorn, lieferungsweise in der Rengerschen Buchhandlung zu Leipzig. Die Porträts der Fürsten sind in Lichtdruckbildern nach Zeichnungen des Malers Herrfurth in Weimar beigegeben. Wir denken auf das Werk zurückzukommen, wenn es vollständig vorliegt, was im Herbste dieses Jahres der Fall sein dürfte.

Dem wißbegierigen Primaner A. S. Woher das X der Mathematik stammt? Das ist allerdings eine etwas umständliche, aber darum um so merkwürdigere Geschichte. Daß die nach Spanien einwandernden Araber im Besitz uralter Wissensschätze ganz besonders in Astronomie und Mathematik waren, ist Ihnen bekannt. Der arabische Ausdruck für den Begriff des X, also einer angenommenen Größe, lautet Schai (wörtlich „ein Ding“) und wurde in der mathematischen Anwendung zum einfachen Sch abgekürzt. Die Spanier übersetzten dieses Sch durch X, welches bei ihnen den gleichen Laut hatte und diesen Laut behielt bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Erst von dort an erhielt das spanische X den Laut Ch, den es heute noch hat (vgl. Ximene, Quixote). Das X der Mathematik aber spricht jedes Volk nach seiner Mundart aus, da es nur einen Begriff, keinen Lautwerth bedeutet.

B. v. T. in Stuttgart. Auf Ihre Frage, womit sich unsere Vorfahren zuerst kleideten, mit wollenen Stoffen oder mit Leinwand, geben die Ausgrabungen aus vorgeschichtlicher Zeit eine ziemlich genaue Auskunft. Dr. Georg Buschau hat die Funde nach dieser Richtung einer genauen Prüfung unterworfen und ist zu folgenden Ergebnissen gelangt: In vorgeschichtlicher Zeit trugen die damaligen Bewohner Deutschlands so wie heute Wolle und Leinwand. Die Wolle, meistens Schafwolle, wurde jedoch vor dem Flachs zu Geweben verarbeitet. So finden wir in der Bronzezeit ausschließlich wollene Stoffe; in der Eisenzeit aber tritt schon neben Wolle auch Leinen auf. Die vorgeschichtlichen Schafe waren, wie wir dabei bemerken möchten, dunkle und keine weißen Schafe.

Olga W. in W. Also das „Heimleuchten“ interessirt Sie? Früher verstand man freilich etwas anderes darunter als heute. Noch im Anfange dieses Jahrhunderts besaß jeder bessere Hausstand eine große Laterne, welche bei Gängen während der Nacht durch die Dienerschaft vorangetragen zu werden pflegte. Wie heutzutage an den Bahnhöfen und Straßenecken, so standen damals an den Ausgangspforten der Theater und anderer öffentlicher Lokale „Leuchtemänner“ mit brennenden Pechfackeln, die ihre Dienste mitunter in recht zudringlicher Weise anboten. Mit der Einführung der öffentlichen Beleuchtung sind diese „Leuchtemänner“ verschwunden; das „Heimleuchten“ hat sich aber als sprichwörtliche Redensart in den deutschen Sprachschatz herübergerettet.


Inhalt: Gold-Aninia. Eine Erzählung aus dem Engadin. Von Ernst Pasqué (Fortsetzung). S. 533. – Im Sächsischen Erzgebirge. Von Anton Ohorn. S. 539. Mit Abbildungen S. 536 und 537, 539, 540 und 541. – Schatten. Novelle von C. Lauckner (Fortsetzung). S. 544. – Süßes Glück. Illustration S. 545. – Blätter und Blüthen: Etwas gegen die Langeweile in der Sommerfrische. S. 547. – Der Gläserslowak. S. 548. Mit Illustration S. 533. – Eine deutsche Volksbühne in Sicht. S. 548. – Ein gutes Mittel gegen Fußschweiß S. 548. – Unter dem geflügelten Rad. S. 548. – Kleiner Briefkasten. S. 548.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.