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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[629]
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Alle Rechte vorbehalten.
Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Beinahe vier Wochen waren vergangen und der Juli neigte sich schon seinem Ende zu, als Präsident Nordheim nach seiner Bergvilla zurückkehrte. Die Zwischenzeit hatte ihm und der Bahngesellschaft eine Veränderung gebracht, die allerdings kaum mehr ein Verlust genannt werden konnte. Der Chefingenieur, den seine Kränklichkeit schon längst genöthigt hatte, die Oberleitung, wenn nicht dem Namen, so doch der That nach, in Elmhorsts Hände zu legen, war gestorben und über seinen Nachfolger gab es keine Meinungsverschiedenheit; der Schwiegersohn des Präsidenten, der Erbauer der Wolkensteiner Brücke, wurde einstimmig erwählt. Er trat damit an die Spitze des großen Werkes, das seiner Vollendung so nahe war.

Es war einige Stunden nach der Ankunft Nordheims, und dieser hatte sich mit Wolfgang in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um das Ereigniß, das sie schon brieflich verhandelt hatten, eingehend zu besprechen. Sie waren beide gleich befriedigt davon.

„Deine Wahl war ja eigentlich nur eine Form,“ sagte der Präsident. „Sie wurde ohne jede Debatte genehmigt, denn ein anderer als Du kam überhaupt nicht in Frage; aber ich gratulire dem Herrn Chefingenieur.“

Elmhorst lächelte flüchtig, aber es lag darin nichts von jenem stolzen, freudigen Selbstbewußtsein, mit dem der junge Oberingenieur einst seine Stellung angetreten hatte, und damals hatte er doch nur die erste Stufe einer Laufbahn erreicht, die sich nun so schnell und glänzend vollendete. Es war eine Veränderung mit ihm vorgegangen, er sah bleich und düster aus, und in den Augen, die sonst so kalt und scharf blickten, deren Tiefe so eisig war, barg sich jetzt ein Feuer, das bisweilen jäh und unstät aufflackerte und dann ebenso schnell wieder erlosch. Auch im Gespräch wollte die kühle Ruhe und Ueberlegenheit nicht immer Stand halten, trotz aller Selbstbeherrschung; es war, als ob ein innerer Kampf den Mann verzehre, der einst so sicher und fest seinem Ziele zuschritt, ohne nach rechts oder nach links zu blicken – ein ruheloser, qualvoller Kampf.


Bei Kroll im Berliner Thiergarten.
Originalzeichnung von O. Gerlach.

[630] „Ich danke, Papa,“ erwiderte er. „Man hat mir immerhin einen Beweis großen und unumschränkten Vertrauens gegeben, den ich zu schätzen weiß, und ich gestehe auch, es ist mir eine Genugthuung, daß die Vollendung des Werkes, dem ich meine beste Kraft geopfert habe, nunmehr an meinen Namen geknüpft bleibt.“

„Legst Du so großen Werth darauf?“ fragte Nordheim gleichgültig. „Freilich, in Deinen Jahren ist man noch ehrgeizig, Du wirst Dir das bald abgewöhnen, wenn erst höhere Interessen in den Vordergrund treten.“

„Höhere, als die Ehre und der Stolz, ein großes Werk zu schaffen?“

„Nun denn, realere Interessen, die schließlich doch bei allen Dingen den Ausschlag geben, und darüber wollte ich eben mit Dir reden. Du weißt, daß ich längst die Absicht hegte, mich nach Vollendung der Bahn von der ganzen Sache zurückzuziehen.“

„Gewiß, Du hast mir schon vor Monaten davon gesprochen und der Entschluß hat mich schon damals befremdet. Warum willst Du zurücktreten von einem Unternehmen, das Du ins Leben gerufen hast, dessen eigentlicher Schöpfer Du bist?“

„Weil es mir nicht mehr einträglich genug erscheint,“ sagte der Präsident kühl. „Die Baukosten stellen sich sehr hoch, viel höher, als ich glaubte. Wer konnte denn auch mit all den Widerwärtigkeiten und Katastrophen rechnen, die wir durchmachen mußten, und dazu hatte Dein Vorgänger die Manie, so unglaublich solid zu bauen. Er brachte mich oft zur Verzweiflung mit dieser Solidität, die Unsummen gekostet hat.“

„Verzeih, Papa, aber diese ‚Manie‘ habe ich auch!“ erklärte Wolfgang mit einigem Nachdruck.

„Natürlich! Du bist bisher nur Ingenieur der Bahn gewesen und es konnte Dir sehr gleichgültig sein, ob sie einige Millionen mehr kostet oder nicht. Wenn Du bei künftigen Unternehmungen als mein Schwiegersohn pekuniär betheiligt bist, wirst Du anders darüber denken.“

„In solchen Punkten – nein!“

„Nun, dann mußt Du es lernen! In diesem Falle können wir uns übrigens nachdrücklichst auf die Vortrefflichkeit der ausgeführten Bauten stützen, wenn es zur Abschätzung kommt, und das wird voraussichtlich noch in diesem Jahre geschehen. Die Aktionäre müssen die Bahn übernehmen, das steht längst bei mir fest und ich habe bereits die einleitenden Schritte dazu gethan. Ich bin mit Millionen betheiligt, wo die anderen höchstens Zehntausende gezeichnet haben, und kann mich tatsächlich als Eigenthümer des Unternehmens betrachten. Ich werde also meine Bedingungen stellen und aus diesem Grunde ist es mir sehr lieb, daß Du jetzt als Chefingenieur an der Spitze stehst. Wir brauchen dann nicht Fremde ins Vertrauen zu ziehen, sondern gehen Hand in Hand.“

„Ich stehe Dir ganz zur Verfügung, Papa, das weißt Du, aber wie die Dinge liegen, wird die Abschätzung ziemlich hoch ausfallen.“

„Das hoffe ich!“ sagte Nordheim langsam und bedeutungsvoll. „Uebrigens ist die Berechnung schon zum größten Theil fertiggestellt, so etwas muß ja lange vorbereitet werden und fordert auch einen gewiegten Geschäftsmann. Dich konnte ich dafür nicht in Anspruch nehmen, Du hast genug mit der technischen Leitung zu thun, Du sollst schließlich die Abschätzungen nur revidiren und bestätigen und ich rechne in dieser Beziehung unbedingt auf Dich, Wolfgang. Das unumschränkte Vertrauen, das Du infolge Deiner bisherigen Leistungen genießest, wird uns die Sache sehr erleichtern.“

Wolfgang sah etwas befremdet aus; es war ja selbstverständlich, daß er seine Pflicht that und dem Schwiegervater möglichst zur Seite stand, aber hinter dessen Worten schien sich noch irgend etwas anderes zu bergen, sie klangen ganz eigentümlich. Zu einer weiteren Erklärung kam es indessen nicht, denn der Präsident brach ab und erhob sich.

„Schon vier Uhr! Wir werden bald zu Tische gehen; komm, Wolfgang, wir wollen die Damen nicht warten lassen.“

„Du hast Waltenberg mitgebracht? “ fragte Elmhorst, indem er gleichfalls aufstand.

„Ja, er empfing mich in Heilborn und begleitete mich hierher. Seine Geduld scheint in den vier Wochen auf eine harte Probe gestellt worden zu sein. Ich begreife den Mann nicht! Er ist doch stolz und eigenwillig genug, hochmüthig sogar in gewisser Hinsicht und läßt sich von den Launen eines Mädchens am Narrenseil führen. Jetzt werde ich aber ein ernstes Wort mit meinem Fräulein Nichte reden und ihr ein Entweder – oder stellen, die Sache muß endlich einmal zur Entscheidung kommen!“

Wolfgang schwieg, aber das unstäte Feuer in seinen Augen flammte wieder auf, heiß und verzehrend wie der Kampf in seinem Inneren. Er mußte es ja Tag für Tag mit ansehen, wie ein anderer offen und rückhaltlos um den Preis warb, der ihm schließlich doch wohl zufallen würde – das war mehr als Folterqual und sie wurde nicht leichter durch das Bewußtsein, daß sie verdient sei.

Sie hatten inzwischen das Nebenzimmer durchschritten und traten in den Salon, wo ein Diener soeben beschäftigt war, die Vorhänge aufzuziehen, die der Sonne wegen herabgelassen waren. Nordheim fragte, ob die Damen im Garten seien.

„Nur Baroneß Thurgau und Herr Waltenberg,“ lautete die Antwort. „Das gnädige Fräulein empfängt in ihrem Zimmer den Herrn Doktor.“

„Ah, der neue Arzt, den Du aufgespürt hast,“ sagte der Präsident, sich an seinen Schwiegersohn wendend. „Es ist ja wohl ein Jugendfreund von Dir? Jedenfalls versteht er seine Sache, denn Alice hat sich merkwürdig erholt in der kurzen Zeit. Ich war ganz überrascht von ihrem Aussehen und ihrer ungewohnten Lebhaftigkeit; die Kur des Herrn Doktors scheint förmlich Wunder gethan zu haben. Wie heißt denn eigentlich dieser Aeskulap von Oberstein? Du vergaßest in Deinen Briefen regelmäßig, den Namen zu nennen.“

Wolfgang hatte das allerdings vermieden, wenn auch nicht aus Vergeßlichkeit, jetzt aber konnte er der „Grille“ seines Freundes, wie er es nannte, nicht länger Rechnung tragen und antwortete ruhig:

„Doktor Benno Reinsfeld.“

Nordheim wendete sich mit einer jähen Bewegung um.

„Wie sagtest Du?“

„Benno Reinsfeld,“ wiederholte Elmhorst, betroffen durch den heftigen Ton der Frage.

Er hatte geglaubt, der Präsident werde sich kaum noch des Namens erinnern und jedenfalls nicht das geringste Interesse mehr an den alten Beziehungen nehmen, denen der jetzige Millionär so fern stand. Jene Erinnerung mußte aber doch wohl tief und nachhaltig sein, das sah man; Nordheims Gesicht zeigte eine fahle Blässe, es prägte sich Bestürzung, ja Schrecken darin aus und dieselbe Empfindung verrieth sich auch in seiner Stimme, als er rief:

„Und dieser Mann ist in Oberstein? ist setzt sogar in meinem Hause?“

Wolfgang wollte antworten, aber in dem Augenblick wurde die Seitenthür geöffnet und Benno selbst trat ein. Er stutzte zwar, als er den Präsidenten erblickte, blieb aber ruhig stehen und verneigte sich. Er hatte ja soeben von Alice gehört, daß ihr Vater angekommen sei, und mußte auf diese Begegnung gefaßt sein.

Nordheim errieth auf der Stelle, wen er vor sich habe, vielleicht entsann er sich auch noch der Persönlichkeit des jungen Arztes, den er vor drei Jahren flüchtig im Wolkensteiner Hofe gesehen hatte, ohne daß ihm der Name genannt wurde, und er war Weltmann genug, sich augenblicklich zu fassen. Scheinbar ganz ruhig und unbewegt nahm er die Vorstellung entgegen, aber auf diesen unbewegten Zügen lag noch immer jene eigentümliche Blässe.

„Mein Schwiegersohn hat mir bereits brieflich mitgeteilt, daß er Ihren Rath für seine Braut in Anspruch genommen hat,“ sagte er mit kühler Artigkeit. „Ich kann Ihnen nur dankbar sein, Herr Doktor, denn Ihre Bemühungen scheinen ein sehr günstiges Resultat zu haben, meine Tochter hat sich außerordentlich erholt. Sie stellen eine andere Diagnose als Ihre Herren Kollegen, wie ich höre?“

„Ich glaube bei dem Fräulein nur ein hochgradiges Nervenleiden annehmen zu dürfen,“ versetzte Benno bescheiden, „und habe danach meine Behandlung eingerichtet.“

„So? Die anderen Herren nahmen ziemlich allgemein ein Herzleiden an.“

„Ich weiß es, kann mich aber dieser Meinung nicht anschließen und der Erfolg meiner Kur scheint mir so auch Recht [631] zu geben. Ich lasse die junge Dame, der jede stärkere Bewegung untersagt war, täglich Spaziergänge machen und diese täglich weiter ausdehnen, habe ihr auch ein mäßiges Bergsteigen angerathen und sie ersucht, möglichst den ganzen Tag im Freien zuzubringen, da die Höhenluft außerordentlich günstig auf ihr Befinden wirkt; bis jetzt habe ich alle Ursache, damit zufrieden zu sein.“

„Gewiß, das sind wir alle,“ stimmte der Präsident bei, dessen Blick sich bei dieser im ruhigsten Tone geführten Unterhaltung förmlich einbohrte in die Züge des jungen Arztes. „Wie gesagt, ich bin Ihnen sehr dankbar – Sie leben in Oberstein, wie Wolfgang mir schrieb? Sind Sie schon lange dort?“

„Seit fünf Jahren, Herr Präsident.“

„Und Sie denken auch dort zu bleiben?“

„Wenigstens vorläufig, bis sich irgend eine andere Stellung findet.“

„Nun, das wird doch keine Schwierigkeiten haben,“ warf Nordheim hin und sprach weiter.

Er war sehr höflich, aber auch sehr vornehm und augenscheinlich bemüht, eine unübersteigliche Schranke aufzurichten, die jede mögliche Vertraulichkeit ausschloß. Kein Wort, kein Blick verrieth, daß er wußte, der Sohn seines einstigen Jugendfreundes stehe vor ihm; trotz seines anscheinend verbindlichen Wesens war er doch so fremd und eisig wie nur möglich.

Benno fühlte das sehr gut, war aber keineswegs überrascht dadurch, denn er hatte nichts anderes erwartet. Er wußte ja, daß die Erinnerung, die sein Name wachrief, für den Präsidenten keine angenehme war, und nahm in seiner Bescheidenheit gar nicht an, daß seine ärztlichen Erfolge bei der Tochter den Vater umstimmen könnten. Er dachte natürlich nicht daran, Beziehungen geltend zu machen, die von jener Seite so vollständig ignorirt wurden, aber die Begegnung war ihm peinlich, und er ergriff die erste Gelegenheit, sich zu verabschieden.

Nordheim blickte ihm einige Sekunden lang schweigend, aber mit finster zusammengezogenen Brauen nach, dann wandte er sich zu Wolfgang und fragte kurz und scharf:

„Wie kommst Du zu dieser Bekanntschaft?“

„Ich habe es Dir ja bereits gesagt, Reinsfeld ist mein Jugendfreund, den ich zufällig hier in Oberstein wiederfand.“

„Und Du verkehrst Jahre lang mit ihm, ohne mir auch nur seinen Namen zu nennen?“

„Das geschah auf Bennos ausdrücklichen Wunsch, denn Dein Name ist ihm so wenig fremd wie Dir der seinige. Du willst allerdings nicht daran erinnert sein, daß sein Vater Dein Studiengenosse war – das sah ich heute.“

„Was weißt Du davon?“ fuhr der Präsident heftig auf. „Hat der Doktor Dir davon gesprochen?“

„Allerdings, und er teilte mir auch mit, daß die einstige Jugendfreundschaft mit einem vollständigen Bruche geendigt hat.“

Nordheim stützte wie zufällig die Hand auf die Lehne des Sessels, der vor ihm stand; sein Gesicht war wieder bleich geworden und seine Stimme klang fast heiser, als er fragte.

„So – und was weiß er darüber?“

„Nicht das Geringste! Er war ja damals noch ein Knabe und hat nie den Grund jenes Bruches erfahren, aber er war viel zu stolz, sich Dir, der so hoch gestiegen ist, in irgend einer Weise zu nähern, deshalb nahm er mir das Versprechen ab, ihn nicht zu nennen, so lange das zu vermeiden war.“

Nordheims Brust hob sich unwillkürlich unter einem tiefen Athemzuge, aber er antwortete nicht, sondern trat an das Fenster.

„Mir scheint, Doktor Reinsfeld hatte trotz alledem Anspruch auf einen wärmeren Empfang,“ hob Wolfgang wieder an, den die eisige Art, mit der man seinen Freund behandelte, verletzt hatte. „Ich kann natürlich nicht beurtheilen was damals geschehen ist –“

„Ich wünsche auch nicht, daß Du Dich damit abgiebst!“ fiel ihm der Präsident schroff ins Wort. „Es waren rein persönliche Verhältnisse, über die mir allein ein Urtheil zusteht, aber Du wußtest, daß mir dieser Reinsfeld nicht sympathisch sein konnte, und da begreife ich nicht, wie Du dazu kamst, ihn in mein Haus einzuführen und ihm die Behandlung meiner Tochter zu übergeben. Das ist eine Eigenmächtigkeit, die ich durchaus nicht billige.“

Er war offenbar aufs äußerste gereizt durch jene Begegnung und ließ nun diese Gereiztheit an seinem Schwiegersohne aus, aber dieser schien durchaus nicht gesonnen, einen Ton zu dulden, den er heute zum ersten Mal hörte.

„Ich bedaure es, Papa, wenn Dir die Sache unangenehm ist,“ sagte er kalt, „aber von Eigenmächtigkeit kann hier wohl nicht die Rede sein. Ich habe doch zweifellos das Recht, für meine Braut einen Arzt zu wählen, der mein volles Vertrauen besitzt und dieses Vertrauen, wie Du selbst zugeben mußt, so glänzend rechtfertigt. Ich konnte unmöglich voraussetzen, daß eine alte Feindschaft, die vor mehr als zwanzig Jahren entstand und an der Benno ebenso unschuldig wie unbetheiligt ist, Dich so ungerecht machen würde. Dein ehemaliger Freund ist ja längst todt und damit sollte auch alles andere begraben und vergessen sein.“

„Darüber habe ich doch wohl allein zu entscheiden!“ unterbrach ihn Nordheim mit steigender Heftigkeit. „Genug, ich will nicht, daß dieser Mensch in meinem Hause verkehrt. Ich werde ihm ein Honorar schicken – selbstverständlich ein sehr hohes Honorar – und mir seine ferneren Besuche unter irgend einem Vorwande verbitten. Dich aber ersuche ich gleichfalls, diesen Umgang aufzugeben – ich wünsche ihn nun einmal nicht.“

Die Worte klangen wie ein Befehl, aber der junge Chefingenieur war nicht der Mann, der sich befehlen ließ, er trat einen Schritt zurück und seine Augen sprühten auf.

„Ich glaube Dir bereits gesagt zu haben, Papa, daß Doktor Reinsfeld mein Freund ist,“ versetzte er mit aller Schärfe, „und da kann selbstverständlich von Aufgeben keine Rede sein. Es ist eine Beleidigung für ihn, wenn man ihn nach der aufopfernden Weise, in der er sich um Alices Gesundheit bemüht hat, mit einem ‚Honorar‘ verabschiedet, noch ehe die Kur beendet ist, und ich muß Dich überhaupt bitten, in einem andern Tone von ihm zu sprechen. Benno ist ein Mann, der die höchste Achtung verdient, er verbirgt unter seinem anspruchslosen und etwas unbeholfenen Wesen Kenntnisse und Charaktereigenschaften, die man nur bewundern kann.“

„Wirklich?“ Der Präsident lachte laut und spöttisch auf. „Ich lerne Dich ja heute von einer ganz neuen Seite kennen, Wolfgang, als schwärmerischen und aufopfernden Freund – ich hätte Dir das kaum zugetraut.“

„Wenigstens pflege ich für meine Freunde einzustehen und sie nicht im Stiche zu lassen,“ war die sehr bestimmte Antwort.

„Ich wiederhole Dir aber, daß ich diesen Mann in meinem Hause nicht sehen will,“ sagte Nordheim herrisch, „und darüber habe ich hoffentlich zu bestimmen.“

„Gewiß, aber in meinem künftigen Hause wird Benno stets ein willkommener Gast sein und ich werde mich rückhaltlos gegen ihn aussprechen, wenn ich wirklich genöthigt sein sollte, Deinen Wunsch hinsichtlich seines Fortbleibens zur Sprache zu bringen und Dich – zu entschuldigen.“

Die Worte ließen an Energie nichts zu wünschen übrig; es war das erste Mal, daß eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden entstand; bisher waren ihre Ansichten und Interessen durchaus gleichartig gewesen, aber Wolfgang zeigte schon bei diesem ersten Konflikt, daß er kein fügsamer Schwiegersohn war und seinen Standpunkt mit aller Entschiedenheit zu wahren wußte. Er gab sicher nicht nach, das sah auch der Präsident, aber dieser mochte wohl irgend einen Grund haben, den Streit nicht auf die Spitze zu treiben, denn er lenkte ein:

„Der Gegenstand ist es gar nicht werth, daß wir uns so darüber ereifern,“ sagte er achselzuckend. „Was geht mich im Grunde dieser Doktor Reinsfeld an! Ich will eine unangenehme Erinnerung loswerden mit seinem Anblick – weiter nichts. Trotz Deiner begeisterten Lobpreisung erlaube ich mir, seine Persönlichkeit ebenso unbedeutend zu finden, als der Vorfall es war, der mich gegen seinen Vater einnahm. Also lassen wir meinetwegen die Sache auf sich beruhen!“

Er hätte seinen Schwiegersohn nicht mehr in Erstaunen setzen können, als durch diese ungewohnte Nachgiebigkeit. Die Gleichgültigkeit, die er jetzt zeigte, stand im vollsten Widerspruch mit seiner fieberhaften Gereiztheit von vorhin. Wolfgang schwieg zwar und schien zufriedengestellt, aber jene alte Feindschaft gewann doch jetzt eine ganz andere Bedeutung für ihn. Er war fest überzeugt, daß es sich damals nicht um etwas Unbedeutendes gehandelt hatte; ein Mann wie Nordheim hielt nicht zwanzig Jahre lang die Erinnerung an irgend eine Bagatelle fest.

[632] Jetzt trat Alice ein, zur offenbaren Erleichterung des Präsidenten, der mit keiner Silbe den ärztlichen Besuch berührte, sondern sofort von anderen Dingen zu sprechen begann, und auch Wolfgang gab sich Mühe, seine Verstimmung zu verbergen. Die junge Dame bemerkte in der That nichts davon, sie war im Begriff, in den Garten zu gehen, um Erna aufzusuchen, und der Vater sowohl als der Bräutigam schlossen sich ihr an.

Der Garten der Bergvilla entsprach der hohen Lage, die gewöhnlichen Ziersträuche und Blumen konnten nicht gedeihen an diesem Orte, der sich nur eines so kurzen Sommers erfreute und den größten Theil des Jahres im Schnee begraben lag. Die Anlagen, die man auf der ehemaligen Matte rings um das Haus geschaffen hatte, waren neu und sonnig, aber der kleine Tannenwald, der sich an den Garten anschloß und bis zur Bergwand ausdehnte, bot in der Sonnengluth einen kühlen, schattigen Aufenthalt.

Man hatte eine Art Naturpark daraus gemacht, dem die riesigen, moosbedeckten Felsblöcke, welche, von einem einstigen Bergsturz herrührend, überall zerstreut lagen, an höchst romantisches Ansehen gaben.

Auf der Bank, die am Fuße eines dieser Felsen errichtet war, saß Baroneß Thurgau und vor ihr stand Ernst Waltenberg, aber nicht in ruhigem Gespräche; er war aufgesprungen und hatte sich ihr in den Weg gestellt, als wolle er eine Flucht verhindern.

(Fortsetzung folgt.)





Aus der Reichshauptstadt.
4. Das lustige Berlin.
Von Paul Lindenberg.       Mit Illustrationen von O. Gerlach, P. Bauer. u. a.

Im „Sternecker“. 

Ob Sommer oder Winter, ob Frühling oder Herbst, wer sich die Zeit in Berlin verkürzen will, der braucht nicht darauf zu achten, ob die ersten Schneeglöckchen schüchtern im Thiergarten emporsprießen, ob die Linden auf der nach ihnen benannten stolzen Straße süßen Duft ausströmen oder ob lustiges Schlittengeläut erschallt und dem ahnungslosen Passanten aus sicherem Versteck ein festgefügter Schneeball nachgesandt wird. Die Auswahl der Vergnügungen ist allerdings mehr oder minder eine andere, jegliche Saison hat ihre besonderen Lockungen, und fast jeder Monat bietet seine „Specialität“, die häufig grundverschieden von der vorangegangenen ist; aber gerade diese bunte Abwechslung enthält eine große Anziehungskraft und zeigt die lustige Seite der Weltstadt im mannigfachsten Licht.

Natürlich üben die einzelnen Jahreszeiten einen wesentlichen Einfluß auf den Charakter der Belustigungen aus, sie vermindern sie nicht, aber sie prägen ihnen eine bestimmtere Individualität auf und umgeben verschiedene von ihnen mit doppeltem Glanz.

Betrachten wir uns Berlin von dieser Seite im Sommer, so lenken wir wohl zunächst unsere Schritte nach dem Zoologischen Garten, auf den die Kaiserstadt mit vollstem Recht stolz sein darf Das weite Terrain mit seinem prächtigen Baumwuchs gehörte einst zum Thiergarten, bis kurz vor Mitte des vergangenen Jahrhunderts auf Veranlassung Friedrichs des Großen hier eine Fasanerie eingerichtet wurde. Als man letztere 1842 nach dem idyllischen Charlottenhof bei Potsdam übersiedelte, bat der Naturforscher Lichtenstein den König Friedrich Wilhelm IV., daß an dieser Stelle ein zoologischer Garten angelegt werden möchte. Der Herrscher war diesem Plane sehr geneigt und unterstützte das neue Unternehmen noch dadurch, daß er ihm eine beträchtliche Zahl bisher auf der von der Havel umspülten Pfaueninsel gefangen gewesener fremder Thiere überwies und auf diese Weise sogleich einen sicheren Bestand schuf. Im Sommer 1844 wurde der Garten, der damals vollständig außerhalb der Stadt lag, zum ersten Male dem Publikum geöffnet, und wenn er auch zunächst nur langsame Fortschritte machte, so blühte er unter sachverständiger Leitung und im Besitze einer kapitalsfähigen Aktiengesellschaft desto kräftiger in den siebziger Jahren sowie in diesem Jahrzehnt auf und beansprucht gegenwärtig den Rang als eines der bedeutendsten und angesehensten derartigen Institute in ganz Europa.

Es ist aber auch ein seltener Genuß, an einem schönen Vormittage hier entlang zu wandeln, ohne besonderen Zweck und ohne specielles Ziel; schmetternder Vogelgesang ertönt aus den breitästigen Baumkronen, silberner Thau liegt aus Gräsern und Halmen, goldene Sonnenstrahlen huschen über Weg und Steg und mit munterem Geschnatter ziehen in kleinen Zügen die Entenscharen durch die von künstlichem Felsgeröll und schattigen Weiden umrahmten Teiche. Wer Lust hat, kann in diesen Stunden am besten die Thiere betrachten und studiren, denn der Besuch ist nicht sehr zahlreich und stört uns nirgends. Zwar treffen wir zuweilen auf lange Kinderkarawanen, bestehend aus Schülern und Schülerinnen dieser oder jener Gemeindeschulen, aber wie könnten sie uns stören, diese Scharen kleiner Blond- und Schwarzköpfe, die mit ausgelassenem Jubel die Affenkäfige umdrängen und sich nicht satt sehen können an den drolligen Sprüngen der langgeschwänzten Vierfüßer, die mit scheuer Ehrfurcht das stattliche Löwenpaar betrachten und furchtsam sich zusammenducken, wenn der Wüstenkönig seine dröhnende Stimme erhebt, und welche die letzten Krumen ihres spärlichen Frühstücksbrotes den Rehen reichen, die bereits an die gutmüthigen Geber gewöhnt sind und sich zutraulich nähern. Sonst bilden um diese Zeit Fremde den Hauptbesuchertheil, einzelne Brunnentrinker ferner wandeln gemessen die vorgeschriebene Frist ab, auf ihren von Jasmin und Flieder überschatteten Lieblingsplätzchen sitzen empfindungsvolle Damen, ein Buch des erkorenen Autors in der Hand, und auf den Spielplätzen die, ebenso wie im Thiergarten, auch hier vorhanden sind, tummeln sich in froher Ungebundenheit Knaben und Mädchen durch einander, Kinder von Eltern, die im Besitze einer allen Familienmitgliedern freien Eintritt gewährenden Aktie sind.

Nachmittags schaut es allerdings anders im Zoologischen Garten aus, da kommen mehr die Menschen als die Thiere zur

[633]

Der Neptunteich im Berliner zoologischen Garten.

[634] Geltung, denn der schöne Park ersetzt vielen, welche aus irgend einem Grunde die heißen Monate in Berlin zubringen müssen, einen Badeaufenthalt. Wer aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen es ermöglichen kann, wendet sich dann hierher, Stadt- und Pferdebahn vermitteln den Verkehr aus dem Innern der Residenz, und daneben rollen unaufhörlich Droschken und Equipagen an den weitgeöffneten Portalen vor; sichtlich gern giebt sich hier die elegante Welt ein Rendezvous. Und man kann es ihr nicht verdenken, denn der Aufenthalt, namentlich vor dem großen Restaurant mit seinen verschiedentlichen breiten Plateaus, ist ein ganz allerliebster und gewährt den Augen eine Fülle anregender Eindrücke. Das ist auf der Promenade dort am Neptunteich, in den sich rauschende Kaskaden ergießen und dessen Wasserspiegel durch allerlei ausländisches kriechendes und fliegendes Gethier belebt ist, ein stetes Hin- und Herwogen lachender, schwatzender, plaudernder Menschen, ein unaufhörliches Kommen und Gehen, ein fortwährendes Bilden und Auflösen kleinerer Gruppen, die sich hier und da scharf von dem Gesammtbilde abheben – dort eine Schar junger Mädchen in hochmodernen, luftigen, hellen Toiletten, da ein Trupp Offiziere, herumspazierend, säbelrasselnd, hier eine Schar buntbemützter Studenten, sichtlich von einem recht ausgedehnten Frühschoppen kommend, und überall Fremde, jeglicher Nationalität angehörend und jegliche Sprache redend, Franzosen, Engländer, Italiener, Amerikaner, Türken – es ist kaum ein civilisirter Staat nicht vertreten. Dazu die flotteste Militärmusik von zwei sich ablösenden Kapellen, der blaue Himmel über uns – wahrlich, man trennt sich schwer von diesem Fleckchen Erde, zumal wenn sich eine laue Sommernacht herniedersenkt und mit einem Male die elektrischen Flammen ihr magisches Licht verbreiten, während stimmungsvoll der Wagnersche Tannhäusermarsch von dem Podium herniederrauscht und seine tönenden Weisen das Echo der friedlichen, stillen Natur erwecken.

Und nun – als Gegenstück – der erste Sonntag eines Monats! Ist das noch derselbe Zoologische Garten, der Alltags eine gewisse aristokratische Vornehmheit aufweist? Man sollte es kaum glauben. Eine wahre Völkerwanderung ergießt sich dann von den frühen Morgenstunden an hierher, an den Kassen herrscht ein fast lebensgefährliches Drängen und Schieben, Tausende und Abertausende begehren Einlaß, der an diesen Sonntagen nur 25 Pfennig kostet und der dieselben zu richtigen Volksfesten stempelt; daneben aber auch zu langdauernden, denn die zuerst Erschienenen machen nicht etwa den später Kommenden Platz, o nein, dieser Tag wird vollständig ausgenutzt. Proviant bergen ja die rundbauchigen Körbe, welche fürsorglich „Mutter“ mitgenommen, Bier giebt es aller Ecken und Enden, denn da die Restaurationsräumlichkeiten bei weitem nicht ausreichen, wird überall das „Bayerische“ frisch vom Faß verzapft, hier bei den Tigern und da bei den Giraffen und dort bei den Elefanten. Jetzt kommen auch die Thiere wieder zu ihrem Recht, und wenn sie nur ein klein bißchen Verstand hätten, sie würden stolz sein über ein derartiges Anstaunen und Bewundern, aber sie würden noch öfter Einspruch erheben gegen derartige, laut werdende kühne zoologische und geographische Kombinationen! Fortgewischt sind die sonst hier zu treffenden eleganten Gestalten der Fremden und Einheimischen; das echte Berlinerthum hat an diesem Tage Besitz vom „Zapperlotschen Garten“ genommen, und wo das erst der Fall ist, da bleiben die ungezählten Scharen fest und unentwegt bis in die Nacht hinein und schieben die Heimkehr bis zur letzten Minute auf, mit dem festen Vorsatze scheidend: auf Wiedersehen am nächsten Ersten!

Weist der Zoologische Garten nur einmal in vier Wochen an solches Volksleben auf, so kann man dies dafür an jedem Tage, mit bedeutender Verstärkung aber Sonntags, in der Hasenhaide beobachten. Hasenhaide – armer Fremdling, der du dir bei diesem Namen einen schattigen Wald mit freundlichen Ruheplätzchen und Lichtungen vorstellst, welch bittere Enttäuschung harrt deiner, wenn du nach diesem Paradiese zahlloser Berliner hinauspilgerst! Die Hasen sind ebenso verschwunden wie es die Haide ist; wo noch einige spindeldürre Tannen stehen, hat der Militärfiskus Schießplätze für die Berliner Garnison angelegt, und die strengsten Bestimmungen warnen vor dem Betreten dieses Terrains. Einst lag dasselbe weit von der Stadt entfernt, in jenen Jahren, wo hier „Vater Jahn“ den ersten Berliner Turnplatz anlegte und wo die heldenmüthigen Männer, welche in den Schlachten von Großbeeren, Dennewitz und Hagelsberg den Tod für das bedrängte Vaterland starben, hier ihre letzte Ruhe fanden. Heute strecken sich die steinernen Arme der Weltstadt bereits bis zur Hasenhaide aus und umschlingen sie an einzelnen Stellen; wer weiß, wie lange es dauert, daß nur noch dunkle Sagen von dieser sogenannten Haide und ihrem lustigen Volkstrubel künden!

Gegenwärtig ist letzterer noch in seiner ganzen Ursprünglichkeit und Ausdehnung dort zu finden. Ein Sonntagnachmittag in der Hasenhaide – ihr Götter, beschützt unsere Ohren und unsere Lungen! Staub und Lärm und Lärm und Staub – das ist der erste überwältigende Eindruck, den wir, den breiten sandigen Weg entlang schreitend, erhalten. Allmählich nur unterscheiden wir das brüllende Schreien der Ausrufer, das Quieken der Karousselmusik, das Klappern der Würfelbuden, die donnernde Ankündigung der Sehenswürdigkeiten – hier „Menschenfresser aus Aegypten“, dort eine „elektrische Jungfrau“, daneben ein „unübertreffliches Raritätenkabinet“ u. dgl. m. – das Fiedeln der Tanzkapellen, den Spektakel der Kinderinstrumente, das Knallen in den Schießständen; und mitten in dem Lärm wandeln sie zu Tausenden herum, die hier von harter Wochenarbeit Erholung suchen und merkwürdigerweise auch finden, kleine Beamte, Handwerker, Arbeiter und Soldaten, mit ihnen in traulichem Bunde junge Arbeiterinnen, Laden- und Nähmamsells, Dienstmädchen, Kinderwärterinnen, nun eben alle die, welche sich hier mit innigem Behagen wohl fühlen, und deren giebt es nicht wenige in Berlin! Das zeigen uns die den Weg einsäumenden Vergnügungslokale, theils „Kaffeeküchen“ in des alten Berliner Wortes Bedeutung, theils Ausschankstätten der angesehensten Berliner Brauereien mit gewaltigen Gärten und in diesen wieder ein selbständiger Vergnügungsapparat: Schaukeln, Karoussel, Kegelbahn, Tanzsaal, Skatingrink, Kraftmesser, Turngeräthe, und so in bunter Folge fort. Sie sind häufig schon nachmittags überfüllt und weisen gegen Abend kaum ein leeres Plätzchen auf; selbst das umfangreichste Etablissement, die „Neue Welt“, scheint dann in einen wimmelnden Menschenhaufen verwandelt zu sein, und wer sich nicht höchst eigenbeinig und eigenhändig um sein Bier und sein Essen kümmert, der muß häufig durstig und hungrig den Heimweg antreten.

Etwas mehr Natur, wenn man überhaupt davon in der Hasenhaide sprechen kann, findet man nun doch in dem Vororte Berlins, Weißensee, wo ein thätiger Unternehmer ein ebenso amüsantes wie kolossales Vergnügungslokal, „den Sternecker“, nach dem Vorbilde des Kopenhagener Tivoli, geschaffen hat. Hier trifft man vor allem auf einen wirklich schönen Park mit prächtigen Partien kerniger Bäume und seltener Sträucher, mit sorgsam gepflegten Bosketts und sauber gehaltenen, überall lauschige Ruheplätzchen darbietenden Pfaden mit sehr geschickt gemachten künstlichen Grotten und zierlichen Borkenhäuschen, sogar mit einer hübschen Aussicht auf einen miniaturartigen See, den ein ebenso miniaturartiger Dampfer befährt.

Und was ist daneben alles für die Unterhaltung gethan! Elektrische Bahn, Reitschule, Lachkabinet, Rutschbahn, Panorama, Cirkus, Theater, Chansonettengesang, Schnellphotographie – das ist nur ein geringer Theil der Auswahl, die hier den Besuchern für ein sehr kleines Entree tagtäglich geboten wird. Und gerne lassen sie es sich bieten, die Berliner und Berlinerinnen, welche in hellen Scharen per Pferde- und Stadtbahn, per Kremser und Thorwagen, per Droschke und – sehr stark – per pedes apostolorum hier hinausströmen, zumal wenn der Abend hereinbricht. Dann bietet der große Park einen bezaubernden Anblick dar, überall flackern und funkeln Glühlichtflämmchen auf, aus den Springbrunnen, den Blumenbeeten und den Gebüschen, aus den Rasenflächen, den Grotten und Lauben, sie umzüngeln die Orchester, von denen schmetternde Musik erschallt, und ziehen sich wie Irrlichtchen am Ufer des Sees entlang. Der scheint aber mit einem Male in ein Flammenmeer verwandelt zu sein, von allen Seiten knistert’s, sprüht es, glüht es auf, strahlende Feuergarben schießen zum Himmel empor, ein Regen schimmernder Leuchtkugeln gießt sich herab – das Feuerwerk hat begonnen, die Freude und der Jubel der Besucher haben ihren Höhepunkt erreicht.

Natürlich kann man die sommerlichen Abende auch sehr gut in Berlin selbst verbringen. Wer nicht die zumeist in den Vorstädten liegenden Volksgärten besuchen, wer sich nicht in das bunte

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Im Nachmittagskonzert.

Gewimmel, welches im Ausstellungspark herrscht, stürzen will, der wird sicherlich seine Rechnung in einem der Sommertheater finden. Kroll- und Belle-Alliance-Theater, zu denen sich neuerdings auch die Friedrich-Wilhelmstädtische Bühne gesellt, haben bisher siegreich jede Konkurrenz zu schlagen gewußt; sie gehören eigentlich zu Berlin wie die Siegessäule und das Brandenburger Thor. Zwar sucht man sie weniger auf, um sich an ihren theatralischen Genüssen zu erfreuen, obgleich diese – bei Kroll die Oper mit berühmten Gästen, im Belle-Alliance-Theater ein wirkungsvolles Volksstück oder ein heiterer Schwank, im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater die Operette – häufig sehr gute sind, sondern mehr wegen des flotten Lebens, welches sich in ihren bestrickenden Konzertgärten entwickelt. In kühnen Bogen, in hübschen Arabesken ziehen sich aus buntfarbigen Lampions gebildete Guirlanden von einem Theil des Gartens zum anderen, die bei den Klängen der Musik umherpromenirenden Besucher mit tageshellem Licht übergießend. Auch hier lächelt uns das Leben nur von seiner freundlichen Seite an; wohin wir hören, Scherzen und Plaudern, Vergnügen und Lachen; wer aber näher prüfen würde, der könnte sich überzeugen, daß unter der strahlenden Oberfläche auch viel Häßliches und Trauriges sich verbirgt! – – –

Die Belustigungen des Winters, die sich der Mehrzahl nach auf die berühmten „vier Wände“, welche allerdings fast immer sehr weit aus einander stehen beschränken, beginnen schon ziemlich frühzeitig. Wenn noch goldiger, wärmender Septembersonnenschein über die Straßen und das Dächermeer dahinfluthet, öffnen bereits die sogenannten „Specialitätenbühnen“ mit Gummimenschen, Wasserköniginnen, dressirten Seehunden etc. ihre Pforten. Auch das „Americain-Theater“, dieses originellste Berliner Etablissement, versammelt wieder zahlreiche Liebhaber derben Scherzes in seinen stets überfüllten Räumlichkeiten und giebt zumeist schon um diese Zeit das Witzwort für die ganze Saison aus; auf dieser Stätte begannen ja „Hirsch in der Tanzstunde“, der „Geschundene Raubritter“ und ähnliche Erzeugnisse des Blödsinns ihre – „ruhmvolle“ Wanderung. Die vielen „Tingeltangels“ schließen sich dem Vergnügungsreigen an. Die bessere Gesellschaft hält sich denselben natürlich fern. Aber auch sie finden ihr Publikum, und je nach der Zugkraft der neuen Sängerinnen sind sie bald bis auf den letzten Platz besetzt, bald nur spärlich besucht. – Einige Wochen später schwingt auch wieder im Konzerthause an Stelle Bilses der Dirigent einer ganz vorzüglichen Kapelle den Taktstock, und ebenso hat Altmeister Renz von neuem mit seinen zwei- und vierbeinigen Künstlern den Einzug in Berlin gehalten und führt unter dem Jubel der Cirkusbesucher die herrlichen sechs arabischen Hengste in die Manège. Dann ist auch der November gekommen und in seiner Gefolgschaft eine wahre Fluth von Premièren und Konzerten, von Matinéen und Soiréen, von Wohlthätigkeitsbazaren und den ersten vorläufig nur schüchtern auftretenden thés dansants – kurz, von allen nur möglichen einzelnen Theilen des brausenden hauptstädtischen Vergnügungsprogrammes.

Naht allmählich das Weihnachtsfest, so füllen sich die Schaufenster der großen Modemagazine mit den lockendsten Dingen, mit ganzen Tüll- und Gazewogen, mit schimmernden Seiden- und prunkenden Sammetstoffen, mit einem Heer zierlicher Schuhe und Stiefelchen, mit kleidsamem Kopfputz und täuschend angefertigten künstlichen Blumen, kurz, mit jenen hunderterlei Sachen und Sächelchen, welche die Mädchen- und Frauenherzen höher schlagen machen und welche zum Sturm gegen die verhärtetsten Junggesellen gebraucht werden.

Kinderwärterin aus dem Spreewalde.

Dieser Sturm aber, der natürlich auch ebenso muthig von der anderen Seite aus unternommen wird, beginnt kurz nachdem die letzten Weihnachtskerzen herniedergebrannt sind. Dann kann man selbst in den entlegensten Straßen bis in die späteste Nacht hinein die Fensterreihen einzelner Stockwerte hell erleuchtet sehen, an den Vorhängen zeichnen sich die Schatten tanzender Paare ab und hin und wieder wird auch die „Hauskapelle“, gewöhnlich aus einem gemietheten Klavierspieler bestehend, deutlich vernehmbar. Die gesellschaftliche Saison ist in Berlin eine ausgeprägt lebhafte und neben den Beinen kommt auch der Magen zu seinem Recht, denn die einst gefürchtete „geheimräthliche Berliner Gastfreundschaft“ „mit Butterbrötchen eingestippt in heißes Wasser mit Peccosaft“ ist an vielen Stellen durch einen häufig sogar zu weit getriebenen gastronomischen Luxus ersetzt worden.

Ist der Januar schon reich an Diners und Soupers und allerhand anderen privaten Festlichkeiten, so hat der Februar eine Ueberfülle im Gefolge, denn er erscheint neben anderem mit dem „schweren Geschütz“, mit einer Reihe großer offizieller und öffentlicher Bälle, unter denen wiederum die vom Hofe ausgehenden den ersten Rang einnehmen. Sie vereinigen die Crême der Gesellschaft auf dem glatten Parkett der stolzen Säle im altersergrauten Königsschlosse; alle Würdenträger und fremden Gesandten, die hohen Beamten und Offiziere, die in Berlin anwesenden Fürstlichkeiten und der bevorzugte Adel erscheinen da und haben das Glück, die Mitglieder der Herrscherfamilie in ihrem Kreise zu sehen. Allerdings ist dieses auch noch auf einem anderen Feste der Fall, und zwar auf dem stets im Opernhause abgehaltenen Subskriptionsballe. Hier treffen wir neben den eben erwähnten Kreisen die gute bürgerliche Gesellschaft der Residenz und zugleich mit ihr sehr viele aus allen Landestheilen

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Der „Sternecker“ in Weißensee bei Berlin.
Originalzeichnung von O. Günther-Naumburg.

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Die Hasenhaide.

erschienene Fremde. Er hinterläßt einen tiefen und unverlöschlichen Eindruck, dieser Ball, denn es ist ein berauschend schönes Schauspiel, von einer der Logen auf dieses unter uns befindliche Meer von Jugend und Schönheit, Pracht und Reichthum herabzublicken; denn was Berlin davon aufzuweisen hat, es hat sich an diesem Abend hier zusammengefunden. Und dieses Chaos von strahlenden Uniformen und wehenden Helmbüschen, von flimmernden Ordenssternen und blitzenden Kreuzen, von funkelnden Diamantagraffen und kostbaren Perlenketten, von weißen Schultern und farbenprächtigen Toiletten, es ist in einen buntbewegten Rahmen eingefaßt, denn das ganze herrliche, gold in weiß gehaltene Haus ist bis auf den obersten Tribünenplatz mit einer festlich gekleideten Menge besetzt, welche, weil sie nicht unten an dem Trubel theilnehmen konnte oder wollte, ihn sich nun doch wenigstens aus der Vogelschau betrachtet.

Gegen neun Uhr tritt der Hof in seine Logen ein und unter dem Vorantritt des Herrscherpaares unternehmen Prinzen und Prinzessinnen alsbald den gemeinsamen Umzug durch den Saal, freundlich die ehrfurchtsvollen Grüße erwidernd; sind sie in ihre Logen zurückgekehrt, so beginnt, obwohl man es als ein Wunder in diesem fabelhaften Gedränge bezeichnen muß, der Tanz, und war es zuerst mit unglaublichen Schwierigkeiten verknüpft, das kleinste, freie Plätzchen dafür zu erringen, so wird doch allmählich der Kreis ein etwas größerer, denn während sich die junge Welt im Walzertakte dreht, erfrischt die ältere ihre bei der Hitze und der Fülle mattgewordenen Lebensgeister in den benachbarten Sälen an einigen Gläschen Sekt und einer leckeren Fasanenpastete. Ganz findige Geister entdecken sogar in schwer zu erklimmenden Räumlichkeiten, wo sich an profanen Abenden die Primadonnen oder Heldentenöre umzukleiden pflegen, einen kühlen Schoppen Bier und daneben, was mancher den Pasteten vorzieht, ein richtiges Butterbrot mit Schinken oder Wurst belegt!

Dem Subskriptionsballe schließen sich die übrigen größeren Festlichkeiten an, deren Zahl natürlich nur eine beschränkte ist, auf denen man aber dafür auch „ganz Berlin“ findet, mit anderen Worten alle jene Gesellschaftsklassen, die unter einander eine gewisse Fühlung haben. Die außerordentlich rasche Vermehrung der Einwohnerschaft hat mehr und mehr eine Absonderung der einzelnen Kreise und damit auch eine Specialisirung der Vergnügungen herbeigeführt, eine Einrichtung, die in dem früheren Berlin gänzlich unbekannt war.

Die Millioneneinwohnerschaft läßt nur noch selten allgemeine Festlichkeiten zu Stande kommen, und das ganze Wesen derselben nebst den nicht unbeträchtlichen Kosten ermöglicht auch nur ganz bestimmten, allerdings den verschiedensten Berufszweigen angehörenden Klassen die Theilnahme. Dieses Zusammenfinden und Zusammengehören vermitteln seit einer Reihe von Jahren speciell die vom „Verein Berliner Künstler“ und vom „Verein Berliner Presse“ veranstalteten Bälle, welche gewöhnlich im „Wintergarten“ stattfinden und eine besondere Anziehung ausüben. Einen zwar ähnlichen, aber doch wieder anderen Charakter tragen die an derselben Stelle veranstalteten Schauspielerbälle, die sich gleichfalls großer Beliebtheit erfreuen. Und diesen größeren Festlichkeiten schließen sich dann insbesondere diejenigen an, welche von den zahlreichen Vereinen veranstaltet werden, zu denen aber meist nur die Vereinsmitglieder und eine kleine Anzahl von geladenen Freunden Zutritt haben.

Neben dem „lustigen Berlin“ gelangt in den Wintermonaten auch das „leichtlebige Berlin“ mehr zum Durchbruch und findet einen weiten Anhängerkreis. Es ist ein bezeichnender Zug in der Kaiserstadt, daß sich diese beiden Arten von Festlichkeiten scharf abgrenzen und sich niemals zu einem übermüthigen Ganzen verschmelzen, wie dies an anderen Orten vorübergehend wohl zur Karnevalszeit der Fall ist. Aber mit der tollen Herrschaft des ausgelassenen Prinzen ist es eine eigene Sache in Berlin – er ist da und ist doch nicht da; man hört das Klappern seiner Schelle, aber bekommt ihn nie selbst zu Gesicht. Vor mehreren Jahren war der Versuch gemacht worden, seinen Thron officiell in Berlin zu errichten – man arrangirte einen großen öffentlichen Maskenzug, er wurde ausgelacht und verspottet; man versteht eben den harmlosen Humor an der Spree nicht zu würdigen, hier muß jeder Scherz, jede Satire eine scharfe Spitze haben.

[638] So koncentrirt sich denn jetzt der Berliner Fasching in einer Ueberzahl der verschiedenartigsten Bälle, welche in den mehr oder weniger bekannten Vergnügungsorten, die sämmtlich von einem leichtfertigen Stern bestrahlt werden, stattfinden. Sie tragen zwar die pomphaftesten Namen und werden stets als „erste Sehenswürdigkeit der Residenz“ angekündigt; aber ob wir dem „Einzug der Rosenkönigin“ beiwohnen oder gar dem „Triumph der Königin Pomare“, ob wir uns die „Feenquadrillen“ ansehen oder den „Velocipedencontre“, der Eindruck ist fast immer derselbe: ein Trupp leichtgeschürzter Dämchen, umgeben von oft sehr alten und oft noch sehr jungen Herren, alle sich bemühend, die ungemein Amüsirten zu spielen, und gerade dadurch zeigend, wie sehr sie sich langweilen. Ein häßlicher Anblick!

Da geht es denn doch auf dem Corps de Ballet-Ball, der bei Kroll abgehalten wird, noch erfreulicher zu; auch dort ist die Gesellschaft meist eine recht „gemischte“, aber es herrscht doch noch wirkliche Lebenslust vor, man sieht den Einfluß der rauschenden Musik auf die dicht durch einander wogende Menge, die reich an graziösen und anziehenden Erscheinungen ist – zierliche Pagen, niedliche Blumenmädchen, schöngeputzte Tscherkessinnen, zumeist aber schlanke Dominos, die Gesichter durch die Seidenlarve oder den Spitzenshawl verhüllt, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb dem Tanze mit Leidenschaft huldigend, dem sich hier sogar die Herren mit Eifer hingeben. Wir nehmen beim Verlassen des Ortes den Eindruck mit, daß auch in Berlin der Freudenbecher überschäumt und daß die Residenz auch darin „Weltstadt“ geworden ist!





Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
In der Schutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
(Schluß.)
8. Im Sonnenschein.

Das Wetterprophezeien müssen wir Astronomen doch auch weiter noch den Astrologen überlassen; das sind ja wirkliche Sonnenstrahlen, und ich meinte gestern Abend bestimmt, es werde nun so einige Tage weiter regnen.“ Mit diesem stillen Selbstvorwurf erhob sich Herr Doktor Helbig, die Augen nochmals reibend, von dem Lager, dessen Härte nicht hatte verhindern können, daß er bis eben fest und tief geschlafen hatte. Freilich nicht ohne Träume, die von den am Abend vorher gehörten Geschichten stark beeinflußt waren. Eben noch hatte sein Traum den dramatischen Höhepunkt erreicht. Er hatte sich mitten in einer von blauem Licht durchflutheten Gletscherspalte befunden, um seine Brust ein Seil, an welchem ihn ein Führer in der Schwebe hielt, in seinen Armen ein Mädchen, in dessen holdem bleichen Angesicht die Augen geschlossen waren … Wer war es nur gewesen? Die Züge waren ihm nicht fremd. Vergeblich! Er konnte sich nicht besinnen, wo im Leben er sie schon gesehen … Da war die Sonne von oben in die Gletscherspalte, nein in die schmale Kammer, die er mit Herr Whitfield als Schlafgemach theilte, gefallen und hatte ihn geweckt. „Neckender Traumgott, läßt Du Dir von der Wirklichkeit so direkt ins Handwerk pfuschen? Hast Du mir nun den Traum gesandt oder ist nicht hier mein noch schlummernder Stubengenosse der Uebelthäter, dessen Gletscherabenteuer meine erregte Phantasie in ihrer Weise weiter gesponnen?“

Leise war er ans Fenster getreten und hatte den linnenen Vorhang zurückgeschoben. Da aber brach es mit Entzücken von seinen Lippen: „Herrlich, wunderbar! Hollah, Herr Whitfield, aufgewacht, es ist über Nacht das schönste Wetter geworden und nun sehen Sie einmal, welch ein Schauspiel!“

Der Engländer war sofort aufgefahren, hatte sich schnell am Waschtisch mit kaltem Wasser die Augen genetzt und trat mit einem freundlichen Good morning, Sir! neben den enthusiasmirten Astronomen an das Fenster. Und auch sein verwöhnter Sinn mußte eingestehen, daß der sich darbietende Anblick ein außerordentlicher war.

Dicht vor ihnen und in der tiefen Schlucht, die sich vom Seealpthal zu den Schneefeldern des Hohen Säntis und seiner Nachbarn heraufzog, wallte und wogte es von weißschimmernden Dämpfen und Wolken, klar und scharf aber über dieser vom Licht durchflossenen Nebelmasse hoben sich die zackigen Formen der Bergspitzen selbst empor ins Blau des wolkenlosen Himmels, auf der einen Seite noch tief in Schatten, auf der andern aber vom Licht der siegreichen Morgensonne leuchtend überfluthet. Immer mächtiger wurde ihr Walten, immer mehr verflüchtigten sich die Wolken, gleich fliehenden Spukgestalten, hinunter ins Thal, dessen Umrisse allmählich auch sichtbar wurden.

„Das wird ein Tag,“ rief befriedigt der Deutsche, der sich von dem Anblick nicht hatte trennen können, als der Engländer bereits mit einem Splendid indeed daran gegangen war, seine einfache Toilette zu vollenden: „Nun aber auch keine Zeit verloren; ich gehe nach dem Frühstück sofort auf die Spitze!“

„All right, ich werde Sie begleiten. Die Aussicht war gestern zu dunstig. Ein so frisch geklärter Morgen wie heute ist selten.“

Auch in den anderen Räumen der Meglisalpe war es inzwischen lebendig geworden. In Plaids und wollene Bettdecken gehüllt zum Schutz gegen die noch herrschende Kälte, erschienen fast gleichzeitig mit den beiden Junggesellen die Kurzschen Eheleute und Professor Schröder auf dem hofartigen Platz vor den beiden Unterkunftshäusern, einander in frohester Stimmung wie alte Bekannte begrüßend. Aus der Küche tönte der Appenzeller Kuhreigen und der Führer Doktor Helbigs, der eine kleine felsige Anhöhe in der Nähe bestiegen hatte, ließ einen Juchzer ertönen, so laut und kräftig, daß der in den Bergen geweckte Widerhall wie Donnerklang dröhnte. Das Bärbeli, das bereits blitzsauber angekleidet war und eben den aufgestandenen Gästen auf einem Tisch im Freien den Kaffee auftrug, sagte mit stolzem Lächeln: „Das ist mein Schmied-Jakob, gelt, der kann’s!“

Mit warmem Interesse wurde der kräftige Bursche, der lachend herantrat, um seinen Herrn zu fragen, ob er die Sachen zum Aufbruch herunterholen solle, von allen bewillkommnet; er war ihnen ja durch die Geschichte vom Bötzler, wie sie das Bärbeli gestern Abend erzählt, allen aufs beste bekannt.

Jetzt traten auch Herr Breitinger und seine Frau aus dem Nebengebäude, fix und fertig zum Abmarsch. Die fröhlichen Malersleute sahen heiter aus wie der Sonnenschein, der das Bild rings umfluthete.

„Da sind einmal wirklich die Rechten zu einander gekommen,“ flüsterte mit einem fast mütterlich zärtlichen Blick auf das schöne Menschenpaar Frau Kurz ihrem Gatten zu; dann rief sie den Nahenden mit freundlichem Gruße entgegen: „Schon reisefertig?“

„Versteht sich, an solchem Morgen ist jede Minute kostbar,“ entgegnete die Malerin. „Und zwei Stunden braucht auch ein rüstiger Bergsteiger zum Hinaufstieg,“ fügte ihr getreuer Mann und Kollege hinzu.

„Die Herrschaften haben recht, Lina. Gefrühstückt hätten wir – so kann’s denn losgehen. Aber warten dürfen Sie nicht auf uns. Wir nehmen uns Zeit. Das Alter hat etwas überflüssigen Ballast angesetzt und da ‚örteln‘ wir uns so langsam hinauf. Das eine große Schneefeld dort wird uns ohnehin Mühsal bereiten.“

Doch dem widersprach ihr Führer. Ein wenig strapaziren würden sich die Herrschaften schon, aber besonders schlimm wäre der Weg nicht. Nicht einmal für Damen beschwerlich, bei so schönem Wetter wie heute.

Auch Professor Schröder hatte sich reisefertig gemacht und kam, mit seinem Alpenstock bewaffnet, gerade auf die im Gespräch begriffene Gruppe zu, um Adieu und Auf Wiedersehen zu sagen, denn er wollte sich den eben aufbrechenden jüngeren Männern anschließen. Er kam gerade zurecht, um die letzte Versicherung des Führers zu vernehmen, und diese bewirkte eine Aenderung seines Entschlusses. Er drehte sich um, winkte den seiner Harrenden Lebewohl zu und rief „Auf Wiedersehen, meine Herren, heut Mittag! Ich bleibe hier und erwarte meine Damen, um dann gegen Abend mit ihnen den Aufstieg zu unternehmen. Das Barometer ist so bedeutend gestiegen, daß das schöne Wetter gewiß anhält. Da wär’s eine Sünde, wenn ich meine Frau, die unserer [639] Verabredung gemäß nun sicher den Weg bis hierher macht, nicht animiren wollte, ganz mit hinauf zu kraxeln … Sie hat sich die Sache offenbar schwieriger vorgestellt als sie ist, und wird sicher nicht hinter Ihnen, verehrte Frau Kurz, an Unternehmungsmuth zurückstehen wollen. Ich habe nämlich,“ erklärte er weiter den Damen, „mit meiner Frau verabredet, falls es sich über Nacht aufhelle, möchten sie und meine Nichte mir bis hierher entgegenkommen. Nach meinem Plane wollte ich ja gestern Abend noch auf den Säntis und dort übernachten. Nun werden die Damen bereits unterwegs sein und ich müßte mich übermäßig abhetzen, wenn ich bis zu ihrer Ankunft hier den An- und Abstieg zur Spitze erledigen wollte. Da ist mir noch zur rechten Zeit eingefallen, daß die Damen sich bei dem schönen Wetter, und nun der Reiseplan doch einmal geändert werden muß, ganz gern entschließen werden, in der Kühle des Abends mich hinauf zur Spitze zu begleiten. Der Sonnenuntergang muß, nach dem Aufgang zu schließen, heute ja wundervoll werden.“

Fröhlich klang dann das „Auf Wiedersehen!“ von Mund zu Munde. Der Professor blickte den drei Gruppen noch eine Weile nach. Dann ging er hinein ins Gastzimmer, wo gestern Abend der Geist Frau Aventiures die Tafelrunde der Eingeregneten von Mißmuth und Trübsinn befreit hatte, setzte sich an ein Fenster, dessen Ausblick zum Säntis hinausging, und nahm sein Taschenbuch heraus, um einiges niederzuschreiben; doch bald ließ er es sinken und schaute träumerisch ins Freie hinaus, auf die firnumpanzerten Berge und den weiten blauen Himmel über ihnen. Sonnig heitere Erinnerungen woben in seine Träume liebliche Bilder; die Erzählung, welche er gestern Abend hier vorgetragen, ging noch einmal durch seine Seele mit der Frische selbsterlebter Poesie.

Um diese Zeit etwa bog auf dem vom Weißbad ins Gebirge führenden Wege, da, wo er sich in der Nähe des Itterbachfalls nach dem Seealpsee und nach der Höhe links gabelt, in den letzteren steilaufsteigenden Saumpfad eine kleine Karawane ein, bestehend aus zwei Damen, einem Herrn, drei Maulthieren und zwei diese führenden Treibern. Die jüngere der beiden Damen, in deren braunem Gelock der frische Morgenwind spielte, so daß bald dieses bald jenes Löckchen luftig aufflatterte, war mit leichten Schritten vorangegangen, als die auffallend hohe Stimme des Stadtherrn, der etwas hinter der älteren Dame herankam, dem Zuge Halt gebot.

„Meine Damen, meine Damen, darf ich bitten, Fräulein Marie! Hier geht es ja ganz steil hinauf – ah – und da möchte ich die Gnädigen doch gehorsamst bitten, sich endlich der beiden Reitthiere zu bedienen, die ich – so frei war, für Sie zu bestellen.“

Während er diese Sätze mit der Hast eines Kurzathmigen hervorstieß, war er stehen geblieben und trocknete sich mit einem rothseidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn und dem bereits ziemlich kahlen Schädel, welchen er zu diesem Zwecke entblößt hatte.

„Es thut mir leid, ein so freundliches Anerbieten ablehnen zu müssen, aber ich sagte Ihnen unten in Weißbad schon, daß ich auf steilen und vielleicht schwindelerregenden Bergpfaden von jeher lieber gehe als reite, ja gegen das Reiten ist solchem Falle geradezu eine Antipathie habe,“ antwortete in sanftem Tone die ältere Dame auf diese Einladung. Minder sanft, ja fast erzürnt klang es dagegen von der Höhe zu dem in einen eleganten schwarzen Anzug mit weißer Weste, die für seinen Leibesumfang viel zu eng war, eingezwängten, bereits jetzt unter der Sonnenwärme schwer leidenden Kavalier hernieder. „Aber Herr von Tümpling, wollen Sie mir denn die ganze Partie verderben? Ich habe zwei gesunde Füße und das Bergsteigen ist mir eine wahre Lust. Schicken Sie doch die zwei für uns bestimmten höchst unnöthigen Muli wieder zurück und besteigen Sie selbst das dritte, wenn Ihnen das Zuberg-Reiten ein solches Vergnügen macht.“

„Ich bedaure sehr, meine Damen, Ihren Geschmack nicht getroffen zu haben. Was mich betrifft, – eh – so hab’ ich von Kleinauf gern im Sattel gesessen und verschmähe dies auch nicht auf – Bergeshöhen. Auch bin ich für so beschwerliche Touren nicht mit dem passenden Schuhwerk eingerichtet,“ fuhr er seufzend fort, mit einem halb kläglichen, halb selbstgefälligen Blick auf seine enganliegenden glänzenden Lackstiefeletten. „Ja, wir armen unpraktischen Junggesellen sind übel dran. Eine so gute Hausfrau, wie Frau Professor, bedenken freilich alles und haben sogar Fräulein Marie veranlaßt, über ihre zierlichen Füße die plumpen schweren Nagelschuhe zu stülpen. Auf meine bescheidene Weise lassen Sie mich aber gleichfalls vorsorgen. So pressant ist es auch mir nicht, den Mulo zu besteigen. Aber mitgehen sollen er und seine beiden Kameraden; die Damen könnten denn doch ihre Kräfte überschätzen. Es wird warm werden, sehr warm, ah, – und ich fühle schon den Triumph voraus, welchen es mir machen wird, wenn Fräulein Marie mir eingestehen wird, daß es ihr doch recht angenehm sei, sich von einem so sicheren Reitthier – bis zur Meglisalpe weiter tragen zu lassen.“

„Das wird niemals geschehen,“ rief es trutzig von oben herab. „Wenn mein Wunsch einigen Werth für Sie hat, so schicken Sie, bitte ich nochmals, die Thiere zurück. Sie so leer mit hinaufziehen zu lassen, erinnert gar zu sehr an die Stücklein der Herren von Schilda. Nichts für ungut, Herr von Tümpling; aber Sie zwingen einen ja zum Spott.“

Damit wandte sich das Fräulein, welches sah, daß auch ihre Tante den Anstieg begonnen, und kletterte vergnügt über den steinigen Boden empor, den für eine Gebirgsreise so wenig geeigneten Herrn sammt seinen drei Maulthieren seinem Schicksal überlassend.

Der also Verhöhnte mußte nun wohl oder übel sich wieder in Bewegung setzen und seine schönen Lackstiefel dem spitzigen Steingeröll preisgeben. Er sah sehr verdrießlich und mißmuthig aus. Mehr noch als die Gefahr, in die er sich begeben, ärgerte und kränkte ihn der verletzende Uebermuth der jungen Dame. Ihretwegen hatte er eigens seine Reiseroute geändert, hatte er ganz gegen seinen Grundsatz, die Riesen des Hochgebirges nur von unten aus schön zu finden, die verrückte Idee gefaßt, die Damen auf dieser verwünschten Tour zu begleiten. Mit größter Sorgfalt hatte er alles bedacht und angeschafft, was denselben die Mühseligkeit irgend erleichtern könnte, und statt Dank zu ernten, erfuhr er nun solche Behandlung. Als er das Fräulein im vorigen Winter in Berlin im Hause dortiger Verwandten kennengelernt hatte, war sie ihm gerade durch ihr gesetztes Wesen und die gediegenen Eigenschaften ihres Charakters, die sie ohne Abbruch ihrer jugendlichen Anmuth zu entfalten gewußt hatte, so besonders angenehm aufgefallen. Was hatte sie nur so umgewandelt? Sollte sie jetzt, da sie sah, daß er sich ernstlich um sie bemühe, etwa gar an seinem Alter Anstoß nehmen? Er war doch noch lange nicht fünfzig wie sein Freund, der Oekonomierath von Bellwitz, der erst kürzlich einen blühenden Backfisch heimgeführt hatte. Und gar so groß war der Altersunterschied überhaupt nicht. Wenn man sie so vor sich sah, wie er eben, da sollte man freilich nicht meinen, daß sie schon längst die Zwanzig überschritten. Dies aber hatte er von ihrer Tante selbst gehört. Dagegen wurde dieser Unterschied ja durch weit schwerer wiegende mehr als aufgehoben; war er doch bereit, ein simples Fräulein Müller, deren Vater allerdings ein wohlhabender Architekt und Baurath war, zu einer von Tümpling zu machen. Einen von Tümpling behandelt man aber nicht ungestraft so, mein Fräulein wie es Ihnen soeben beliebte. Ein von Tümpling läßt sich dergleichen nicht bieten …

So schwer ihm bei dem anhaltenden Steigen der Versuch fiel, laut zu sprechen, seine innere Entrüstung drängte nach diesem Selbstgespräche danach, sich laut zu äußerst. Natürlich nur in der feinen Weise eines Kavaliers von Geburt.

Da er den Gegenstand seines Zornes nicht erreichen konnte, wandte er sich an deren Tante:

„Fräulein Nichte haben bisweilen recht eigenthümliche – Launen. Scheine mich doch in der Beurtheilung ihres Charakters – ausnahmsweise geirrt zu haben. Bei meiner Menschenkenntniß passirt mir das – sonst nicht. Muß – problematische Natur sein.“

„Ei, lieber Herr von Tümpling, Sie müssen, was sie sagte, nicht auf die Goldwage legen. Sie sprach unüberlegt; die frische Gebirgsluft, die Lust des Wanderns haben sie berauscht. Sie werden sich aber auch schwerlich vorstellen können, wie sehr sie sich auf diese erste wirkliche Hochtour gefreut hatte, die beinahe zu Wasser geworden wäre.“

Frau Professor Schröder war bei diesen Worten stehen geblieben, um Athem zu schöpfen. Sie wandte sich dabei um.

„Aber lieber Freund,“ rief sie fast erschrocken „wie echauffirt Sie aussehen! Das Steigen greift Sie wirklich an; da ist der

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Der theure Wein.
Zeichnung von B. Vautier.

[641] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [642] Aerger ein um so schlimmerer Gast. Söhnen Sie sich aus mit der so ganz gegen Ihre Absicht, vielmehr durch Ihre überquellende Liebenswürdigkeit herbeigeführten ärgerlichen Situation. Machen Sie gute Miene zum bösen Spiel, das sicher nicht bös gemeint ist, und plagen Sie sich nicht mehr mit dem Steigen ab. Setzen Sie sich auf eines der Thiere, und wenn der Weg oben wieder ebener wird, will ich Ihrem Beispiel folgen.“

Ein Zug von Rührung ging über das erhitzte Antlitz des an ein behagliches Schlendern durch die Lustgärten des Lebens gewöhnten Rittergutsbesitzers. Von dieser Dame, die ihre aristokratische Abkunft so schön bewährte, fühlte er sich verstanden. Und warum sollte er nicht das Maulthier besteigen? Er machte zu Pferd eine gute Figur, das wußte er. Einige Schritte weiter fing der Weg an breiter und ebener zu werden. Er ließ die Treiber mit ihren Thieren dort halten und bestieg das vordere derselben.

Frau Professor Schröder machte ihm ein Kompliment über die dabei entwickelte Gewandtheit. Es war ihr wirklich drückend, den auf seine Weise stets aufmerksamen und galanten Reisegenossen verstimmt zu sehen.

Ihr Zuspruch hatte auch die gewünschte Wirkung. Herr von Tümpling richtete sich, soweit es sein Embonpoint erlaubte, elegant im Sattel empor und machte dabei mit den Füßen eine Bewegung, als gälte es, einem gelernten Reitpferd die Sporen in die Weichen zu drücken. In dieser Beziehung aber verstand das in der Freiheit der Berge nur mangelhaft dressirte Maulthier keinen Spaß. Im Nu bäumte es auf, stellte sich auf die Hinterbeine, bockte nach vorn, und dann jagte es auf dem schmalen Bergpfad, ohne der Zügel seines Reiters zu achten, vorwärts. Und als ob die zwei unbenutzt bleibenden Muli nur auf dies Beispiel gewartet hätten, stürzten sie dem Durchgänger nach. Die überraschten Treiber suchten sie unter Schreien und Drohen einzuholen. So ging es wie die wilde Jagd an der erschreckten Dame vorbei. Zum Glück war das Terrain gerade an dieser Stelle nicht besonders gefährlich, und als der Pfad wieder steiler bergan zog, mußten die Thiere von selbst wieder in eine ruhige Gangart zurückfallen. Während die Frau Professorin in dieser Betrachtung beruhigenden Trost fand, kam Herr von Tümpling, dem der aufgespannte Sonnenschirm bei dem schnellen Ritt entfallen war und der sich nun krampfhaft an der Mähne des wilden Thieres festhielt, an jene Stelle, wo die Steigung wieder begann. Von demselben Trostgedanken geleitet, daß hier die Sache ein Ende haben müsse, ließ er die Mähne fahren, um wieder die Zügel zu ergreifen, denn er hatte Geistesgegenwart genug, darauf bedacht zu sein, daß er in seiner peinlichen Lage auf das vorausgeeilte übermüthige Fräulein keinen komischen Eindruck mache. Ja, die Sache hatte ihr Ende erreicht, aber dasselbe kam anders, als er gehofft hatte. In dem Momente, als das Terrain das Muli wieder zum Steigen zwang und der Reiter sich wieder emporrichtete, bäumte dasselbe von neuem und schleuderte dabei den Aermsten rücklings auf den Rasenabhang, so zwar, daß er vor einem weiteren Absturz geschützt war, dafür aber auf einen stachligen Stechpalmenstrauch zu liegen kam, aus dessen Zweigen er sich ganz fassungslos und wie ein Wahnsinniger schreiend mühsam freimachte. Als er zu sich kam, sah er Fräulein Müller mit einem trotz aller Anstrengung nicht zu unterdrückenden Lächeln auf den Lippen dicht über sich stehen und das nun wieder ruhig gewordene Maulthier beim Zügel halten.

„Sie haben sich doch nicht weh gethan?“ fragte sie, das Lächeln nun doch besiegend, im Tone aufrichtiger Theilnahme.

Er aber hatte das Lächeln gesehen und las aus der Frage nur Spott und Hohn. Es wurde ihm trotz alles Herumtastens klar, daß er in der That keine Blessur davongetragen, die einigermaßen dem Hilfegeschrei entsprochen hätte, das er im ersten Schrecken ausgestoßen. An allem war das bösartige Vieh schuld, das nun da lammfromm neben der Spötterin stand, als habe es an dem ganzen Malheur keinen Antheil. Nun hatte er wenigstens einen Gegenstand, an dem er seinen Zorn auslassen konnte.

„Verwünschte Bestie,“ schrie er, „rädern sollte man Dich. Hals und Beine hätte ich brechen können, wenn’s nach Dir gegangen wäre. Zerschmettert würden meine Gebeine im Abgrund liegen, wenn ich nicht rechtzeitig Deiner Herr geworden wäre! Recht so, schlagt nur zu!“ spornte er die Treiber an, die inzwischen herbeigekommen waren und nun unter Flüchen auf die Thiere eindraschen.

„Genug!“ rief aber nun auch Fräulein Müller. „Ein Glück, Herr von Tümpling, daß der Sturz so gut abgelaufen ist. Ich gratulire Ihnen herzlich. Was aber soll jetzt das nachträgliche Schlagen der Thiere nützen? Von meinem Standpunkte sah die Sache übrigens nicht so gefährlich aus; die Stelle hier war für den Unfall ungemein günstig. Auch warf Sie das Muli ziemlich sanft ab. Wenn Sie von Anfang an geritten wären, würde das Thier gewiß nicht plötzlich solche Launen bekommen haben.“

„Aber Marie!“ mahnte die herzugekommene Tante.

„Nun, ist es nicht wahr, daß dieses vierbeinige Trio uns die ganze Partie verdirbt? Herr von Tümpling thut mir ja leid –“

„Ich aber danke für Ihr Mitleid, in dem sich nur Spott und Hohn verbirgt. Theilnahme hätte ich allerdings von Ihnen erwartet nach solchem Unglücksfall. Ihr Benehmen aber belehrt mich, daß es in der That eine Dummheit von mir war, Ihnen auf dieser Fahrt mich zum Ritter anzubieten. Dem kann man ja abhelfen. Habe die Ehre, meine Damen!“

Sich verbeugend, wandte er sich ab zu den Treibern. Mit Würde wies er einen derselben an, die Damen als Führer mit einem der Muli zu begleiten. Dann schritt er dem anderen und den zwei übrigen Thieren auf dem Wege voran, den er wenige Minuten vorher in so verhängnißvoller Weise hatte zurücklegen müssen.

„Sprach’s und schlug sich seitwärts in die Büsche,“ recitirte das nunmehr doch recht ernst dreinblickende Mädchen mit gewaltsamem Humor, der ihre Verlegenheit verbergen sollte.

„Ein recht unangenehmer Auftritt, an dem, wie er jetzt verlaufen, auch gar nichts mehr komisch ist,“ sagte dagegen im Tone sanften Vorwurfs die Tante.

„Sei mir nicht böse, Tantchen,“ schmeichelte aber das Mädchen, indem es auf die mütterliche Freundin zueilte. Es barg den krausen Lockenkopf an deren Brust und küßte sie dann innig auf den Mund. „Nicht böse sein, Muttel! Ich konnte nicht anders.“

Frau Professor Schröder hatte die Tochter ihrer liebsten Schwägerin viel zu lieb, um ihr ernstlich böse sein zu können. Sie küßte das erregte Mädchen, das so jäh ihre Stimmung gewechselt, auf die Stirn, blieb aber ernst, indem sie sagte:

„Da hast Du wieder einen Freund weniger. Ich will Dein Urtheil in Herzenssachen nicht beeinflussen, aber Du erscheinst wirklich zu anspruchsvoll gegenüber der Männerwelt.“

„Herr von Tümpling – mein Freund?“

„Nun, er bewarb sich sichtlich am Dich und nannte sich Deinen Verehrer.“

„Den aber zum Beispiel die Frage, ob ich eine Gänseleberpastete auf Straßburger Art zuzubereiten verstehe, bei weitem mehr interessirte, als irgend eine meiner feineren Empfindungen.“

„Du übertreibst.“

„Nein! Drin in der Stadt, in den Gesellschaften des vorigen Winters war es mir nicht so aufgefallen, in welchem Grade dieser selbstgefällige Modejunker vom rohesten Materialismus und Egoismus beherrscht war. Hier aber in der freien Natur ist es mir klar geworden, wie ihm alle gesunde Natürlichkeit und natürliche Empfindung abgeht. Und nun gar heute. Mit Lackstiefeln auf den Säntis! Und diese alberne Komödie mit den drei Mulis. Weil er mit seinen bereits vom Zipperlein geschwächten Gliedern nicht steigen kann und deshalb reiten will, sollen auch wir es, so sehr wir von Beginn an dagegen protestirten. Ihn hat nur die gerechte Strafe ereilt. Und ich danke Gott, daß wir ihn los sind.“

Die beiden Damen waren langsam vorwärts gegangen. Nun gelangten sie an eine offene Stelle, welche einen Ausblick in das Seealpthal gewährte. Ein entzückter Ausruf drängte sich auf die Lippen der Sprecherin. Sie machte eine Bewegung mit der Hand, als wische sie etwas Häßliches aus.

„O Tante, welche Aussicht! Sieh, da steht eine Bank! Setzen wir uns; die Schönheit der Natur mag das unangenehme Erlebniß aus der Seele verdrängen. Wie still und verschwiegen dort in der Tiefe der dunkle Bergsee ruht, ganz umrahmt von rauschendem Wald und ragenden Felswänden. Da muß es schön sein, zu träumen.“

„Immer gleich träumen, Du närrisches Kind. Warum nicht wachen Auges dem Schönen ins Angesicht schauen?“

„Sind denn die Träume nicht schöner noch als die Wirklichkeit? Vervollständigen sie doch die Eindrücke der Natur und des Lebens zu Stimmungsbildern, welche sich unverlöschlich der Seele einprägen.“

[643] „Du liebe Träumerin! Finde Du nur erst das Glück, das Dein reines Herz im Träumen ersehnt, so wirst Du schon auch an der Wirklichkeit ein Genüge finden.“

„Ich bin eben jetzt ganz glücklich. Und doch ist mir gar träumerisch zu Muthe.“

„Weil Dir das Märchenhafte dieses Sees, dieser Umgebung heimlich den Glauben nährt, daß auch theure Märchenträume Deiner Seele sich noch erfüllen könnten.“

Das Mädchen wurde roth und sah wie verschämt zu ihrer Tante auf.

„Märchenträume? Wie kommst Du zu dem Wort?“

„Ei nun. Prinzen, die verzauberte Prinzessinnen erlösen, die brave Mägdlein aus Einsamkeit und Vergessenheit befreien, bevölkern die nicht schon die Traumwelt unserer Kinder? Wenn ich Dein sprödes Verhalten allen bisherigen Heirathsanträgen gegenüber betrachte – ich will dabei von diesem, ich gebe es zu, nicht sehr verlockenden Tümpling ganz absehen – so muß ich glauben, ein solcher Traum aus der Kinderzeit stehe bei Dir einem realen Erfassen ehelichen Glückes im Wege.“ Sie umschlang bei diesen Worten ihre junge Nachbarin, welche, ihren Kopf an ihre Schulter legend, die Augen schloß und schwieg, während ein seliges Lächeln um ihre Lippen schwebte. „Ich habe also recht,“ fuhr sie fort. „Willst Du mir nicht einmal den Kindertraum erzählen?“

Marie schüttelte mit dem Kopf.

„Er läßt sich nur träumen!“

„Und gar nicht zur Wirklichkeit machen?“ frug sanft und mit besorgtem Blick die mütterliche Freundin.

„Doch, doch! Noch hoffe und glaube ich’s.“

„Aber sage, Kind, Dein Prinz, Dein Märchenprinz muß dann doch auf Erden wandeln, von Fleisch und Blut sein wie Du? Man muß ihn doch auffinden können, ihn darauf aufmerksam machen, daß Du seiner harrst.“

„Er muß von selbst kommen!“

„Ja, aber sag’ mir nur wenigstens, wo er lebt. Kenn’ ich ihn?“

„Das weiß ich nicht.“

„Aber wie er heißt?“

„Das weiß ich nicht.“

„Du sprichst in Räthseln, Kind. Was er ist, mußt Du aber doch wissen?“

„Ach, auch das ist mir unbekannt. Aber“ – und das Mädchen erhob sich plötzlich – „jetzt habe ich genug verrathen. Wir versäumen die Zeit. Der Onkel wird droben schon auf uns warten. Das Märchenerzählen langt für die Winterabende, aber nicht für gefährliche Bergpartien. Siehst Du, Tantchen, dort geht’s schon wieder recht scharf in die Höhe.“ Und damit schritt sie mit dem ihr eigentümlichen leichten Gange voran.

In der That war inzwischen oben auf seinem Warteposten Professor Schröder ungeduldig geworden. Er hatte mit einem Fernrohr von geeigneter Stelle aus die Nahenden verfolgt und auch ein paarmal an Punkten, wo der Weg sichtbar wurde, sie erkannt; anfangs in Begleitung von dem geschniegeltem Aristokraten, der seit einigen Tagen aus sichtlichem Interesse für seine Nichte Marie ihr Reisegenosse geworden war, dann ohne ihn. Was konnte vorgefallen sein und die Trennung bewirkt haben? Im Grunde that es ihm wohl, den ihm unsympathischen Menschen aus dem Gesichtsfeld schwinden zu sehen. Er hatte zwar von Anfang an das Vertrauen gehabt, das kluge Mädchen werde die Hohlheit und Oberflächlichkeit seines Wesens bald genug durchschauen und seine Bewerbung zurückweisen. Aber wer ist vor Irrthum geschützt, wenn es sich um Vorausberechnungen handelt in Bezug auf Neigung und Liebe? Auch kannte er die Schwäche seiner sonst so vernünftigen Frau sowie der Mutter Mariens, das eigenthümliche Mädchen, dessen Herz so lange Zeit zur Entknospung brauchte, durchaus unter die Haube bringen zu wollen. Natürlich, um es später nur zu bereuen! … Unter solchen Betrachtungen war er den Damen entgegen gegangen, begierig auf die Lösung des Räthsels, denn etwas Besonderes mußte den Herrn doch zum Rückzug veranlaßt haben.

Mit warmem Interesse hörte er dann, als er die Damen, die er gestern bei unsicherem Wetter verlassen und jetzt bei leuchtendem Sonnenschein wiedergefunden hatte, die Mittheilungen seiner Frau an, während Marie, die ihn mit inniger Herzlichkeit begrüßt hatte, vorausschritt.

„Ein seltsames Mädchen,“ sagte er, nachdem er den Hergang erfahren hatte. „In diesem Falle kann ich ihr ja nicht unrecht geben, im Gegentheil; aber ihr Verhalten ist allerdings auch ein neues Symptom jener ablehnenden kühlen Art, mit der sie bisher allen sie umwerbenden Männern begegnet ist. Weißt Du denn gar nicht, was diese verursacht?“

„Eben vorhin erst hat mir das Kind einen, jedoch auch nur schmalen Einblick in diese Welt ihres Herzens gewährt. Und das fragmentarische Bekenntniß klingt so seltsam, so märchenhaft, daß es mich recht mit Sorge erfüllt hat. Der Mann, den sie liebt, ist nicht viel mehr als ein Hirngespinst, kaum daß er mehr Wirklichkeit hat als die Gestalt eines Traumes. Denke Dir: sie weiß nicht, wo er lebt, nicht was er ist, nicht einmal wie er heißt. Und dabei hofft sie mit einem Glauben, der an den des Käthchens von Heilbronn gemahnt, dennoch auf ein Wiedersehen, ja auf eine dauernde glückliche Vereinigung mit ihm. Welche romantische Schwärmerei!“

Der Professor war nachdenklich geworden. Er strich sich über den weißen Vollbart, zog dann die Stirn nach oben und blickte in die Ferne, als ob es dort geheime Inschriften zu enträthseln gäbe, dann aber ging ein feines Lächeln über seine Züge und er sagte schmunzelnd: „Vielleicht handelt es sich doch hier nur um ein neckisches Spiel des launigen Gesellen, den Gott Amor so gern zum Regisseur wählt, wenn er eines seiner Lustspiele aufführt, des Zufalls. Ja, lausche nur auf! – Marie!“ rief er dann der vor ihnen in Sinnen einher Schreitenden zu , und als diese dem Rufe entsprochen hatte, fuhr er in herzlichem Tone fort: „Wir reden eben vom Thüringer Wald, in dem ich meine ersten kleinen Bergtouren als Knabe vollführt habe; sag’ mal, warst Du auch einmal in Thüringen?“

„Freilich, Onkel. Papa hatte dort einen reichen Verwandten, der leider bald, nachdem ich einmal mit Mama und Großmama einen Monat lang auf seinem Gut zu Besuch gewesen war, verstorben ist. So bin ich später nur noch einmal flüchtig auf einer Rundreise durch das schöne Stück Land gekommen.“

„Es hat Dir also damals sehr gut dort gefallen?“

„Ach, Onkel; ich kam damals gerade, kaum sechzehnjährig, aus der Pension von Lausanne; es war mein Eintritt aus der Schule ins Leben. Und was für ein Eintritt! Ein herrlicher Mai, blühender Frühling ringsum, freundliche, liebe Menschen, Freiheit und Jugendluft – nie vergessen kann ich den Tag meiner Hinfahrt, meiner Ankunft; es war, als stände der Himmel offen! O Gott – es war eben zu schön, als daß es hätte so bleiben können!“ Eine plötzliche Ueberwallung des Gefühls erstickte die Stimme des Mädchens, sie mußte schluchzen, weinen. Doch bald fand sie wieder die Herrschaft über sich. „Verzeiht,“ sagte sie leise, „ich bin heute so aufgeregt und reizbar trotz all der Schönheit, die mich umgiebt; weiß selber nicht warum.“

„Die Scene mit Herrn von Tümpling hat Dich mehr alterirt, als Du zugeben wolltest,“ tröstete teilnehmend die Tante, welche ihren Mann fragend von der Seite ansah, was er denn mit seinem Verhör über Thüringen beabsichtigte. Dieser aber fuhr fort, indem er seinen Arm aus dem der treuen Gattin löste und ihn um die Schultern des geliebten Pflegekindes legte:

„Ich gebe nichts auf Ahnungen und die spiritistischen Auslegungen des Zufalls sind mir verhaßt. Und doch möchte ich sagen, es liegt etwas in diesem Sonnenschein, der schimmernd dort die Spitze des Säntis umspielt und von Fels zu Fels und Firnfeld zu Firnfeld seine goldenen Netze spinnt, was wie Sympathie auf Deine Nerven wirken könnte. Ob nicht auch der so fröhlich veranlagte und doch melancholische Herr Doktor Helbig, der mir gestern Abend ein Erlebniß, das er zu Pfingsten vor acht Jahren zwischen Schwarzburg und Ilmenau hatte und als das schönste seines Lebens bezeichnete, eben etwas Aehnliches aus diesem Sonnenlicht auf sich einwirken fühlt?“

„Onkel, wer – was sagst Du?“

Ein Beben ging durch die Stimme des Mädchens, und doch hielt sie ihren Onkel fest, daß er nicht weiter schreiten solle und ihr kein Wort von dem, was er da sagte, verloren gehe.

„Fassung, Kind! Nur eine Vermutung. Mehrere Herren und Damen, die gestern Abend gleich mir in der Meglisalpe eingeregnet waren, beschlossen auf meine Anregung, sich die Zeit durch Geschichtenerzählen zu vertreiben. Jeder sollte sein schönstes Reiseerlebniß zum Besten geben. Darunter ein junger Mann, [644] ein Astronom, Observator an einer deutschen Universitätssternwarte, Doktor Helbig mit Namen, der sich mir als ein einstiger Zuhörer vorgesteckt hatte, und dieser erzählte uns ein romantisches Liebesabenteuer, das er auf fröhlicher Studentenfahrt durch den Thüringer Wald einst erlebt hatte, mit einem Mädchen, an das er sichtlich noch heute mit Zärtlichkeit dachte, doch wußte er weder wie sie hieß, noch wer sie war, noch wo sie dauernd wohnte. Doch halt, den Vornamen hatte er erfahren. Der Name lautete – Marie …“

„Onkel, Onkel! Und wie sah er aus, der Erzähler?“

„Ei, recht hübsch, Kind. Gescheit und dabei ganz unternehmend. Doch wozu da viel Worte machen! Wir sind ja zur Stelle und wenn ich mich nicht irre, so ist der dort auf dem Felsen mitten im Alpenrosenhag sitzende junge Mann, der eben seinen Feldstecher auf uns richtet, der, den ich meine. Siehst Du, er hat Dich betrachtet, er zuckt zusammen, er blickt wieder her, nun läßt er das Glas sinken, sinnt und sinnt, nein, springt auf – er kommt uns entgegen! Da frag ihn selber, ob er Dir außer seiner Geschichte von gestern noch etwas Besonderes zu erzählen hat.“

* * *

Die Sonne stand im Zenith. Da oben auf der Meglisalp ließ sie ihre Strahlen frei und lustig spielen. Sie ließ sich genügen, hier nur als Lichtspenderin zu walten – hei, wie funkelte es! –; Wärme gab es schon genug ohne sie. Wärme echter Festesfreude, theilnehmender Freundschaft, seliger Liebe. Auch durch die Stube, in der gestern Abend die Eingeregneten beim trüben Schein der Lampe gesessen, fluthete hell ihr Licht und vergoldete das schlichte Tafelgeräth auf dem Tisch, um welchen eine fröhliche Festversammlung bei der Mahlzeit saß. Die Mahlzeit war sehr einfach; aber nicht das glänzendste Festessen kann gleichzeitig so fröhlich und so weihevoll verlaufen. Eben erhob sich Herr Kurz: „Meine Damen und Herren,“ sagte er in seiner behaglichen Weise. „Gestern Abend schlossen wir unser Symposion in der Alpenhütte mit dem Rufe ‚Glückliche Reise‘ und ,Gute Heimkehr‘ und heute früh trennten wir uns mit dem Wunsche ,Auf Wiedersehen!‘ – Welches Glück aber noch diese Säntisfahrt zur Reife bringen und welche Heimkehr sie zweien der Bergfahrer zusichern werde, ahnten wir alle wohl gleich wenig. Und welch ein Wiedersehen uns hier so bald bevorstehen würde, uns allen, aber vor uns allen dem wackeren Doktor Helbig und seiner nunmehrigen Braut, wer hätte dies voraussagen wollen? Nun schmähe noch einer die Wirklichkeit: sie sei aller Poesie, aller Schönheit bar! Die schönsten Märchen erdichtet das Leben selbst. Reist nur hinein in die Welt, und ihr erlebt auch heute noch in unseren Tagen der Nüchternheit wundersame und abenteuerliche Geschichten die Menge. Da seht unser Brautpaar an! Die beiden werden das Reisen, sein Glück, seine Wunderkraft für alle Zeiten segnen. Möge ihnen auch daheim am häuslichen Herd nicht weniger Segen erblühen! Das wünschen und hoffen und glauben wir. Darauf lassen Sie uns mit ihnen anstoßen und nochmals rufen: ‚Glückliche Reise‘ – und ,Gute Heimkehr‘ und – ‚Auf Wiedersehen!‘“ …




Die Braut Heinrichs von Kleist.
Von Schmidt-Weißenfels.

In der Oderstraße zu Frankfurt an der Oder, mitten in der außer der Meßzeit stillen Stadt, in unmittelbarer Nähe der alten Oberkirche, stand das einfache Haus, welches dem Oberstwachtmeister von Kleist gehörte. Dicht nebenan wohnte der General von Zenge. Die Kameraden, die in demselben Infanterieregiment dienten, lebten als gute Freunde mit einander, und ihre Kinder spielten zusammen. Die Hintergärten der beiden Häuser waren nur durch einen niedrigen Lattenzaun getrennt und im Sommer natürlich ein Tummelplatz der Kinder, die auf die leichte Scheidewand der Grundstücke keine Rücksicht nahmen, um zusammen zu sein. In diesem traulich nachbarlichen Verhältniß änderte sich auch nichts, als der Oberstwachtmeister starb.

Der einzige Sohn desselben aus zweiter Ehe, Heinrich, war in seinem elften Jahre nach Berlin in eine Predigerpension geschickt worden und sollte Soldat werden. In der Ferienzeit kam er zu seiner Familie zurück, und seit er dann mit fünfzehn Jahren als Junker in ein Potsdamer Regiment getreten, benutzte er auch den gelegentlichen Urlaub, um ihn im häuslichen Kreise der Seinigen zu genießen. Der junge Kriegsmann, der sich in einer gewissen Gemessenheit des Benehmens und in frühreifer Weisheit gefiel, spielte zwar nicht mehr mit den jüngeren Zengeschen Kindern, aber er suchte desto beflissener den beiden ältesten Schwestern Minette und Luise seine Berlin-Potsdamer Eleganz zu beweisen. Waren sie auch jünger als er, so waren sie doch schon recht empfänglich für seine ersten Versuche, den Hof kavaliermäßig zu machen; zudem sicherte ihm Geist und Bildung eine entschiedene Ueberlegenheit über die einfachen Kinder, und er gewann damit bei seinen ehemalige Spielgenossinnen ein großes, seiner Eitelkeit schmeichelndes Ansehen.

In den neunziger Jahren mußte er mit in den Krieg gegen Frankreich ziehen. Es war ein kläglicher Feldzug, der bald mit einem faulen Frieden endigte. Dieser Umstand trug viel dazu bei, dem 1795 zum Fähnrich avancirten Jüngling den Soldatenstand zu verleiden, zu welchem er von Hause aus schon keine rechte Lust und Liebe gehabt. Darüber ließ er in den Briefen an die Seinigen keinen Zweifel. Er war von einem anderen, friedlicheren Ehrgeiz erfüllt. Wie er unter der Fahne in stillem Eifer an seiner Geistesbildung gearbeitet hatte, so sehnte er sich, kaum daß er Offizier geworden, aus dem dienstlichen Zwang hinaus, um frei, mit dem geringen Vermögen, das ihm als väterliches Erbtheil gehörte, seinen Neigungen für die Wissenschaften zu leben. Vergebens suchten seine Tante, die den Kleistschen Haushalt in Frankfurt führte, und seine ältere, von ihm besonders geliebte Schwester Ulrike ihn umzustimmen; sie konnten die Gewalt nicht ahnen, mit welcher dieser stürmische Geist nach Freiheit rang. Eines Frühlingstages im Jahre 1799 kam er in nachlässiger Civilkleidung nach Frankfurt in das Haus seiner Familie und kündigte derselben zu ihrem Schrecken und Kummer lakonisch an, daß er als Lieutenant seinen Abschied genommen und daß er nunmehr studiren wolle.

Man mußte ihm seinen Willen lassen; denn er behauptete mit der Bestimmtheit eines Menschen, der den geistigen Beruf unabweisbar in sich fühlt, daß er anders als durch die Hingabe an die Wissenschaften nicht glücklich sein könne. Damals hatte Frankfurt noch seine kleine Universität, und obwohl Heinrich von Kleist schon zweiundzwanzig Jahre zählte, so war es am Ende doch noch nicht zu spät zum Studiren und manches bemooste Haupt übertraf ihn noch an Alter.

So studirte er denn eifrigst und hätte bei seiner hervorragenden Begabung alle Aussicht für die gelehrte Laufbahn gehabt. Er spielte sogar aus innerem Drange den Schulmeister, wo er nur konnte – im Hause bei seinen jüngeren Geschwistern und bei Zenges gegenüber den beiden Schwestern, die inzwischen zu Jungfrauen erblüht waren. Er ruhte nicht, bis er sie und einige ihrer Freundinnen zu einem kleinen Kollegium vereinigt hatte, dem er Vorlesungen über Kulturgeschichte hielt, wozu er sich mit besonderer Wichtigkeit in einem Zimmer seines väterlichen Hauses eigens ein Katheder hatte bauen lassen. Er lehrte so mit großer Genugthuung, was er als Student eben gelernt, ließ die jungen Damen deutsche Aufsätze, Denk- und Stilübungen machen, überwachte und regelte ihre Lektüre, dramatisirte Sprichwörter und studirte ihre Ausführung ein – kurz und gut, er bewegte sich durchaus als berufener Erzieher und Haushofmeister in diesen beiden Familienkreisen des eigenen und des Nachbarhauses, wenn auch als ein etwas selbstherrlicher.

Von den Schwestern Minette und Luise von Zenge gefiel ihm eine sowohl wie die andere. Aber Luise erschien ihm zu geistreich und selbständig. Dagegen war Minette, oder wie er sie bei ihrem deutschen Vornamen nannte, Wilhelmine, ein weichmüthiges Mädchen von zwanzig Jahren, ein Blondkopf mit treuherzigen Augen, mit einer gefühlvollen Seele, die sich vertrauensvoll an seine Lehrhaftigkeit hingab und alle seine Launen und Ansprüche als Ueberlegenheit eines männlichen Geistes in Demuth verehrte. Sie war weiches Wachs unter seinen Händen, ganz so, [645] wie er es von dem Weibe, das ihm dereinst Lebensgefährtin sein sollte, verlangte; ihre feine, sinnige Natur hoffte er nach seiner Art für sein ideales Liebesbedürfniß erziehen und bilden zu können. So erkor er die Gespielin der Kindheit und die Schülerin seiner Studentenprofessur zu seiner Geliebten, und was in ihrer Seele längst für ihn erglüht, verhehlte sie ihm nicht länger. Der General von Zenge nahm die Werbung des Sohnes seines verstorbenen Kriegskameraden, der von jeher von ihm wie ein Kind im Hause angesehen worden, zwar nicht ohne einige Besorgniß, aber doch mit Wohlwollen auf, und in seiner, wie in der altbefreundeten Kleistschen Familie begrüßte man das Brautpaar mit herzlicher Freude. In weiteren Kreisen wurde die Verlobung freilich vorläufig noch nicht bekannt.

Wie oft war nun der Garten, bald hüben, bald drüben, der Schauplatz des ersten reinen Liebesglücks der Verlobten! Heinrich verjüngte sich gleichsam. Seine etwas gedrungene Gestalt verlor die angewöhnte Steifheit und gewann elastischere Bewegung; sein sonst schon so ernstes, mißmuthiges Antlitz nahm wieder freundlichere Züge und den kindlichen Ausdruck an, der ihm eigen war und auch in dem ruhigen Blicke der schönen, tiefgründigen Augen lag. Arm in Arm erging er sich mit der hold verklärten Braut unter dem Schatten der Linden draußen vor dem Thore, am Bach entlang, und malte ihr das Glück der Zukunft aus, wie er es sich an ihrer Seite träumte. In der Laube des Zengeschen Gartens saß er mit ihr und las Vossens „Luise“ oder Goethesche Dichtungen vor. Und an mondhellen Abenden wurde aus dem Vorleser wohl auch ein philosophirender Weiser, dessen Grundsätzen über des Lebens rechten Inhalt sie mit Andacht lauschte.

Aber materielle Sorgen begannen sich nun einzufinden. Mußte er doch jetzt, nachdem er Wilhelmine an sein Geschick geknüpft, darauf bedacht sein, zu einträglicher Berufsstellung zu gelangen! Zu unbedeutend war sein Vermögen, um darauf allein, gar mit einem Hausstand, seinen Lebensplan gründen zu können. Und je mehr ihn diese Sorge erfüllte, desto geheimnißvoller that er über das, was er eigentlich beabsichtige; desto rätselhafter wurde er seiner Familie und auch dem General. Das Studium, nachdem er es nun ein Jahr getrieben, gab er plötzlich mit ebenso großem Widerwillen auf, als er es früher mit Begeisterung begonnen hatte. Von einer Professur, zu der er hatte hinstreben wollen, sollte keine Rede mehr sein.

Etwas anderes schwebte ihm jetzt vor. Aber was? Niemand erfuhr es, denn niemand mochte er anvertrauen, daß er damals mit seinen ersten dichterischen Versuchen sich abrang und wie seine Seele zwischen Hoffnung und Muthlosigkeit hin und her schwankte. Nur zu Wilhelmine sprach er schon damals von seiner unüberwindlichen Abneigung gegen jeden festen Beruf und bat sie, als er planlos nach Berlin reiste, ihm trotzdem zu vertrauen.

Willig und aus Liebe zu dem trefflichen, wenn auch nur zu seltsamen Manne that sie, was er gewünscht. Er nahm es ja so ernsthaft, sie als sein Weib geistig zu erheben und sie dadurch, wie auch sich selbst, in hohem Sinne glücklich zu machen! Auch in Berlin dachte er immer nur, wie er für sie und sich den Hausstand gründen könne. Allerhand Aussichten auf Anstellung eröffneten sich ihm; es schien nur an ihm zu liegen, sie zu verwirklichen.

„Als ich,“ las sie in seinem ersten Briefe von dort, „hineinfuhr in das Thor im Halbdunkel des Abends und nun endlich in der stolzen Königsstadt war und meine Seele sich erweiterte, um so viele zuströmende Erscheinungen zu erfassen, da dachte ich: wo mag wohl das liebe Dach liegen, das einst mich und mein Liebchen schützen wird? Hier in der stolzen Kolonnade? Dort in jenem versteckten Winkel? Oder hier an der offenen Spree?“ In süßen Hoffnungen wiegte sich ihr Herz bei solchen Worten.

Und so steigerte er, befangen in glücklichen Hoffnungen, das Vertrauen ihrer Liebe immer von neuem: „Denke, Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen mit allen Deinen Hoffnungen, Wünschen und Aussichten. Du bist schwach, mit Stürmen und Wellen kannst Du nicht kämpfen; darum vertraue Dich mir an, mir, der mit Weisheit die Bahn der Fahrt entworfen hat, der die Gestirne des Himmels zu seinen Führern zu wählen und das Steuer des Schiffes mit starkem Arm zu lenken weiß! So lange der Steuermann noch lebt, sei ruhig! Beide gehen unter in den Wellen, oder beide laufen glücklich in den Hafen; kann sich die Liebe, die echte Liebe, ein freundlicheres Schicksal wünschen?“

Aber er kam keinen Schritt weiter, der Geliebten ein Heim zu bereiten, denn von einem Grauen vor der trostlosen Oede des Bureaudienstes erfaßt, verwarf er jeden Gedanken daran, brach alle Verbindungen, die ihm zur Erlangung einer Anstellung förderlich sein sollten, ab, verließ Berlin und machte Reisen nach den verschiedensten deutschen Städten, ja floh in einer phantastischen Aufregung bis nach Paris, wo er Freiheit, weitere Bildung und wohl auch, obgleich er dies gegen niemand aussprach, die endliche Gestaltung seiner inneren Gefühle zu einem bedeutenden Dichtwerk erhoffte. Es war ihm, als müsse dort sein Geschick sich wunderbar entscheiden.

„Mädchen!“ schrieb er unterwegs an die Verlobte. „Wie glücklich wirst Du sein! Und ich! Wie wirst Du an meinem Halse weinen, heiße, innige Freudenthränen! Der Würfel liegt, und wenn ich recht sehe, wenn nicht alles mich täuscht, so stehen die Augen gut. Küsse mich, Mädchen, denn ich verdiene es.“

Weiter sagte er nichts von seinen Plänen; sie erfuhr aus allen seinen Briefen aus Paris nur immer wieder, wie er sich mit den Gedanken an sie, an ihre Idealisirung, möchte man sagen, und ihr künftiges Eheglück trug. „Dich, mein geliebtes Mädchen, ausbilden, ist das nicht etwas Vortreffliches? Und dann mich selbst auf eine Stufe näher der Gottheit stellen – das Ziel ist gewiß hoch genug und erhaben.“

Der alte General von Zenge faßte allmählich immer schwerere Bedenken über den zukünftigen Schwiegersohn. Er schüttelte seinen grauen Kopf bei der Wahrnehmung, wie der junge Mann an seiner Braut fort und fort schulmeisterte, allerhand Illusionen in ihr erregte, als solle sie, statt auf der Welt, in einem erträumten Wolkenkuckucksheim ihre Bestimmung erwarten, und er daneben jeder Gelegenheit für einen einträglichen Lebensberuf mit Gleichgültigkeit aus dem Wege ging. Eine Idee verdrängte in seiner rastlosen Phantasie die andere, und jede dieser Ideen konnte den Vater über das Schicksal seiner verlobten Tochter nur besorgter machen. Da fühlte der Bräutigam auf einmal den Beruf eines Dichters in sich; dann, nachdem er in Paris Monate lang sein Geld ausgegeben, wandelte ihn wieder die Leidenschaft fürs Reisen an. Ja, wohin sollte dies denn führen?

Wilhelmine schwieg bei solchen Scheltreden ihres Vaters auf den Geliebten. Ihr Glaube an ihn wankte nicht, entfuhr ihr im stillen Kämmerlein auch schon mancher Seufzer, fiel auch manche heiße Thräne auf die Briefe, die er sandte und die seiner inneren Qual erschütternden Ausdruck gaben.

„Liebe Wilhelmine, laß mich reisen!“ hieß es in einem derselben. „Ist es eine Verirrung, so läßt sie sich vergüten und schützt mich vor einer anderen, die vielleicht unwiderruflich wäre. Sobald ich einen Gedanken ersonnen habe, nach dem ich wieder streben kann, kehre ich um, ich schwöre es Dir … Es muß etwas Gutes aus diesem inneren Kampfe hervorgehen.“

Dieser ewige innere Kampf in ihm – mußte sie darin nicht mehr und mehr das Verhängniß ihres und seines Lebens erkennen? Sah sie diesen Steuermann, in dessen Glücksschiff sie sich gesetzt, nicht planlos auf den Wellen treiben? „Warte zehn Jahre und Du wirst mich nicht ohne Stolz umarmen!“ Kann solcher Zuruf eine Braut erheben?

Er schickte ihr Rousseaus Schriften, um sie zu studiren, sich weiter daran zu bilden. Offenbar ein netter Einfall von ihm, sich und sie mit einem erträumten Leben nach Rousseauschen Ideen glücklich zu machen.

„Das kleine einsame Hüttchen unter dem schützenden Felsen,“ malte er ihr auch schon aus, „der Strom, der Kühlung und Nahrung zugleich herbeiführt, Freuden, die keine Idylle malen kann, Wünsche, die nicht über den Gipfel der umschließenden Berge fließen – ach, liebe Wilhelmine, ist Dir das nicht auch so rührend und reizend wie mir? Wer erfüllt getreuer seine Bestimmung nach dem Willen der Natur, als der Hausvater, der Landmann?“

Es war das unselige Mißtrauen in die eigene Kraft, seine Verzweiflung daran, jemals etwas Hohes und Schönes leisten zu können, was ihn zu solch völliger Resignation trieb. Eine Erklärung über verschiedene begonnene und wieder aufgegebene Arbeiten wollte und konnte er nicht geben; er fühlte es selbst, wie er Wilhelmine quälte, und konnte sich doch nicht entschließen, sie in sein Innerstes blicken zu lassen.

„Erlaß es mir,“ schrieb er, „mich deutlicher zu erklären. Ich bist noch nicht bestimmt, und ein geschriebenes Wort ist ewig. [646] Aber hoffe das Beste! Ich will mich nicht mehr übereilen; thue ich es noch einmal, so ist es das letzte Mal. Denn ich verachte entweder dann meine Seele oder die Erde, und trenne sie.“

Daraus klang auch schon Verzweiflung und Lebensüberdruß. Wilhelmine konnte nicht mehr froh in eine Zukunft blicken, die sie von diesem zerfahrenen Geist ihres Verlobten erwarten sollte. Bescheiden, wie ihr Sinn war, befaß sie doch eine ruhige Bestimmtheit des Charakters, welche einen besseren Halt im Leben verbürgte als Heinrichs schwankende und phantastische Natur. So fing sie jetzt an, deutlich den unheilbaren Zwiespalt ihrer beiderseitigen Naturen zu erkennen.

An alles, was er ihr noch vom Glück der Zukunft schrieb, glaubte sie nicht mehr. Er wollte sich ein Gütchen in der Schweiz kaufen, einen kleinen Bauernhof, wozu wohl noch der Rest seines Vermögens gereicht hätte; und da sollte sie mit ihm zusammen die Rousseausche Idylle vom glücklichsten Leben verwirklichen, mit ihm ländliche Arbeit treiben und, wenn der sonnige Tag darüber vergangen, abends vor dem Hüttchen im Mondschein sitzen, die kühle Luft genießen, vom Dichten und Denken der großen Geister mit ihm plaudern.

Der General, als er davon hörte, erklärte ihn rundweg für einen Narren, und alle im Hause ebenso wie in der Kleistschen Familie stimmten halb und halb damit überein und verdachten es Wilhelminen nicht, daß sie sich auf diese Abenteuerlichkeit nicht einlassen wollte. Sie schrieb es ihm, schonend, liebevoll; sie war es jetzt, die ihn auf den Weg zum Glück zu führen suchte, indem sie ihn zunächst von dem des Unglücks abmahnte. Das aber ertrug sein herrischer Sinn nicht. Beleidigt, im Innersten aber auch beschämt durch die Niederlage bei dem Mädchen, das er selbstherrlich gestrebt hatte, zu willenloser Gefolgschaft sich zu erziehen, schwieg er. Kein Brief mehr kam von ihm an sie; sie hörte nur von seiner Schwester, daß er wirklich in der Schweiz war und ins Vaterland nicht anders denn als gefeierter Dichter zurückkehren wolle. War sie noch seine Braut oder nicht? Hatte er mit ihr gebrochen oder grollte er nur?

Sie wußte es nicht. Ein Jahr war er schon fort und sie trug treu noch die Fessel, die er ihr angelegt. Ihre Liebe gehörte noch immer ihm. Nun starb ihr Bruder Karl, mit dem sie durch die innigste Liebe verbunden gewesen war. Da folgte sie dem Zug ihres Herzens und schrieb dem Geliebten, daß er sich jetzt mit dem wirklichen Leben befreunden und zurückkommen müsse, daß sie an ihm hänge nach wie vor und es mehr denn je bedürfe, von ihm getröstet zu werden.

Wohl erfolgte darauf eine Antwort. Er sandte ihr ihren Brief zurück mit einigen wenigen Zeilen, kalt, herzlos beinahe: daß er nicht zurückkehre, daß er arm sei und sich von der Schriftstellerei ernähren wolle, daß er ihr nichts mehr bieten könne.

Also für immer gebrochen! Ein schmerzvolles Ende ihres Mädchentraumes, in den er sie gelullt!

Vier Jahre nach diesem Vorgang, 1806, fügte es eine der wunderbaren Launen des Schicksals, daß sie in dem fernen Königsberg ihn wiedersehen sollte.

In einer größeren Gesellschaft daselbst befand sich ein ernster junger Mann von dreißig Jahren, der lange abseits des frohen Tanzkreises stand und zu überlegen schien, ob er gehen oder bleiben solle. Endlich entschloß er sich, auf eine Dame, die eben allein nach einem der Nebenzimmer sich begab, zuzugehen. Sie hielt bei seinem Anblick erschrocken inne; dann rief sie halb verlegen, halb zutraulich aus:

„Herr von Kleist! Heinrich!“

Er reichte ihr die Hand und bat sie, zum Tanz mit ihm in den Saal zurückzukehren. Sie that es gern und verstand im Augenblick, einen herzlichen Ton mit dem Jugendfreund zu finden. Es war Luise von Zenge, die jüngere Schwester Wilhelminens, für welche er stets eine große Zuneigung gehabt hatte.

Sie wußte es wohl, daß Heinrich von Kleist seit einiger Zeit in Königsberg war, wo er eine bescheidene Anstellung als preußischer Finanzbeamter erhalten hatte. Ihm seinerseits war es ebenso durch seine Stiefschwester Ulrike bekannt geworden, daß und warum Fräulein von Zenge in der nordischen Stadt lebte. Sie hatte Wilhelmine dahin begleitet, welche seit Jahresfrist etwa mit dem von Frankfurt an der Oder nach Königsberg an die Universität versetzten Professor der Philosophie Wilhelm Traugott Krug verheiratet war. Aber eines war dem anderen hier noch nicht begegnet, und Heinrich hatte ein solches für ihn peinliches Zusammentreffen zu vermeiden gesucht.

Jetzt ließ er dem Zufall sein Recht. Er öffnete der Freundin, die er früher nicht anders als die „goldene Schwester“ genannt, sein übervolles Herz, klagte über sich selbst, der noch den Irrfahrten des Lebens und nach ehrgeizigstem Ringen um dichterischen Erfolg und Ruhm an Geist und Körper gebrochen ins Vaterland zurückgekommen war und nun nach allen Stürmen und Kämpfen in dem Hafen eines kleinen Staatsamts Ruhe und Sammlung zu finden hoffte.

Er fragte Luise dann auch, ob ihn Wilhelmine wohl wiedersehen möchte. Sie war ebenfalls auf dem Ball; er hatte das blühende Weib schon gesehen, wie es sich graziös im Arm des Gatten im Tanzreigen bewegt. Luise führte ihn darauf zum Professor Krug, einem etwas älteren, lebensfreudigen, geselligen und liebenswürdigen Manne, und stellte ihn demselben vor. Krug, der in Frankfurt Wilhelmine kennen gelernt und um ihre Hand geworben hatte, als er den Ruf nach Königsberg bekam, kannte natürlich die früheren Beziehungen des Herrn von Kleist zu seiner Gattin. Aber dies hielt ihn bei seiner Theilnahme für den früheren unglücklichen Bräutigam Wilhelminens nicht einen Augenblick ab, ihn seiner jungen Frau zuzuführen und aufs freundlichste in sein Haus zu laden.

So sahen sie sich denn wieder, die einst sich für das Leben einander verlobt und deren Wege seitdem so sehr aus einander gegangen waren. Er fand sie als die glückliche Frau eines schon berühmten Gelehrten; sie ihn als einen Schiffbrüchigen, der sich in sein Geschick ohne Zufriedenheit zu ergeben suchte. Eine stumme Zwiesprache führten sie da, als sie sich nach nahezu fünf Jahren wieder gegenüberstanden; ihr Mitleid und sein Leiden tauschten wohl leise einen Seufzer aus.

Im Krugschen Hause fand er so herzliche Aufnahme, daß er bald ein häufiger Gast in demselben wurde. Hier konnte er sich aussprechen; hier boten edle Seelen dem Hadernden und Kleinmüthigen Trost. Die Braut von einst bezeigte sich ihm als eine Freundin; ihre Schwester war ihm wie die seinige. Sie beruhigten oft die wieder aufsteigenden Wogen seines Ehrgeizes. Er las ihnen die Uebersetzungen aus dem Französischen vor, mit denen er sich in seiner freien Zeit beschäftigte, erzählte ihnen von seinen dramatischen Dichtungen, die keinen Erfolg zu erringen vermochten, von den neuen, die er im Kopfe trug, von all den Ideen und Phantasien, mit denen sich sein Hirn erhitzte, und sie ehrten sein Vertrauen durch innige Anteilnahme, durch nachfühlendes Verständniß dieser echten, aber so verdüsterten und verbitterten Dichterseele.

Auf einmal litt es ihn in diesem Frieden nicht mehr. Die alte Ruhelosigkeit kam wieder über ihn. Er stieß das Amt widerwillig von sich, nahm Abschied von Wilhelmine, von Krug und wanderte trotz aller Franzosen im Lande, die nach Preußens Zertrümmerung in der Jenaer Schlacht auch schon die Nordprovinzen überflutheten, in bitterster Januarkälte zum Thore von Königsberg hinaus nach Berlin. –

Wilhelmine sah ihn nur noch einmal wieder, in Leipzig, wohin Professor Krug 1809 versetzt worden war. Sonst verlor sie sein Thun und Treiben auf seinen weiteren Irrfahrten fast aus dem Auge. Gelegentlich nur kam ihr etwas von seinen neuen Schriften zu Gesicht; von der Kleistschen Familie in Frankfurt aber erhielt sie die schlimme Nachricht, daß sie Heinrich als einen Menschen betrachtete, dem nicht mehr zu helfen sei und der elend an seiner Ueberspanntheit untergehen müsse.

Eines Tages, Ende November 1811, brachte Professor Krug seiner Gattin ein Zeitungsblatt. Ein Blick auf die von ihm bezeichnete Stelle, und sie erstarrte. Sie las, daß Heinrich von Kleist sich mit der gemüthskranken Gattin eines Berliner Beamten am Wannsee im Grunewald erschossen hatte. Als Leben in sie zurückgekehrt, flog sie an die Brust ihres Mannes und weinte da lange und heftig. Er verstand die Thränen, die sie einem Unglücklichen weihte, der doch ein echter Dichter gewesen war und mit seinen Masterwerken „Der Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“, „Das Käthchen von Heilbronn“, „Penthesilea“ u. a. sich die Unsterblichkeit geschaffen hatte.

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Blätter und Blüthen.

Zwei Denkmale deutscher Dichter. (Mit Illustrationen.) Den zahlreichen Denkmalen, welche das deutsche Volk seinen Dichtern gesetzt hat, haben sich wieder zwei neue gesellt, das eine in Neiße (Schlesien) und das andere zu Plauen im Vogtlande. Beide gelten echten Poeten, welche sich sowohl als Lyriker, wie als Erzähler und Dramatiker einen Ruf erworben haben: das Denkmal zu Neiße dem Dichter der allbekannten Lieder „In einem kühlen Grunde“, „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, „O Thäler weit, o Höhen“, „Wer hat dich, du schöner Wald“ etc.: Joseph Freiherrn von Eichendorff (1788 bis 1857), und dasjenige zu Plauen Julius Mosen (1803 bis 1867), dessen „Andreas Hofer“, „Die letzten Zehn vom vierten Regiment“, „Der Trompeter an der Katzbach“ u. a. wahre Volksthümlichkeit erlangt haben.

Das Denkmal Eichendorffs in Neiße sollte bereits am 10. März, dem Tage der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages des Dichters, enthüllt werden. Als aber am Tage vorher der erste deutsche Kaiser die Augen im Tode schloß, wurde die Enthüllung bis Anfang Mai verschoben und ging dann in schlichter würdiger Feier vor sich.

Das Eichendorff-Denkmal in Neiße.
Nach einer Photographie von Ernst Jentsch in Neiße.

Es befindet sich in der Friedrichstadt auf dem von Linden und Akazien beschatteten Eichendorff-Platz. Im Hintergrunde auf unserem Bilde sieht man das Sterbehaus des Dichters, an welchem schon seit 1861 eine einfache Gedenktafel sich befindet. Nur wenige Schritte vom Denkmal aus – und wir sind auf dem Friedhof St. Jerusalem, woselbst Eichendorff neben seiner Gemahlin bestattet liegt.

Das Denkmal, welches mit einem zierlichen Eisengitter eingefriedigt ist, besteht aus zwei Staffeln von schlesischem Granit, worauf sich ein viereckiges, nach oben sich verjüngendes Postament erhebt. Dasselbe besteht aus geschliffenem und poliertem Syenit aus dem Fichtelgebirge und ist auf der Vorderseite mit allegorischen Verzierungen von Bronze versehen. Auf einer breiten Volute befindet sich das Eichendorffsche Familienwappen (Ritterharnisch, Freiherrnkrone und Eichenzweig), dahinter erkennt man Schriftrollen, Feder und Sängerharfe. Ein Eichenzweig strebt zur Höhe und umrankt die Inschrift: „Joseph Freih. v. Eichendorff. 1788/1857.“ Die bronzene Büste des Dichters ist nach einem jüngeren Vorbilde vom Breslauer Bildhauer Seeger, einem geborenen Neißer, entworfen und krönt das Postament in schönster Weise.

Die Feier der Denkmalsenthüllung in Plauen, wo Julius Mosen das Gymnasium besucht und den ersten Grund zu seiner Bildung gelegt hatte, fand im Juli dieses Jahres statt. Das Monument erhebt sich auf dem Postplatze an der Bahnhofstraße inmitten der städtischen Anlagen. Der Unterbau desselben besteht aus polirtem rothen Granit, der Sockel aus Syenit, die Büste, in anderthalbfacher Lebensgröße nach einem Entwurfe von Dr. Kietz-Dresden ausgeführt, aus Bronzeguß. Eine besondere Weihe erhielt die Feier in Plauen durch die Anwesenheit mehrerer Angehörigen des Dichters: seines einzigen noch lebenden Sohnes Dr. Reinhard Mosen, eines Bruders und zweier Neffen, und einen erhebenden Eindruck machte es, als von den Stufen des Denkmals der Sohn des Verewigten in kurzen, markigen, bewegten Worten seinen und der Familie Dank zum Ausdruck brachte.

Die ehemalige fürstbischöfliche Residenz und berühmte schlesische Festung Neiße und die schöngelegene Hauptstadt des Vogtlandes mit dem hoch über die Stadt sich erhebenden alten Schlosse Hradschin haben beide in den Denkmälern einen neuen würdigen Schmuck erhalten, der zugleich in schöner Weise von der pietätvollen Dankbarkeit der Bevölkerung für die Söhne ihrer Heimath Zeugniß ablegt.
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Das Mosen-Denkmal in Plauen.
Nach einer Photographie von H. Axtmann in Plauen.

Unglückliche Kinder. „Im Deutschen Reiche giebt es ungefähr 5000 blinde Kinder, etwa 10 000 Kinder sind taubstumm und etwa 10 000 sind schwach- oder blödsinnig. Wieviel Jammer und Herzeleid schließen doch diese trockenen Angaben in sich ein! Sie bedeuten ein Meer von Vater- und Mutterthränen und einen Abgrund von Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit, den menschliche Barmherzigkeit nur zum kleinen Theil ausfüllt. Aber die Liebe hört nicht auf. Mit jedem Jahr steigert sie ihre Leistungen und trifft immer neue Veranstaltungen, das Elend dieser unglücklichen Kinder zu lindern und zu mindern.“

Mit diesen beredten Worten beginnt im „Gartenlauben-Kalender“ für 1889 (Verlag von Ernst Keils Nachfolger in Leipzig) ein Artikel über „die Fürsorge für blinde, taubstumme und andere unglückliche Kinder“.

Nicht das Bild des Elends wird in ihm vor unseren Augen entrollt, sondern es werden den Eltern praktische Rathschläge ertheilt, wie sie derartige unglückliche Kinder behandeln sollen. Vor allem aber wird darauf hingewiesen, daß diese nur in bestimmten Erziehungsanstalten sich eine Bildung aneignen können, welche ihnen das Leben erträglich und sie trotz ihrer Gebrechen zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft macht. Viele Eltern wissen nicht, daß solche Anstalten vielleicht in ihrer nächsten Nähe bestehen, andere haben ganz verfehlte Ansichten über den Geist, in welchem die Anstalten geleitet werden, und unterlassen so die Unterbringung ihrer Kinder in denselben. In ihrer Unwissenheit begehen sie ein schweres Unrecht an den bedauernswerthen Geschöpfen, und so war es ein gewiß verdienstliches Unternehmen der Redaktion des „Gartenlaube-Kalenders“, nicht nur gegen die Unwissenheit und das Vorurtheil durch ein warmes belehrendes Wort anzukämpfen, sondern all und jedem, der es nöthig hat, zu zeigen, wo er in seiner Nähe eine Erziehungsanstalt für taubstumme, blinde oder schwach- und blödsinnige Kinder finden kann. Die übersichtlich geordnete Zusammenstellung der Anstalten umfaßt nicht allein das Deutsche Reich, sondern auch Oesterreich-Ungarn und die Schweiz.

Möchte die gute Absicht, die mit dem Artikel bezweckt ist, aufs beste erreicht werden! Möchten nicht nur die Eltern der unglücklichen Kinder, sondern auch die gesunder ihn lesen! Viele von ihnen dürften sich dann veranlaßt sehen, auch ihrerseits ein Scherflein beizutragen zu dem großen Werke der Nächstenliebe, welches aus den Zeilen des Artikels uns entgegenleuchtet. Fingerzeige, wie das zu thun ist, findet, wer Mittel und Herz zum Geben hat, in dem Artikel selbst.
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Berühmte Namen auf der Tafel. Es giebt auch eine Küchenphantasie. Darunter sind aber nicht etwaige phantastische Anwandlungen der Köchinnen zu verstehen, sondern die Kunst der Köche, Namen für Speisen zu erfinden. Besagen diese Namen nicht, woraus die Speise besteht, so nennt man sie in der Küchensprache Phantasienamen. Das Register solcher Produkte der Küchenphantasie ist ziemlich umfangreich. Wir wollen nur einige hervorheben, bei denen Namen berühmter Personen als Flagge für die Speise benutzt werden. Manchmal sind dabei recht sonderbare Zusammenstellungen zu Stande gekommen. So ist der kriegerische Nelson, der Sieger bei Abukir, auf den Speisekarten mit Lammkoteletten à la Nelson vertreten; Macchiavelli, der Diplomat, durch einen Schweinskopf à la Macchiavelli verewigt. Wer kennt nicht den Sänger der „Göttlichen Komödie“? Auch die Köche haben ihn nicht vergessen, sie bieten uns an: ein Rindsstück à la Dante Alighieri. Chateaubriand, der Dichter der „ Atala“, ist uns gleichfalls bekannt; was bedeutet aber wohl auf der Speisekarte: Chateaubriand naturel, Chateaubriand à la jardinière, Chateaubriand aux truffes? Ja, das sind echte Phantasienamen. Der Dichter-Gourmand Chateaubriand ist hier gleich einer Art Rumpsteak. An die Schwimmkünste Byrons erinnert uns ein Fischgericht: es ist Steinbutte à la Lord Byron. Auch Gambetta, der Redelustige, fehlt nicht in dem Küchenlexikon: grenouilles à la Gambetta heißt das Gericht, welches wir mit „Gambetta-Frösche“ verdeutschen möchten. Die Franzosen beherrschten Jahrhunderte lang die Küche, und so sind auch die Titulaturen der Speisen zumeist dem französischen Ruhmeslexikon entlehnt worden. Deutsche Namen sind auf den Speisekarten seltener; es giebt aber auch solche, wie z. B. „ Fürst-Pückler-Eis“. Neuerdings sind auch bei Festessen die Bezeichnungen „Kaiser-Wilhelm-Suppe“, „Bismarck-Pudding“ oder "Ochsenlende nach Bismarck-Art“ aufgetaucht. Aber sie werden sich schwerlich halten. Wozu auch diese Tafelverherrlichung? Wir müßten dann auch „Moltkebomben“ haben, und diese lassen wir doch lieber unsere Nachbarn kosten und schmecken.

Der theure Wein. (Mit Illustration S. 640 und 641.) Das Bild von B. Vautier führt uns in eine von den Touristen aufgesuchte Dorfschenke in den Schweizer Bergen. Ein mißvergnügter Ferienreisender ist [648] eben im Begriffe, seine Rechnung zu bezahlen. Der behagliche Wirth hat den Preis für das Frühstück verlangt; doch dieser Preis ist dem Gaste zu hoch; mit einer ärgerlichen und verächtlichen Gebärde deutet er auf den theuren Wein, den der Wirth viel zu hoch angerechnet hat; der Rest in der Flasche beweist, daß dieser Wein nicht gerade zu den besonders trinkbaren, den „süffigen“ gehörte. Ueber die Brille hinweg wirft der Gast dem Wirth einen ebenso prüfenden wie strafenden Blick zu. Doch dieser läßt sich nicht aus der Fassung bringen und verliert auch die gute Laune nicht; sein schlaues Lächeln sagt, daß er als tüchtiger Geschäftsmann von den Besuchern seiner Wirthschaft Nutzen zu ziehen weiß, denn daß seine bäuerlichen Stammgäste denselben Wein nicht so theuer bezahlen, das liest man aus ihren ausdrucksvollen Gesichtern, Drei derselben lächeln pfiffig und vergnügt über die unverfrorene Geschäftstüchtigkeit ihres Wirthes; der vierte hat die Pfeife aus dem Mund genommen, die geballte Faust auf den Tisch gelegt; er ist offenbar im höchsten Grade über den „Spitzbuben“ von Wirth belustigt und hält die unverschämte Uebertheuerung des Fremden für einen ganz ausgezeichneten „Witz“. Das anheimelnde Detail des Bildes verräth die Hand des ausgezeichneten Genremalers, welcher mit Vorliebe feine Stoffe dem Volksleben im Schwarzwald, dem Elsaß und der Schweiz entnimmt.

Der 14. August 1883. Dieser Tag gehört zu den sogenannten denkwürdigen Tagen, wenn man zu diesen auch die Unglückstage rechnen will: er war der brandreichste Tag des Jahres 1883 im Königreich Preußen. Das haben wir an jenem Tage nicht erfahren, erst in diesem Jahre meldet uns davon die amtliche vor kurzem erschienene „Preußische Statistik“ (Heft LXX), in welcher diesem Tage ein besonderes Kapitel gewidmet ist. Nicht weniger als 126 Brände wurden am 14. August gemeldet, und es brannte an diesem Tage in Preußen 350 Stunden lang. Diese Anhäufung der Brandschäden wurde durch Gewitter verursacht, welche ein Gebiet von 4 205 000 Hektar bedrohten. Die statistischen Erhebungen ergaben mehrere interessante Einzelheiten. So erfahren wir, daß, obgleich der Himmel in Feuer zu stehen schien, nur ein schädlicher Blitzstrahl auf 8 Quadratmeilen traf. Dagegen ist durch sorgfältige Berechnung die Gefährlichkeit der durch den Blitzschlag hervorgerufenen Brände nachgewiesen. Der mittlere Tagesschaden an Bränden betrug im Jahre 1883 155 600 Mark, am 14. August brannten aber Mobilien und Immobilien im Werth von 659 932 Mark nieder. Vergleicht man nun den Blitzschaden vom 14. August mit dem Schaden, der infolge von Bränden, die durch irgend eine andere Ursache hervorgerufen wurden, entstanden ist, so zeigt es sich noch deutlicher, daß die durch den zündenden Blitz hervorgerufenen Brände weit verderblicher sind als die übrigen; die ersteren rafften in einer Stunde durchschnittlich 1864 und die letzteren nur 768 Mark Werthe hin. Der 14. August 1883 liefert somit einen lehrreichen Beweis, wie wichtig die Bestrebungen sind, durch richtige Anlagen von Blitzableitern Leben und Eigenthum der Menschen zu schützen.
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Ein neuer Fensterschmuck. Die Kultur der Hyazinthen gehört zu den dankbarsten Beschäftigungen des Blumenliebhabers, dem für die Pflege der Pflanzen nur der geringe Raum seiner Fenster zur Verfügung steht. Die bekannte Gärtnerei von J. C. Schmidt in Erfurt hat für derartige Kulturen bereits vor einigen Jahren die sehr praktischen Hyazinthengläser in Handel gebracht, welche seiner Zeit auch in der „Gartenlaube“ besprochen wurden. (Vergl. Jahrg. 1884, S. 536.) Diese Gläser haben sich gut bewährt und der Erfolg gab die Veranlassung zu einer Neuerung, welche die gleiche Firma gerade jetzt, wo die Kultur der Hyazinthen im Zimmer beginnt, darbietet. Die empfehlenswerthe Neuheit führt den Namen „Schmidts Fensterschmuck“ und besteht aus einem 46 cm langen, 8 cm breiten Zinkkasten, der zur Aufnahme von sechs Zwiebeln zugleich eingerichtet ist, die Pflege der Pflanzen erleichtert und in voller Blüthe in der That seinen Namen „Fensterschmuck“ mit Recht führt.

Schach-Aufgabe Nr. 11.
Von Johannes Obermann in Leipzig.

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.

Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 10 auf S. 484:
Weiß:   Schwarz:   Weiß:   Schwarz:
1. L f 1 – c 4 K b 4 – a 4: (a 5) 1. . . . . . b 5 – c 4
2. L c 4 – b 5:† K a 4 – a 5 2. L a 7 – b 8 Zugzwang beliebig.
3. L a 7 – d 4 K a 5 – b 4 3. L b 8 – d 6 (†)
4. D, S, B setzt matt. 4. D resp. S setzt matt.
2. . . . . . K a 4 – b 4 1. . . . . . . . c 5 – a 4
3. L b 5 – d 7 2. L c 4 – d 3 (f 1) a 4 – a 3
4. T d 5 – d 4 matt. 3. T d 5 b 5 † etc.
Auflösung des Vexir-Emblem-Räthsels aus S. 612:

In der Mitte des Schildes, ein Feld für sich bildend, ist das A, links das zweitheilige Stadtthor mit seinen Stufen das B; rechts die Zweige der Ranken ergeben das E; der Schatten des Esels bildet das E; links die Zweige der Ranken stellen das R dar und im oberen Theile des großen A befindet sich das letzte A des Wortes „Abdera“ .


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Lehrerinnen in England. Wir sind vom Komitee des deutschen Lehrerinnenvereins in England, 16 Wyndham Place, Bryanston Square, London W., ersucht worden, unseren Lesern mitzutheilen, daß die von Fräulein Ottilie Hoffmann auf Schrevenborn, Alt-Heikendorf, Holstein, veranstaltete Sammlung zur Deckung der Vereinssanatoriumsbauschuld 12 500 Mark beträgt. Ueber den Empfang dieser Summe quittirt das Komitee des Vereins mit herzlichem Dank an alle freundlichen Geber. – Noch etwa einlaufende Beträge sollen an den Krankenfonds des Vereins überwiesen werden.

Z. in Komotau. Eine Reise nach der Schweiz und „die Schweizerreise“ bedeutet durchaus nicht ein und dasselbe. „Die Schweizerreise“ ist ein Züricher Ausdruck, der aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts stammt. Bevor die jungen Leute damals von Zürich auf 1 bis 2 Jahre in die Fremde gingen, machten sie zunächst in Gesellschaft eine Bergreise, welche die Schweizerreise genannt wurde.

B… in Münster i. W. Die Beantwortung Ihrer Anfrage ist in dem knappen Rahmen unseres Briefkastens nicht möglich. Sie finden aber die gewünschte Anleitung zur Uebertragung in Oel nachgemalter Photographien auf Holz in einer Abhandlung der „Neuesten Erfindungen und Erfahrungen“, Jahrgang 1883, Heft 13, S. 615 (A. Hartlebens Verlag in Wien).

R. W. in Wien. Dankend abgelehnt.


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen. Außer der Fortsetzung des allseitig mit ungewöhnlichem Beifall aufgenommenen Romanes

Die Alpenfee.       Von E. Werner.

wird im nächsten Quartal u. a. die vortreffliche historische Erzählung

„Deutsche Art, treu gewahrt. von Stefanie Keyser,

unserer allbeliebten Mitarbeiterin, zum Abdrucke gelangen.

Der Roman „Lore von Tollen“ von W. Heimburg, welchen wir im bevorstehenden Quartale unsern Lesern darzubieten gedachten, ist leider infolge Erkrankung der Verfasserin nicht vollendet worden. Wir werden aber in der Lage sein, denselben im darauf folgenden Quartale abzudrucken.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 2 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.

Die Verlagshandlung.