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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1888
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[565]
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Die Alpenfee.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Wolfgang kam seinem Freunde, der in wortloser Verlegenheit vor Alice stand, zu Hilfe und brachte das Gespräch auf den Zweck des Besuches. Er wollte Reinsfeld, der, wie er wußte, am Krankenbette sehr entschieden sein konnte, Gelegenheit geben, sich als Arzt zu zeigen, aber Benno verleugnete heut seine ganze Natur. Er stellte die Fragen so schüchtern und ängstlich, als erbitte er mit jeder Antwort eine unverdiente Gnade, stotterte, wurde roth wie ein junges Mädchen, und was das Schlimmste war, er fühlte selbst, wie unpassend er sich benahm. Das raubte ihm den letzten Rest der Fassung, in völliger Zerknirschung saß er da und richtete einen wehmüthig bittenden Blick auf die junge Dame, als wolle er ihre Verzeihung erstehen, daß er sie überhaupt mit seiner Gegenwart belästige.

War es dieser hilfesuchende Blick oder der trotz aller Verlegenheit doch kindlich treuherzige Ausdruck der blauen Augen, genug, Alice richtete sich plötzlich auf und sagte freundlich und ermuthigend: „Sie werden sich bei Ihrem ersten Besuche schwerlich schon ein Urtheil bilden können, Herr Doktor, aber Sie dürfen überzeugt sein, daß ich dem Freunde meines Verlobten unbedingt vertraue.“

Sie reichte ihm die Hand, die Benno zögernd ergriff. Die schmale weiße Hand lag zart und leicht wie ein Blumenblatt in der seinigen, er blickte so scheu und ehrfurchtsvoll darauf nieder, als könne jede Berührung sie verletzen , und urplötzlich brach er stürmisch aus.

„Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein! O, ich danke Ihnen!“

Frau von Lasberg machte ein Gesicht, als zweifle sie an der Zurechnungsfähigkeit dieses Doktors, der sich stolpernd einführte, im Gespräch nicht zum Reden zu bringen war und sich nun urplötzlich so stürmisch bedankte, obgleich gar kein Grund dazu vorlag. Und diesen Menschen nannte Elmhorst seinen Freund und Alice schien ganz einverstanden damit zu sein! Die alte Tante schüttelte entrüstet das Haupt und bemerkte mit kühler Zurechtweisung:

„Du bist sonst sehr zurückhaltend mit Deinem Vertrauen, liebe Alice.“

„Um so mehr freut es mich, daß sie diesmal eine Ausnahme macht,“ fiel Wolfgang mit einem gewissen Nachdruck ein. „Du wirst es nicht bereuen, Alice. Ich gebe Dir mein Wort darauf, Benno kann sich mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen getrost an die Seite manches hochberühmten Kollegen stellen. Ich bin stets im Kriege mit ihm, weil er sie nicht auf einem anderen Felde geltend macht. Schon seit Jahren opfert er sich auf in einer untergeordneten Praxis, und wenn ihm wirklich etwas Besseres geboten wird, dann greift er nicht einmal zu, wie im vorigen Jahre, wo er eine äußerst vortheilhafte Stellung einfach im Stiche ließ.“

„Aber Wolf, Du weißt ja –“ versuchte Reinsfeld einzuwerfen.

„Ja, ich weiß, daß Dein gutes Herz Dir da wieder einen Streich gespielt hat, den Du vielleicht Dein Lebenlang büßen mußt. Weil ein paar Bauernkinder krank lagen, die Du in Behandlung hattest,


Die Kirche zu Hoff in Pommern.
Originalzeichnung von Robert Aßmus.

[566] versäumtest Du die rechtzeitige Meldung, und nachher war es zu spät.“

„Ah, deshalb?“ sagte Alice halblaut und ihr Blick heftete sich wieder auf den jungen Arzt, der so niedergedrückt aussah, als werfe man ihm das schwerste Unrecht vor.

„Der Herr Doktor hat seine Praxis also auch unter den Gebirgsleuten?“ fragte Frau von Lasberg. „Fahren Sie denn wirklich nach den einzelnen abgelegenen Höfen?“

„Nein, gnädige Frau, ich gehe dorthin,“ erklärte Reinsfeld harmlos. „Ich habe mir allerdings in den letzten Jahren ein kleines Bergpferd anschaffen müssen, um bei weiteren Entfernungen reiten zu können, für gewöhnlich aber gehe ich zu Fuß.“

Die Dame räusperte sich und sandte einen sehr bedeutungsvollen Blick zu dem Oberingenieur hinüber, der die Behandlung seiner Braut einem Bauernarzte anvertraute; dieser hatte jetzt völlig bei ihr verspielt. Wolfgang verstand den Blick und lächelte etwas spöttisch, als er sagte:

„Jawohl, gnädige Frau, er geht zu Fuß und wenn er dann aus Sturm und Schnee nach Hause kommt, setzt er sich noch hin und arbeitet an einem wissenschaftlichen Werke, das ihn vielleicht einmal berühmt machen wird. Aber das darf beileibe niemand wissen, selbst ich habe es nur durch Zufall entdeckt.“

„Wolf, ich bitte Dich!“ protestirte Benno in so grenzenloser Verwirrung, daß Elmhorst in der That die Nothwendigkeit einsah, ihn zu erlösen. Er ließ einfließen, sein Freund habe noch einen ärztlichen Besuch zu machen, und ermöglichte es ihm, auf diese Weise sich zu verabschieden. Das war aber eine neue, schwere Aufgabe für den armen Doktor; er kam indessen damit zu Stande – wie, das wußte er freilich nicht, er wußte nur, daß jene weiße, zarte Hand ihm nochmals zum Abschiede gereicht wurde und daß die großen braunen Augen halb mitleidig den seinigen begegneten. Dann ergriff ihn Elmhorst am Arme, lotste ihn glücklich an den Blumen und Statuetten vorbei und dann schloß sich die Thür zwischen ihm und dem Elfenreiche.

Erst draußen im Vorzimmer kam er wieder zur klaren Besinnung und zaghaft aufblickend fragte er:

„Wolf – es ist wohl recht schlecht gegangen?“

„Ja, das weiß der Himmel!“ brach Elmhorst ärgerlich aus.

„Ich habe es Dir ja vorher gesagt – ich habe keine Manieren,“ sagte Benno wehmüthig.

„Aber Du bist doch ein Mann von beinahe dreißig Jahren, ein Arzt, der bei seinen Patienten sehr energisch auftreten kann, und heut standest Du da wie ein Schulknabe, der sein Pensum nicht gelernt hat.“

Er hofmeisterte seinen Freund in gewohnter Weise und dieser ließ sich ganz geduldig ausschelten. Erst als ihm nachdrücklichst eingeprägt wurde, sich das nächste Mal vernünftiger zu benehmen und diese lächerliche Unbeholfenheit abzulegen, fragte er halb erschrocken, halb freudig:

„Darf ich denn wiederkommen?“

Elmhorst machte eine ungeduldige Bewegung.

„Benno, ich weiß wahrhaftig nicht, was ich von Dir denken soll. Ich habe Dich doch gebeten, die ärztliche Behandlung meiner Braut zu übernehmen, und natürlich bleibt es dabei.“

„Aber die alte Dame war sehr ungnädig, ich sah es,“ versetzte Reinsfeld niedergeschlagen, „und ich fürchte, auch Fräulein Nordheim denkt –“ er brach ab und sah zu Boden.

„Ich pflege die Baronin Lasberg nicht um Erlaubniß zu fragen, wenn ich irgend etwas hinsichtlich meiner Braut bestimme,“ erklärte Wolfgang in sehr entschiedenem Tone. „Und den Einfluß auf Alice habe ich mir von Anfang an gesichert. Es ist mein Wunsch, also wird sie Dich als ihren Arzt empfangen.“

Der Doktor sah ihn mit einem eigenthümlichen Blicke an, dann sagte er halblaut:

„Wolf, Du verdienst Dein Glück eigentlich gar nicht!“

„Weshalb nicht? Etwa weil ich gleich von vornherein das Steuer ergreife? Das verstehst Du nicht, Benno! Wer wie ich vermögenslos in eine Familie wie die Nordheimsche tritt, hat nur die Wahl, sie entweder zu beherrschen oder eine höchst untergeordnete Rolle zu spielen. Ich ziehe die Herrschaft vor.“

„Du bist ein Unmensch, wenn Du diesem zarten Wesen gegenüber von Herrschaft redest!“ brach Benno zornig aus.

„Nun, Alice ist natürlich nicht damit gemeint,“ versetzte Wolfgang gelassen, „sie ist eine äußerst sanfte Natur und gewohnt, sich einem fremden Willen zu beugen; ich sorge nur dafür, daß dieser Wille ausschließlich der meinige ist. – Du brauchst mich nicht so grimmig anzusehen, ich werde meiner Frau kein Tyrann werden. Ich weiß, daß sie der größten Schonung und Rücksicht bedarf, und die wird sie stets bei mir finden.“

„Ja, weil sie Dir Millionen zubringt!“ murmelte Benno bitter, indem er sich zum Gehen wandte, Elmhorst hielt ihn zurück.

„Nun? Und Dein Urtheil über Alice?“

„Das kann ich für den Augenblick noch nicht feststellen. Es scheint ein hochgradiger nervöser Zustand zu sein, aber ich muß ihn länger beobachten.“

„So lange Du willst, auf Wiedersehen also!“

„Adieu!“ sagte Benno kurz.

Sie trennten sich, und während Wolfgang zu seiner Braut zurückkehrte, verließ der Doktor die Villa. Er schien es eilig damit zu haben, denn er stieg mit langen Schritten bergabwärts, und erst als er eine ganze Strecke entfernt war, blieb er stehen und blickte zurück.

Dort, hinter jenen Fenstern, wo die weißen Spitzenvorhänge niederwallten, lag das Elfenreich und dort lachte und spottete man jetzt sicher über den lächerlichen tölpelhaften Gesellen, der mit jeder Bewegung, jedem Worte verrieth, wie wenig er in die Nordheimschen Salons paßte. Sein Auge fiel unwillkürlich auf die Handschuhe, die ihm noch vor einer Stunde so äußerst vornehm erschienen, und wie von einer plötzlichen Wuth ergriffen, riß er die unschuldigen gelben Dinger von den Händen und schleuderte sie in das Tannendickicht. Der eine fiel zu Boden, der andere aber blieb an den Zweigen hängen, wo er wie eine ungeheure Sonnenblume nickte und schaukelte. Das brachte den Eigentümer nur noch mehr auf und er hatte nicht übel Lust, auch seinen Hut nachzusenden, als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß er doch nicht seine ganze Garderobe auf diese Weise ablegen könne.

„Du kannst ja nicht dafür, Alter!“ sagte er wehmüthig, auf die ehrwürdige Kopfbedeckung niederblickend. „Ich habe keine Manieren, das ist das Unglück – ob sie wohl auch lachen wird?“

Es blieb unentschieden, wer mit diesem „sie“ gemeint war, aber Doktor Reinsfeld war in dieser Stunde der unglücklichste Mensch im ganzen Gebirge. Das Bewußtsein, keine Manieren zu haben, drückte ihn zu Boden.




Sankt Johannistag! Der alte Sagen- und Heilstag des Volkes, dem die geheimnißvolle Mittsommernacht vorangeht, wo die versunkenen Schätze aus der Tiefe emporsteigen und verheißungsvoll winken, wo all die schlummernden Zauberkräfte aufwachen und die ganze Märchen- und Geisterwelt der Berge sich aufthut zu unsichtbarem, mächtigem Wirken. Das Volk hat das uralte Sonnwendfest noch immer nicht vergessen und noch immer webt die Sage ihre Schleier um die heilige Mittsommerzeit , wo die Sonne am höchsten steht, wo die Erde in ihrer vollsten Schönheit prangt und heißes, volles Leben durch die ganze Natur fluthet.

Für das Wolkensteiner Gebiet war dieser Tag eins der größten Feste des Jahres. Die Bevölkerung des einsamen, noch wenig bekannten Alpenthales, das die Bahn erst im nächsten Jahre der Welt erschließen sollte, hing unverbrüchlich an ihren Sitten und Gebräuchen und ebenso fest an ihrem Aberglauben. Hier herrschte noch unumschränkt die Alpenfee, und nicht bloß als verheerende Naturgewalt, mit Schneestürmen und Lawinen – für die meisten thronte sie noch leibhaftig droben auf dem umschleierten Gipfel des Wolkenstein, und die Bergfeuer, die am Vorabende des Johannistages überall emporflammten, hatten einen geheimnißvollen Zusammenhang mit der gefürchteten Macht des Gebirges. Weder die altheidnische Bedeutung der Sonnwendfeuer noch die christliche Legende hafteten mehr im Bewußtsein des Volkes, es knüpfte mit seinem Aberglauben direkt an seine Bergsagen an, die ihm noch immer lebendig waren.

Der klare, milde Junitag ging zu Ende, die Sonne war bereits gesunken, nur um die höchsten Gipfel wob sich noch ein leichter röthlicher Schimmer, all die anderen Höhen standen schon im blauen Nebelduft und in den Thälern lagerten dämmernde Schatten. [567] Hoch über den Wäldern, die den Fuß des Wolkenstein umsäumten, da wo die weit vorspringenden Abhänge des mächtigen Berges begannen, lag eine freie grüne Alpenwiese, auf der sich eine kleine Sennhütte befand. Es war für gewöhnlich sehr einsam da oben, Fremde kamen nur selten herauf, da der Wolkenstein für unersteiglich galt, heute aber herrschte hier ein ungewohntes Leben und Treiben. Auf der weiten Matte war ein mächtiger Holzstoß errichtet, dem die alten Tannen und Fichten ihren Tribut hatten zollen müssen. Riesige Holzscheite, trockene Aeste, ausgerodete Baumwurzeln thürmten sich übereinander. Das Sonnwendfeuer auf dem Wolkenstein war stets eins der mächtigsten und leuchtete weit in das Land hinaus, es flammte ja auch an dem alten Sagenthron des Gebirges, zu den Füßen der Alpenfee.

Um den Holzstoß war ein Kreis von Gebirgsleuten versammelt, meist Hirten und Holzknechte, und dazwischen Mädchen von den benachbarten Almen, alles kraftvolle, braune Gestalten, die in Sturm und Sonnenschein hier oben auf den Höhen hausten und erst im Herbste wieder zu Thal stiegen. Es ging derb und lustig zu zwischen ihnen, es war ein Lachen und Juchzen ohne Ende; die Leute, die hart arbeiteten Tag für Tag und deren einförmiges Leben ihnen nur selten eine Abwechslung bot, machten sich die alte Volkssitte zum frohen Feste.

Sie waren aber heute nicht ganz unter sich allein; es hatte sich eine kleine Gruppe von Zuschauern eingefunden und seitwärts auf einer hügelartigen Erhebung des Bodens Platz genommen Das war den Aelplern ungewohnt und wäre ihnen unter andern Umständen auch wohl unwillkommen gewesen, denn sie fühlten sich bei solchen Gelegenheiten als unumschränkte Herren auf ihrem Grund und Boden. Aber die junge Dame, die dort auf dem moosigen Steine saß, war ihnen nicht fremd, so wenig wie der große, löwenartige Hund, der ihr zu Füßen lag. Die beiden hatten ja jahrelang mitten unter ihnen gelebt in dem alten Wolkensteiner Hofe, von dem längst kein Stein mehr stand. Freilich, das wilde übermüthige Kind von damals war ein gnädiges Fräulein geworden und lebte in der vornehmen Nordheimschen Villa, die den einfachen Gebirgsleuten wie ein Zauberschloß erschien, aber das Fräulein war doch zu ihnen heraufgestiegen wie sonst und plauderte mit ihnen im Dialekt, wie in früheren Zeiten, es fiel keinem ein, sie als eine Fremde zu betrachten.

Ueberdies war der Sepp mitgekommen, der zehn Jahre lang in den Diensten des Baron Thurgau gewesen war und der kleinen Landwirthschaft des Gütchens vorgestanden hatte, und die beiden Fremden, die das Fräulein begleiteten, sahen mit ihren tiefbraunen, sonnenverbrannten Gesichtern auch nicht aus wie Stadtleute. Der eine, der eine Art Untergebener zu sein schien, hatte sich von Sepp sofort in den Kreis der Gebirgsleute einführen lassen und war schon nach zehn Minuten heimisch unter ihnen. Er verstand den Dialekt vollkommen und blieb auf derbe Fragen und Scherze keine Antwort schuldig. Der andere, augenscheinlich ein vornehmer Herr, mit schwarzen Haaren und schwarzen, buschigen Brauen, hielt sich ausschließlich an der Seite der jungen Dame und beugte sich jetzt eben zu ihr nieder mit der etwas besorgten Frage:

„Sind Sie müde, gnädiges Fräulein? Wir haben nicht ein einziges Mal ausgeruht auf dem ganzen Wege.“

Erna schüttelte lächelnd den Kopf.

„O nein, so habe ich das Steigen denn doch nicht verlernt, daß mich schon der Weg zur Alm müde macht. Ich bin in früheren Jahren wohl höher hinaufgekommen, zum großen Mißvergnügen Greifs, der regelmäßig hier zurückbleiben mußte, wenn ich die Felsen erkletterte, er kennt den Ort noch ganz genau.“

„Ja, ich habe es bewundert, wie leicht und sicher Sie aufwärts stiegen,“ sagte Waltenberg. „Ich glaube, Sie würden spielend die Mühen und Beschwerde der größten Reise überwinden, die man anderen Damen nicht zumuthen darf. Jedenfalls bin ich sehr stolz darauf, Ihren Kavalier machen zu dürfen bei diesem Ausflug zum Sonnwendfeuer.“

„Sonst wäre er mir auch schwerlich erlaubt worden! Frau von Lasberg entsetzte sich schon bei dem Gedanken an diese in die Nacht hineindauernde Bergpartie, und Alice darf sich solche Anstrengungen überhaupt nicht zumuthen. Sepp hatte sich zwar längst erboten, mich zu begleiten, aber er galt nicht für hinreichend vertrauenswerth, obgleich er zehn Jahre lang in unserem Hause gelebt hat.“

Die Worte hatten einen Anflug von Bitterkeit, der dem Zuhörer nicht entging.

„Man hat es Ihnen nicht erlauben wollen?“ fragte er befremdet. „Lassen Sie sich in solchen Dingen wirklich noch bevormunden, gnädiges Fräulein?“

Erna schwieg, sie wußte am besten, welche Scene es gegeben hatte, als sie ihren Wunsch aussprach. Frau von Lasberg war außer sich gewesen über diese excentrische und unschickliche Idee, sich zur späten Abendstunde mitten unter die Bauern zu begeben und ihrem rohen Vergnügen zuzuschauen. Zufällig war Ernst Waltenberg mit seinem Sekretär um Nachmittage von Heilborn eingetroffen. Er hatte sich zum Begleiter und Beschützer der jungen Dame erboten, und ihm, der im Nordheimschen Hause bereits als der künftige Gemahl Ernas galt, war der Vertrauensposten auch ohne weiteres zugestanden worden, den man dem alten Sepp versagte. Er war eben im Begriff, noch eine weitere Frage zu thun, als ein Fremder herantrat und halb schüchtern, halb zutraulich sagte:

„Grüß Gott, gnädiges Fräulein! Willkommen in der Heimath!“

„Doktor Reinsfeld!“ rief Erna froh überrascht und bot ihm die Hand mit derselben unbefangenen Vertraulichkeit wie damals, als sie, ein halbes Kind noch, ihm entgegenlief, wenn er sich im väterlichen Hause zeigte. Er schien im ersten Augenblick fast bestürzt darüber, dann aber flog ein heller Freudenschein über sein Gesicht, und er ergriff und drückte die dargebotene Hand mit der gleichen Herzlichkeit. Aber jetzt drängte sich noch etwas anderes an ihn heran; Greif hatte den ehemaligen Freund nicht vergessen, er erkannte ihn auf der Stelle wieder und begrüßte ihn mit ungestümer Freude.

„Ich habe Sie gestern nicht einmal gesehen, als Sie in unserem Hause waren,“ sagte Erna. „Ich erfuhr es erst, als Sie bereits wieder fort waren.“

„Und ich wagte nicht, nach Ihnen zu fragen,“ gestand Benno. „Ich wußte ja nicht, ob es Ihnen recht war, wenn ich die alte Bekanntschaft geltend machte.“

„Haben Sie wirklich daran gezweifelt?“

Der Ton klang vorwurfsvoll, aber Reinsfeld schien sehr glücklich zu sein über diesen Vorwurf und blickte mit leuchtenden Augen auf die junge Dame. Er sah es freilich, daß sie so viel schöner, so viel ernster geworden war, aber fremd war sie ihm nicht geworden und ihr gegenüber empfand er auch nichts von der Scheu und Verlegenheit, die ihn gestern so blöde und stumm gemacht hatte.

„Ich habe so sehr gefürchtet, Sie als große Dame wiederzusehen,“ sagte er treuherzig. „Sie sind es nicht geworden – Gott sei Dank!“

Die etwas ungeschickte Aeußerung kam aus vollem Herzen, das hörte man, und Erna lachte laut auf dabei, es war wieder das alte frohe Kinderlachen, welches jahrelang verstummt gewesen war.

Waltenberg hatte anfangs mit sichtlichem Befremden die vertrauliche Begrüßung der beiden gesehen, und es war ein finsterer, argwöhnischer Blick, mit dem er Reinsfeld musterte, aber die Musterung mußte wohl befriedigend ausfallen. Dieser Herr Doktor, in Joppe und Filzhut, mit seinem treuherzig ungeschickten Wesen, war kein gefährlicher Mann und gerade in der Unbefangenheit seines Verkehrs mit Erna lag die beste Gewähr dafür, daß es sich hier in der That um nichts anderes handelte, als um eine harmlose Jugendfreundschaft. Ernst Waltenberg war Menschenkenner genug, das sofort einzusehen, und deshalb nahm er die Vorstellung Reinsfelds sehr liebenswürdig entgegen.

„Wir sind soeben erst gekommen,“ sagte dieser nach der üblichen Begrüßung, „und wir gewahrten Sie anfangs gar nicht in dem lustigen Treiben hier auf der Alm. Aber wo ist denn Wolfgang geblieben? Ich habe Ihren nunmehrigen Verwandten mitgebracht, gnädiges Fräulein. Wolf, wo steckst Du denn?“

Der Ruf war überflüssig, denn Elmhorst stand etwa fünfzig Schritte entfernt, den Blick unverwandt auf die Gruppe gerichtet. Er hatte sich offenbar nicht nähern wollen; jetzt erst trat er langsam heran, und Benno konnte nicht umhin, sich zu wundern, daß die Begegnung der „Verwandten“ so ungemein fremd ausfiel. [568] Wolfgang verneigte sich sehr förmlich und Erna nahm eine so kühle Haltung an, als sei ihr dies zusammentreffen nichts weniger als erwünscht.

„Ich glaubte, Sie würden heute abend in Oberstein sein, Herr Elmhorst,“ sagte sie. „Sie sprachen doch gestern davon?“

„Allerdings, und ich war auch dort bei Benno, aber er überredete mich, mit ihm zur Alm herauf zu steigen.“

„Damit er einmal ein wirkliches Sonnwendfeuer sieht!“ fiel Benno ein. „In Oberstein wird es ja auch angezündet, aber dort finden sich das ganze Dorf, mit Kind und Kegel, die sämmtlichen Arbeiter der Bahn, die Ingenieure und eine Menge von Gästen aus Heilborn zusammen. Da wird der alte schöne Volksbrauch zu einer lärmenden Schaustellung für die Fremden. Hier oben haben wir noch echtes unverfälschtes Gebirgsleben – Da ist ja auch der Sepp! Wie geht es, Alter? Ja, wir sind auch dabei, Ihr seht es freilich nicht gern an diesem Tage, das weiß ich und habe deshalb auch in Oberstein kein Wort von unserer Bergpartie verlauten lassen. Aber uns müßt Ihr schon in Kauf nehmen, das heißt, den fremden Herrn da und den Herrn Oberingenieur, denn das gnädige Fräulein und ich, wir gehören doch eigentlich dazu.“

„Ja, Sie gehören dazu!“ bekräftigte Sepp feierlich, „Sie dürfen beileibe nicht fehlen.“

„Ich möchte doch dagegen protestiren, so vollständig als Fremdling behandelt zu werden,“ sagte Wolfgang. „Ich lebe seit drei Jahren in den Bergen.“

„Aber im fortwährenden Kampfe mit ihnen,“ warf Waltenberg halb spöttisch ein. „Ich glaube kaum, daß man Ihnen darauf hin Heimathsrechte zugesteht.“

„Nein, höchstens das Recht des Eroberers,“ sagte Erna kalt. „Herr Elmhorst rühmte sich ja schon damals bei seiner Ankunft, er werde Besitz nehmen von dem Reiche der Alpenfee und es in Fesseln schlagen.“

„Sie sehen doch, gnädiges Fräulein, daß das keine Prahlerei war,“ gab Wolfgang in dem gleichen Tone zurück. „Wir haben sie bezwungen, die stolze Herrscherin des Gebirges. Sie hat es uns freilich schwer genug gemacht und sich so verschanzt in ihren Felsen und Wäldern, daß wir ihr jeden Fuß breit des Bodens erst entreißen mußten, aber besiegt wurde sie doch! Im Spätherbst werden die letzten Bauten vollendet und schon im nächsten Frühjahr brausen unsere Bahnzüge durch das ganze Wolkensteiner Gebiet.“

„Schade um das herrliche Alpenthal!“ sagte Waltenberg. „Es verliert seine ganze Schönheit, wenn erst der Dampf Besitz davon genommen hat und der gellende Pfiff der Lokomotiven die erhabene Ruhe des Hochgebirges stört.“

Wolfgang zuckte die Achseln.

„Ich bedaure, aber mit solchen poetischen Erwägungen kann man sich wirklich nicht abgeben, wenn man der Welt neue Verkehrswege erschließt.“

„Der Welt, die Ihnen gehört! Sie haben sich ja hier in Europa längst mit Dampf und Eisen zum Herrn derselben gemacht. Man wird schließlich nach irgend einer fernen Insel im Ocean flüchten müssen, um ein stilles Thal zu finden, wo man ungestört träumen kann.“

„Wenn Ihnen dies Träumen als alleiniger Zweck Ihres Daseins erscheint – allerdings, Herr Waltenberg. Bei uns gilt die That dafür.“

Ernst biß sich auf die Lippen, er sah, daß Erna zuhörte, und vor ihr in solcher Weise zurechtgewiesen zu werden, war mehr, als er ertrug , er nahm wieder den vornehm nachlässigen Ton an, mit dem er schon bei der ersten Begegnung versucht hatte, den „Streber“ zu demüthigen.

„Der alte Streit, den wir schon damals im Wintergarten des Herrn Präsidenten führten! Ich habe nie an Ihrem Thatendrange gezweifelt, Herr Elmhorst, und Sie haben ja auch ein glänzendes Resultat damit erreicht.“

Wolfgang richtete sich hoch auf, er wußte, wohin die Bemerkung zielte und welches Resultat gemeint war, aber er lächelte nur verächtlich. Hier war er nicht der „künftige Gemahl von Alice Nordheim“, wie bei der Residenzgesellschaft, hier stand er fest auf eigenem Boden, und mit dem ganzen stolzen Selbstgefühl eines Mannes, der sich seiner Kraft und seines Erfolges bewußt ist, erwiderte er:

„Sie meinen meine Thätigkeit als Ingenieur? Die Wolkensteiner Brücke ist allerdings mein erstes Werk, aber ich denke, sie soll nicht das letzte sein.“

Waltenberg verstummte. Er hatte bei seiner Ankunft ja auch den kühnen Riesenbau gesehen, der sich von Fels zu Fels über die gähnende Schlucht spannte, und fühlte, daß er es aufgeben müsse, den Mann, der das geschaffen hatte, als einen Glücksritter zu behandeln. Und wenn er zehnmal seine Hand nach der Tochter des Millionärs ausstreckte – in diesem Elmhorst lag doch mehr als bloßes Streberthum, er hatte es bewiesen; selbst sein Gegner mußte das anerkennen, wenn auch widerwillig genug.

„Ich habe hieran der That gelernt, den kühnen Ingenieur zu bewundern,“ versetzte er nach einer augenblicklichen Pause. „Es ist ein großartiges Werk.“

„Es ist mir sehr schmeichelhaft, wenn Sie das zugestehen, der Sie die Bauten der halben Welt kennen.“

Die Worte klangen verbindlich, aber die Blicke der beiden Männer kreuzten sich wie zwei scharfe Klingen. Sie empfanden es in diesem Momente deutlich, daß mehr als Abneigung, daß entschiedener Haß zwischen ihnen lag.

Erna hatte sich bisher mit keiner Silbe an dem Gespräche betheiligt, aber sie mochte es doch wohl fühlen, wer hier Sieger blieb, denn ihre Stimme verrieth eine kaum verhehlte Gereiztheit, als sie sich endlich einmischte.

„Geben Sie es auf, mit Herrn Elmhorst zu streiten. Er ist ebenso eisern wie seine Werke und die Poesie hat für ihn überhaupt keine Berechtigung auf der Welt. Wir beide gehören eben einer ganz andern Welt an und über die Kluft wird er keine Brücke schlagen.“

„Wir beide –– ja wohl!“ wiederholte Ernst, indem er sich rasch zu ihr wandte. Vergessen war der Streit, und der Haß ging unter in dem Strahle, der aus seinem Auge brach, es hatte einen fast triumphirenden Klang, dies „Wir beide!“

Wolfgang trat plötzlich zurück mit einer so jähen, heftigen Bewegung, daß Benno ihn höchst verwundert ansah. Der Doktor sprach gerade mit Veit Gronau, der herbeigekommen war, als er von Sepp den Namen Reinsfeld hörte, und sich nun selbst vorstellte.

„Erinnern können Sie sich meiner unmöglich,“ sagte er soeben. „Sie waren noch ein kleiner Bube, als ich in die weite Welt ging. So müssen Sie es mir denn auf mein ehrliches Gesicht hin glauben, daß ich ein Jugendfreund Ihres Vaters gewesen bin. Er ist längst todt, ich weiß es, aber ich denke, der Sohn wird mir den Händedruck nicht verweigern, den ich meinem alten Benno nicht mehr geben kann.“

„Gewiß nicht,“ versicherte der Doktor, indem er die dargebotene Hand kräftig drückte. „Nun lassen Sie mich aber auch hören, wie es kommt, daß Sie in Europa wieder auftauchen.

(Fortsetzung folgt.)




Die letzte Theatersaison.

Unsere Bühne hat gegenwärtig keine Glanzepoche: Operetten, Schwänke, die von Tag zu Tag lebenden dramatischen Erzeugnisse überwiegen; man erstaunt, wenn man die Chronik der letzten Saison durchblättert, über diese Masse staubaufwirbelnder Nichtigkeiten. Gleichwohl zeigt unser Theater doch öfters noch ein festtägliches Ansehen, nicht bloß bei der häufigen Aufführung klassischer Dramen und nichtklassischer Stärke von poetischem Werth, die sich auf den Repertoires eingebürgert haben; nein, auch die begabten Dramatiker der Gegenwart schaffen rüstig weiter, und es gelingt ihnen bisweilen ein glücklicher Wurf.

Einer der unermüdlichsten ist Paul Heyse, der mit einer Dichtung, welcher es an schärferen dramatischen Accenten, aber nicht an einem Hauch poetischer Weihe fehlt, an mehreren Bühnen, besonders auch am Berliner Hoftheater, einen schönen Erfolg errungen hat. Diese Dichtung, „Die Weisheit Salomos“, bringt

[569]

Eine Blume
Nach dem Oelgemälde von R. Beyschlag.
Lichtdruck im Verlag von F. A. Ackermann in München.

[570] zwei biblische Frauengestalten auf die Bühne: Sulamith, die Braut des Hohen Liedes, und die Königin von Saba. Für eine dramatische Handlung giebt die biblische Ueberlieferung keinen Anhaltspunkt, hier mußte die freie Erfindung des Dichters ergänzend eintreten. Die Königin von Saba liebt den wegen seiner Weisheit hochgerühmten König von Israel mit heißer Leidenschaftlichkeit; aber dieser empfindet für das Gärtnermädchen Sulamith eine glühende Neigung, die jedoch nicht den König, sondern einen armen Hirten liebt. Der letztere begeht ein Attentat gegen den Herrscher, wird zum Tode verurtheilt und kann nur dadurch gerettet werden, daß Sulamith den Wünschen des Königs Gehör schenkt. Doch schon festlich als Braut geschmückt, bebt sie in dem entscheidenden Augenblick vor solchem Opfer zurück und eilt in die Arme des Geliebten, um vereint mit ihm den Tod zu erleiden. Salomo aber bezwingt sich selbst und verzichtet auf diese Liebe, er begnadigt den Verbrecher. Das eben ist seine Weisheit.

Die Königin von Saba kann da diesem Verlaufe der Handlung keine dramatisch entscheidende Rolle spielen. Sie ist von Eifersucht entbrannt und sucht Sulamith zu entführen. Doch ihr Plan mißlingt, und so bewegt sie sich nur in leidenschaftlichen Ergüssen, denen jeder dramatische Abschluß fehlt, denn der Verzicht Salomos kommt ihr nicht zu statten. Seine Gleichgültigkeit gegen die hohe Dame mit der Phönixfeder hält von Anfang bis zum Ende Stich, und nachdem sie Salomo genügend „interviewt“, kehrt sie wieder in ihr Goldland zurück. Das altbiblische Kolorit ist überhaupt an dem Stücke verwischt; an seine Stelle sind moderne Empfindungen und Zustände gesetzt, denn die Eifersucht gegenüber einem König, der tausend Frauen besitzt, dürfte wenig am Orte sein. Doch man kann die Dichter nicht tadeln, welche die kulturgeschichtliche Wahrheit opfern, um nicht der berechtigten Wirkung auf ihre Zeitgenossen verlustig zu gehen.

Wenn in diesem Stücke das Seelengemälde über die energisch fortschreitende Handlung überwiegt, so haben wir in unserer Litteratur klassische Vorbilder, denen man das Gleiche nachsagen muß und welche doch ihre Bedeutung behaupten. An dichterischem Reize fehlt es ja auch dem Heyseschen Schauspiel nicht. In den Scenen des Gartenidylls herrscht Anmuth und Lieblichkeit, die Weisheit des Königs spricht sich oft mit einer salbungsvollen Milde aus, viele Sentenzen haben ein anmuthendes Gepräge, eine edle künstlerische Fassung, das Ganze ist in eine sanfte Beleuchtung gerückt, welche die Sympathien der Zuschauer zu wecken und festzuhalten vermag.

Ganz im Gegensatze zu Paul Heyse hat Ernst von Wildenbruch etwas dramatisch Markiges in seinen Schöpfungen, und gerade die leidenschaftlichen Scenen, in denen Heyses Muse sich nicht recht heimisch fühlt, sind die Domäne, in welcher Wildenbruch vorzugsweise zu Hause ist. Sein Schauspiel „Der Fürst von Verona“ ist am Berliner Hoftheater gegeben worden, sonst aber im Lauf der vorletzten und letzten Saison nur über wenig Bühnen gegangen. Es hat im Stoffe eine gewisse Aehnlichkeit mit „Romeo und Julie“; es stellt eine Liebe dar, die sich in der Mitte wilder Parteikämpfe entfaltet. Wie dort die Montecchi und Capuletti, so befehden sich hier die Guelfen und Ghibellinen. Selvaggia, des guelfischen Grafen San Bonifazio Tochter, träumt von einer Versöhnung der Parteien; ihre Stiefmutter aber will ihre Hand einem der erbittertsten und wildesten Guelfen Scaramello, geben. Die Tochter jedoch wendet ihr Herz dem neuen ghibellinischen Fürsten von Verona, Mestino della Scala, zu, der durch sein mildes würdiges Wesen die Neigung eines edeln Mädchens verdient. Ihr Bund scheint Frieden und Versöhnung zu verbürgen. Doch der Uebergang des Königs Konradin über die Alpen entflammt von neuem den Kampf der Parteien und Selvaggia fällt als Opfer der wilden Wuth des von ihr verschmähten Scaramello.

In diesem Gemälde fehlt es nicht an Scenen von leidenschaftlicher Kraft; einzelnes ist auch sehr anmuthend, wie beim Beginn des Stückes der Rosenkrieg im Klostergarten, in dem sich die Töchter der Guelfen und Ghibellinen gegenseitig mit weißen und rothen Rosen bewerfen. Doch die Haupthandlung löst sich nicht scharf genug von den tumultuarischen Gruppen los, welche in ihrer lärmenden Aufdringlichkeit das Drama zu oft in das Gebiet der Historie hinüberziehen; dadurch verzettelt sich die Theilnahme des Publikums, und durch diesen Fehler gegen die Kunst der dramatischen Perspektive wird manche schöne Wirkung einer im ganzen leidenschaftlich bewegten Darstellung geschädigt.

Der Haupttreffer der letzten Saison war ein spanisches Stück „Galeotto“ von José Echegaray, welches in der Bearbeitung von Paul Lindau über fast alle großen und nennenswerthen deutschen Bühnen ging. Warum soll unsere dramatische Muse, die so oft französisch aufgeputzt erschien, nicht auch einmal, wie es im „Egmont“ heißt, spanisch kommen? In geschickterer Weise als von Paul Lindau konnte ein neuspanisches Drama bei uns nicht eingeführt werden. Lindau machte kurzen Prozeß mit den spanischen Trochäen und kleidete das Ganze in einen gewandten und pikanten Dialog nach den besten französischen Mustern ein. Der Grundgedanke des Stückes aber ist ein sehr beachtenswerther. Der gesellschaftliche Klatsch mit seinen Verleumdungen ist so von manchem neuen Schauspieldichter, wie z. B. von Scribe, als dramatisches Motiv benutzt worden; aber in „Galeotto“ findet sich eine ganz neue Variante desselben. Was in der Gesellschaft erzählt wird, ist unwahr: das Verhältniß, von dem man spricht, besteht nicht. Aber es wird gerade durch diesen Klatsch hervorgerufen.

Ein junger Schriftsteller ist mit einer verheirateten Frau befreundet; die öffentliche Meinung spricht von einem skandalösen Verhältniß. Dadurch aber werden die Beziehungen zwischen den beiden immer inniger, gerade durch die Duelle und ernsten Begebenheiten, die aus diesem Klatsch hervorgehen. Wer aber ist der Schuldige? Der dramatische Dichter und der dramatische Held kann aus der unfaßbaren Menge nur einen herausgreifen, welcher derartige Gerüchte kolportirt hat. Das ist ober nur ein schwacher Träger der Gegenbewegung im Schauspiel, die dadurch etwas Zufälliges erhält. Die Handlung selbst indeß ist mit großer Gewandtheit durchgeführt; der Grundgedanke wirkt frappirend; aber weiß man einmal Bescheid damit, so wird das Stück wie ein gelöstes Räthsel erscheinen und kaum auf die Dauer fesseln.

In Leipzig, Prag und an einigen anderen Bühnen ist ein neues Schauspiel von Richard Voß, „Eva“, mit Erfolg gegeben worden. Man darf es dem Stücke nachrühmen, daß über einzelne Scenen der Zauber warmen Empfindens gebreitet ist und daß die großen Auftritte mit leidenschaftlichem Nachdruck behandelt sind. Das schöne Talent von Richard Voß hat Mark und Kraft; doch die Plötzlichkeit der Wendungen und Wandlungen in diesem Schauspiel hat etwas Befremdendes und Gewaltsames.

Eva, eines Grafen Tochter, ist mit einem gräflichen Vetter verlobt. Als der Vater durch Spekulationen sich ruinirt hat, als der Unwille der Arbeiter gegen ihn losbricht, als Vetter Ellimar gegen diese mit Gewaltmaßregeln einschreiten will, da sagt sie sich plötzlich von dem Bräutigam los, mit dem sie dem Anschein nach überhaupt wenig harmonirt, und reicht einem bürgerlichen vermögenden Fabrikanten ihre Hand, der für sie begeistert ist und der durch den Ruin ihres Vaters, dem er alles Vertrauen geschenkt, selbst bloßgestellt und dem Zorn des Volkes preisgegeben wird.

Diese Scenen erinnern theils an das „Fallissement“, theils an den „Hüttenbesitzer“, doch fehlt ihnen das Ueberzeugende der dramatischen Beweisführung, wie es jenen Stücken eigen ist. Eva lebt mit Hertwich nicht glücklich; sie ist offenbar einer launenhaften Eingebung gefolgt, als sie ihn zum Gatten wählte. Im Grunde liebte sie Ellimar, was sie selbst überrascht und auch uns überraschen muß, da wir im ersten Akte von dieser Liebe wenig merken. Ellimar, den plötzlich eine unbezwingliche Sehnsucht nach seiner früheren Braut ergriffen hat, kehrt aus Neapel zurück und Eva, durch seine Liebesbetheuerungen bethört, verläßt Gatten und Kind und folgt blindlings dem jungen Grafen. Dieser denkt aber nicht daran, sie zu heirathen; er hat nebenher ein anderes Verhältniß; sie greift zur Pistole, die ihr eine verlassene Geliebte Ellimars, eine Art von Gräfin Orsina, reicht, und erschießt ihn. Darauf folgt im letzten Zwischenakte die Zuchthausstrafe und im letzten Akte ein melodramatisches Sterben, nach französischen Mustern.

Der Charakter der launenhaften und abenteuerlichen Heldin erregt bei ruhiger Erwägung der Vorgänge schwerwiegende Bedenken [571] doch das Talent von Voß hat etwas so leidenschaftlich Hinreißendes, daß wir bei einer Darstellung des Stückes auf der Bühne gleichsam in seinem Banne gehalten werden und die Hauptscenen mächtig aus uns wirken lassen.

Auch unsere Romanschriftsteller streben nach dem dramatischen Lorbeer, der aber für ihre Darstellungsweise schwerer erreichbar ist. Friedrich Spielhagen hat mit seinem neuesten Stück „Die Philosophin“ einen geistreichen Essay in dramatischer Form geliefert, aber trotz einzelner für den Autor als solchen ehrenvoller Erfolge die Bühnen damit nicht erobern können. Die Heldin Friederike ist eine Philosophin, die sich gegen die Bestimmung des Weibes ketzerisch auflehnt; natürlich wird sie wie ihre stolze Vorgängerin Donna Diana zuletzt von der Liebe besiegt – die jedenfalls gelungenste Scene des Stückes, welches Vorzüge der Charakterzeichnung und des Dialogs besitzt, aber, wenn sich auch die Handlung im dritten und vierten Akt steigert, doch nicht den rechten dramatischen Guß und Fluß gewinnt. Es ist bedauerlich, daß soviele nichtssagende Autoren sich auf das dramatische und theatralische Metier verstehen und mit ihrer handwerksmäßigen Fertigkeit Erfolge erringen, während manche geistreiche und hochbegabte Schriftsteller daran scheitern, daß sie der dramatischen Technik nicht ihre großen und kleinen Geheimnisse abzulauschen verstehen.

Dem auf den Höhen moderner Bildung sich bewegenden Salonstück Spielhagens steht kontrastirend ein Volksstück wie Ludwig Anzengrubers „Stahl und Stein“ gegenüber. Dies Stück ist an dem Wiener Hofburgtheater mit Erfolg gegeben worden, die Erfindung ist scharf zugespitzt, die Ausführung kräftig und energisch. Die Volksbühne Anzengrubers liebt hochtragische Konflikte; die versöhnlichen Abschlüsse der oberbayerischen Bauernstücke liegen ihr fern. Der Held des Stückes, Eisner, ist Bürgermeister des Dorfes geworden. In seiner Jugend hat er ein wüstes Leben geführt und manche Schuld auf sich geladen. So hat er ein Mädchen verführt und dann den Sohn, welcher eine Frucht des Verhältnisses war, dem Elend preisgegeben. Dafür verfolgte ihn selbst häusliches Unglück, seine Frau brachte ihm keinen Segen ins Haus; es fehlte Ruhe und Frieden; seine drei Söhne starben ihm. Nun verfolgt er eine fromme Richtung und waltet seines Amtes mit unerbittlicher Strenge. Da macht das Schicksal aus ihm einen unfreiwilligen Brutus. In den Nachbarbergen wohnt ein einsamer junger Mann, der jede Auskunft über sich verweigert. Der Ortsvorsteher ist verpflichtet, ihn zur Rede zu stellen, und als der Fremde verharrt in wildtrotzigem Wesen, schickt der Bürgermeister Gendarmen ab, um ihn zu verhaften. Es kommt zum Kampf zwischen ihnen und dem Einsamen, der den einen erschießt, von dem andern aber selbst tödlich verwundet wird.

Nun folgt die ergreifende Wiedererkennungsscene; es ist Eisners Sohn, der ihm sterbend gebracht wird, nach dem er Jahre lang vergebens gesucht hat, um seine alte Schuld zu sühnen. Der Sohn hat wegen Todtschlags im Zuchthause gesessen; er hat einen erschlagen, der seine Mutter beschimpft hatte. Die Scene ist von ergreifender Innerlichkeit, schlaghaft und packend; freilich ist in ihr auch der ganze Extrakt der dramatischen Handlung zu suchen, die sich sonst vielfach in Erzählungen der Vorgeschichte verflüchtigt. Dem Drama liegt eben eine Erzählung unseres Autors zu Grunde und diese Herkunft verleugnet sich nicht so leicht.

Charakteristisch für diese Saison ist die Geltung, zu welcher die Lutherfestspiele gekommen sind. Abgesehen von Wilhelm Henzens Lutherdrama, welches sich den Anforderungen unseres Bühnenwesens anschmiegt, haben wir drei Festspiele, die aus dem Rahmen des Theaters herausgewachsen sind, nicht von Schauspielern, sondern von Studenten und anderen Mitwirkenden dargestellt werden und zu einer primitiven Form der Bühne zurückkehren: einen „Luther“ von Hans Herrig, der in Leipzig und Dresden mit Erfolg gegeben, einen andern von Otto Devrient, der in Jena zur Aufführung gekommen ist, und einen von Trümpelmann, der zuerst in Torgau und neuerdings in Berlin aufgeführt wurde. Das Streben nach einer Volksbühne ist für gewisse festliche Zwecke und nationale Schaustellungen gewiß nicht unberechtigt, doch darf dem darstellenden Dilettantismus nicht ein zu breiter Raum anheimgegeben werden.

Jede Saison hat ein paar Lustspiele, die sich fröhlich im Lichte der Prosceniumslampen tummeln, viel beklatscht und viel belacht werden und nach kurzer Daseinsfreude in den Theaterarchiven verschwinden. Selten findet sich ein glücklicher Treffer, der für Jahrzehnte ausreicht. In der letzten Saison hat die Firma Franz von Schoenthan und Kadelburg, die bereits mit den „Goldfischen“ die Bühnen erobert, ein Lustspiel „Die berühmte Frau“ verfaßt, welches zuerst am Deutschen Theater in Berlin mit Erfolg gegeben wurde und dann seinen Weg über die deutschen Bühnen machte. Schade, daß „die berühmte Frau“ selbst zu wenig im Mittelpunkte des Lustspiels steht; die bekannte Satire Schillers mag die erste Anregung zu dem Stücke gegeben haben, aber man erwartet vergebens, ein Charaktergemälde darin zu finden, welches die Schillerschen satirischen Pfeile in einem dramatischen Köcher sammelt. Die berühmte Frau weilt in Italien; indeß herrscht in ihrem Hause eine kunterbunte Wirthschaft. Der Gatte geht einem Liebesabenteuer mit einer Schauspielerin nach, die Töchter haben auch ihre Liebeshändel; wie da ein Freund der berühmten Frau Ordnung schafft, selbst das Herz der einen Tochter gewinnt, die Mutter zur Rückkehr bewegt, das wird uns in einer Reihe lebendiger Scenen vorgeführt. Die berühmte Frau behandelt den unberühmten Gatten mit vernichtender Ironie; und man ist vollständig davon überzeugt, daß, wenn sie ihm vorschlägt, jeder möge seine eigenen Wege gehn, dies das einzig Richtige, ja Mögliche ist. Doch da muß noch ein Ausgleich zur Befriedigung des Publikums gesucht werden, das solche Dissonanzen nicht verträgt, und damit geht die Lebenswahrheit in die Brüche.

Ein anderes Lustspiel. „Auf glatter Bahn“ von Heinrich Heinemann kam im Berliner Schauspielhause mit Erfolg zur Aufführung und machte auch seitdem die Runde über die deutschen Bühnen. Der Verfasser ist ein tüchtiger Theaterpraktiker und weiß die effektvollen Lichter zur rechten Zeit aufzusetzen, die packenden Scenen an die rechte Stelle zu rücken. Die Voraussetzung der Lustspielhandlung ist ein pikanter Skandalprozeß, in welchem ein Graf Marberg als Zeuge vorgeladen wird. Diese Vorladung trifft ihn gerade zur Zeit, als er mit seiner jungen Frau die Hochzeitsreise nach Paris antreten will. Um welchen Skandal es sich eigentlich handelt, das erfahren wir nicht. Die Thatsache genügt, daß Graf Marberg da in eine sehr mißliche Angelegenheit mitverwickelt ist. Seine ganze Sorge ist, daß seine Frau nichts davon erfährt; er setzt es daher durch, daß er in den Zeitungen nur als der Zeuge M. erwähnt wird. Doch gerade für diesen Zeugen, der die pikantesten Aussagen macht, interessant sich seine Frau; es bleibt ihm nichts übrig, als einen alten Universitätskameraden Müller zu bitten, daß er sich für den Zeugen ausgiebt. Die Scene, in welcher das bemooste Haupt sich zu diesem Freundschaftsdienste entschließt, ist die ergötzlichste des Stückes. Doch Müller wird dadurch in Konflikte mit der Familie seiner eigenen Braut verwickelt und platzt schließlich mit der Wahrheit heraus. Dadurch geräth der Graf in eine Verlegenheit, welche durch eine gewandte Vermittlerin beseitigt wird. Das Stück trägt keine schriftstellerisch bedeutende Physiognomie zur Schau, aber es amüsirt durch ein paar ergötzliche Auftritte und das große Bühnenpublikum begnügt sich mit solcher geistig frugalen Kost.

Ein Fastnachtsschwank, der vorzugsweise in Malerateliers spielt, ist „Die Amazone“ von G. v. Moser, dessen Produktion sich aber nicht in aufsteigender Linie bewegt, denn die Verkleidungsscenen dieses Stückes gehören einer wohlfeilen grotesken Komik an und man muß sich schon in einer Karnevalslaune befinden, um das Derbe und Scharfgewürzte vieler Scenen genießbar zu finden.

Eine große Zahl von neuen Lustspielen, die wir hier nicht weiter erwähnen wollen, überlebte einen oder mehrere Theaterabende nicht; doch zu allen Zeiten war ja solcher dramatische Unterhaltungsstoff für das alltägliche Repertoire ein Bedürfniß und auch die Musterbühnen konnten ihn nicht entbehren.

Rudolf v. Gottschall.     
[572]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.
In der Schutzhütte.
Novellenkranz von Johannes Proelß.
(Fortsetzung.)
4. Die Geschichte der Malersleute.

Professor Schröder hatte kaum seine Erzählung geschlossen, als ihm auch schon eine Menge Fragen aus der Tischgesellschaft entgegenklangen. Nicht nur sein ehemaliger Zuhörer, der Astronom, auch alle übrigen erkundigten sich nach der Heldin der Geschichte und ihrem Befinden. Mit Theilnahme hörten sie, daß Frau Josephine auch dieses Jahr den Professor auf seiner alljährlichen Gebirgsreise begleitet habe und nur unten in Weißbad geblieben wäre, doch nicht allein, denn eine seiner Nichten, die er eingeladen, die Reise mitzumachen, leiste ihr angenehme Gesellschaft. Mr. Whitfield, der Engländer, nahm ein noch größeres Interesse an der Schwiegermutter, wie das seiner Vorliebe für Unglücksfälle entsprach. Dieselbe werde doch ihr Möglichstes gethan haben, die Mesalliance ihrer Tochter zu hintertreiben. Der Professor bejahte, wenn auch mit einiger Zurückhaltung, die Frage: trotz aller Schonung und zarten Rücksicht hätte sie dem Eheprojekt ihrer Tochter den hartnäckigsten Widerstand entgegengesetzt, doch sei vor ihrem Tode noch eine Versöhnung erfolgt. Jetzt aber schnitt mit freundlicher Abwehr der Vielgefragte die Debatte ab, indem er seiner Präsidentenpflicht eingedenk die Mahnung aussprach, nun ohne weiteren Aufschub dem dritten Erzähler das Wort zu gönnen. Diesmal wurde gelost, und das Los traf Frau Breitinger, die anmuthige Gattin des fleißigen Malers, der auch während des Erzählens nicht aufgehört hatte, an seinem Skizzenblatt weiter zu arbeiten.

„Wenn ich es denn schon sein soll, die nach des Herrn Professors so ergreifender Geschichte den Versuch wagen soll, ein Erlebniß in geordnetem Zusammenhange vorzutragen, dann muß ich schon meinen lieben Mann bitten dürfen, daß er mich dabei unterstützt – leider habe ich gar nichts vom Talent einer Scheherezade.“

Der Maler lachte und wollte protestiren; Herr Kurz aber unterstützte den Vorschlag: auch er werde, wenn er an die Reihe komme, gleichzeitig im Namen seiner Frau seine Geschichte erzählen, schon in Anbetracht der Zeit empföhle es sich, daß in dieser Weise die anwesenden Ehepaare ihre Einheit und Einigkeit zum Ausdruck brächten.

Der Maler nickte nun zustimmend und rief: „Fang’ nur an, Aennchen, ich werde schon helfen; nur mußt Du keine Geheimnisse erzählen, von denen ich selber nichts weiß.“

„Behüte, Fritz! Erstens hab’ ich gar keine solchen und dann weißt Du doch selbst, daß man schönstes Reiseerlebniß unser gemeinsames Eigenthum ist; freilich, so recht schön wurde es damals erst, als das Reisen vorbei war und die Rückkehr uns zusammenführte.“

„Still, Aennchen! Nichts verrathen! Du verdirbst ja die Spannung. Nur ohne lange Einleitung frisch drauf los! Erster Abschnitt: Warum an eine Heirath zwischen uns nicht zu denken war oder – ‚Sie konnten nicht zu einander, das Wasser war viel zu tief‘. Vorher aber mußt Du Dich den Herrschaften in Deiner Eigenschaft als Malerin, nicht nur Malersfrau, vorstellen. Anch’ io sono pittore. Oder laß mich das besorgen: Hier, mein blondes Weibchen, das so bescheiden ihre Blumen ins Herbarium ordnete, während ich ihr ins Handwerk pfuschte, ist ihres Zeichens eine Malerin von Beruf und auch leidlichem Rufe; ihre Bilder, die noch weiter unter ihrem Mädchennamen gehen, sind auf dem Kunstmarkt in erfreulicher Weise gesucht. Konkurrenz machen wir uns nicht, da sie Landschaftsmalerin ist, während ich mich bis auf gelegentliche Sünden im Skizzenbuch auf das bäuerlich-ländliche Genre – Sittenbild sagen jetzt die Sprachreiniger, ohne den Begriff zu erschöpfen – beschränke. Und das ist wahr: ohne daß wir beide unser Leben der edlen Malkunst geweiht, würden wir uns schwerlich je kennen, schätzen, lieben und heirathen gelernt haben, während andererseits der Umstand, daß wir unser Talent zwei verschiedenen Gebieten unserer theuren Kunst gewidmet, umgekehrt beinahe zum Anlaß wurde, eine gemeinsame Haus-, Herd- und Ateliergründung dauernd zu verhindern. Und das kam so … Jetzt, Aennchen bist Du aber dran. Ueber den Anfang wärst Du hinüber.“

Frau Breitinger folgte heiter der Mahnung:

„Ich bin Holländerin. Bereits mein Vater war Maler und liebte es, seine Studien am Ufer des Meeres zu machen. Als halbwüchsiges Mädchen schon durfte ich ihn begleiten, wenn er des Sommers sich in einem der Fischerdörfer des Nordseestrands in irgend einer gastlichen Hütte einquartierte, um zwischen den Dünen frei nach der Natur das Meer in seinem Zorn und in seinem Frieden zu malen. Die ersten Anfangsgründe der Malerei lernte ich in solcher Umgebung von ihm; er war mein Lehrer, und meine ersten Versuche, auch meinerseits die Eindrücke der in ihrer Einfachheit so großartigen Meereslandschaft im Bilde festzuhalten, vollendete ich unter seiner Leitung. Sie werden begreifen, daß dieser Anfang die Richtung meiner bescheidenen Künstlerlaufbahn entschied. Auch als ich in meinem neunzehnten Jahre vom Vater nach München geschickt wurde, um hier unter Leitung von Professor Schönleber, den er nicht nur seiner vollendeten Technik, sondern auch seiner tiefen Naturauffassung wegen besonders schätzte, mein Talent weiter auszubilden, blieb ich derselben treu. Die Motive, die Vorlagen zu meinen Bildern, die ich jetzt in München unter des Meisters anregender Kontrolle mit peinlichster Sorgfalt bis ins Detail ausführte, entnahm ich meinen Skizzenmappen, welche ich aus der geliebten Heimath mitgebracht hatte und nun während des Sommers eifrig um neue Studienblätter bereicherte. Denn sobald Pfingsten vorüber war und die den Malern eigenthümliche, aus ihrem Beruf erwachsende Reiselust die große Münchener Künstlerkolonie auseinandersprengte, brach auch ich auf nach Holland, um dort wie früher an der Seite meines Vaters dem Meere bei Sonnenauf- und -untergang, bei heiterer Stille oder bei Sturmeswüthen seine zauberhaften Schönheitsreize abzulauschen. Auch als mein Vater durch ein sich immer öfter und stärker wiederholendes rheumatisches Leiden verhindert ward, mein regelmäßiger Begleiter und Genosse in der sommerlichen Villeggiatur zu sein, und ich den größeren Theil meiner Ferien bei ihm und den Meinen in der Stadt verbringest mußte, wurde ich meinem geliebten Nordseestrande nicht ungetreu, zumal eine uns befreundete Familie in der Nähe von Zandvoort ein Landgut besaß, welches sie im Sommer bewohnte und in dem mir ihre Gastfreundschaft ein Stübchen immer bereit hielt. Außerdem aber kannte mich in unserem alten Fischerdorfe, das damals noch nicht den Rang eines Seebadeplatzes beanspruchte, jedes Kind und jedermann war gastlich und freundlich zu mir; wurden mein Vater und ich doch von allen wie zum Orte gehörig und mit allerhand Ehrenbürgerrechten ausgestattet betrachtet. Und so sehr mich meine Münchener Freunde auch baten, doch einmal mit ihnen ins Gebirge zu ziehen und das langweilige Holland, wie sie sagten, sich selbst zu überlassen, ich konnte es nicht übers Herz bringen, sowohl um der Meinen willen, als in Rücksicht auf das Meer und meine Kunst, die nun einmal zusammengehörten. Selbst mein Mann, das heißt Herr Breitinger –“

„Ja, selbst ich,“ nahm mit humoristischem Lächeln dieser nun den Faden der Erzählung auf, „selbst der liebenswürdige, aufmerksame und redegewandte Maler Fritz Breitinger, der mit der jungen Holländerin täglich auf dem gleichen Flur und auch sonst mancherorts zusammentraf, aus dem sehr einfachen Grunde, weil unsere Ateliers in demselben Stockwerk neben einander lagen – selbst ich konnte die hochgeschätzte Kollegin nicht überreden, einmal versuchsweise unsere Sommervilleggiatur im Hochgebirg zu theilen, sollte darüber auch Holland in Nöthe gerathen. Ich muß hier einschalten, daß diese Aufmunterung von meiner Seite einzig und allein aus kameradschaftlichem Interesse, keineswegs aber unter dem Antrieb einer wärmeren Empfindung stattfand, die über das Niveau freundnachbarlicher Theilnahme hinausging. Es ist unter uns Malern eine sehr angenehme Sitte, gegenüber den weiblichen Talenten, die sich unter uns mischen und mit uns dieselben Berufsinteressen theilen, von dem Geschlechtsunterschied möglichst abzusehen und mit ihnen auf Grundlage dieser Gemeinschaft zu verkehren; der Ernst ihres Strebens und ihr Können entscheidet, [573] ob wir sie ehrlich und offen als unsere guten Kameraden willkommen heißen oder ihnen, falls sie Pfuscherinnen und anspruchsvolle eitle Dilettantinnen sind, ablehnend aus dem Wege gehen. Was aber speciell die junge blonde Dame betrifft, die da eines Tages das leerstehende Atelier neben dem meinen gemiethet und dabei durch ihre ruhige Sicherheit im Verhandeln mit dem Hausbesitzer nicht nur mir, sondern auch den beiden andern Malern, deren Ateliers auf den gleichen Flur stießen, bedeutend imponirt hatte, so galt von ihr im besondern jene Stelle aus ‚Schillers Mädchen aus der Fremde‘: ‚Doch eine Würde, eine Höhe entfernte die Vertraulichkeit‘.“

„Du wirst weitschweifig, Schatz.“

„Unterbrich mich nicht, Aennchen! – Als wir drei Maler, der eine war ein Thiermaler aus Berlin, der andere aus Dresden und gleich mir ein Genremaler, uns über die empfangenen Eindrücke nach einigen Tagen unterhielten, machte ich sogar den Versuch, ihr den Spitznamen ‚Das Mädchen aus der Fremde‘ zu geben; doch der Thiermaler protestirte: er habe noch nicht bemerkt , daß ‚ihre Nähe beseligend‘ sei. – Silentium, Aennchen! Du bekommst sogleich wieder das Wort. – Sie sei eben eine phlegmatische Holländerin, das sage alles. Wenn sie aber einen besonderen Ehrennamen bekommen solle, so mache er als echter Berliner einen andern Vorschlag: die ‚kühle Blonde‘– Aennchen, Du verzeihst die Indiskretion – die ,kühle Blonde‘ solle sie hinfüro heißen. Ja, schlechte Witze machen leider auch wir Maler, zumal wenn wir jung und guter Laune sind. Und wir waren ganz guter Laune in jener Stunde und waren trotz der Spötterei vom ersten Tage an sehr gut auf unsere Ateliernachbarin zu sprechen, die nicht nur blond und im Anfang wirklich etwas gar zu kühl war, sondern auch bescheiden und geräuschlos in ihrem Auftreten, klar und bestimmt in ihren Absichten und Ansichten, dankbar und empfänglich für jeden guten Rath und schließlich auch sehr gemüthlich und heiter im Umgang, wie wir es im Anfange nie für möglich gehalten. Ja, als das Fräulein nach der ersten Ferienunterbrechung etwas später als wir anderen zurückkehrte, gestand sogar der Berliner, daß das Fehlen der ‚kühlen Blonden‘, die auch seine Frau inzwischen ins Herz geschlossen habe, ihn ordentlich beunruhige, und er habe ihr unrecht gethan, sie gleiche wirklich dem ‚Mädchen aus der Fremde‘ in des Wortes schönster Bedeutung.“

Hier unterbrach aber doch nachdrücklichst den kecken Erzähler die Malerin, indem sie ihm mit dem Finger drohte.

„Die Indiskretionen und Spöttereien konnt’ ich mir noch gefallen lassen,“ rief sie, „aber so ins Angesicht sich loben und über Gebühr rühmen lassen, das geht mir wider die Natur. Es ist Zeit, daß ich Dir das Wort entziehe, damit wir wieder zur Sache kommen. Es ist wahr, ich hatte mich über die Herren nicht zu beklagen, und wenn sie mich für übermäßig kühl gehalten hatten , so belehrte ich sie bisweilen eines Besseren, zum Beispiel sobald sie sich erlaubten, sich über mein geliebtes und schönes Holland, das man in Deutschland so wenig kennt und deshalb so oft ungerechterweise lästert, lustig zu machen. Wie mir mein Mann später gestanden hat, thaten dies die schlimmen Menschen gerade erst recht, nachdem sie bemerkt, in welche Wallung die gekränkte Vaterlandsliebe mein Gemüth versetzte. Denn ich nahm noch alles für Ernst, und da unsere heimische Lebensweise von der in München üblichen recht bedeutend abweicht – nicht immer zum Nachtheil der unseren – ich daher schon so Mühe hatte, mich in all das Fremde zu finden, war ich den drei Flurnachbarn, die im übrigen ja meinen Dank verdienten, oft recht ernstlich bös darüber, daß sie durch solche Ausfälle mein Heimweh noch steigerten. Natürlich bewog mich dies erst recht, sobald die Junisonne zum Reisen lockte, meinen Weg den Rhein hinab in die Heimath zu nehmen, und ich hätte es für Verrath an dieser gehalten, wenn ich einer der Einladungen von mir befreundet gewordenen Münchner Familien gefolgt wäre, auch einmal meine Ferienzeit fern von Holland zu verbringen.“


Die Reiterstatue des Prinzen Friedrich Karl von Preußen.
Modellirt von Bildhauer Emil Steiner in Berlin.

[574] „Das hielt uns aber nicht ab, liebes Aennchen,“ fiel ihr der Gatte ins Wort, „recht gute Freunde zu werden. – Ich war der einzige von ihren näheren Bekannten , der aus eigener Anschauung das Meer kannte und ihre Freude am Rudern und jeder Art Wassersport theilte, was ich bei gelegentlichen Tagespartien an die nahen Seen von Starnberg und Tegernsee auch bewährte. Wenn wir trotzdem auch damals noch nicht unser Herz entdeckten, so war eben der kordial gemüthliche Ton unseres Verkehrs daran schuld, an den wir uns gewöhnt hatten, und ferner – die große Aehnlichkeit unserer Anschauungen und Neigungen; das Gesetz der Goetheschen ‚Wahlverwandtschaften‘ konnte sich zwischen uns gar zu wenig geltend machen. Ein alter griechischer Philosoph hat gesagt, der Streit sei der Vater der Dinge. Und die antike Mythologie macht den Kriegsgott zum Geliebten von Aphroditen und giebt beiden zum Kind Eros, den Gott der Liebe. Heutzutage unterschätzt man meist die segenbringende Bedeutung des Streits für die Liebe. Tatsächlich bringt er noch immer die Herzen schneller zusammen als Nachgiebigkeit und Friedfertigkeit. Wir aber stritten uns nie oder wenigstens fast nie. Wir hatten so ziemlich denselben Umgangskreis und trafen uns daher oft in Gesellschaft. Wenn ich durch irgend eine Behauptung zum Widerspruch gereizt ward, konnte ich sicher sein, sie auf meiner Seite zu haben, und trat wiederum sie für irgend eine Ansicht mit Begeisterung ein, so mußte ich nolens volens sie unterstützen. Nur wenn der Frühling kam und die verschiedenen Reisepläne der einzelnen zum Hauptthema wurden, dann standen wir uns oft als streitbare Kämpen gegenüber. Ich schalt es unfruchtbare Einseitigkeit und Philistrosität, bei so jungen Jahren immer demselben Landschaftsgebiet seine Motive zu entlehnen und sie nannte unsere herrliche Alpenwelt, im besondern die Oberbayerns, monoton und die Genrebilder mit den ewig lachenden Sennerinnen und den sakrisch schneidigen Bu’en langweilig im Verhältniß zu der Fülle höchster Poesie, welche das Meer und seine Uferlandschaft in all ihren Wandlungen dem kundigen Auge böten. Dann konnten wir scharf aneinander gerathen, und wenn ich in solchen Momenten ihre Augen drohend und mit flammendem Blick auf mich gerichtet sah, wenn ihre Stimme zum Dolmetsch leidenschaftlichen Empfindens wurde, dann überkam mich unversehens ein sonst nicht gekanntes Verlangen, diese trotzigen Lippen zu küssen, diese stürmisch bewegte Brust an die meine zu drücken.“

„Aber Fritz, nun werde ich ernstlich böse. Du sprichst ja wirklich von mir, wie von der Heldin einer Novelle, aber nicht, wie es sich schickt, wenn Du von Deiner Frau erzählst. Wie ich dazu gekommen, trotz allem mein Leben an das eines so ungezogenen Wildfangs zu ketten, dies zu erklären, scheint mir jetzt die dringendste Aufgabe zu sein. Damit Sie aber überhaupt dies begreiflich finden, müssen Sie sich schon die Mühe geben, ihn sich etwas rücksichtsvoller und zartfühlender vorzustellen, als er eben erschien. – Nur ruhig, Männchen! – Die Ferien standen wieder einmal vor der Thür und ein Streit von jener Art, wie mein Mann eben angedeutet, hatte hohen Wellenschlag verursacht. Er hatte mir vorgeworfen, daß ich mich in eine Antipathie gegen unser schönes Hochgebirg hineingeredet habe, die um so bedauerlicher und haltloser sei, als ich dasselbe ja gar nicht richtig kenne. Und ich hatte ihm – mit mindestens ebenso viel Berechtigung – das Gleiche vorgehalten in Bezug auf meine nordische Heimath. Als ich an jenem Abend, von dem Hausmädchen der freundlichen Professorswitwe, bei welcher ich wohnte, begleitet, die Villa des Gastgebers verließ und über die Schwanthaler Höhe meiner Wohnung zuschritt, beschäftigte mich der mir gemachte Vorwurf bald um so mehr, als ich an einer nach Süden sich frei öffnenden Stelle durch einen wunderbaren Blick auf die im Mondlicht klar vom blauen Sternenhimmel sich abhebende Alpenkette aufs angenehmste überrascht und mächtig ergriffen wurde. Ein älterer Maler, Landschafter wie ich, der mir schon immer wohlwollte, hatte so begeistert von dem größten der bayerischen Seen, dem Chiemsee, gesprochen, er hatte mir versichert, daß dessen weite Fläche mit dem erhaben schönen Kranz der Alpenberge um ihn her, obgleich ihm die Bewegung von Ebbe und Fluth fehle, dem Marinemaler die reichste Ausbeute lieblicher und bedeutender Motive erschlösse, und seine Einladung, ihn und seine Familie zum Ferienaufenthalt auf die idyllisch schöne Fraueninsel mitten in diesem See zu begleiten, erschien mir immer mehr in verlockendem Lichte. Daß mein Antagonist gesagt hatte, er würde dann auch dort sein, dieser Thatsache legte ich bei dem Vorgange wenig Bedeutung bei.

Der Wunsch, endlich einmal den leidigen Streit im Wege der Erfahrung zu schlichten, ging mir auch weiterhin nach. Briefe von daheim brachten mir die Mittheilung, daß diesmal mein Besuch mit mehreren unvermeidlichen Störungen verknüpft sein würde. Ein Bild, das ich auf Bestellung zu malen hatte und noch vor der Abreise fertigstellen wollte, hielt mich wider Erwarten lange in München zurück. Alles dies bestärkte mich in der Absicht, diesen Sommer endlich einmal die vielbegehrte Ausnahme zu machen und, statt nach Holland ans Meer, in das bayerische Hochland nach dem Chiemsee zu gehen. Aber Mittheilung davon machte ich niemand. Auch den Gastfreunden nicht, die ich auf Frauenwörth überraschen wollte, am allerwenigsten dem geehrten Herrn Ateliernachbar, der sich dann womöglich eingebildet hätte, er wäre es, der diesen Entschluß bewirkt. Er, wie seine Freunde, waren bereits ausgeflogen, als ich endlich mit nicht geringer Spannung nach dem Chiemsee aufbrach. O, wie entzückte mich der Anblick des weiten breiten Binnenmeers, dessen Spiegel so groß ist, daß seine Ufer sich nicht überblicken lassen, und das doch einen umfriedeten Eindruck macht, weil ringsherum stolze Alpenketten oder kleinere Höhenzüge sein Weichbild umrahmen. Und wie erfrischend wehte mich die kräftige Alpenluft an, die von der nahen Kampenwand herniederblies und das klargrüne Wasser des Sees lustig aufkräuselte, so daß der Einbaum, in dem ich mich aus Liebhaberei, das Dampfboot verachtend, von zwei Schiffern zu der fernen Insel hinüberfahren ließ, ganz wie bei einer Meerfahrt im Falle günstigen Windes fröhlich auf und nieder sich bäumte!

Welche Fülle malerischer Motive zeigte sich je nach der Nähe und Ferne der Ufer schon bei dieser Fahrt meinen entzückten Augen! Wie prächtig hoben sich die dunklen Laubwälder der größeren Insel Herrenwörth in die sonnige Luft und wie reizend – schön wie ein Poetentraum! – bot sich schließlich das kleine Eiland dar, auf dem neben uralten Lindenbäumen das Kirchlein des alten Frauenklosters mir entgegengrüßte! Und dann auf der Insel die Begrüßung, die festliche Bewillkommnung! Ich kam wirklich überraschend; um so unmittelbarer war der Ausdruck herzlicher Freude über mein Kommen von seiten meiner Freunde sowohl als der übrigen mir meist wohlbekannten Mitglieder der kleinen Malerkolonie, die sich in den gemüthlichen Räumen des alten Wirtshauses neben der Kirche häuslich niedergelassen hatte.

Alles übertraf meine Erwartungen. Nur in einer Beziehung fühlte ich mich enttäuscht, mehr als ich es für möglich gehalten hatte: Herr Breitinger befand sich nicht bei der Gesellschaft. Nachdem er jahraus jahrein mir von dem fidelen Künstlerleben in den Bergen vorgeschwärmt, nachdem er indirekt die besondere Veranlassung meines Entschlusses geworden war und er mir doch bei jenem Gespräch versichert hatte, daß auch er diesen Sommer hierher gehen wolle, war er nicht da! Das war doch mehr als Gleichgültigkeit. Ich beachtete nicht, daß er ja nur die Zusage für den Fall meiner Herkunft gegeben und er von dieser durch mich absichtlich nichts erfahren hatte. Wer weist, wo er nun hingegangen, sagte ich mir, und als auf ihn einmal das Gespräch kam, suchte ich möglichst unbefangen die Antwort darauf in Erfahrung zu bringen, doch ohne besonderen Erfolg; er werde wohl wieder nach Mittenwald gegangen sein, wo er schon in früheren Jahren immer am längsten ausgehalten habe, angezogen von der herrlichen Lage und dem lebhaften Volksleben des alterthümlichen Geigenmacherdorfs am Fuße des alten Karwändel. Es machte sich dann – ohne mein Zuthun natürlich, denn ich wollte nach dieser Rücksichtslosigkeit gar nichts mehr von ihm wissen – daß wir einige Wochen später einen Ausflug mehr ins Innere des bayerischen Hochgebirgs und über den Kochel- und Walchensee in das Isarthal machten, wobei wir auch in den genannten Lieblingsaufenthalt des Treulosen geriethen; aber auch hier war er nicht anzutreffen.“

„Und das war sehr natürlich,“ nahm jetzt der Maler wiederum das Wort. „Denn der Treulose verdiente diese Bezeichnung damals wahrlich am wenigsten in Bezug auf meine geehrte Vorrednerin, sondern ganz allein in Rücksicht auf sein geliebtes Hochgebirg. Mir war es seit jenem Streit eigenthümlich gegangen. In jener Mondnacht, welche so zaubermächtig auf die Entschlüsse meiner Gegnerin eingewirkt hatte, war ich noch lange in einer mir ganz neuen Verfassung in den Straßen Münchens umhergeschweift. Ich hatte [575] die Kollegin ursprünglich, wie ich es schon oft gethan, in dieser Nacht nach Hause begleiten wollen; sie war aber so plötzlich aufgebrochen und hatte mir eine so kühl ablehnende ‚Gute Nacht‘ geboten, daß ich unwillkürlich davon zurückgeschreckt und dageblieben war. Zufällig brach einer meiner Kollegen, der meine holländische Freundin schon seit einiger Zeit mit besonderer Auszeichnung behandelt hatte, kurz nach ihr auf, und als ich dann allein meinen Weg heimwärts suchte und dies sehr langweilig fand, blitzte in mir ganz plötzlich die Vorstellung auf, daß jener wohl gar sich ernstlich um ihre Neigung bemühe und statt meiner ihr Begleiter geworden sein werde. Dies machte mein Blut ganz rebellisch. Mir wurde mit einem Male klar, daß sich meine kameradschaftliche Freundschaft für sie in aller Heimlichkeit längst in Liebe verwandelt hatte. Wenn sie doch gar keine Künstlerin wäre, sondern ein Mädchen wie die andern auch, deren Wille nicht durch die Rücksicht auf einen ernsten Beruf gehemmt und geleitet werde: dieser Wunsch war mein nächster Gedanke. Und wenn schon Künstlerin, warum nicht eine Blumenmalerin wie so viele ihrer Genossinnen, statt Specialistin in der Darstellung des fernen Nordseestrandes und seiner Fluth? So aber: sie mit ihrer künstlerischen Sehnsucht nach Norden, ich mit meinem Verhältniß als Künstler zum bergigen Süden – wie sollte da ein gedeihlicher Bund zu stande kommen? Damit fielen mir die Vorwürfe auf die Seele, die ich ihr am verwichenen Abend mit etwas gar zu rücksichtsloser Entschiedenheit gemacht. Sie hatte ganz recht; was wußte ich eigentlich von Holland und seiner Küste? Meine Wissenschaft, soweit sie ungünstig lautete, hatte ich vom Hörensagen, soweit sie günstig war, aus ihren Bildern. Monoton in Bezug auf die äußerlichen Motive waren ja diese Ansichten in der That, aber welche unerschöpfliche Fülle koloristischen Reizes hatte sie dieser einfach elementaren Natur abgelauscht. Und nach den Staffagen zu schließen, war das Leben des kernigen Fischervolks dieser holländischen Küstendörfer, seine Tracht und sein Thun nicht minder malerisch als das Leben der Bauern im Hochgebirg. Es dürfte sich wirklich verlohnen, aus eigener Anschauung sich ein Urtheil zu bilden.

In der folgenden Woche bestärkten mich zwei Umstände in dieser Ansicht. Ich verkaufte ein Bild, an dem ich lange gemalt hatte, für eine ganz bedeutende Summe, und ich mußte erleben, daß meine Nachbarin mich mit auffälliger Kälte behandelte. Sie hatte immer zu thun und war in größter Eile, so oft ich sie anredete; dies war wirklich der Fall, ich aber glaubte, daß sie sich von mir beleidigt fühle oder auch gleichgültiger gegen mich werde aus Interesse für einen Andern. Eines Morgens war mein Entschluß gefaßt; noch bevor sie aufbrach, wollte ich eine Reise nach Holland antreten, und wenn sie dann in ihrem geliebten Zandvoort eintraf, so sollte sie mich dort vorfinden, eifrig bemüht, mich zu besseren Ansichten über ihr Heimathland zu bekehren. Und so reiste ich ab, ohne irgend jemand etwas von dem Ziel meiner Fahrt zu sagen – der Triumph der Ueberraschung sollte mir durch keine Indiskretion geschmälert werden. Ich hielt mich erst einige Tage in Amsterdam und im Haag auf als fleißiger und andächtiger Besucher der schönen Bildergalerien; in Scheveningen, dem luxuriösen Modebad der holländischen Küste, fand ich die Mynheeren und Mefrouwen in ihrer Art das Dasein hinzubringen, ziemlich ebenso langweilig wie das Gesellschaftsleben in allen Badeorten, wo die Plutokratie den Ton angiebt; auf einer Fußwanderung aber in westlicher Richtung durch das graugrüne Hügelland der Dünen, die ich öfter unterbrach, um mich im Segelboot weiterbringen zu lassen, da ging mir die eigenthümliche Schönheit auf, welche allerdings nur für ein geübtes Malerauge sich in diesen Küstengegenden entfaltet, während der Blick des Ungeübten nur den gelblichen Dünensand, das dunkle Grün des mächtigen Oceans und das hellere des langhalmigen Dünengrases von der Farbe des Himmels zu unterscheiden glaubt. Welche Fülle seiner Farbenschattirungen erzeugt nicht allein das wechselnde Spiel von Licht und Schatten, das der Gang der Wolken erregt!

In Zandvoort brauchte ich nur ihren Namen zu nennen und ich hatte mich der gastlichsten Aufnahme zu erfreuen. Bald war ich dahinter, eine kleine Genrescene zu malen, welche Pfeifen rauchende Fischer beim Netzestricken darstellte, während kleine muthwillige Kinder im Maschenwerk der Netze spielten. Das Meer bildete den Hintergrund. Der Gegenstand fesselte mich sehr – aber doch nicht genug, um die Ungeduld zu unterdrücken, mit der ich der Ankunft von – nun, ihrer Ankunft entgegensah. Ich hatte ja keine Ahnung, daß sie inzwischen ein Seestück malte, welches den Wellenschlag des Bayerischen Meeres, wie man den Chiemsee auch nennt, darstellte mit den bayerischen Alpenbergen im Vordergrund und einem altbajuvarischen Einbaum mit zwei jungbajuvarischen Fischerinnen zur Staffage; ebenso wenig wie sie von meiner Anwesenheit in ihrem geliebten Zandvoort. So saßen wir fern von einander und malten uns in die Anschauungswelt des andern hinein, während die Hoffnung einer baldigen Begegnung den Pinselstrich beschleunigte.

Doch die Hoffnung trog uns. Als ich mein Bild fertig hatte, suchte ich ihre Eltern in Utrecht auf und erfuhr von den freundlichen Leuten, daß ihre Tochter diesmal in die bayerischen Berge gegangen sei. Sie kannten mich durch die Erzählungen ihrer Tochter gar wohl und waren erstaunt, daß ich gerade jetzt nach Holland gekommen, wo sie nicht anwesend. Siedend heiß strömte mir das Blut in die Wangen, als ich das hörte. Welche Blamage! Welcher Hohn, welcher Verrath! Kaum, daß ich mich beherrschen konnte. Sobald ich wieder im Freien und mir selbst überlassen war, fiel ich den widerstrebendsten Empfindungen zur Beute. Ich wollte sofort sie aufsuchen und Rechenschaft fordern. Aber mit welchem Rechte? War sie nicht Herrin ihrer Entschlüsse? Ich wollte die ganze beschämende Geschichte ignoriren; aber wie hätte ich das auf die Dauer vermocht? Ich war recht unglücklich – fast wie Heimweh überkam es mich. Schließlich löste ich ein Billet nach meiner Vaterstadt und besuchte die Meinen. Dort im Schoße meiner Familie fand mein Gemüth das nöthige Gleichgewicht wieder, um mit scheinbarer Ruhe, ja sogar mit einigem Humor der schnöden Verrätherin brieflich meine Irrfahrt in ihre Heimath zu schildern, eine Irrfahrt in doppelter Beziehung, die mich auch von einem doppelten Irrthum geheilt habe, von meinem Vorurtheil gegen Holland und meiner Einbildung, daß sie mir gut sei.

Als ich dann in meine vier Wände nach München zurückgekehrt war und ich eben dabei war, eine neue Leinwand aufzuspannen, da klopfte es an die Thür …“

„Nein, nicht weiter,“ rief jetzt erregt die Nachbarin des Erzählers, die schon lange seine rechte Hand mit ihrer Linken zärtlich umfaßt hielt; „mehr brauchst Du nicht zu erzählen, Fritz. Die Geschichte ist fertig. … Ich war eben von meiner Reise ins Gebirg zurückgekehrt, hatte in meiner Wohnung seinen Brief gefunden und mit Entzücken gelesen und nun trieb’s mich zu ihm …“

„Halt, Frauchen,“ rief nun der Maler, „es ist wahr, die Geschichte ist fertig. Dieser Weg zu mir war Dein – war mein schönstes Reiseerlebniß.“

(Fortsetzung folgt.)

Todtenwacht.

Die andern jubelnd zum Ball gehen,
Ich allein bin verlassen und traurig,
Im glänzenden Saal wie sie glühend sich drehn –
Und hier stöhnt der Nachtwind so schaurig.

Großmütterlein liegt auf der Todtenbahr;
Von einsamen Kerzen zittert
Ein matter Schein um das bleiche Haar,
Um die Stirne blaß und verwittert.

Ich halte treulich die Todtenwacht,
Von fern klingt der Sang der Geigen,
Es bläst der Wind so schrill durch die Nacht,
Ums Haus tanzt ein Geisterreigen.

Gottfried Doehler.     
[576]
Dem Untergang geweiht.
Von Robert Aßmus.

Ein eisiger Nordwestwind herrschte auf dem Dünenhochplateau. Unbarmherzig schüttelte er die herbstlich belaubten Bäume und Sträucher, welche sich unter seiner elementaren Herrschaft ächzend bogen. Während am Himmel graublaue Wolken einherjagten, „wie wenn der Wolf die Herde scheucht“, sahen auch die pommerschen Landwege, welche mein Fuhrwerk im vorigen Spätherbste auf der Fahrt von Treptow über Zedlin, Lensin, Schleffin nach Hoff zu passiren hatte, ebenfalls aufs traurigste aus.

Mein Fuhrwerk wackelte im Schlamme. Selbst die Poesie der zahlreichen Windmühlen wollte in dem eisigen Sturme nicht auf mich wirken. Die Trägerinnen der pommerschen Gänsebrüste, jene göttlich junonischen Vögel, wahre Prachtexemplare, flohen laut schreiend vor meinem Wagen einher. Im übrigen umgab mich eine verlassene Landschaft in echter Herbststimmung: strohgedeckte Hütten, Teiche, Moräste, Pfütze an Pfütze, die wir aber flott durchfuhren, während mir der Schmutz ins Gesicht und auf die Kleider spritzte. Ich mußte jedoch meinem der Redaktion der „Gartenlaube“ gegebenen Versprechen nachkommen, die dem Untergange geweihte Kirche zu Hoff im Bilde der Nachwelt zu erhalten, und da hindert auch nicht das eisigste Spätherbstwetter.

„Drüben liegt Hoff,“ sagte mir der Kutscher, mit der Peitsche die Richtung angebend.

Und da lag die alte Kirche vor mir!

In weitem Kreise beherrscht sie die ganze Gegend; hoch über dem Meere thronend, auf einsamer Dünenhöhe, ragen ihre uralten ehrwürdigen Mauern empor, romantisch gelegen wie ein Schloß am Meere, denn kein Kirchthurm erinnert mehr an ihre einstige Bestimmung. Durch die Kirchenfenster zog heulend die Windsbraut, tief unten brandete wild das Meer, welches mir in Erinnerung an die auf dem atlantischen Ocean erlebten Stürme grausig und furchtbar erschien.

Das Gotteshaus soll das drittälteste Pommerns und unter Bischof Otto, der im Jahre 1124 zur Bekehrung der Heiden nach Pommern ging, erbaut worden sein. Aus dieser Zeit dürfte wenigstens der im romanischen Stile ausgeführte, jedenfalls älteste Theil der Kirche stammen, der übrigens in der Anordnung der Fenster und der neben einander befindlichen Portale sehr unregelmäßig erscheint. Innerhalb dieser Seite befanden sich die Sitze der Männer, während an der der Ostsee zugekehrten nördlichen Seitenfaçade, welche bereits die Verbindung des Rundbogens mit dem Spitzbogen zeigt, die Bänke für die Frauen standen. Die Westfaçade (auf unserem ganzseitigen Bilde sichtbar) zeigt ein im schlanken Verhältnissen erbautes gothisches Portal, mit den rechts und links die Façade flankirenden Spitzsäulen, deren Krönung vom Zahne der Zeit zerstört ist.

Von der links am Portale befindlichen kleinen Ruhebank genießt man einen herrlichen Blick auf die westlich gelegene großartige Dünenlandschaft und die Ostsee, der sich steigert, wenn die Sonne am fernen Horizonte über dem weiten Wasserspiegel der See Abschied von der Landschaft nimmt und ihre Abendstrahlen die alte braune Kirchenruine mit goldenem Lichte überfluthen.

Ein unvergeßliches Bild!

Von großer malerischer Schönheit ist der Eindruck des wahrscheinlich aus dem 15. Jahrhundert stammenden Chors mit seinen gedrungenen fünf gothischen Fenstern, unter denen sich Nischen mit Flachbogen befinden. Im ganzen wirkt der gegenwärtig völlig offene Bau übereinstimmend mit den so charakteristischen kirchlichen Backsteinbauten der baltischen Architektur, die durch das einfache Baumaterial des gebrannten Ziegelsteins Ornamente in Form von Krappen, Pässen, Kreuzblumen etc. nur spärlich zuließ. Der Bau ist schlicht in der Ausführung, klein in seinen Größenverhältnissen. Die Länge des Schiffes mißt etwa 60 Fuß, die Breite 25.

Und doch wie beredt sprechen diese vom Alter tief gebräunten Mauern, in denen so viele Geschlechter ihre Andacht verrichteten, zu uns!

Als durch den unaufhörlichen Wogendrang und die rauhe Winterkälte Scholle um Scholle aus der Umgebung der alten Kirche in die Tiefe sank und von den Wellen verschlungen wurde, gab die Regierung im Jahre 1874 Befehl, die Kirche zu schließen. Derselbe wurde unmittelbar vor dem letzten Gottesdienste am 2. August 1874 dem Geistlichen zugestellt, und ergreifend mag die Abschiedspredigt an der geheiligten Stätte gewesen sein, an welcher zahlreiche Geistliche im Laufe der Jahrhunderte das Gotteswort verkündigten.

Wohl um den Bau zu entlasten und ihn dadurch länger vor seinem Untergang, vor dem unten seiner harrenden Wellengrab zu schützen, entfernte man den Dachstuhl, sowie die flache Decke, welche früher aus einem Gewölbe bestand, das aber schon im Jahre 1616 einstürzte. In den ehemaligen aus Holz gebauten Thurm schlug während des Gottesdienstes im Sommer des Jahres 1760 der Blitz. Die beiden Glocken, darunter diejenige vom Jahre 1679, befinden sich gegenwärtig in der weiter landeinwärts erbauten neuen Kirche.

Von dem Inventar der Kirche sehen wir innerhalb derselben nichts mehr, weder Kanzel, noch Orgel, weder den Altar, noch die aus dem Jahre 1582 stammenden Chorstühle. Auch die Kirchenbänke, an denen sich plattdeutsche Inschriften befanden, sind längst verschwunden. Ein dichter Grasteppich befindet sich an Stelle des Steinbodens, statt des Kirchengewölbes scheint der Himmel auf die braunen, zum Theil getünchten Mauerreste. An einem Schlußsteine des fünffensterigen Chores erblicken wir ein altes gemaltes Kreuz der deutschen Ordensritter.

Unter der ehemaligen Apsis vor dem Altare liegen heute noch im Schoße des unterirdischen Kirchengewölbes die angeblich gut konservirten Leichen der Geistlichen und wahrscheinlich diejenigen der ehemaligen Besitzer des Dominiums. Zur Parochie der Kirche Hoff zählen noch heute elf Ortschaften; die Kirche gehört zur gleichnamigen Herrschaft, welche sich gegenwärtig im Besitze des Majors v. Keller befindet.

Früher stand die Kirche weit vom Meere entfernt, allein Jahr um Jahr verlangten Kälte und Ostsee ihren Tribut. Besonders sind es, wie mir der Lehrer von Hoff, Herr Kison, mittheilte, dem ich auch die historischen Daten über die alte Kirche verdanke, die Monate Februar bis April, welche der Kirche gefährlich werden und in denen größere Landstrecken in die Tiefe stürzen. Der Boden, auf welchem die Kirche sich erhebt, ist lehmhaltig. Tritt Thauwetter nach anhaltendem, starkem Froste ein, so löst sich das vorher gefroren gewesene Erdreich ab und

[577]

Die Kirche zu Hoff in Pommern.
Originalzeichnung von Robert Aßmus.

[578] stürzt hinab in die Fluthen. Dazu kommen die Sturmfluthen, welche das Terrain unterwaschen und es hinabreißen.

Noch im Jahre 1806 war die Kirche 48 Fuß vom Strande entfernt, während heute der Fuß des Wanderers nicht mehr im Stande ist, die der Ostsee zugekehrte Nordseite zu betreten, weil diese unmittelbar am Abhange steht. Es ist kein Fuß breit Land übrig geblieben.

Wie bald werden die alten Mauern, über denen einst Jahrhunderte lang die Kirchenglocken weit ins Land und über die See zur Andacht riefen, in denen frommer Kirchengesang zu den feierlichen Klängen der Orgel ertönte, von der unten auf ihr Opfer harrenden Ostsee für alle Ewigkeit aufgenommen werden! Wie mächtig und ergreifend mag hier der Gottesdienst auf die gläubigen Gemüther gewirkt haben, angesichts einer solch’ gewaltigen, hehren Umgebung!

Aber die Andächtigen, welche einst hier fromm zur Kirche gewallt, dem ernsten ermahnenden Worte des Geistlichen gelauscht, sie finden im Tode keine Ruhe!

Während ich nach einem geeigneten Punkte zum Zeichnen suchte, stolperte ich. Es war ein menschlicher Armknochen, der aus dem Boden ragte, und bald sah ich bloßgelegte Stellen des die Kirche umgebenden ehemaligen Friedhofs, mit Schädeln und Skeletten, welche durch das Abbröckeln des Erdreichs wieder zu Tage gelangt waren. Wohl deckt der fromme Sinn des Schullehrers diese Stätten wieder mit Erde zu, allein sie sind bestimmt, nachdem sie Jahrhunderte lang geruht, das Schicksal der Kirche zu theilen. Das Gotteshaus mit seiner längst entschlafenen Gemeinde wird bald in die gähnende Tiefe der See stürzen, und dort unten auf dem Meeresgrunde werden die Reste der Kirche vereint mit den menschlichen Gebeinen für immer von den Wogen der Ostsee zugedeckt werden.




Geheimes Photographiren.

Den rothen Bädeker kennt jedermann; er ist das Wahrzeichen des Touristen Er hat viele Konkurrenten, aber keiner dürfte ihm so ungefährlich sein wie das Buch, welches vor wenigen Wochen erschienen ist und welches wir in Abbildung unseren Lesern vorführen. Scherzweise hatte es jemand den „schwarzen Bädeker“ genannt, weil das Exemplar, das ihm gezeigt wurde, schwarz „gebunden“ war.

Der rothe Bädeker dient uns auf Reisen als getreuer Führer; der schwarze Bädeker ist auch auf Reisen zu gebrauchen, aber ein Buch mit leeren Blättern, eine Zeichenmappe en miniature, welche die besondere Eigenschaft besitzt, daß auf den 24 Blättern derselben jedermann die naturgetreuesten Bilder hervorzaubern kann, auch wenn er niemals eine Stunde Zeichenunterricht genossen. Mit Hilfe des rothen Bädekers können wir die schönsten Gegenden und die besten Hôtels aufsuchen; der schwarze Bädeker verhilft uns zu etwas anderem: er liefert uns ein Reisealbum, in welchem unsere Erlebnisse, die Punkte, die wir besucht haben, in hübschen Miniaturphotographien wiedergegeben sind.

Geheimkamera.

Es klingt vielleicht räthselhaft, was wir da sagen, aber wahr ist es, denn das schwarze Büchlein ist eben ein photographischer Apparat, eine der sogenannten Geheim- oder Detektivkameras.

Vor einiger Zeit, in Nr. 14 dieses Jahrganges, haben wir unsere Leser auf die Bedeutung der Amateurphotographie aufmerksam gemacht und den Touristenapparat von R. Lechner in Wien beschrieben. Wir haben schon damals gesagt, daß mit Hilfe ähnlicher Apparate es möglich ist, überall auf Reisen photographische Ausnahmen zu machen. Wie leicht diese Touristenapparate auch zu transportiren und zu handhaben sind, sie zwingen uns doch, uns vor der ganzen Umgebung als Photographen zu bekennen. Wir können mit denselben alles aufs trefflichste photographiren, aber unbemerkt können wir es nicht. Die Berge stehen zwar geduldig und lassen sich abkonterfeien, aber eine schmucke Sennerin, ein prachtvoller Jägerbursch, einige Landleute in ihrer eigenartigen Tracht, die bleiben nicht immer still vor dem Glase stehen. Alles konnte bis jetzt der Photograph aufnehmen, aber bei vielen Sachen und namentlich Personen brauchte er noch die Zustimmung des Besitzers oder der Person selbst … Porträts auf der Landstraße sozusagen zu stehlen, das vermochte er noch nicht.

Seit einigen Jahren ist es aber anders geworden. Sind die Lichtverhältnisse recht günstig, dann ist der Photograph im Stande, alles, was er will, zu photographiren, ohne daß jemand eine Ahnung davon hat.

Die hohe Entwickelung der photographischen Technik hat es den Erfindern möglich gemacht, kleine photographische Apparate zu konstruiren, mit deren Hilfe deutliche Momentaufnahmen unbemerkt erzielt werden. Die Idee ist unseres Wissens in Amerika entstanden und dort erhielten auch die Apparate den Namen: Detektivkamera. Den Apparaten wird zumeist eine äußere Form gegeben, die ein photographisches Instrument nicht vermuthen läßt.

J. de Neck hat z. B. den sogenannten photographischen Hut erfunden. Im Inneren des Hutes befindet sich der Apparat versteckt; die Aufnahme selbst geschieht durch einen leisen Zug an einer Schnur, welche vom Hute herabhängt und den gewöhnlichen Haltern an den Hüten, die eine Entführung derselben durch den Wind verhüten sollen, ähnlich sieht. Der photographische Hut, eine interessante Spielerei, wird auch in Deutschland vertrieben.

Ein anderer Typus der Detektivkamera ist die Stirnsche Geheimkamera, die bereits in 10 000 Exemplaren verbreitet ist. Sie hat die Form einer runden Scheibe von der Größe eines Desserttellers. Das Objektiv ragt in einer trichterförmigen Einfassung aus der Scheibe hervor. Man verbirgt die Stirnsche Geheimkamera unter der Weste und steckt das Objektiv durch das Knopfloch. Eine schwarze Schnur, die mit dem Momentverschluß des Apparates in Verbindung steht, läßt man unter dem Westenrande hervorschauen. Soll die Aufnahme gemacht werden, so braucht man, nachdem man die richtige Stellung eingenommen, nur an der Schnur zu ziehen.

Taschenbuchkamera.

Mit dieser Geheimkamera können je nach der inneren Konstruktion derselben 6 oder 4 Aufnahmen gemacht werden, bis man nöthig hat, sich wieder in die Dunkelkammer zu begeben und die Kamera von neuem mit Trockenplatten zu füllen. Die Photographien, die man auf diese Weise erzielt, sind rund, etwa so groß wie ein silbernes Fünfmarkstück.

Das Neueste und zugleich vielleicht das Originellste auf dem Gebiete der Geheimkameras ist aber der Apparat, von dem wir als von dem „schwarzen Bädeker“ im Eingang gesprochen haben, und der von Haake und Albers in Frankfurt am Main in den Handel gebracht wurde. Er heißt mit seinem wirklichen Namen „Krügeners Taschenbuchkamera“ und ist nur viermal so groß wie die beistehende Abbildung desselben.

Vor allen uns bekannten Apparaten dieser Art hat er den Vorzug, daß er mit der bedeutenden Zahl von 24 Trockenplatten gefüllt werden kann. Wir sind also im Stande, mit ihm 24 Aufnahmen zu machen, bevor wir uns in die Dunkelkammer begeben und den Plattenwechsel besorgen müssen. Und wie rasch nach einander können die Aufnahmen erfolgen! Die Taschenbuchkamera ist in der That ein photographisches Magazingewehr.

Wir wollen dessen Handhabung kurz erklären.

Die runde Oeffnung (links) in der Mitte der vorderen Kante führt zu der Objektivlinse. Hinter dieser Oeffnung befindet sich der Momentverschluß. Wir spannen ihn, indem wir an dem oberen linken Knopfe ziehen, bis es ein wenig knackt. Nun ist das Gewehr schußfertig. Wir gehen auf die Straße, auf die photographische Jagd. Bald ist ein Opfer auserlesen; es naht uns, es kommt auf etwa 6 Schritt an uns heran; gleichgültig halten wir das „Buch“ unterm Arm, die Oeffnung des Objektivs dem zu Photographirenden zuwendend; wir ziehen nun an dem Knopfe der unteren Seite; es knackt wieder leise in dem Apparat; die erste Aufnahme ist fertig und der Ahnungslose photographirt!

[579] Wir rüsten uns sofort zur zweiten Aufnahme. Wir fassen den rechten oberen Knopf, ziehen an ihm einen Stift empor und schieben ihn wieder hinein; dadurch wird im Innern des Apparates die vorhin belichtete Platte in das sogenannte untere Magazin hineinschoben und aus dem oberen eine frische in die Mitte vor die Objektivlinse geschoben. Zweier Griffe hat es nur bedurft, und wir sind zur zweiten Aufnahme bereit. So können wir dieses einfache ABC 24 Mal wiederholen.

Und die Photographien? Sie sind ebenso groß wie die der Stirnschen Kamera, nur daß sie viereckig sind, kleine Quadrate von 4 cm Breite. Sind die Aufnahmen gelungen, so gewähren die kleinen Bildchen viel Freude, sie lassen sich aber bei Benutzung entsprechender Apparate um das Mehrfache vergrößern.

Wir alle haben heutzutage sogenannte Reisealbums, Sammlungen von Photographien, die wir an Orten gekauft, welche wir bereist haben. Sie bereiten uns viel Freude; mehr Vergnügen wird aber derjenige empfinden, der über ein selbstgemachtes Reisealbum verfügt. Solche Albums sind heutzutage keine Seltenheit mehr.

Die Geheimkameras aber stehen keineswegs ausschließlich im Dienste der Unterhaltung, sind nicht allein zum Zeitvertreib da.

Sie sind auch für den ernsten Reisenden, der wissenschaftliche Zwecke verfolgt, von hoher Bedeutung; sie ermöglichen ihm, auch in solchen Gegenden Aufnahmen zu machen, wo die Bevölkerung nicht „sitzen“ will und vor dem photographischen Apparat Reißaus nimmt. Die Geheimkameras sind auch für Künstler von großem Werth, die ihre Mappen mit leichter Mühe mit trefflichsten Motiven bereichern können. Ernsten Zwecken überhaupt verdanken sie ihre Entstehung.

Die großen verstellbaren Apparate, von denen wir in unserem Artikel „Die Amateurphotographie“ berichtet haben, können sie nicht ersetzen. Aber sie bedeuten einen wesentlichen Fortschritt und werden mit der Zeit sicher noch mehr vervollkommnet werden. „Noch mehr?“ ruft vielleicht die Leserin, die mir bis jetzt geduldig gefolgt ist. Nun, sie, die ihres reizenden Gesichtchens sich nicht mehr sicher dünkt, möchte ich doch beruhigen. Zu Momentaufnahmen ist heller Sonnenschein oder wenigstens ein lichter Tag nöthig. Im Zwielicht kann uns keine Geheimkamera etwas anthun; und im Dunkeln ist gut munkeln, dabei bleibt’s noch immer – trotz aller schwarzen Bädeker und Momentphotographen.

C. Falkenhorst.     

Blätter und Blüthen.

Reiterstatue des Generalfeldmarschalls Prinz Friedrich Karl von Preußen. (Mit Illustration S. 573.) Wir geben hier eine Abbildung dieser Reiterstatue, welche auf dem Friedrich-Karl-Platz zu Steglitz bei Berlin errichtet werden soll und zu welcher in diesem Frühjahr bereits das Granitpostament gelegt worden ist, so daß die Enthüllung des Denkmals wohl in nicht zu ferner Zeit zu erwarten ist. Der zu früh verstorbene Feldmarschall, der tapfere und sieggewohnte Reitergeneral, der in den Feldzügen von 1866 und 1870/71 als Heerführer so glänzende Lorbeeren geerntet, ist hier dargestellt in Husarenuniform, den Feldmarschallstab in der Hand, auf hoch sich bäumendem Rosse, welches über eroberte Kriegstrophäen hinwegsetzt, ein Bildwerk, welches den ganzen feurigen Schwung athmet, der sich mit der Gestalt dieses kühn vordringenden, kampfesmuthigen Helden verknüpft, der zugleich seiner Armee ein kundiger Führer war.

Der Schöpfer des Kunstwerkes, der schon vorher vortreffliche Porträtbüsten des Prinzen geliefert, ist der Bildhauer Steiner in Berlin, ein hervorragender Künstler, mit dem sich die Presse weniger beschäftigt hat, weil er Ausstellungen selten beschickte, da er meistens bestimmte Aufträge auszuführen hatte. Doch den Besuchern der Paläste, der Parks, der Rathhäuser sind seine Werke nicht fremd geblieben.

Bildhauer Emil Steiner.

Wir erwähnen die Porträtbüsten deutscher Heerführer in Marmor, Bronze etc. im Parke zu Babelsberg, im Kadettenhause zu Lichterfelde, in Hohenschwangau, Darmstadt, im Hohenzollernmuseum, in den Forts zu Straßburg, in den Offizierkasinos zu Köln, Posen, Stettin, Breslau oder in den Rathhäusern vieler Städte. Was den Statuenschmuck der Façaden großer Paläste anbelangt, so brauchen wir nur auf die Riesen am Palaste Pringsheim in Berlin hinzuweisen, die nach Steiners Modellen gemeißelt wurden und durch Nachbildungen weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt geworden sind. Dasselbe gilt von den Statuen am Rathhause zu Stettin, am Kriminalgericht Moabit, am Ministerium der öffentlichen Arbeiten und am Reichspostgebäude in Berlin. So war es begreiflich, daß der Vorsitzende des Centralkomités für das Prinz-Friedrich-Karl-Nationaldenkmal sich an den Künstler wandte, dessen Entwurf des Denkmals den Beifall der Mehrzahl der beisteuernden Fürstlichkeiten in hohem Grade gefunden hatte.

Doch auch Steiners freie Phantasieschöpfungen, denen die Kritik Sicherheit der Formbehandlung und echt plastischen Stil nachrühmt, zeugen für des Künstlers Meisterschaft: sein Abadonna, eine Gestalt, die er zuerst für die Plastik erobert, sein graziöses Rosenmädchen Atthis, seine schöne Gruppe Rheingold. Er beabsichtigt, nächstens ein Skizzenbuch herauszugeben, welches alle diese freigeschaffenen Gestalten enthält. Auch als Dichter und kulturgeschichtlicher Schriftsteller ist Steiner aufgetreten.
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Verloren gegangen. Die „Gartenlaube“ hat schon so oft mit Erfolg Verlorene gesucht, die der Strom des Lebens fortgerissen, daß sie den Augen der Zurückbleibenden entschwanden, um, an ferne Küsten verschlagen, von der Heimath sehnsuchtsvoll zu träumen, daß ich hoffe, sie leiht nicht allein Menschen, sondern auch einem verloren gegangenen Meisterwerke aus deutscher Hand ihren Beistand. Es handelt sich nämlich in diesem Falle um eine räthselhaft verschwundene Geige des Geigenerfinders Tieffenbrucker, den man bekanntlich italienisirt und in der Musikgeschichte Duiffopruggar genannt hat. – Es war vor wenigen Wochen, als ich in der Werkstatt des ebenso bescheidenen wie tüchtigen Geigenbauers Völker zu Hannover, der auch durch wunderbaren Zufall, über Holland, ist den Besitz eines Receptes des altitalienischen leuchtenden Geigenlacks gerieth, eine nach alten Zeichnungen und Maßen von ihm mit höchster Feinheit und Sorgfalt gefertigte Kopie der berühmtesten der fünf Geigen Tieffenbruckers sah. Das Original selber aber ist zuverlässigen Mittheilungen zufolge zuletzt im Besitze eines alten Musikers in Aachen gewesen, der es nur Sonntags zur musikalischen Messe im alten Dom zu spielen pflegte. Auf dem Boden dieses hochinteressanten Instrumentes war unten das aus verschiedenen Holzarten kunstvoll geschnittene und eingelegte Bild einer Stadt zu sehen, oben die Form der ersten Geigen mit ihrem Bogen, eingefaßt von Zweigen, die sich wie ein Kranz um die Zeichnung legen. Die Zargen tragen die sinnreiche Inschrift: „Viva fui in sylvis, dum vixi tacui, mortua dulce cano.“ („Ich lebte damals in Wäldern – als ich lebte, schwieg ich, jetzt, da ich todt bin, singe ich lieblich.“) Die herrliche Schnecke aber zeigt den schön geschnittenen, ausdrucksvolle Kopf eines bärtigen Mannes, nach aufgefundenen Notizen das Selbstporträt des Tieffenbruckers. Der Ton eben dieser Geige soll von wahrhaft zauberischer Schönheit gewesen sein. Vier der andern Geigen dieses deutschen Geigenerfinders sind nachweisbar in Privatbesitz – wohin ist nun diese fünfte, allem Anschein nach vollkommenste gerathen? Sie verschwand spurlos mit der Gestalt des alten Musikers in Aachen. Wer hilft sie suchen? –
Elise Polko.     

Auch ein Opfer der Ueberschwemmungen. Fällt das Hochwasser, so läßt es auf Wiesen oft breite Tümpel und Lachen zurück, die im Lauf des Sommers allmählich austrocknen. Viele derselben beherbergen eine große Zahl von Jungfischen, die ohne Dazwischenkunft des Menschen dem sichern Untergange geweiht sind. Der oberpfälzische Kreis-Fischereiverein hat ist diesem Jahre mit Zustimmung der betreffenden Besitzer die Tümpel in den Donauwiesen bei Regensburg ausfischen lassen und bis Ende Juni gegen 15 000 Stück Fischbrut gerettet und wieder in die Donau gebracht. Da in diesem Jahre in so vielen Gegenden Deutschlands Ueberschwemmungen stattgefunden haben, so kann man annehmen, daß auch in anderen Gegenden die Verhältnisse ähnlich liegen wie bei Regensburg, und die „Deutsche Fischerei-Zeitung“ empfiehlt allen Interessenten, sofort in ihren Bezirken Nachschau zu halten. Wir möchten unsere Leser auf diesen Umstand aufmerksam machen, damit künftig die Fischbrut, auch ein Opfer der Ueberschwemmungen, gerettet werde.

Eine Blume. (Mit Illustration S. 569.) Eine reizende Menschenblume, bei der einem wohl der Ausdruck Heines einfallen mag: „Die Blumen, deine Schwestern,“ und der man eine Blüthe als Symbol wie von selbst in die Hand denkt. Wir würden freilich eine andere als die der Tulpe wählen, hätten wir eine so anmuthige Zeitgenossin symbolisch auszustaffiren. Allein die Holländer des 17. Jahrhunderts dachten über die Tulpe anders als wir; sie war ihr Blumenideal, der Gegenstand äußerster Bewunderung, Pflege, Verschwendung. Giebt es eine passendere Blume für die schlanken Finger einer Mädchenschönheit aus jener Zeit? Man ließ sich in der That damals wohl mit einer Tulpe in der Hand malen, und das hat Meister Beyschlag der Zeit abgelauscht, deren Kostüm er für die Studie wählte. [580] Ein berühmter Fußgänger hat vor kurzem in der deutschen Reichshauptstadt seinen Wohnsitz genommen. Es ist der Afrikaforscher Schweinfurth, der bisher ständig sich in Kairo aufhielt. Tüchtige Fußgänger sind alle Afrikaforscher überhaupt; denn dort muß man zu Fuß vordringen, und die wenigsten der Reisenden haben weitere Strecken auf Ochsen duchritten oder Stromfahrten unternommen. Schweinfurth war jedoch der erste, der in seine Fußtouren eine systematische Ordnung brachte. Er zählte die zurückgelegten Schritte. Die Noth brachte ihn auf diesen Gedanken, derart die Wege zu messen. Ein Brandunglück beraubte ihn fast sämmtlicher Vorräthe und dabei gingen auch seine Taschenuhren verloren. Da zählte er seine Schritte, studirte sie und fand, daß die gewohnheitsmäßige Schrittlänge des Wanderers immer so ziemlich dieselbe bleibt. Die Schweinfurthsche variirte je nach Beschaffenheit des Pfades zwischen 0,6 bis 0,7 Meter. Die Zählmethode war folgende: Es wurde immer nur bis 100 gezählt und die einzelnen Hunderte an den Fingern abgelesen. Wenn 500 voll war, so wurde auf dem Notizblatt ein Strich gemacht, das zweite 500 gab alsdann einen Strich in die Quere, so daß ein Kreuz entstand, welches 1000 bedeutete. In den sechs Monaten, welche die Rückreise dauerte, zählte Schweinfurth auf diese Weise 1¼ Million Schritte. Ein Kapitel seines Musterwerkes „Im Herzen von Afrika“ schließt mit den bezeichnenden Worten. „Am 19. Februar begrüßte ich nach neunundvierzigtägiger Abwesenheit und nach einer Wanderung von 876 000 Schritten meinen alten Freund Chalil.“

Dieses Schrittzählen, das zur Skizzirung der Landkarten dem Gelehrten beinahe als einziges Mittel übrig geblieben war, zeugt gewiß von einer seltenen Ausdauer; denn auf dem Marsche mußte nicht allein gezählt, sondern auch beobachtet werden.

Was kostet ein Kanarienvogel? Deutschland züchtet alljährlich Hunderttausende Kanarienvögel, die zum großen Theil in das Ausland, namentlich nach Amerika, gesandt werden. Die zur Ausfuhr bestimmten Vögel werden in der Regel mit 3 Mark für den Kopf bezahlt; im Einzelverkauf in Deutschland beträgt der Durchschnittspreis 10 Mark. Die besseren Sänger machen natürlich eine Ausnahme; es werden für dieselben 20 bis 50 Mark bezahlt; ja, es sind Fälle bekannt, daß für einzelne Vögel 100 Mark und mehr gegeben wurden. Die höchsten Preise werden jedoch in Nordamerika erzielt. Fast unglaublich klingt es, daß dort einzelne ausgezeichnete Exemplare für 1000 Dollar (über 4000 Mark) verkauft wurden. Kein Wunder darum, daß die Kanarienvogelzucht für viele eine reiche Quelle der Einnahme bildet. Für St. Andreasberg wird von W. Böcker-Wetzlar („St. Andreasberg und seine Kanarienzucht“, Verlag von A. Schröter in Ilmenau) die jährliche Einnahme der Züchter mit 200 000 Mark berechnet. 600 Familien beschäftigen sich nebenbei mit derselben und einzelne beziehen aus ihren Hecken eine größere Einnahme als aus ihrem Haupterwerbszweige.

Scherz-Aufgabe.

Die Buchstaben des Wortes LICHTENSTEIN sind so in die Fächer der nebenstehenden Figur zu vertheilen, daß in jedem Fach ein Buchstabe steht, und zwar soll von den Buchstaben nichts hinweggenommen werden. Wie ist dies zu bewerkstelligen?

Auflösung der Hieroglyphen auf S. 548:

     Das Edle zu erkennen ist Gewinst,
     Der nimmer uns entrissen werden kann.
(das edle zu erkennen ist gewinst
der nimmer uns entrissen werden kann)

Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

R. B. in Schlegel. Denselben Uebelstand, über den Sie klagen, finden Sie in vielen Gegenden Deutschlands. Alljährlich wird von lebensgefährlichen oder tödlichen Verwundungen durch den Biß der Kreuzotter berichtet, aber es wird nichts unternommen, um diese Giftschlange auszurotten. Auch H. Lachmann, der treffliche Kenner unserer einheimischen Schlangen, rügt diesen Umstand in seinem soeben erschienenen Werke „Die Giftschlangen Europas“ (Magdeburg, Creutzsche Verlagsbuchhandlung). Nach seinen Angaben soll nur in den Reichslanden von seiten der Behörden ein Vorgehen zur Vertilgung der Giftschlangen stattfinden. Bedenkt man, daß für den Abschuß von Raubthieren, welche die Jagd und die Fischerei schädigen, Prämien ertheilt werden, so muß man sich wundern, daß die sehr gefährliche Kreuzotter nicht energischer verfolgt wird.

Fr. Kl. in Heidelberg. Den von Ihnen erwähnten Artikel über die „Leipziger Puppendoktorin“ mit Bild (nicht: „Berliner Puppen-Klinik,“ wie Sie irrthümlich angaben) finden Sie im Jahrg. 1874, Nr. 49, Seite 786. Leider besteht dieses Leipziger Puppenlazareth, wie wir bereits in dem Artikel „Aus den Geheimnissen der Puppentoilette“ in Nr. 2 dieses Jahrgangs mittheilten, nicht mehr, da dessen Leiterin gestorben ist. Die Puppendoktorin, welche Jahre hindurch mit Aufopferung und liebevollem Verständniß für die Gebrechen der Kleinen das Leben manches wachsbleichen oder porzellanköpfigen Patienten zu fristen vermochte, hat ihre erfolgreiche Thätigkeit inmitten ihrer Schutzbefohlenen plötzlich einstellen müssen.

E. B. in Lahr. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.

Leserin in H. Die von der Association of German Governesses (16 Wyndham Place, Bryanston Square, London W.) veranlaßte „Sammlung zur Abtragung der Bauschuld des Sanatoriums deutscher Lehrerinnen in England“ hat ein so dankenswerthes Resultat ergeben, daß nunmehr die Bauschuld nahezu getilgt und die Sammlung geschlossen worden ist. Die „Gartenlaube“ gedachte des Vereins im vorigen Jahrgang in dem Artikel „Deutsche Gouvernanten in England“ (S. 706).


Soeben ist erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Gartenlaube-Kalender
für das Jahr 1889.
Vierter Jahrgang.
14 Bogen 8° mit zahlreichen Illustrationen.
Preis elegant gebunden 1 Mark.
Aus dem reichen Inhalte des Gartenlaube-Kalenders für das Jahr 1889 heben wir hervor:
Gruß an die Leser. Von Viktor Blüthgen.Doktor Puppke. Humoreske von B. Renz.Onkel Leos Verlobungsring. Von W. Heimburg.Um hohen Preis. Musikhistorische Novelle von Moritz Lilie.Eine Obstfabel. Von Oskar Justinus.Die neue Reichsgesetzgebung (Wehrgesetz, Wahlgesetznovelle, Vogelschutzgesetz u. s. w.). Von Hermann Pilz.Vom Büchermarkt. von R. v. Gottschall.Die erste Hilfe gegen Masern, Diphterie und Scharlach. Von Dr. M. Taube.Eine Rhein- und Weinfahrt. Von Emil Peschkau.Rückblick auf die Tagesgeschichte. Von Schmidt-Weißenfels.Die Fürsorge für blinde, taubstumme und andere unglückliche Kinder.Die im Deutschen Reiche geltenden Verjährungsfristen für Klagen und Forderungen. von Hermann Pilz. – Statistische, volkswirtschaftliche u. s. w. Notizen und Tabellen. Rathschläge für Haus-, Garten- und Landwirtschaft. – Post- und Telegraphentarif nebst den einschlagenden Bestimmungen in bisher nirgend gebotener Vollständigkeit und Uebersichtlichkeit. – Uebersicht der Garnisonsorte des deutschen Heeres nebst Servisklasseneintheilung. – Jahrmarktsverzeichnis, Blätter und Blüten, Humoristisches u. s. w. u. s. w. Eine große Anzahl vorzüglicher Illustrationen von A. Müller-Lingke, G. Hahn, F. Defregger, R. Püttner, Fritz Bergen, G. Gerlach, F. Wahle u. a.
Die wachsende Verbreitung, deren sich unser Gartenlaube-Kalender zu erfreuen hat, machte es unmöglich, von Jahr zu Jahr mehr zu bieten und den Kalender für 1889 unter Beibehaltung des überaus billigen Preises von nur 1 Mark durch gesteigerte Reichhaltigkeit und Gediegenheit des Inhalts, sowie durch geschmackvolle Ausstattung zu einem kleinen Prachtwerk von dauerndem Wert zu gestalten.
Gartenlaube-Kalender 1886–1888 ist zum Preise von 1 Mark für den Jahrgang ebenfalls noch zu haben.
Bestellungen auf den Gartenlaube-Kalender 1889 wolle man der Buchhandlung übergeben, welche die Gartenlaube liefert. Postabonnenten erhalten den Kalender in jeder Buchhandlung oder gegen Einsendung von 1 Mark und 20 Pf. (für Porto) in Briefmarken direkt franko durch die
Verlagshandlung von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.