Die Gartenlaube (1887)/Heft 45
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No. 45. | 1887. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.
Die Geheimräthin.
Johanna starb vor fünfzehn Jahren, als ich schon verheirathet war,“ begann die Geheimräthin, nachdem Perser sich
niedergelassen hatte. „Erst kurz vor ihrem Tode hat sie mir das Geheimniß offenbart, an welchem sie schwer getragen und welches
verschuldet hat, daß sie nicht als Frau gestorben ist, ja vielleicht, daß sie überhaupt so früh hat dahingehen müssen. Nachdem ich
Wittwe geworden, auch meine Eltern nicht mehr lebten und dieses Haus längst in fremdes Eigenthum übergegangen war,
erfaßte mich ein unbezähmbares Verlangen, wieder in der ehemaligen Wohnung der Meinen zu leben."
„Wie segne ich diesen Entschluß,“ konnte sich Perser nicht enthalten, sie zu unterbrechen, „ich bin dadurch veranlaßt worden, die alte Treppe wieder emporzusteigen, in diesen Räumen mich wieder umzusehen, wo ich allein in meinem ganzen armseligen Leben etwas empfunden habe, was man Glück nennen kann. Könnte ich Ihnen schildern, gnädige Frau, wie mir bloß durch das Bewußtsein, wieder hier zu sein, zu Muthe ist! Sie würden vielleicht die Vergangenheit todt und begraben sein lassen, um einem Menschen, der sich niemals seines Daseins hat freuen können, einen süßen Augenblick nicht in Gift zu verwandeln.
Es war nicht gerade Unwahrheit, aber doch eine Selbsttäuschung in dieser Bemerkung Perser’s. Seine Lage voll demüthigender Sorgen allein hatte ihn beschäftigt, als er über die Schwelle getreten, aber der Anblick dieser Frau ihm wirklich die Empfindungen ins Herz gebracht, die er eben äußerte. Er empfand sogar noch mehr, als er äußerte. Er sagte sich, daß diese Frau ihm den Eindruck einer wunderbaren Schönheit mache, die ihn um so mehr entzücken mußte, als sie eben die Reife hatte, daß er in seinem Alter von fünfzig Jahren diese Schönheit auf sich wirken lassen konnte, ohne sich lächerlich vorzukommen.
Brigitta Forstjung hatte ihn bei den stürmisch und zugleich elegisch vorgebrachten Berufungen auf seine unglückliche Vergangenheit und die Süßigkeit des Momentes mit Befremden und Aufmerksamkeit betrachtet, und es war, als ob sie ihm Zeit lassen wollte, Stimmungen und Gedanken, die sich seiner bemächtigt hatten, wie sein Anblick deutlich verrieth, zur Ruhe zu bringen; denn erst nach langem Schweigen sagte sie:
„Ich habe mich jahrelang mit dem Entschluß getragen, Sie zur Rede zu stellen, wenn ich Ihnen jemals wieder begegnete; ich habe mir im Geiste die Worte vorgesprochen, in die ich meine Vorwürfe und Beschuldigungen kleiden wollte. Man giebt nicht in einer Minute auf, was man eine Ewigkeit lang zu thun sich vorgesetzt hat. Wie war es Ihnen möglich?"
Er senkte das Haupt, erhob es aber gleich wieder und äußerte frisch und munter, daß man mit fünfzig Jahren von selbst gesühnt habe, was man mit fünfundzwanzig Jahren begangen haben mag.
„Uebrigens, Frau Geheimräthin,“ fügte er hinzu; „ich habe zwar immer nur mit einem dunklen Gefühl von Reue an
[742] Johanna gedacht, aber ich weiß nicht mehr recht, was sich zugetragen hat; erzählen Sie mir meine Sünden.“
Joachim von Tartarow, ein sehr schlichter und wenig gebildeter Landedelmann, der mit seiner Familie erst seit einigen Jahren in der großen Stadt gelebt hatte, war sehr bekümmert gewesen, daß seine Tochter Johanna einen Freier hatte zurückweisen wollen, der sich erst hier eingefunden, zwar gewöhnlich in der Provinz gehaust hatte, aber nach der Meinung des alten Herrn ein ganz ausgezeichneter Mann von höchst vornehmen Manieren und umfassender Bildung gewesen wäre. Ja, der Vater hatte der Tochter anvertraut, der Freier sei in seinen freien Stunden bis zu der Schwärmerei sich aufzuschwingen fähig, Gedichte zu machen.
Johanna hatte ihn gleichwohl trocken, langweilig und ohne Verständniß für Kunst und Wissenschaft gefunden, jedoch die Möglichkeit eines Irrthums zugegeben, weil sie ihn noch zu wenig gekannt hatte. Er war nämlich bald, nachdem er seine erste Werbung vorgebracht, wieder nach seiner Provinz gegangen. Auffallend lange, nachdem er geschieden, war ein Brief von ihm gekommen, welchen Johanna mit großen Augen gelesen. Das Schreiben hatte sich in einer Ausdrucksweise bewegt und Gedanken enthalten, wohl geeignet, ein ideal gestimmtes Mädchenherz zu entzücken.
Rasch war Johanna an die Beantwortung gegangen, um nur wieder einen ähnlichen Brief zu erhalten. Dieser war auch abermals nach geraumer Zeit eingetroffen, und die Korrespondenz hatte sich einige Monate lang fortgesetzt, bis Johanna sich gestanden, daß, wenn ihr auch die Persönlichkeit nicht gefallen, Geist und Gemüth des Mannes keine abweisende Behandlung verdienten.
Da war eines Tages wieder ein Brief gekommen, eben so glänzend in der Ausdrucksweise und in den Gedanken, nur seltsamer Weise mit ganz anderen als den bisher gebrauchten Schriftzügen. Ein wenig Nachsinnen – und schreckliche Klarheit war dem Mädchen aufgegangen: sie hatte die ihr aus Briefen an ihren Vater wohl bekannte Handschrift Ludwig von Perser’s vor Augen.
Der unglückliche Freier war durch ein Versehen sein eigener Verräther geworden; er hatte statt seiner Kopie das ihm von Perser eingeschickte Original in das Kouvert gelegt.
Der Schlag war für das Mädchen um so empfindlicher gewesen, als eine stille, tief verhüllte Neigung für den jungen Baron lange schon von ihrem Herzen Besitz genommen, eine um so energischer bekämpfte Neigung, als dem jungen Mädchen nicht unbekannt geblieben, daß Perser’s ganze Seele mit einer schönen Engländerin beschäftigt gewesen. Der seltsame Freier war jetzt natürlich rund abgewiesen worden.
Als die Geheimräthin diese Geschichte vorgebracht, wurde Perser in anderer Richtung davon bewegt, als seine Anklägerin erwartete. Statt sich für schuldig zu erklären, sprach er nur mit den Gefühlsausbrüchen der angenehmsten Erinnerung vom Vater Johanna’s und Brigitta’s, von Joachim von Tartarow. Perser schilderte die große Verehrung und Liebe, die er für den alten Herrn gehegt, dessen Kummer über die fortdauernde Sprödigkeit seiner ältesten Tochter und dessen stets wiederholte Versicherung, daß sie an der Seite des Mannes, der eben um sie geworben, die glücklichste aller Frauen werden mußte, den damals so jungen und zu Abenteuern gestimmten Baron auch allein bewogen hatten, die Fälschung mit den Briefen einzuleiten und durchzuführen.
Bei der Schilderung des alten Herrn sowie der Vorkommnisse der damaligen Zeit wurde Perser in der That weich, und Brigitta konnte sich allmählich des großen Reizes nicht erwehren, den das Bild des eigenen Vaterhauses auf sie übte. Es war, als ob sie in der Darstellung Perser’s erst mit Bewußtsein erlebte, was an dem Kinde ohne dessen Verständniß vorüber gegangen war. Ein wehmüthiges und doch zugleich traulich anheimelndes Gefühl milderte die ablehnende Strenge, die sie bisher dem Verräther an ihrer Schwester entgegengesetzt hatte. Es geschah sogar, daß sie hellauf lachte, als er ihr einzelne Persönlichkeiten, die damals hier in denselben Räumen ein- und ausgegangen waren, in Erinnerung brachte.
Unter diesen Erscheinungen war auch Albert Glowerstone, der schon im ersten Jahre, welches Perser im Kreise der Familie Tartarow verbracht, manchmal sein Gast gewesen war. Bei diesem Namen wurde Brigitta plötzlich ernst, suchte aber den Wechsel der Stimmung zu verbergen, auch veränderte sich dieselbe wieder, als Perser auf den Vater des Hauses zurückkehrte, auf den alten Joachim, dessen Wesen, Gewohnheiten und überschwängliche Herzensgüte der Sprechende mit so rührenden Farben ausmalte, daß die Tochter sich nun ungehemmt einer milden und sanften Regung überließ.
Dies benutzte Perser, um den bisher verschwiegenen Zweck seines Erscheinens zu enthüllen; er erwähnte der beiden Zimmer, die er damals bewohnt hatte, und fragte, ob es richtig wäre, daß die Geheimräthin geneigt sei, diesen Theil der Wohnung abzugeben.
Sie dachte einen Augenblick nach, ehe sie erwiederte:
„Ich habe Mühe, die Wandlung in mir selbst zu begreifen. Den Mann, dem ich so sehr gezürnt habe, soll ich hier aufnehmen? Ich will mich aber eines Gefühles von Pietät nicht schämen. Sie waren einst der Gast der Liebsten, die ich auf Erden besaß, Sie haben mir die ehrwürdige Gestalt meines Vaters vergegenwärtigt; Sie zeigten eine Verehrung und Liebe für ihn, die mir im Herzen wiederklingen – möge es denn sein!“
Sie erhob sich und zog an der Klingelschnur. Dann sagte sie:
„Die Verbindungsthür mit meiner Wohnung habe ich längst vermauern lassen. So bildet jener Theil, den Sie beziehen wollen, ein für sich ganz abgeschlossenes Quartier, das schon von der Treppe aus seinen besondern Eingang hat. Niemand kann wissen, daß Sie eigentlich bei mir wohnen.“
Die Kammerfrau trat ein, worauf die Geheimräthin fortfuhr: „Elise wird Sie mit allen Details bekannt machen. Ich habe die Räume nach modernem Geschmack einrichten lassen für den Fall, daß ich einen Miether fände, der mir konvenirt. Es ist nicht ganz der Fall“ – fügte sie mit einem Lächeln hinzu, um die Unfreundlichkeit des Wortes zu mildern – „aber besichtigen Sie die Zimmer, ob Sie darin den wünschenswerthen Komfort finden; Elise wird Ihnen alles Nötige sagen.“
Sie nickte zum Abschied, und Perser wollte sich nach einigen Worten des Dankes und einer Verbeugung entfernen, als sie, da er schon an der Thür war, seinen Namen rief. Sie sprach nicht sogleich, sie schien mit sich selbst zu kämpfen oder die Worte, die ihr auf den Lippen lagen, abzuwägen. Endlich sagte sie:
„Sie haben von Albert Glowerstone gesprochen. Sind Sie noch gegenwärtig mit ihm befreundet? Wissen Sie, wo er sich aufhält?“
Perser erwähnte kurz, was er vor etwa fünf Jahren aus einem Briefe Glowerstone’s vernommen hatte, daß dieser in nicht gerade glänzenden Verhältnissen als Wittwer und Vater einer Tochter am Rhein lebte.
„Ich selbst,“ setzte er hinzu, „habe ihn seit einem Vierteljahrhundert nicht wieder gesehen. Ach, man sollte einen solchen Ausdruck gar nicht im Munde führen, man macht sich dadurch so alt.“
„Albert Glowerstone hat also eine Tochter?“ rief Brigitta mit einer Art von Schrecken, sie faßte sich aber und sagte verabschiebend: „Es ist gut.“
Perser schied.
Er fand einen zum Behagen herabgestimmten Luxus in den beiden Gemächern und erschrak nur ein wenig über den Preis, den ihm die Kammerfrau nannte. Was thut’s? dachte er, ich muß mich auf die Lauer legen, irgendwo eine Geldquelle für mich ausfindig zu machen.
Als er am nächsten Vormittag, von einem zu diesem Zweck veranstalteten Streifzug in seine neue Wohnung zurückkehrend, in das Thor trat, hielt vor dem Hause ein elegantes Koupé, aus dem ein junger Mann heraussprang, in welchem Perser sogleich den Legationsrath Malköhne wieder erkannte. Das Koupé fuhr davon, nachdem der Besitzer dem Rosselenker ein Wort zugerufen, und der Legationsrath stieg dieselbe Treppe hinan wie Perser. In der zweiten Etage klingelte Malköhne an der Thür der Geheimräthin, und Perser fühlte den Neid, mit dem er einen Blick auf diese allem Anschein nach glückliche und behagliche [743] Existenz geworfen, bedeutend verstärkt durch die Ermächtigung des jungen Mannes, bei Brigitta einzutreten.
Siegfried Malköhne war etwa sechsundzwanzig Jahre alt und gehörte einer wegen ihrer Millionen allgemein bekannten Banquiersfamilie an. Diese war von jüdischer Abkunft, aber schon der Großvater des jetzigen Stammhalters zum Christenthum übergetreten. Der jüngste Sohn, Siegfried, der Liebling seines Vaters, war von Jugend an allen kaufmännischen Pflichten und Aufgaben entzogen und dazu bestimmt worden, die großen Konnexionen des reichen Hauses mit den hochgestellten Persönlichkeiten der Gesellschaft in vollem Maße zu verwerthen. So war er nicht nur ein vielgesuchter Gast in den vornehmen Kreisen, sondern hatte es auch nach kaum vollendeten Rechtsstudien zum Legationsrath im Ministerium des Aeußern gebracht. Von ihm sollte gewissermaßen, nach der Meinung seines Vaters, ein neuer Zweig der Familie ausgehen, ein Geschlecht, das von Hause aus allen Handelsgeschäften entfremdet wäre und seinen Anfang in der Politik, in der Diplomatie hätte. Zu diesem Zweck wurde Siegfried von seiner Familie gedrängt, das Schnupftuch auszuwerfen, wie man sagt, das heißt unter den schönsten und vornehmsten Töchtern des Landes zu wählen. Der Adel, den er noch nicht besaß, war kein Hinderniß, sich für seine Wahl in den Kreisen des Adels umzuschauen, denn der Reichthum, über den er verfügte, hätte ihm nicht nur, wenn er gewollt, den Adelsbrief verschafft, sondern ließ über den Mangel desselben Diejenigen hinwegsehen, welche ihn schon besaßen, wäre es auch seit ältester Zeit. Diese älteste Zeit wird in diesem Punkte gerade von der neuesten Zeit verlacht.
Niemand wußte sich zu erklären, weßhalb Siegfried Malköhne nicht schon längst gewählt hatte. Er war den Frauen freundlich gesinnt, und an Proben, daß auch sie es ihm waren, fehlte es keinen Tag. Die einzige Erklärung wäre der ungewöhnlich ernste Sinn des jungen Mannes gewesen, seine Neigung zur Wissenschaft, sein für seine jugendlichen Jahre fast zu gemessenes Verhalten. Allein er war andererseits ehrgeizig und wußte sehr wohl, daß ein verheiratheter Mann, der seine Salons der großen Welt öffnet, viel rascher Karrière macht als ein Junggeselle, besonders wenn jene Salons zugleich die ganze Pracht und allen Luxus einschließen, worauf unsere Zeit so begierig ist. Das Geheimniß seiner Zurückhaltung war nicht bloß die Befürchtung, seines großen Vermögens wegen geheirathet zu werden, obgleich sie ihn allerdings mit unablässigem Mißtrauen erfüllte. Das Geheimniß seiner Zurückhaltung war vornehmlich die verwittwete Geheimräthin Brigitta Forstjung. Er hatte die um zehn Jahre ältere Frau schon in seinem einundzwanzigsten Lebensjahre, also schon vor fünf Jahren kennen gelernt, als ihr Gatte noch gelebt, ein Beamter aus der Provinz und ganz nach dem problematischen Geschmack des verewigten Joachim von Tartarow. niemals war der Zauber, den gerade auf begabte Jünglinge eine ältere Frau übt, mächtiger gewesen, als bei der Begegnung Siegfried’s mit der Geheimräthin. Auch sie hatte sich sagen müssen, daß er ihre erste Liebe war, und so streng das Verhältniß bei Lebzeiten des Gatten in den Grenzen der Konvenienz geblieben – die Wittwe hatte wenigstens so weit ihrem Gefühle nachgeben müssen, daß sie täglich den Besuch des jungen Mannes empfing. Darin lag jetzt der ganze Reiz ihres Daseins, der Brennpunkt ihrer Gedanken, wenn sie sich auch äußerlich als eine vortreffliche Zeichnerin viel mit der Anfertigung von Portraits und Studienköpfen beschäftigte.
Es waren harmlose Besuche, die ihr Malköhne abstattete, so zu sagen, bei offenen Thüren. Brigitta’s ungewöhnlicher Verstand eignete sie sehr zur Vertrauten und selbst zur Rathgeberin bei Behandlung der zartesten Fäden, welche Politik und Diplomatie dem viel beschäftigten und aufstrebenden jungen Manne in die Hand spielten. Von ihrer beiderseitigen Zukunft wurde niemals gesprochen, mit dem leichten frohen Sinn der Jugend glaubte Siegfried, daß die gegenwärtige Situation, die ihn so ganz befriedigte, für immer erhalten werden könnte. Anders war es bei Brigitta; sie war nach Temperament und praktischer Denkungsweise nicht dazu angethan, mit ihrem Dasein in der Schwebe bleiben zu wollen. Insgeheim hatte sie sich einen Zeitpunkt bestimmt, in welchem es entweder zur Erfüllung ihrer heißesten Wünsche oder zu einem immerwährenden Bruch kommen sollte.
Der letztere kam ihr in Rücksicht auf den Unterschied der Jahre sehr wahrscheinlich vor. So wollte sie denn nur noch den ungefährlichen Verkehr, wenigstens bis zu der bestimmten Zeit, ohne Störung fortsetzen können. Es war ihr schon ein Glück, bis dahin an seine Anhänglichkeit, an seine ungeschworene Treue glauben zu können. Als aber das Drängen der Familie Malköhne in den jüngsten Sprößling, daß er endlich eine Wahl treffe, heftig genug wurde, um ihn selbst noch in Gegenwart Brigittas zu verstimmen, als er ihr, die nichts davon geahnt, sein Herz darüber ausschüttete, da wähnte sie, schon jetzt wäre der gefürchtete Augenblick des Bruches gekommen. Wie war sie überrascht und beseligt, als er zum ersten Male erklärte, sich in seinem Leben nicht von ihr trennen zu wollen! Vor der Welt, klagte er, könne der Bund noch nicht geschlossen werden, noch seien Kombinationen zu berücksichtigen, und nichts dürfe übers Knie gebrochen werden. Allein es würde ihm das Dasein schon ganz ausfüllen, wenn er der Neigung Brigitta’s für alle Zukunft gewiß sein könnte, worüber sie sich noch niemals ausgesprochen hätte.
Wie wäre es ihr möglich gewesen, diesem Geständniß, das sie zum ersten Male vernahm, nicht auch ihr eigenes, zum ersten Male offenbartes entgegenzubringen! Indessen folgte dem gewaltigen Sturm des Momentes wieder die frühere Besonnenheit und Ruhe. Sie sagten sich, daß sie glücklich in ihrem bisherigen Verkehr gewesen und daß sie an dem Frieden desselben nichts ändern wollten. Er vertraute ihr, wie bisher, die Angelegenheiten seines Amtes sowie die Erfahrungen, die er in Gesellschaftskreisen eingeheimst hatte, freute sich ihres Verständnisses in schwierigen Fällen und ihres Lachens, wenn er sich einer pikanten Medisance überließ. So waren wieder zwei Jahre dieses harmlosen Glückes hingegangen, als vor einigen Wochen der Geheimräthin zum ersten Male ein Umstand auffiel, der sie beunruhigte. Siegfried hatte von einer Bekanntschaft gesprochen, auf die er großes Gewicht gelegt und deren eigentliche Bedeutung er doch nicht anzugeben gewußt hatte. Ein Gutsbesitzer vom Rheine, der den Namen Albert Glowerstone führte, war nach der Hauptstadt gekommen, um beim Minister eine Begünstigung hinsichtlich der Arrondirung seines kleinen Besitzthums zu erlangen. Die Sache war ganz unbedeutend, bot kein geschäftliches Interesse und dennoch konnte Siegfried nicht müde werden, von den Einzelheiten dieser Sache zu sprechen, obgleich er mit Glowerstone, der übrigens bereits wieder abgereist war, niemals eine persönliche Begegnung gehabt hatte.
Dies wiederholte sich seit der ersten Erwähnung fast jeden Tag, und Brigitta, scharfsinnig und voll Angst im Bewußtsein, wie schwankend ihr Glück war, wenn sie den Unterschied der Jahre bedachte, kämpfte mit einem Heer von Zweifeln und Besorgnissen. Ein mächtiger Eindruck hatte unbestreitbar auf Siegfried gewirkt, und schon der Umstand, daß sie nicht über die Art desselben von ihm Klarheit erlangen konnte, verdarb ihr das gewohnte Glück. Dies war es auch, was sie im Gespräch mit Perser so stutzig gemacht, als dieser den Namen Glowerstone genannt, das war es, weßhalb sie sich nach einem inneren Kampfe entschlossen hatte, eine Frage über jenen Namen an Perser zu richten. Und sie hatte von ihm selbst eine Auskunft erhalten, die ihr Malköhne offenbar absichtlich verschwiegen: Albert Glowerstone besaß eine unverheirathete Tochter. Hatte sie ihren Vater nach der Hauptstadt begleitet oder sollte der Legationsrath von diesem Umstand wirklich keine Kenntniß haben? Das Letztere schien Brigitta zweifelhaft. Die instinktive Eifersucht, die Angst um ihr, wie sie sich oft selbst sagte, „zitterndes Glück“ wollten ihr die Ueberzeugung eingeben, daß bei dem unverkennbar starken Eindruck der Begegnung mit Glowerstone auf Malköhne ein Weib im Spiele sein müsse. Darüber hatte Siegfried jedoch geschwiegen: der erste Verrath, den sie von ihm erlebte. Klarheit mußte sie sich schaffen und doch konnte sich ihr Stolz, ihr weibliches Ehrgefühl nicht so tief demüthigen, eine direkte Frage darüber an ihn zu richten.
Die Nacht war ihr in solchen Erwägungen schlaflos hingegangen. Am nächsten Tage erschien Malköhne, auf der Treppe von Perser gesehen und beneidet. Der Legationsrath war sehr heiter, er trug ein in Sammet und Seide gehülltes Päckchen in der Hand. Brigitta, die sonst jede Konversation mit dem Aeußerlichsten und Zufälligsten begann, was sich gerade darbot, hätte unter andern Umständen ihre Aufmerksamkeit gewiß zuerst auf das Päckchen gerichtet. Bei den in ihr wogenden Gefühlen und
[744][745] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [746] Gedanken jedoch sah sie, ohne zu sehen, nur gespannt, aus dem Munde des theueren Mannes etwas zu vernehmen, was geeignet gewesen wäre, sie von ihrer stummen Qual zu erlösen.
Er entfaltete, was er in der Hand trug, und es zeigten sich allerliebste Arbeiten aus dem Atelier der Goldschmiedekunst, mit Edelsteinen besetzte Nippessachen für den Tisch, die Etagère und die Plattform über dem Kamin.
„Ich habe einen schrecklichen Verrath begangen,“ sagte er lächelnd, und das Lächeln hinderte nicht, daß Brigitta erschrak und ein Geständniß erwarten zu können glaubte. Allein es war anders gemeint. Er war bei einer Dame ihrer Bekanntschaft vor einigen Tagen zu einem kleinen Diner gewesen, und die Dame hatte ihm einige pikante Stellen aus einem Briefe Brigitta’s vorgelesen. Der Legationsrath hatte es diplomatisch anzufangen gewußt, den ganzen Inhalt des Briefes kennen zu lernen, und daraus ersehen, daß Brigitta bei Carmisoli Umschau gehalten. Im Briefe war genau beschrieben, was sie entzückt hatte und was ihr viel zu theuer gewesen, um es anzuschaffen. Das Beschriebene lag nun vor Brigitta, und weil sie in ihrer gedankenvollen Zerstreutheit noch immer nicht recht verstand, was damit beabsichtigt war, beugte er unter scherzenden Worten ein Knie und legte ihr das Mitgebrachte zu Füßen.
Er nahm keinen Anstoß daran, daß sich ihre Züge nicht erhellen wollten, daß ihr Lächeln und ihr Dank fast den Anstrich von Geistesabwesenheit hatten. Beide waren lange schon auf dem Punkte, Alles ohne Scheu von einander anzunehmen, und welcher Strom lachender Worte hätte ihm zu andern Zeiten sein Geschenk vergolten! Er achtete nicht der kühlen Aufnahme; er war unverkennbar von seinen eigenen Angelegenheiten ganz erfüllt.
„Denken Sie, Brigitta,“ sprach er, sich nicht wieder setzend, sondern im Zimmer umher gehend; „ich muß den Gang gestern zu Carmisoli wie ein Schicksal betrachten; aber es steckt eine lange Geschichte dahinter und ich bin so ungeduldig, daß ich mir allen Effekt verderbe und die Pointe gleich an den Anfang stelle.“ Er ließ sich jetzt neben ihr auf dem Sofa nieder und ergriff ihre Hand.
„Wissen Sie, theure Brigitta,“ sprach er sichtbar mit einiger Beklommenheit; „wissen Sie, was dieser Kram eigentlich bedeuten soll?“
Er nahm die Sachen vom Boden auf, stellte sie in einer gewissen Ordnung auf den Tisch und fügte hinzu:
„Das Spielzeug soll Sie an mich erinnern in meiner Abwesenheit, ich verreise.“
Die Geheimräthin erblaßte. In den fünf Jahren ihrer Bekanntschaft hatten sie sich niemals so weit getrennt, daß sie an verschiedenen Orten gelebt hätten. Wenn er im Sommer Urlaub nahm, dann reisten sie zwar getrennt, aber nur, um sich in Tirol oder in einem Seebad des Nordens gleich wieder zusammenzufinden. Selbst ihre regelmäßigen Zusammenkünfte, wenn sie in der Stadt waren, erfolgten fast täglich und nur die passenden Stunden wurden nach Umständen gewechselt. Der Ruf der Geheimräthin hatte unter dieser langen treuen Verbindung nicht gelitten, zunächst, weil mit großer Geschicklichkeit allgemein der Glaube erweckt worden war, sie sei eine ältere Verwandte Siegfried’s, eine Art Tante, sodann, weil, wo diese Annahme nicht ausreichen wollte, die Welt für die Ausdauers, die konsequente Treue eines Verhältnisses, das sich jahrelang hinzieht, ohne durch einen Zwischenfall von sich reden zu machen, immer nachsichtig und tolerant ist.
Zum ersten Male stand der Geheimräthin eine Trennung bevor. Sie zwang sich aber zur Gelassenheit in ihrer ersten Gegenrede:
„Das steht gewiß in Zusammenhang mit Ihrem neuen Abgott, Albert Glowerstone.“
Er lachte und behauptete, der Abgott sei eine der langweiligsten Kreaturen auf dieser Erde.
„Ich.muß gestehen,“ plauderte er, „daß ich ihm vielleicht Unrecht thue. Denn selbst gesprochen habe ich ihn gar nicht, ihn immer nur aus der Ferne beobachtet, weil ich drauf bedacht war, daß er mich nicht in meiner wahren Eigenschaft kennen lerne. Es gehört dies zu der politischen Intrigue, die mich so sehr beschäftigt.“
Mit anscheinendem Gleichmuth fragte Brigitta, weil sie jetzt den richtigen Moment dazu gekommen glaubte:
„War dieser Mann vom Rheine mit dem englischen Namen ganz allein in der Hauptstadt, ohne irgend eine Begleitung seiner Angehörigen?“
Eine Sekunde lang blitzte das Auge Siegfried’s in einem auf Brigitta gerichteten Blicke der Befremdung.
„Ich weiß nur, daß er während seines Aufenthaltes hier ganz allein gewohnt hat, wie ein Junggeselle,“ war die ruhige Antwort. Nach einer kurzen Pause setzte Siegfried seine Mittheilungen fort:
„Sie haben errathen, Brigitta, daß der Fall mit Glowerstone großen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich habe Ihnen niemals etwas Thatsächliches verschwiegen, das in mein Leben eingriff. Aber durch bloße Kombinationen fürchtete ich, Sie zu langweilen. Nun hat sich aber endlich etwas Faktisches ergeben; es veranlaßt sogar meine Abreise und so wuß ich Ihrer Langeweile Trotz bieten und Sie müssen Alles hören.“
Vom Nordpol bis zum Aequator.
Land und Leute zwischen den Stromschnellen des Nil.
(Fortsetzung.)
Während des niederen Wasserstandes treibt der nach und nach entstandene Buschwald neue Zweige; während der Nilschwelle überfluthen die Wogen Insel und Wald. Höher und höher schwillt der Strom; heftiger und stärker drängen die Wogen: die Weiden beugen sich ihnen, klammern sich aber um so fester zwischen den Felsen an. Monatelang begräbt sie der Schwall bis auf einzelene Zweige, welche noch über die sprudelnde und zischende Fläche des Wasserspiegels emporragen; ihre Wurzeln aber haften fest, und mit neuem Lebensmuthe sprossen die Gesträuche, sobald die Hochfluth wiederum sich verlaufen hat. An solchen Stellen der grausigen Wildniß bemerkt man auch thierisches Leben, wie man es an anderen Stellen des Nilthales beobachtet. Im Weidichte hat ein und das andere Paar der lebhaften und schreilustigen Nilgans sich angesiedelt, auf dem Felsen daneben eine zierliche Bachstelze Wohnung genommen; von den Uferwänden hernieder klingt der Gesang der Blaumerle oder des Trauersteinschmätzers; um die blühenden Mimosen macht sich der erste Tropenvogel, welchem man begegnet, ein prächtiger Honigsauger, zu schaffen; dann und wann stößt man auch wohl auf ein Volk kleiner zierlicher Felshühnchen. Alle die genannten und noch einige andere mehr bilden die spärliche thierische Bevölkerung des Felsenthales, und nur während der Zugzeit gesellen sich ihr oft sehr zahlreich auftretende Vogelheere, welche dem Strome, ihrer Heerstraße nach dem Innern Afrikas, folgen und dabei hier oder dort im Thale ausruhen von der Reise. Sie aber eilen so schnell als möglich von dannen, weil das Felsenthal nicht im Stande sein würde, sie auch nur für einige Tage zu ernähren: begreift man doch oft kaum, wie jene ihr tägliches Brot finden.
Und dennoch sind sie nicht die einzigen Siedler in dieser Wasserwüste. Es giebt auch Menschen, welche letztere ihre Heimath nennen. In meilenweiten Abständen stößt man auf eine dürftige Strohhütte, in welcher ein Nubier mit seiner Familie sein armseliges Leben verbringt. Eine kleine, mit fruchtbarem Schlamme ausgefüllte Bucht zwischen den Felsenwänden des Ufers, vielleicht sogar nur ein an letztere angeklebtes Schlammbeet, bilden das kärgliche Besitzthum, welches er bewirthschaftet. Im ersteren Falle ist er ein Reicher, verglichen mit dem Armen, welcher nur über ein derartiges Beet verfügen kann. Mit Lebensgefahr schwimmt letzterer zu den vom Gebirge aus unerreichbaren Uferstellen, an [747] denen der fallende Strom Schlamm absetzte, und besamt die eben wasserfrei gewordene Schicht mit Bohnen; einige Tage später, nachdem der Strom inzwischen etwas tiefer gesunken ist, wiederholt er seinen Besuch und die Aussaat, und so fährt er fort, so lange die Fluth fällt. Daher sieht man auf solchem, mit der Stromsenke stätig sich verbreiternden Felde Bohnen in allen Zuständen ihres Wachsthums; und eben so nimmt man wahr, daß der genügsame Landwirth gleichzeitig mit Aussaat und Ernte beschäftigt ist. Unter den allergünstigsten Umständen gestattet eine tiefer einspringende, mit Nilschlamm ausgefüllte Bucht die Anlage eines Schöpfrades zur Bewässerung eines wenige Ar umfassenden Feldes, und der glückliche Besitzer desselben ist dann im Stande, eine Kuh zu halten, also wenigstens erträglich zu leben, obwohl er immer noch als so arm erachtet werden muß, daß selbst die ägyptische Regierung nicht wagt, ihm Steuern aufzubürden. Solche Stellen aber sind selten, Oasen in dieser grausigen Wüste. Der stromaufwärts segelnde Schiffer begrüßt jeden Strauch, einen Palmbaum mit ersichtlicher Freude, ein Bohnenfeld, vielleicht das Ziel tagelanger Hoffnung, mit Jubel, ein Schöpfrad mit Dank gegen den Allbarmherzigen. Denn nicht bloß die Furcht kann sein muthiges Herz kennen lernen in diesem Felsenthale, sondern auch bitterer Mangel ihm schwere Heimsuchung bringen, ja sogar die Gefahr zu verhungern ihm drohen, wenn er nicht für Monate mit Nahrung sich versorgte.
An seiner südlichen Grenze geht das Felsenthal fast unvermittelt in den fruchtbarsten Landstrich Mittelnubiens über. Ein von zwei Wüsten eingeschlossenes, schmales Seebecken mit mehreren großen Inseln inmitten des Stromes, welches der letztere mit seinem Schlamme ausfüllte, ebenso wie er die Inseln aus solchem aufbauete, nimmt den Wanderer auf. Zwar zeigt es noch immer nicht allen Reichthum der Gleicherländer, bekundet aber doch deren Frische und Lebendigkeit in einzelnen pflanzlichen und thierischen Erscheinungen. Kaum unterbrochene Palmenwälder, in denen die köstlichsten Datteln der Erde reifen, begrenzen gegen die noch wüstenhaften Steppen hin diese liebliche Oase, in welcher die Arbeit des Ackerbauers durch reiche Ernten belohnt wird. Christusdornen und verschiedene Mimosen, welche man bisher noch nicht beobachtete, lassen erkennen, daß man den Wendekreis überschritten hat. Dem genannten Honigsauger gesellen sich andere Vögel des inneren Afrika.
Allein auch dieses Stück amnuthige Erde ist eng umgrenzt. Schon unterhalb der Trümmer des Tempels von Bankal tritt das noch immer öde und unfruchtbare Gebirge wiederum an den Strom heran und verdrängt eben so das Fruchtland wie die Wüstensteppe. Die letzte Stromschnellengruppe liegt vor dem zu Berge ziehenden Reisenden. So unsäglich arm wie das Felsenthal ist das Gebiet der dritten Stromschnelle nicht; gut bebaute, wenn auch schmale Feldstreifen zu beiden Seiten und kleine fruchtbare Inseln inmitten des Stromes verscheuchen den Eindruck trostlosen Mangels, welchen jenes hervorruft. Die Felsmassen der Ufer sind zerklüfteter als jene des Felsenthales und reich an sogenannten Steinmeeren, jenen wirr und wild über einander gethürmten Hügeln und Wällen aus Blöcken und Rollsteinen, wie sie gewaltige Ströme zurücklassen, wenn sie ihr Bett tiefer eingraben in das von ihnen ausgewaschene Thal. Zu beiden Seiten des Stromes, meist auf der Höhe der vorderen Berge des Ufers, sieht man Blöcke von mehr als hundert Würfelmeter Inhalt, welche so lose auf unverhältnißmäßig kleiner Unterlage ruhen, daß sie bei heftigem Winde schwanken und mit Hilfe von Hebeln durch die Kraft weniger Menschen abgewälzt werden können. An vielen Stellen sind diese Steinmeere so wundersam zusammengesetzt, als ob müßige Laune riesiger Kobolde gewaltet habe, um alle die Kegel und Pyramiden, Wälle und Mauern zu erbauen, welche im wirren Durcheinander die Uferberge krönen. Mehr aber noch als diese Bauten, des Stroms verleihen alte Bauwerke von Menschenhand der dritten Stromschnellengruppe ein besonderes Gepräge. Auf allen geeigneten Felsvorsprüngen der Ufer, insbesondere aber auf größeren Felseninseln, erheben sich Gebäude mit Umfassungsmauern, Thürmen und zackigen Zinnen, wie solche anderswo im Nilthale nicht bemerkt werden. Es sind Festungswerke früherer Tage, Burgen gewesener Häuptlinge der Anwohner des Stromes, welche errichtet wurden zu Schutz und Trutz, um Leben und Habe vor den feindlich andrängenden Nachbarstämmen zu sichern. Roh über einander geschichtete, meist ausschließlich mit Nilschlamm vermörtelte, unbehauene Steine bilden die Grundmauern und Wälle, dicke, gegenwärtig größtentheils verfallene oder verfallende Wände aus lufttrockenen Schlammziegeln den Oberbau gedachter Burgen, welche weniger durch ihre Bauart als durch die Kühnheit der Anlage fesseln. Aus der Mitte des rauschenden Stromes z. B. steigt ein nackter, tiefschwarzer, glänzender Felsen auf, dessen Gipfel solche Feste trägt. Wild umbrausen die Wogen seinen Fuß; aber unerschütterlich widersteht er dem Schwalle, und sicher trägt er das ihm anvertraute Schutzhaus des Menschen. An seiner stromabwärts liegenden Seite hat er die Wellen beruhigt und dadurch, Dank dem allbelebenden Strome, neuen Schmuck gewonnen. In dem stillen Wasser lagerten sich im Laufe der Zeiten fruchtbare Schlammschichten ab, und eine Insel entstieg allmählich den Fluthen; der Mensch bemächtigte sich des fruchtbaren Eilandes, pflanzte die Palme und legte Felder an, und so entstand auf und hinter dem Felsen ein freundliches Bild der Sicherheit und Wohnlichkeit, welches gerade durch seinen Gegensatz zu der umgebenden unruhigen und öden Wasser- und Felsenwüste ergreifend wirkt.
An der südlichen Grenze der dritten Stromschnellengruppe beginnen die Steppen und Waldungen der Wendekreisländer Afrikas, in denen nur hier und da Felsen an den erstarkten Strom und seine größeren Zuflüsse herantreten. Ueber einhundert geographische Meilen weit durchfließen Abiadt und Asrakh, der weiße und blaue Nil, fruchtbares fast ebenes Land; dann erst finden sich wiederum einige Stromschnellen. Sie aber gehören nicht mehr zu dem Bilde, welches ich in seinen gröbsten Umrissen zu zeichnen versuchte. Nubien allein ist das Land der Katarakte des Nil.
Es mag dahingestellt bleiben, in wie fern und in wie weit der Nubier durch seine Heimath beeinflußt oder zu dem gemacht wurde, was er ist: so viel aber kann nicht in Abrede gestellt werden, daß er sich von dem heutigen Aegypter, seinem Nachbar, eben so bestimmt unterscheidet, wie seine Heimath von der des Aegypters verschieden ist. Beide haben mit einander nichts gemein, weder Gestalt noch Hautfarbe, weder Abstammung noch Sprache, weder Sitte noch Gebräuchlichkeit, kaum selbst den Glauben, obwohl der eine wie der andere heut zu Tage das Bekenntniß ablegt: „Es giebt nur einen Gott und keinen Propheten Gottes außer Mohammed.“
Die Aegypter von heute sind Mischlinge der alten Aegypter und der eingewanderten arabischen Horden aus Jemen und Hedjâs, welche sich mit den früheren Einwohnern des unteren Nilthals verquickten, die Nubier Abkömmlinge der „wilden Blemmyer“, mit denen die Pharaonen des alten, mittleren und neuen Reiches wie die ägyptischen Herrscher der Ptolemäer fortdauernd und keineswegs immer siegreich kämpften. Jene reden die Sprache, in denen Mohammed’s „Offenbarungen“ niedergeschrieben wurden, diese eine gegenwärtig in mehrere Zweige zerfallende Mundart des Altäthiopischen; jene pflegen ein uraltes Schriftthum; diese haben wohl nie ein solches gehabt, welches in ihrer eigenen Sprache wurzelte. Jene bekunden noch heute den Ernst der alten Aegypter wie der Söhne der Wüste, von denen sie entstammen, denken mit der allen Morgenländern innewohnenden Angst während ihres ganzen Lebens an das Jenseits und regeln nach ihren Träumen von demselben Sitten und Gebräuche; diese haben sich die heitere Lebensfreudigkeit der Aethiopier bewahrt und leben wie Kinder in den Tag hinein, das ihnen Wohlthuende ohne Dank, das ihnen Schmerzliche mit lauter Klage entgegennehmend, und das Eine wie das Andere unter dem Einflusse des Augenblicks leichtfertig vergessend. Auf Beiden lastet gleichschwer das Joch des Fremdherrschers: der Aegypter aber trägt es stöhnend und grollend, der Nubier gleichmüthig und ohne zu murren; jener ist ein verbissener Sklave, dieser ein williger Diener. Jeder Aegypter dünkt sich hoch erhaben über den Nubier, hält sich, seiner Abstammung, Sprache und Sitte halber, für edler, als dieser in seinen Augen es sein soll, prahlt mit seiner Bildung, obgleich solche nur wenigen seines Volkes zugesprochen werden darf, und sucht den dunkelfarbigen Mann eben so unbedingt zu unterdrücken, als er selbst widerstandslos der auf ihm lastenden Knechtschaft sich fügt; der Nubier erkennt die leibliche Ueberlegenheit des Aegypters im Allgemeinen, die geistige Bildung hervorragender Männer des Nachbarvolkes willig an, scheint sich kaum bewußt zu sein, daß ihm eigene Bildung mangelt, ist zwar auch geneigt, den minder [748] begabten oder weniger kräftigen Innerafrikaner zu unterjochen, stellt sich aber selbst mit dem erkauften Neger auf brüderlichen Fuß und ergiebt sich anscheinend geduldig in das ihn bedrückende Verhängniß, nachdem er vergeblich versuchte, im Ringen mit der Uebermacht Sieger zu sein. Er ist noch heutigen Tages Naturmensch mit jeher Faser seines Wesens, während der Aegypter als trauriges Abbild eines verkommenen und mehr und mehr verkommenden Volkes erscheint. Jener hat sich auf dem unergiebigsten Boden der Erde noch immer eine gewisse Freiheit bewahrt; dieser ist auf der reichsten Scholle zum Sklaven geworden, welcher schwerlich jemals seine Ketten abzuschütteln, obwohl er noch immer ruhmrredig von seiner großen Vergangenheit spricht.
Und dennoch hätten die Nubier wohl eben so viel, wenn nicht mehr Recht, von den Großthaten der Väter zu berichten, sie rühmend hervorzuheben und an ihnen sich zu stählen, als die heutigen Aegypter. Denn jener Vorfahren haben nicht allein mit den Pharaonen und Römern, sondern auch mit Türken und Arabern, den Herrschern und Beherrschten des neuzeitlichen Aegyptens, wacker gekämpft und sind letzteren nur deßhalb unterlegen, weil ihnen die furchtbare Feuerwaffe fehlte. Noch lebten zur Zeit meiner ersten Reise in den Nillanden Augenzeugen jener Kämpfe, aus deren Munde mir Kunde dieser wurde, so, wie ich sie jetzt getreulich wieder erzählen will, um einem mannhaften, vielfach verkannten Volke wenigstens in einer Beziehung gerecht zu werden. Die Begebenheiten, um welche es sich handelt, fallen in die ersten Jahre des dritten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts.
Nachdem Mohammed Aali, der eben so thatkräftige wie rücksichtslose, selbst grausame Begründer der heut zu Tage Aegypten regierenden Herrscherfamilie, im März des Jahres 1811 die von ihm eingeladenen Häupter der Mameluken treulos überfallen und niedergemetzelt hatte, schien seine Herrschaft über das untere Nilland gesichert zu sein. Aber noch war der stolze Kriegerstand, dessen Häuptlinge jener durch schändlichen Verraths und nichtswürdige Treulosigkeit vernichtet hatte, nicht vollständig unterjocht worden. Rachebrütend erwählten die Mameluken neue Führer aus ihrer Mitte und zogen sich zunächst nach Nubien zurück, um hier sich zu sammeln, von hier aus den tückischen Feind aufs Neue zu bekämpfen, mindestens zu bedronen. Mohammed Aali erkannte die Gefahr und säumte nicht, ihr zu begegnen. Sein Heer folgte den noch zerstreuten Scharen der Mameluken auf dem Fuße nach. Dies, zu schwach, um Feldschlachten zu wagen; mußten sich in Festungen werfen und fielen in ihnen, mit Todesverachtung verzweiflungsvoll kämpfend, bis auf den letzten Mann. Gleichzeitig mit ihnen wurden auch die Nubier besiegt und, weil sie den Siegern sich fügten, zur Knechtschaft verurtheilt. Einzig und allein der tapfere Stamm der kampfgeübten Scheikie trat im Jahre 1820 den türkisch-ägyptischen Kriegern beim Dorfe Korti gegenüber: ein heldenmüthiges, regelloses Volk mit Lanze, Schwert und Schild siegverwöhnten, regelrecht eingeübten, mit Feuerwaffen ausgerüsteten Soldaten. Wie von altersher waren auch die Frauen mit ihren Kindern während der Schlacht zugegen, um durch gellende Schlachtrufe zum Kampfe anzufeuern, den kämpfenden Vätern ihre mit den Armen emporgehobenen Kinder zu zeigen und sie so zu todesmuthigem Vorgehen zu entflammen.
Wohl stritten die Nubier ihrer Väter würdig; wohl drangen sie bis zu dem Tod und Verderben in ihre Reihen schleudernden Geschützen vor; wohl hieben sie mit ihren langen Schwertern auf die vermeintlichen Ungeheuer, tiefe Eindrücke der Schneide ihres Schwertes in den einzelnen Röhren hinterlassend: aber die Aegypter siegten; – nicht ruhmvolle Tapferkeit, sondern Uebermacht der Waffen entschied. Unter schrillendem Wehegeschrei der Weiber ergriffen die braunen Männer die Flucht. Jene aber erfaßte wilde Verzweiflung: rühmlichen Tod schmachvoller Knechtschaft vorziehend, drückten sie ihre Kinder an das Herz und stürzten sich mit ihnen zu Hunderten in den vom Blute ihrer Gatten gerötheten Strom. Den Fliehenden wehrten die Wüsten zu beiden Seiten des Stromes, Zufluchtsstätten zu erreichen, und so blieb ihnen endlich nichts Anderes übrig, als sich zu ergeben und den bisher stolz und aufrecht getragenes Nacken unter das Joch der Ueberwinder zu beugen.
Noch einmal nur loderte der alte Heldenmuth in hellen Flammen auf. Einer der Häuptlinge, der gegenwärtig bereits von der Sage verherrlichte Melik el Nimmr, zu deutsch „Pardelkönig“, versammelte sein Volk zu Schendi in Südnubien, weil ihm die Geißel des grausamen Siegers unerträglich geworden war. Mißtrauisch zog ihm Ismaël Pascha, des ägyptischen Herrschers Sohn und seiner Krieger Heerführer, entgegen, und ehe noch Melik Nimmr seine Rüstungen beendet, erschien er, alle vorhandenen Boote benutzend, vor Schendi, unerfüllbare Forderungen an Melik Nimmr stellend, um ihn zu willenloser Unterwürfigkeit zu zwingen. Dieser erkannte das ihm angedrohte Verderben und ermannte sich zum Handeln. Während er Unterwürfigkeit heuchelte, eilten seine Sendboten von Hütte zu Hütte, um unter der Asche glimmenden Funken der Empörung zur lodernden Flamme zu schüren. Durch listige Vorspiegelungen lockte er Ismaël Pascha von dem sicheren Boote in seine ringsum von dichtem Dornenhag umschlossene, geräumige, aber stroherne Königsbehausung, um welche riesige Strohhaufen aufgeschichtet worden waren, nach des Pardelkönigs Versicherung nur deßhalb, um das vom Pascha ebenfalls verlangte Kameelfutter zu liefern.
Ein herrliches Fest, wie Ismaël nie geschaut, will Melik Nimmr seinem Herrn und Gebieter geben; deßhalb bittet er um Erlaubniß, auch alle Officiere des Heeres der Aegypter einladen zu dürfen, und erhält die Genehmigung des Pascha. Heerführer, Stab und Officiere vereinigt das in der Königsbehausung zugerichtete Gastmahl. Vor der dornigen Umzäunung tönt die Tarabuka, die zum Reigen wie zum Kampfe anfeuernde Trommel des Landes: das junge, festlich gesalbte Volk übt sich im fröhlichen Tanze. Geschleuderte Lanzen schwirren durch die Luft und werden bewunderungswürdig sicher mit dem kleinen Schilde von den gegenüber sich bewegenden Mittänzern aufgefangen; lange Schwerter zweier im Kriegstanze sich drehenden Kämpen bedrohen des Gegners Haupt und werden nicht minder geschickt mit Schild und Klinge abgewehrt. Ismaël ergötzt sich weidlich an den schönen braunen Jünglingen, den anmuthigen Bewegungen ihrer gelenkigen Glieder, der Kühnheit der Angriffe, der Sicherheit der Abwehr. Mehr und mehr verdichtet sich das Gewimmel vor der Festhalle, mehr und mehr Schwerttänzer treten auf; heftiger und ungestümer werden ihre Bewegungen, ungleichmäßig beschleunigt ertönen die Trommeln. Da plötzlich nimmt die Tarabuka eine andere Weise an; hundertfach, in allen Theilen Schendis klingt sie wieder, in den Nachbardörfern hüben und drüben am Nile nicht minder. Gellendes, in den höchsten Tönen der Frauenstimme sich bewegendes Geschrei durchzittert die Luft; bis auf die Lenden nackte Weiber, Staub und Asche in den fettgetränkten Haaren, Feuerbrände in den Händen tragend, stürzen herbei und schleudern die Brände ist die Wandungen der Königshalle wie in die sie ums lagernden Strohhaufen. Eine ungeheure Flammengarbe lodert zum Himmel auf, und in die Flammen, aus denen Schreck- und Weheruf, Fluch und Klage erschallen, fliegen sausend die todbringenden Lanzen der Kriegstänzer. Weder Ismaël Pascha noch irgend einer seiner Festgenossen entgeht qualvollem Tode.
Es ist, als ob die Streiter des geknechteten Volkes dem Boden entwüchsen. Wer Waffen tragen kann, wendet sich gegen die grausamen Feinde; Weiber treten, ihr Geschlecht vergessend, in die Reihen der Kämpfer; Greise und Knaben ringen mit der Kraft und Ausdauer der Männer nach dem einen Ziele. Schendi wird in einer Nacht von allen Feinden befreit; nur wenige von den in ferneren Dörfern siegenden Aegyptern entrinnen dem Blutbade und bringen dem zweiten, in Kordofan weilenden Heerführer die grausige Mär.
Dieser, Mohammed-Bei el Defterdar, von Nubiern noch heutigen Tages „el Djelâd“, der Henker, zubenannt, eilt mit der ganzen Macht seines Heeres nach Schendi, schlägt dje Nubier zum zweiten Male und opfert sodann seiner unersättlichen Rache mehr als die Hälfte der damaligen Bewohner des unglücklichen Landes. Dem Pardelkönige gelingt es, nach Habesch zu entfliehen; seine Unterthanen aber müssen sich dem Fremdherrscher beugen, und ihre Kinder „wachsen“, um mich des Ausdruckes meines Gewährsmannes zu bedienen, „im Blute ihrer Väter auf.“ Seit jenen Unglückstagen sind die Nubier hörige Knechte ihrer Unterdrücker geblieben.
(Fortsetzung folgt.)
[749]
„Es soll der Sänger mit dem König gehen,
Denn beide stehen auf der Menschheit Höhen.“
So singt Schiller. Doch es giebt ja auch der Beispiele genug, daß die Könige selbst Sänger sind, von dem großen Psalmendichter der Juden bis zum König Ludwig I. von Bayern und den schwedischen Enkeln Bernadotte’s. Neuerdings haben die Gedichte einer Königin deutscher Herkunft großes Aufsehen erregt: wir meinen die Königin Elisabeth von Rumänien, die als Dichterin unter dem Namen Carmen Sylva aufgetreten ist. Das Interesse wurde gesteigert durch alles, was man sonst von dieser Fürstin hörte, welche nicht bloß Geist und Phantasie, sondern einen tüchtigen Charakter bewährte und für das Wohl ihres Volkes, so weit dies einer Regentin möglich, in eben so aufgeklärter wie aufopfernder Weise sorgt.
An den Ufern des Rheinstroms stand ihre Wiege: im Schlosse zu Neuwied wurde Prinzessin Elisabeth zu Wied am 29. December 1844 geboren. Die Fürsten von Wied waren stets tapfere Patrioten gewesen und hatten sich dem Rheinbunde nicht angeschlossen; zwei von ihnen waren auf den Schlachtfeldern der Befreiungskriege gefallen; ein Prinz Maximilian von Wied hatte sich als Reisender in Amerika und als Naturforscher einen Namen gemacht. Der Vater der Prinzessin war selbst Philosoph und hat mehrere Werke über Fragen geschrieben, welche noch die Gegenwart beschäftigen: wohl möglich, daß sie von ihrem Vater die Neigung zu ernster Gedankenarbeit geerbt, denn als Dichterin ist sie stets auch Denkerin mit großen Zielen und Tendenzen und hat sich niemals bloß jener zierlichen Porzellanmalerei hingegeben, mit welcher die Muse der „Stillen im Lande“, der beschränkten Gefühlspoeten, hausiren geht. Wohl aber mochten die heiteren Rheinlande mit ihrem großen fröhlichen Strom, ihren anderen landschaftlichen Reizen, zu denen auch der geheimnißvolle Zauber ihrer Bergwälder gehört, anregend auf das Gemüth des Kindes wirken, das so schon früh seine „kleinen heimlichen Verse“ dichtete und mit vierzehn Jahren das erste Drama verfaßte. Wie empfänglich die junge Prinzessin für jede Naturschönheit war, welche die Umgebungen des Jagdschlosses Monbijou ihr boten: das zeigen mehrere Abschnitte in einem ihrer neuesten Romane, den sie zusammen mit einer Freundin unter dem Pseudonym „Dito und Idem“ herausgegeben und in den sie viele Jugenderinnerungen hineingeheimnißt hat. Früh lernte sie neuere Sprachen und eignete sich besonders eine große Fertigkeit im Französischen an, das sie ja auch in späteren Schriften und Dichtungen mit derselben Leichtigkeit wie ihre Muttersprache handhabte; auch studirte sie Naturwissenschaften und machte Fortschritte im Zeichnen und Malen. Am Krankenbette eines geliebten, einem unheilbaren Leiden verfallenen jüngeren Bruders, den sie mit treuer schwesterlicher Liebe pflegte, lernte sie auch jene Nachtseiten des menschlichen Lebens kennen, deren schwermüthiger Nachklang uns aus vielen ihrer Gedichte entgegentönt.
Nachdem die Prinzessin konfirmirt worden, lernte sie das Hofleben kennen, in Petersburg, Berlin, Stockholm, auch an dem Kaiserhof in Paris, der damals, im Jahre 1867, noch durch die politische Machtstellung Frankreichs, durch den einschmeichelnden Reiz, den Kaiserin Eugenie auf ihre Umgebungen ausübte und durch des Kaisers eigenartige Persönlichkeit unter den europäischen Höfen sowohl einen hohen Rang einnahm als auch eine besondere Anziehungskraft ausübte. Im Jahre 1869 kam der Hohenzollern’sche Prinz, welcher Fürst von Rumänien geworden war, an den Rhein, Elisabeth wurde seine Gemahlin und dann später Königin von Rumänien. Sie sah in der Königskrone nicht bloß eine Gabe des Glückes und der Liebe: sie erkannte die Verpflichtungen an, welche diese hohe Lebensstellung ihr auferlegte. Ernst und überzeugungsvoll suchte sie in weitesten Kreisen Gutes zu wirken, sie gründete eine große rumänische Wohlthätigkeitsgesellschaft, einen deutschen Frauenverein mit einer Speise-Anstalt, eine Königin-Elisabeth-Schule, in welcher Kinder des Volkes lernen, die alten schönen Nationalkostüme nach den Mustern die noch vorhanden, wieder herzustellen. Hierdurch zeigte sie, daß sie nicht einseitig deutsche Bildung nach Rumänien importiren, sondern auch den echt rumänischen Nationalgeist wecken und pflegen wollte. Während des Türkenkriegs, an welchem sich die Rumänen so tapfer, besonders bei der Erstürmung von Plewna, betheiligten, widmete sie sich der liebevollen Pflege der Verwundeten, errichtete Spitäler, die unter ihrer Leitung standen, und versah oft selbst die Dienste der barmherzigen Schwester. Beim Volke heißt sie seitdem die Mutter der Verwundeten, und die rumänischen Officiersfrauen widmeten ihr eine Statue, welche sie darstellt, wie sie einem verwundeten Soldaten eine Schale zum Trinken reicht.
Auch brachten die Blätter seinerzeit die Nachricht, daß die Königin, unzufrieden mit dem Unterricht in der modernen Litteratur, wie er in der staatlichen höheren Töchterschule in Bukarest ertheilt wird, vom Januar d. J. ab es selbst übernommen habe, als Lehrerin der Anstalt regelmäßig diese Stunden zu geben. Sie hatte früher einzelne begabte Schülerinnen zu sich kommen lassen, um sie in ihrem eigenen Lieblingsfache zu unterrichten; doch weil daraus allerlei Eifersüchteleien entstanden, zog sie es vor, in der Klasse selbst als Lehrerin aufzutreten.
Das Alles zeugt von einem tüchtigen, vorurtheilsfreien Sinn, von einem energischen Charakter, wie ja auch der Wunsch beweist, den sie in einem ihrer Gedichte ausspricht:
„Ich wollt’, ich wär’ von Eisen,
Von Eisen möcht’ ich sein.“
[750] allein mit ihren Gedanken, bis draußen das Leben der Residenz erwacht.
Auch als Dichterin verleugnet sie jenen starkgeistigen Zug nicht, der ihrem ganzen Wesen eigen ist: es liegt etwas Kraftgenialisches in ihren Dichtungen, welche schon dadurch beweisen, daß sie nicht Erzeugnisse eines poetischen Dilettantenthums sind; denn das wandelt am liebsten in ausgefahrenen Gleisen, liebt das Glatte und Gefeilte, das Regelrechte, welches sich nachahmen läßt.
Eine ursprüngliche Begabung bricht oft hervor wie ein Wildstrom, gewaltig, mit schäumendem Sturz und findet erst allmählich ein geregeltes Bett. In der That kann man der Dichterin eher zum Vorwurf machen, daß sie in ringender Gedankenarbeit bisweilen die dichterische Form sprengt und dieselbe dann spröde und zerklüftet erscheinen läßt, als daß sie bequem und gedankenlos auf der glatten Strömung der landesüblichen poetischen Phrasen einhergondelt.
Eine Sammlung einzelner Gedichte hat Carmen Sylva unter dem Titel „Meine Ruh“ (1884) erscheinen lassen. Das Titelbild zeigt uns einen prächtigen Waldgang unter hochstämmigem Laubholz: im Walde zu träumen hat sie ja schon in ihrer Jugend gelernt, und jene rumänischen Wälder am Fuße des Siebenbürger Grenzgebirges habem ja noch alle Frische des Urwaldes. Der Pelesch, der von den Karpathen herabströmende Waldbach, dem sie ihre „Peleschmärchen“ abgelauscht, ergießt sich durch jene Waldeinsamkeit, in welcher Carmen Sylva sich mit ihren Gedanken zu ergehen liebt – ihr Sanssouci ist das rumänische Sommerschloß Sinaja. (Vergl. die Schilderung desselben, „Gartenlaube“ Jahrg. 1885, S. 705.)
In ihren Gedichten muthet vor allem die Selbständigkeit des Denkens, die so vielem Hergebrachten den Krieg erklärt, erfreulich an: ein Quell von Sprüchen wie in Rückert’s Dichtungen sprudelt uns entgegen, und viele von ihnen haben jene schlaghafte Form, die sich dem Gedächtniß einprägt:
„Sag’ nie der trägen Stunde:
Eile doch!
Der fröhlichen Sekunde:
Weile doch!
Dem frischen Dichtermunde:
Feile doch!
Der tiefen Herzenswunde:
Heile doch!
Dem heißen Liebesbunde:
Theile doch!“
„Der keinen Willen hat, ist immer rathlos,
Und der kein Ziel noch hat, ist immer pfadlos,
Und der nicht Früchte hat, ist immer saatlos,
Und der kein Streben hat, ist immer thatlos.“
Wie lebensfreudig klingt das folgende anmuthige Gedicht:
„Ich genieße, weil mir’s gegeben ist,
Zu genießen,
So wie es der Bergquelle Leben ist,
Fortzufließen.
Mich entzücken die Strahlen der Sonne so,
Wie sie glühen;
Mich erfüllen die Blumen mit Wonne so,
Wie sie blühen.
Ich erfreue der Schönheit des Schönen mich
Ohne Tadel;
Mir enthüllet in Farben, in Tönen sich
Höchster Adel.
Bin ich müde, erquicken die Winde mich,
Wie sie fächeln;
Bin ich traurig, getröstet gar linde mich
Nur ein Lächeln.
Ich bin heiter, weil alles, was Leben ist,
Ich seh’ sprießen;
Ich genieße, weil mir’s gegeben ist,
Zu genießen.“
Dabei hat die Königin auch der Erde Leid erfahren, ihr einziges Kind, eine Tochter, verloren:
„Nimm mich hinweg, laß mich nicht schauen
Des eig’nen Kindes Todesringen!
Ringsum ist schwarze Nacht und Grauen,
Das Herz will mir vor Schlagen springen.“
Und so mocht’ es der Dichterin gelingen, welche den Schmerz der Mutter oft in lyrischen Ergüssen ausströmt, auch ein dichterisches Gemälde der vor Schmerz erstarrten „Niobe“ zu geben, welcher Kinderstimmen, wenn sie „Mutter“ rufen, noch selbst ihr steinern Herz zerreißen. Aehnliche Gemälde aus der Götterwelt, wie auch poetische Erzählungen in reichem Farbenschmuck, in denen oft eine gewisse Herbheit des Tons überwiegt, finden sich häufig in der Gedichtsammlung.
In der Gedankendichtung ist ja Carmen Sylva vorzugsweise heimisch: das beweisen zwei selbständige poetische Werke: „Jehova“ und „Die Hexe“. Der Held des ersteren ist Ahasver – und diese Dichtung hat vor vielen etwas breitspurigen Verherrlichungen des ruhelosen Wanderers die schlaghafte Kürze voraus. Ein reiches Leben wird uns in großangelegten Freskobildern entrollt: der hymnenartige Ton der ersten Hälfte erinnert oft an Goethe’s Prometheus: so viel düsterer, zusammengeraffter Trotz liegt in diesen Versen: umsonst sucht Ahasver den Tod; weder die Schlacht, noch des Tigers Zahn, noch das Erdbeben, noch das Rad, auf das er als Ketzer gespannt wird, noch der Schneesturm im Eisgefilde vermögen ihm die Seligkeit der Vernichtung zu verschaffen. Erst als er im Arkadien der Alpenwelt ein selig liebendes Paar belauscht, wird ihm der Segen des Todes zu Theil: eine überraschende Schlußwendung, die aber nicht überzeugend wirkt; denn diese vorübergehende Harmonie kann doch nicht die Dissonanzen auflösen, welche sich durch die ganze Dichtung hinziehen. Sehr stimmungsvoll sind die landschaftlichen Schilderungen des Gedichtes, wie diejenige des Todten Meeres:
„Rings war es wüst und leer. Kein Baum, kein Strauch,
Kein Grashalm wiegte dort das feine Haupt
In schattenloser Wüste. Sengend heiß,
Wie sprüh’nde Feuerzungen stach der Strahl
Der weißen Sonne senkrecht und versank
In’s Todte Meer, ein Pfeil in flüssig Blei.
Es glitt verirrt ein Vogel drüber hin;
Doch von des Wassers Gifthauch fiel er todt
Herab und trieb noch lange, regungslos,
Mit angespannten Flügeln auf der Fluth.“
Zu dem Gedicht: „Die Hexe“ hat sich die Dichterin durch die Statue von Karl Cauer begeistern lassen:
„Auf der höchsten Felsenspitze,
Sturmumbraust, ob schwarzem Abgrund,
Sitzt ein Weib in hehrer Schönheit,
Wunderbar des Leibes Biegung.
Wie sie auf der Hand sich aufstützt,
Leicht sich ob der Tiefe schaukelnd,
Ruht das eine Bein gewichtlos
Auf dem andern, das sich rundend
Ueberschlägt in weicher Biegung.
Eine Schlange hält die Rechte;
Achtlos nun das Thier sich windet,
Krümmt und sträubt und giftig züngelt,
Ohnmächtig, der schönen Finger
Festem Drucke zu entgleiten.
Roth das Haar, es wogt gewaltig.
Flammengleich hinaus im Sturme,
Naht den Wolken, fängt die Blitze,
Die sich durch die Strähne schlängeln,
An dem Weib herniedergleiten,
Um dann eine Riesentanne
Bis zur Wurzel zu zerschellen.
Und in lodernd hellem Brande,
Der von Baum zu Baum sich fortwälzt,
Funkeln jenes Weibes Augen
Grün, aus dunkler Wimpern Schatten.“
Ohne Frage, ein lebensvolles Bild, welches der Statue malerische Lichter aufsetzt. Diese dämonische Loreley wird von einem Jäger geliebt, den sie durch ihre Reize berückt und ins Verderben stürzt.
Die „Rumänischen Gedichte“, welche Carmen Sylva ins Deutsche übersetzt hat, zeugen von ihrem eifrigen Bestreben, auch dem Genius des Volkes, dessen Krone sie trägt, gerecht zu werden und seine dichterischen Spenden andern Völkern zugänglich zu machen. „Leiden’s Erdengang“ ist nicht ein Kreis von Märchen, sondern von Allegorien; aber sie sind nicht trocken und „strohern“, sondern sie haben vom Märchen die anmuthige Plauderhaftigkeit mit überkommen. „Die Gedanken einer Königin“, in französischer Sprache geschrieben, enthalten einen reichen Schatz sinnvoller Bemerkungen und Aussprüche.
Neuerdings hat sich Carmen Sylva auch dem Romane zugewendet; und sie verleugnet, auch in dem bequemeren Fahrwasser, das so vielen Flachschiffen zugänglich ist, nicht die Kraft und Energie ihrer Darstellungsweise. Zwei trotzige Mädchencharaktere von frischer [751] Urwüchsigkeit des Denkens und Empfindens sind die Heldinnen der beiden Romane, die sie in Gemeinschaft mit Mite Kremnitz unter dem Namen „Dito und Idem“ veröffentlicht hat: Astra in dem Romane „Astra“ (1885) und die Prinzessin Ulrike in dem Roman: „Aus zwei Welten“ (1886). „Astra“ spielt in dem Grenzlande Rumäniens, der Bukowina, und die Dichterin hat das Lokalkolorit ihrer neuen Heimath in stimmungsvoller Weise wiedergegeben, wie durch den andern Roman der Hauch und Duft der Rheinlande weht und das Leben auf einem rheinischen Fürstenschlosse mit jener Wahrheit geschildert wird, wie sie nur aus eigener Anschauung hervorgeht. Astra besucht ihre Schwester, die einen Gutsbesitzer Sanden geheirathet hat; in das gaukelnde Irrlicht, die anmuthige Schwägerin, verliebt sich Sanden, und das führt zu einem tragischen Konflikt. In dem andern Roman gewinnt die junge Prinzessin eine lebhafte, durch einen Briefwechsel genährte Neigung zu einem Professor der Kunstgeschichte, dessen Hauptwerk sie mit Bewunderung gelesen hat. Der Briefwechsel führt zu persönlicher Begegnung und diese zu einem Bunde fürs Leben, gegen den Willen der Familie der Prinzessin, die, aus derselben verstoßen, dem Manne ihrer Wahl folgt; doch auch hier in der Welt des Bürgerthums vermag sie erst nach einem schweren Konflikt mit dem eignen Manne heimisch zu werden, der ihr die Reise ans Krankenbett des Vaters verbietet. Beide Romane sind in der Form des Briefwechsels und der Tagebücher geschrieben, ausnehmend eigenartig, oft von genialem Humor durchdrungen, namentlich die Briefe des Professors.
Carmen Sylva braucht nicht die Reklame, die in ihrer Königskrone liegt, um die Blicke auf ihre Dichtungen hinzulenken: ihr originelles bedeutendes Talent würde Aufsehen erregt haben, auch wenn sie in dem einsamen Dachstübchen eines Bürger- oder Proletarierhauses ihre Werke verfaßt hätte.
Als nun der Bursche lang ausgestreckt auf seinem Lager ruhte, verging ihm noch ein Viertelstündchen in wechselnden Gedanken, bis der gesunde Schlaf ihn überkam, den Götz ihm gewünscht. Und da spann sich ihm der letzte Gedanke – der Gedanke an Sanni – hinüber in einen sorgenlos glückseligen Traum. Das war eine lange Geschichte von zärtlichen Stunden mit traulichem Plaudern und endlosen Küssen. Und im Schlußkapitel dieser in die Zukunft wandernden Geschichte sah sich Karli in die Stube des Bygotterhäuschens treten, die ein warmes, goldig zitterndes Sonnenlicht erfüllte. Auf einem Stuhle saß der kurirte, lustig lachende Bygotter, von dessen Kopf der Doktor eben eine ellenlange, weiße Binde schälte. Und Sanni stand an der Seite des Vaters, von Sonnenglanz umflossen, mit leuchtenden Augen, mit glühenden Wangen, das gewisse, flimmernde Krönlein über den zierlich geflochtenen Haaren.
Dieser Traum aber – wie wenig entsprach er der Gegenwart und Wirklichkeit!
Nicht warmes, goldig zitterndes Sonnenlicht erfüllte die Stube des Bygotterhäuschens, sondern der röthlich trübe, zuckende Schein eines mit rußender Flamme brennenden Kienspanes, der in einer Klunse des brüchigen Kachelofens steckte. Hinter diesem Ofen lag der Bygotter auf seinem Kotzenbette, mit verbundenem Haupte. Frische Blutspuren zeigten sich auf seiner fahlen, furchigen Wange und von geronnenem Blute war sein Bart verfilzt. Sanni saß vor ihm auf einem hölzernen Schemel, und während sie die Arme des Vaters auf die Decke niederzudrücken suchte, schluchzte und stammelte sie:
„Vaterl – schau – um tausendgotteswillen thu’ ich Dich bitten – hab’ Dich doch stad – und laß mich fortgehn, daß ich um an Dokter schau!“
„Thörin, Du – Thörin! Was schauest Du mit Deinen Augen aus nach Menschenhilfe! Den Gott verderben will, für den ist Hilfe nicht bei Menschenhänden! Den Gott erretten will, den hauchet er an mit seines Mundes Odem – und siehe, er geht gesund von dannen!“
„Vaterl – mein Gott – so laß Dir doch sagen – schau, g’rad a Bißl hab’ Dich stad! Es muß Dir ja schaden.“
„Nein – nein – nicht ruhen will ich und will nicht schweigen – und stille will ich nicht sein! Denn siehe, meine Feinde toben, und meine Hasser heben das Haupt! Herr – Herr – thu’ ihnen wie Midian, wie Sissera, wie Jabin am Bache Kison! Mache sie dem Wirbel gleich – den Stoppeln vor dem Winde! Verfolge sie mit dem Feuer, das den Wald verbrennt und den Berg entzündet! Verfolge sie mit Deinem Sturme – mit Deiner Windsbraut scheuche sie fort! Zu Schanden müssen sie werden – zu Schanden – umkommen in Hohn und Ekel –“
Er wollte vom Lager springen, aber kraftlos sanken ihm die Arme nieder; schwer fiel sein Haupt zurück auf das raschelnde Kissen, und ein gedehntes Stöhnen quoll aus seiner tief einsinkenden Brust:
„O – o – wie glühender Brand ist mein Gebein – meine Zunge klebt am Gaumen – welk gesenget wie Gras ist mein Herz – um Deines Zornes willen – denn aufgehoben hast Du mich und hast mich niedergeworfen –“
Und wieder erstickte seine Stimme unter dumpfem Stöhnen.
In wortlosem Kummer schlug Sanni die Hände vor das Gesicht und weinte:
„Na – na – mein lieber, lieber Herrgott – was thu’ ich denn g’rad – was thu’ ich denn?“
Die flackernde Helle, welche in der Stube herrschte, wurde trüber und trüber. Der Span war niedergebrannt, und glühende Kohlenstückchen fielen von dem qualmenden Stumpfe, der zu erlöschen drohte. Mit einem müden Seufzer erhob sich Sanni, steckte einen neuen Span in Brand und trat die auf den Dielen zerstreuten Funken aus. Dann kehrte sie zum Vater zurück, befühlte in zitternder Sorge seine glühenden Hände und flüsterte: „Vaterl – Vaterl – laß mich doch gehn! Schau, g’rad fliegen will ich – und auf der Stell’ wieder will ich da sein!“
Er schien sie nicht zu hören; schwer athmend lag er, unverständliche Worte raunend, die heißen Augen mit starrem Blick zur Höhe gerichtet. Ohne sich zu regen, ließ er es geschehen, daß ihm Sanni den blutbefleckten Bund von der Schläfe löste. Beim Anblick des zerrissenen Fleisches überrann ein Schauer ihre Schultern. Sie tauchte den Bund in kaltes Wasser und legte ihn wieder über die wunde Stelle. Wankend, als brächen ihr die Kniee, ließ sie sich auf den Schemel nieder, drückte ihre Hände über die Hände des Vaters und hing mit nassen Augen unverwandt an seinem Gesichte.
Lautlose Minuten verrannen. Ruhiger und ruhiger wurden die schweren Athemzüge des Bygotters; seine Züge verloren ihre Starrheit und erschlafften – und da schloß er nun tiefseufzend die faltigen Lider.
Zweimal erhob sich Sanni, um neues Kienholz aufzustecken, und einmal ging sie, ein Fenster zu öffnen, damit der Qualm, der die Stube füllte, einen Abzug fände. Und immer lag der Vater regungslos und mit geschlossenen Augen. Das gewahrte Sanni mit beklemmender Freude. Und da meinte sie, daß sie wohl auch das Haus verlassen könnte, ohne daß der Vater erwachen würde. Es war wohl ein weiter Weg, den sie im Sinne hatte – aber sie selbst brauchte ja diesen Weg nicht ganz zu machen; nur bis zum ersten Hause wollte sie laufen und Jemand wecken, der ihr für gute Worte ins Dorf hinein nach dem Doktor ginge.
Mit vorsichtigem Zögern erhob sie sich, zog ein wollenes Tuch von der Ofenstange und schlang es um die Schultern. Unhörbaren Schrittes näherte sie sich rücklings der Thür und verwandte dabei keinen Blick von den geschlossenen Augen des Vaters. Der Athem stockte auf ihren offenen Lippen, während sie mit der einen Hand den Drücker, mit der andern den Schnabel der Klinke faßte. Tief athmete sie auf, als es ihr gelungen war, die Thür lautlos zu öffnen, und auf den Zehen huschte sie über die Schwelle.
[752] Da kam’s wie ein Rasseln und Aechzen aus der Stube.
Der Bygotter war aus den Kissen aufgefahren. Mit glühenden Augen spähte er nach allen Winkeln; seine Züge erstarrten wie in tödlichem Schreck; keuchend hob sich seine Brust, und mit gellendem Schrei durchhallte Sanni’s Name das nachtstille Haus.
Bleich und zitternd stürzte Sanni in die Stube, riß das Tuch von ihren Schultern und eilte auf den Vater zu, der sich vom Lager erheben wollte. Mit stammelnden Worten suchte sie ihn zu beruhigen. Er aber krampfte die knöchernen Finger um ihre Hände, drückte sie vor dem Bette aus die Kniee nieder und schrie ihr mit schäumendem Zorne ins Gesicht: „Wohin wolltest Du – wohin – wohin?“
Unter Schluchzen gestand sie ihm, weßhalb sie die Stube verlassen hätte.
Aufathmend beugte er sein Gesicht dem ihrigen entgegen und schaute ihr mit durchbohrendem Blick in die Augen. Dann ließ er ihre Hände, drückte sie an seine Brust und streichelte ihr Haar. Mit bebender, kaum verständlicher Stimme raunte er zu ihr nieder:
„Nein – nein – Du hast mir nicht entlaufen wollen – zu ihm, der Deinen Vater bestehlen will – um den Baustein seines Werkes – um den Tag der Vollendung. Deines Vaters Tochter bist Du – nicht Deiner Mutter Kind – Deiner Mutter, die ihren Mann verwarf – und nicht hören wollte seines Gottes Stimme –“
Er fühlte, wie Sanni unter seinem Arme zuckte, als wollte sie sich ihm entwinden – und da preßte er sie noch enger an seine Brust.
„Deines Vaters Tochter bist Du –“ flüsterte er in Lauten unheimlicher Zärtlichkeit, „Deines Vaters – an dem Du hangest in Liebe! Und Einen weiß ich, der es Dir lohnen wird; auf seine Hände wird er Dich nehmen und wird Dich erheben, auf daß Du die Größe Deines Vaters siehest. Das Fürchten wird er aus Deiner Seele blasen, und Deine Sorge wird sein wie Spreu im Winde. Mein Leiden sieht er – und sein Blick ist Heilung und Kraft. Er ist der Gott, der Wunder thut. Ihn sahen die Wasser und bebten. Fluthen gossen die Wolken, vom Donner dröhnte die Luft, und seine Pfeile flogen. Horch auf, mein Kind – hörst Du ihn? Seine Stimme redet und Donner krachen im Wirbelwind – es zittert und wankt die Erde!“
Unter Thränen seufzend schüttelte Sanni den Kopf und schaute mit traurigen Augen zu ihrem Vater auf, der wie in athemlosem Lauschen regungslos ins Leere starrte.
Da huschte ein dumpfes Klirren durch die Stube – ein großer Nachtfalter war in vollem Fluge wider eines der Fenster geprallt.
„Hörst Du ihn?“ schrie der Bygotter auf und zerrte an beiden Armen das Mädchen zu sich empor. „Er pochet an bei mir mit seiner weiten Hand! Er will mich des Weges mahnen! Und sein Wille ist geschehene That! Wie Wasser vom Steine rinnet, rinnet der Schmerz von mir! Sieh her – Susanna – sieh her!“ Mit zitternden Händen riß er sich den feuchten Bund vom Kopfe. „Wo siehst Du noch Blut und Wunde an meinem Haupte? Er ist der Gott, der Wunder thut! Lobet ihn!“
„Vater – Vater – um Gotteswillen – ja was thust denn? Jesus Maria!“ schluchzte Sanni in Angst und Sorge.
Doch ungehört verhallte ihr Schluchzen unter dem Jauchzen des Bygotters: „Lobet ihn vom Himmel her, all seine Engel, all seine Heere! Lobet ihn, Sonne und Mond, alle leuchtenden Sterne! Denn er gebot und ihr waret geschaffen! Lobet ihn von der Erde her, ihr Ungeheuer und alle Tiefen, Feuer und Schnee, Sturmwind, der seine Stimme trägt! Lobet ihn, Berge und Thäler, Felsen und Gewässer, Bäume und liebliche Blumen! Lobet ihn, Thiere und alles Vieh, Gewürm und gefiederte Vögel! Lobet ihn, Könige und Völker, Jünglinge und Jungfrauen, Greise und Knaben! Lobet ihn – erhaben ist sein Name allein, seine Herrlichkeit über Erde und Himmel!“
Mit verzücktem Gesichte sank der Bygotter in die Kissen zurück; wie Flammen brannten seine Augen, und es zitterte sein mächtiger Bart, während seine Lippen in unverständlichem Gemurmel sich bewegten.
Mit scheuen Augen schaute Sanni zu ihm auf; es berührte sie so eigen, als sie gewahrte, daß die Wunde an des Vaters Schläfe sich wirklich geschlossen und zu bluten aufgehört hatte.
Als sie den Bund, den er noch immer in seinen zuckenden Fingern hielt, unter seinen Händen hervornehmen wollte, zog er sie an ihren Armen in die Höhe und raunte ihr zu: „Geh, Susanna – geh zum Fenster – und siehe, wie weit der Tag noch ist!“
Sie erhob sich, näherte sich dem Fenster, wischte den grauen Thaubehauch vom Glase und blickte nach dem Himmel.
„Es muß bald tagen, Vater. D’ Stern’ verlöschen schon.“
Tiefathmend richtete der Bygotter sich noch höher empor, und seltsam feierlich klang die Stimme, mit welcher er dem Mädchen zurief: „So hole mir Wasser, daß ich mich wasche!“
Sanni zögerte und wollte sprechen. Ihr Zögern aber schien den Vater in Zorn zu bringen, und in scharfem Ton wiederholte er: „Bringe mir Wasser, daß ich mich reinige!“
Da nahm sie das Becken mit dem blutigen Wasser von der Erde und verließ die Stube. Müden Schrittes trat sie ins Freie. Auf dem Grunde und über dem Walde lag noch die dunkle Nacht, während die Spitzen der Berge sich schon in mattem Grau vom Himmel abhoben, an welchem nur einzelne Sterne noch mit zuckenden Strahlen gegen das bleiche Licht des nahenden Morgens kämpften. Mit leisem Fauchen zog der herbstlich kalte Frühwind um das Haus. Fern aus dem Thalgehölze tönte der klagende Ruf eines Käuzleins, und über den Bach herüber, von den Waldgehängen des Sonnberges, hallte das dumpfe Röhren eines brünftigen Hirsches.
Ein Schauer flog über Sanni’s Schultern, als sie über die Schwelle trat. Und dennoch that ihr die kalte Luft so wohl, die sie mit langem Athemzuge zwischen die zitternden Lippen sog.
Nun stand sie am Brunnen. Im Troge wusch sie das Becken rein und schob es unter den spärlich rinnenden Strahl. Und während mit Plätschern und Gurgeln das Gefäß sich langsam füllte, schlang Sanni die Arme um den Brunnenstock und drückte die heiße Stirn in den feuchtkühlen Moosbehang. Sie war wie betäubt und hatte keinen Gedanken, der ihr zu vollem Bewußtsein kam. Nicht nur in ihren Gliedern spürte sie diese durchwachte Nacht; nach all dieser Aufregung, Angst und Sorge kam die gedankentödtende Erschlaffung.
Das Becken war gefüllt. Seufzend nahm sie es auf, vergoß einen Theil des Wassers wieder und kehrte in das Haus zurück.
Als sie die Stube betrat, erschrak sie. Aber sie sprach kein Wort. Was der Vater sonst bei Aufgang der Sonne zu thun pflegte, das schien er eben nun einmal bei grauendem Morgen beginnen zu wollen. Er stand inmitten der Stube, hatte die weiße Leinenbinde um das Haupt gewulstet und trug jenes seltsame leinene Gewand, das ihm Sanni vor langen Wochen nach seiner Angabe hatte fertigen müssen. Und er mußte das Kleid nun in fieberhafter Eile umgeworfen haben: das sah sie noch an der zitternden Hast, mit welcher er irgend ein Etwas hinter dem breiten Leinengurt verbarg, der um seine Hüften geschlungen war.
Sanni wußte, wie wenig ihr Reden und Bitten beim Vater galt, wußte, daß der leiseste Widerspruch ihn zu maßlosem Zorne reizte – und dennoch – als sie ihm näher trat und seine in dunkler Röthe glühenden Wangen, seine brennenden Augen sah, da wollte sie dennoch sprechen und bitten. Aber die Heftigkeit, mit der ihr der Vater befahl, das Becken unter seine Hände zu halten, erstickte die Sprache auf ihren Lippen. Unter murmelnden Worten wusch er sich die Hände; dann mußte sie das Gefäß auf die Erde stellen, und er tauchte die nackten Füße in das Wasser.
„Rein bin ich, Herr – und den Weg will ich gehen, den Du gezeiget Deinem Knechte!“ sprach er mit hallender Stimme vor sich hin. „Die Stunde ist gekommen – schon grauet der Tag – und es ist Zeit zum Werke.“
Seine hohe, hagere Gestalt schien noch zu wachsen, als er dem Tisch sich näherte.
„Komm her, Susanna – komm her zu mir – dies sollest Du tragen!“
Er nahm das Bündel Späne vom Tische und band es auf Sanni’s Rücken. Das schwere Scheitholz schnürte er über die
[753][754] eigenen Schultern. Eine der zwei langen Kienholzfackeln schob er gleich einem Schwerte hinter den Leinengurt, die andere nahm er in die Rechte und entzündete sie an dem flackernden Spane, der den engen Raum erleuchtete. Als die Fackel mit heller Flamme brannte, hieß er Sanni vorangehen in den Flur – und als das Mädchen im Dunkel der Thür verschwand, schlich er lautlosen Trittes dem Ofen zu und riß die Leuchte aus der Klunse. „Alles – Alles, Herr – mein Weib – mein Haus – und mein Letztes!“ raunte er mit grinsendem Lächeln vor sich hin und stieß das brennende Ende des Spanes zwischen die Kotzen und das Heu seines Bettes. Ein rasches Feuer lief, die krausen Härchen der wollenen Decke sengend, über die ganze Länge des Lagers. Doch ehe noch aus dem Heu die helle Flamme aufwärts leckte über die Wand, hatte der Bygotter schon den Flur betreten und die Thür hinter sich ins Schloß geworfen. Da faßte er Sanni bei der Hand und zog sie an seiner Seite über die Hausschwelle.
Während sie hinaustraten in den grauenden Morgen, fiel es Sanni auf, daß der Vater Eines vergessen hatte, das ihm doch sonst bei jedem solchen Gange die Hauptsache war. Und damit ihn diese Vergeßlichkeit, wenn er sie wahrnähme, nicht erzürnen möchte, mahnte sie ihn mit schüchterner Stimme: „Vater – ’s Fetter hast, und ’s Holz, aber – aber –“
Der Vater schien sie zu verstehen, und es ward ihr so seltsam zu Muthe, als sie das starre Lächeln sah, mit dem er sagte: „Gedulde Dich, mein Kind – Gott wird sich sein Opfer ersehen!“
Sie schritten über den knirschenden Kies dahin. An der Stelle, an welcher der schmale Sandweg sich nach dem steinernen Tisch in die Wiese abzweigte, zögerte Sanni.
„Komm’ – es dehnet sich der Weg!“ hörte sie den Vater murmeln, der seine Hand noch fester um ihre Finger schloß, um sie in rascherem Gange mit sich fortzuziehen.
Und so durchschritten sie das Thor und wanderten durch die thaufeuchten Birkenbüsche dem Bache zu, den sie an seichter Stelle durchwateten. Dann ging es bergwärts durch den pfadlosen Tannenwald.
Von der brennenden Fackel des Bygotters qualmte der Rauch empor und scheuchte die kleinen Vögel, die mit erschrockenem Pispern durch das wirre Netz der Zweige flatterten. Einmal flog ein Häher auf und kreischte und gackerte wie in Zorn und Entsetzen. Die Fackelflamme loderte im thalwärts ziehenden Winde, und immer trüber wurde ihr röthliches Licht, je heller der Himmel durch die leise nickenden Zweige blickte.
Rastlos schritten die Beiden bergan. Sanni athmete schwer; aber sie hatte nicht den Muth, den Vater um kurze Ruhe zu bitten; er schien es so eilig zu haben.
Nun erreichten sie einen breiten Pfad, der in mäßiger Steigung zur Höhe führte. Ihm waren sie eine kurze Weile gefolgt, als der Bygotter jählings die Schritte verhielt. Zorn und scheue Furcht zugleich sprach aus den weit offenen Augen, mit denen er nach einer feuchten Stelle des Weges starrte, auf welcher sich die frische Spur eines genagelten Schuhes zeigte. Lauschend richtete er sich auf, schüttelte den Kopf, daß sein Bart in langen Wellen schwankte – und sie stiegen weiter zur Höhe. Doch immer wieder zeigte sich jene Fährte. Je häufiger sie erschien, desto mehr überkam eine zitternde Unruhe den Bygotter. Dann endlich blitzte es in wilder Freude aus seinen Augen; er hatte gewahrt, daß jene Spuren einem schmalen Steige folgten, der von dem breiten Wege seitwärts in den Hochwald lenkte.
Sanni war so erschöpft, daß sie auf einen Baumstock niedersank, während der Vater einige Schritte dem seitwärts ziehenden Steige folgte. Nun riß er sie am Arme empor. „Komm – komm – des Herrn Auge will erwachen!“ fuhr er sie mit heiserer Stimme an und zerrte sie mit sich fort.
Sie gelangten auf eine lichte Rodungsfläche und sahen ein Rudel Hochwild über Gestrüpp und dorrende Kräuter flüchten. Eine kurze Strecke ging es noch durch steilen Lärchenwald. Die Dämmerung hatte sich zum hellen Morgen gewandelt, als sie eine von welkem Gras übersponnene Kuppe erreichten, welche zwei bewaldete Schluchten von einander trennte und gegen die kahlen Wände des Sonnberges hin mit niederen, brüchigen Abstürzen in ein weites, von wirren Steinblöcken überstreutes Felsenkar verlief.
Der Bygotter entzündete die zweite Fackel an dem niedergebrannten Stumpfe und stieß sie aufrecht in eine morsche Stelle des Grundes. Dann warf er von seinem Rücken die Fichtenscheite auf die Erde und nahm die Späne von Sanni’s Schulter.
Athemlos und vor Ermüdung am ganzen Leibe zitternd kauerte sich Sanni auf den kalten Boden. Mit verlorenen Blicken schaute sie zum zerrissenen Grat des Sonnbergs auf, der schon in röthlichem Lichte glühte. Sie schaute über Wälder und Wälder in die weite Ferne, wo der Himmel mit langgestreckten, in bunten Farben leuchtenden Wolken überzogen war. Sie blickte nieder ins Thal, das noch im grauen Morgenschatten lag und von weißen Nebelstreifen übersponnen war, die in trägem Zuge die winzigen Häuser des Dorfes enthüllten und wieder verbargen. Ihre Blicke wanderten aufwärts über die tausend Wipfel und irrten über die zu ihrer Linken liegende Waldschlucht nach dem jenseitigen Gehänge, durch dessen gelblich grüne Lärchen sie das steinbeschwerte Schindeldach einer Holzerhütte gewahren konnte. Dann wieder folgte sie mit müden Blicken dem Vater, der aus dem Felsenkar in keuchender Eile Steine um Steine schleppte, die er auf der Höhe der Kuppe zu einem breiten, ebenen Sockel an einander reihte. Ueber diese Steine schichtete er im Geviert die schweren, langen Fichtenscheite, und beinahe kindisch war die emsige Genauigkeit anzusehen, mit welcher er die in der Mitte gebrochenen Späne in die Lücken des Holzstoßes vertheilte.
Da fluthete eine grelle, warme Helle über den Grund – hinter den fernen Bergen war die Sonne aufgetaucht. In wirren Stößen wechselte der Wind; er trug den Glockenschlag der sechsten Stunde vom Thal herauf und machte die trübe, qualmende Fackelflamme lodern und rauschen.
Fröstelnd, die Arme um die Kniee geschlungen, saß Sanni auf der Erde. Mit nassen, traumverlorenen Augen starrte sie in die Sonne. Sie sah nicht, wie der Vater mit seinem seltsamen Werke zu Ende gedieh, wie er ein Bündel Stricke vor den Holzstoß legte und ein großes, blitzendes Messer zur Bereitschaft in eines der obersten Scheite stieß. Sie fühlte nur plötzlich, wie er sie am Arme faßte und emporzog. Als sie zu ihm aufschaute, erschrak sie bis ins Herz vor seinem Gesichte und seinen Augen, und da folgte sie ihm willenlos zur Höhe der Kuppe.
„Kniee nieder,“ keuchte er, „und ich will Dir sagen, wie Du beten sollest.“
Zitternd that sie, wie er wollte, und sprach in stotternden Lauten seine Worte nach.
„Gott ist mein Hirt,“ so betete er mit heiserer Stimme vor, „auf grünem Anger lagert er mich – und meine Seele erquicket er. Auch wenn ich wandle – durch ein Thal des Todesschattens – fürchte ich – nichts Uebles – denn Du, Herr, bist bei mir – ich stütze mich auf Deinen Stecken! Du rüstest mir – ein Mahl – salbest mit Oel mein Haupt – mein Becher fließet über –“
„Mein Becher – fließet über –“ stammelte Sanni; während dieser Worte glitten ihre Blicke nieder ins Thal, und Entsetzen lähmte ihre Zunge, als sie an einer Stelle des ebenen Waldes schwarze, von rothen Flammen durchzüngelte Rauchwolken in die Lüfte steigen sah.
„Und ich wohne – in Deinem Hause immerdar!“ betete der Bygotter.
Da raffte sich Sanni von der Erde empor, krampfte die eine Hand in die Schulter des Vaters, streckte die andere nach dem Thale und kreischte in verzweifelter Angst: „Jesus Maria – Vater – da – da schau – brennen thut’s – unser Haus brennt – unser Haus!“
Sie wollte thalwärts stürzen, doch mit eisernem Griffe fühlte sie sich von den Händen des Vaters gefangen.
„Laß brennen!“ keuchte er, „laß brennen! Gott wird Deinem Vater Paläste bauen! Laß brennen – und – und nicht warten soll er – er sehnet sich – seines Opfers –“
Mit jähem Griffe zerrte er die Zöpfe von ihrem Haupte, daß sie aufschrie in Schmerz und Angst. Mit beiden Händen riß er ihr das Mieder vom Leibe – und da begann sie mit schlagenden Armen sich zu wehren und kreischte und lallte: „Um Herrgottswillen – Vater – laß mich doch gehn – Jesus Maria – Vater – was thust denn – Vater!“
Er aber hörte ihr Flehen nicht, gewaltsam sprengte er die Nesteln ihres Gewandes, zerriß das Linnen an ihrem Halse und [755] keuchte: „Und es geschah – nach diesen Dingen – daß mich der Herr – versuchte – und er sprach: nimm doch Dein Kind – Dein einziges – das Du liebest – und opfere mir – Dein Kind – auf einem Berge – den ich Dir sagen werde –“
Da wich aus Sanni’s Armen die letzte Kraft; wie Erstarrung kam es über ihre Glieder; sie stierte in das grinsende Gesicht des Vaters, erkannte den Wahnsinn in seinen glühenden Augen, erkannte, daß sie verloren war – und unter einem gellenden, markerschütternden Aufschrei schwanden ihr die Sinne.
Wie der Ton einer springenden Glocke zitterte dieser Schrei durch die Lüfte, weckte im Walde und an den kahlen Felsenwänden das Echo und drang über die schattige Schlucht – durch Bäume und Bäume – bis vor das kleine hölzerne Haus, vor dessen offener Thür Karli stand, den Hut in Händen, den Bergsack mit dem Wettermantel hinter den Schultern. Lauschend mit erhobenem Kopfe stand er. Vor kurzer Weile schon meinte er eine kreischende Stimme gehört und erkannt zu haben. Nun schlug der verhallende Schrei an sein Ohr – und da hielt es ihn nicht länger. Er schleuderte den Hut bei Seite und rannte zwischen den Bäumen dahin. Als er das Gehänge der Schlucht erreichte und den Ausblick nach der Sonnbergplatte gewann, bot sich seinen Augen ein Bild, das ihm unter Grausen und Entsetzen einen eisigen Schauer über den Nacken jagte. Der Herzschlag stockte ihm; er stand einen Augenblick wie gelähmt; nun aber stürzte er mit verzweifelten Sprüngen über den steilen Hang der Waldschlucht nieder, und während er sich auf der anderen Seite aufwärts mühte, stammelte er mit blassen Lippen: „Heilige Mutter – Dich thu’ ich bitten – g’rad net z’spät kommen laß mich – g’rad net z’spät!“
Als er den waldigen Saum der Kuppe erreichte, wankten ihm vor Erschöpfung die Kniee. Der Athem versagte ihm; er griff mit beiden Händen in die Luft und taumelte wider den Stamm einer Lärche. Doch unter dem ersten Blick, mit dem er die Höhe der Kuppe suchte, mit dem er die lodernde Flamme und den Scheiterhaufen gewahrte und auf ihm den weißen, leblos scheinenden Körper, halb verdeckt durch die Gestalt des Bygotters, der mit glühenden Augen gegen Himmel starrte und in der Rechten das blitzende Messer geschwungen hielt – bei diesem ersten Blicke schon kehrten ihm die verlorenen Kräfte zurück. Er warf die Arme in die Höhe und stürmte in gewaltigen Sprüngen den grasigen Hang empor. Unter seinen Füßen bröckelte der morsche Grund, Steine rieselten und rollten – das aber hörte der Bygotter nicht – der hatte nur Ohr und Auge für den Himmel und rief mit schäumendem Zorn in die Lüfte: „Herr – Herr – was schweiget Deine Stimme – siehe – ich stoße zu – ich stoße!“
Bei diesem Worte fuhr er mit der Linken in Sanni’s gelöste Haare und zerrte mit wilder Grausamkeit das todtenblasse Haupt seines Kindes über den Rand der Scheite nieder. In seiner Rechten zuckte die blitzende Klinge – doch ehe sie zum Stoße niederfahren konnte, schlugen sich Karli’s Hände mit eisernem Griff um den Arm des Bygotters. Dem sprangen jählings die Finger auf, im Bogen schwirrte das Messer über die Böschung der Kuppe hinaus – ein Laut, wie das kurze, heisere Brüllen eines rasenden Stieres – ein starrer Blick noch, Aug’ in Auge – dann lagen die Beiden an einander, Brust an Brust, Wange an Wange, mit regungslosen Armen sich umkrampfend. Kein Wort, kein Schrei, nur schnaubendes Keuchen und rasselnder Athem quoll aus ihrem Munde. Sie wichen nicht von der Stelle; sie schwankten im Ringen nur hin und her, und ihre Füße wühlten sich in die morsche Erde, während an ihren Gesichtern und Fäusten die Adern zu dicken Schnüren schwollen und die Haut in bläulicher Röthe sich straffte. Doch gegen die zähe Kraft des Wahnsinns kämpfte hier die doppelte Macht der Jugend und Liebe. Der Bygotter taumelte, und Karli gewann den ersten Schritt. Dieser kleine Vortheil stärkte und befeuerte seine Kräfte; er gewann einen zweiten Schritt, einen dritten. In wilder Verzweiflung rang und kämpfte der Bygotter; doch Karli zerrte, stieß und drängte ihn Schritt um Schritt aus der Nähe des Holzstoßes, mehr und mehr dem Absturz der Kuppe entgegen. Da wich der Grund unter den Füßen seines Gegners; Karli warf sich nach rückwärts und schmetterte zugleich die mit dem ganzen Aufgebot seiner Kräfte jählings befreiten Fäuste wider die Brust des Bygotters. Dieser taumelte, warf die Hände mit den Fetzen, die er aus dem Gewande des Burschen gerissen, schlagend in die Höhe, brach unter einem gurgelnden Wuthgeschrei in die Kniee und rollte und stürzte, von Staub und Steinen umwirbelt, über die steile Böschung nieder in das Felsenkar.
Karli stand und drückte die zitternden Fäuste auf seine Brust, die sich unter fliegenden Athemzügen hob und senkte. Die dunkle Röthe seines Gesichtes wandelte sich in fahle Blässe und wortlos rührten sich seine Lippen, während er dem Stürzenden den Rücken kehrte. Mit vorgestreckten Armen und laut aufschluchzend eilte er dem Scheiterhaufen zu. Doch mochten ihm Schreck und Grausen auch Herz und Seele füllen – als seine Blicke über die schutzlose Schönheit des Mädchens glitten, das in regungsloser Ohnmacht über den scharfkantigen Scheiten lag, überkam es ihn wie süßer Schauer. Mit einem zitternden Athemzuge schloß er die Augen und preßte die Fäuste über die Lider. Ein rappelndes Geräusch, das sich aus der Tiefe des Felsenkars vernehmen ließ, schreckte ihn auf.
„Heilige Mutter, o heilige Mutter –“ stammelte er, riß in angstvoller Hast das Messer von der Hüfte und durchschnitt die Stricke, mit denen Sanni’s Hände an die Knöchel ihrer Füße gefesselt waren. Dann raffte er seinen Wettermantel auf, der ihm während des Kampfes aus den Riemen des Bergsackes geglitten war, warf ihn über Sanni, und ihren Körper in die große weiche Kotze hüllend, riß er sie mit beiden Armen empor an seine Brust. Ihr blasses Haupt schwankte über seine Schulter, ihre gelösten Haare rieselten bis zu seinen Knieen nieder – er wollte sie noch bequemer legen; doch über den Rand der Kuppe tauchte schon das grausenhaft verzerrte, blutüberronnene Gesicht des Bygotters auf, und getrieben von Angst und Entsetzen stürzte Karli mit seiner Last davon. Er gewann den Schatten der Bäume und die Tiefe der Waldschlucht. Bei dem kühnen Sprunge, mit welchem er über das verwaschene Rinnsal des Baches setzte, erwachte Sanni aus ihrer Ohnmacht. Mit starren Augen schaute sie um sich, erkannte den Geliebten, schlang unter wimmernden Lauten die Arme um seinen Hals, und wieder schwanden ihr die Sinne.
Karli vermochte kaum mehr zu athmen; seine Kniee wankten; träger und schwerer wurden auf dem steilen Gehänge seine steigenden Schritte, und während tief aus dem Thal ein dumpfer verworrener Lärm und die rasch auf einander folgenden Schläge der Feuerglocke tönten, hörte Karli hinter sich schon das Brechen von Zweigen, das Knattern fallender Steine und das Keuchen des Verfolgers.
Schon meinte er, daß ihm kein anderer Ausweg mehr verbliebe, als seine Last auf die Erde zu legen und von Neuem den Kampf mit dem Wahnsinnigen anzunehmen. Da scholl es aus der Höhe des Waldes mit gedehntem Rufe: „Heda – Götz – heda!“
Von Karli’s Lippen gurgelte ein erstickter Freudenschrei – das mußten die Holzknechte sein, mit denen Götz um die sechste Morgenstunde das Treffen angesagt. Er raffte seine schwindenden Kräfte zusammen und schrie mit gellender Stimme gegen die Höhe: „Mannerleut’ – Jesus Maria – Mannerleut’ – da her – da – da!“
Erschrockene Stimmen gaben ihm Antwort, und unter den Bäumen tauchten drei stämmige, verwitterte Gestalten auf. Was ihre Augen gewahrten, das verstanden sie nicht. Aber es genügte ihnen, daß sie den Sohn ihres Brotherrn erkannten, daß sie ihn verfolgt sahen – und als sie gar in der halb lächerlichen, halb grauenerregenden Erscheinung, die über den jenseitigen Hang der Waldschlucht niederstürmte, den Bygotter zu erkennen meinten, warfen sie ihre Geräthe bei Seite und stürzten an Karli vorüber dem Verfolger entgegen.
Der Bygotter sah sie kommen, hielt inmitten des Hanges inne, ballte in grinsender Wuth die dürren, blutigen Fäuste, und während Karli erschöpft und keuchend mit seiner Last die sichere Höhe gewann, flüchtete der Wahnsinnige in rasendem Laufe thalwärts und verschwand mit zornig gellendem Gelächter hinter den schlagenden Zweigen eines dunklen Tannendickichts.
Blätter und Blüthen.
Nach dem Sturm. (Mit Illustration S. 744 und 745.) Ja, er ist vorüber, im Südosten steht das schwarze Gewölk, vom Sturm auf einen Haufen zusammengefegt. Der Sturm ist vorüber. Die beiden Männer, Vater und Sohn, haben ihm Stand gehalten. Hart ging es her und mehr als einmal flog das Stoßgebetlein „Gott sei uns gnädig“ über die stummen Lippen der Beiden, wenn der wüthende Nordwest den Mast zu brechen drohte und im Wogenkampfe das Fahrzeug wie eine Eierschale umhergeworfen wurde. Wie durch ein Wunder entkamen sie dem Unwetter, heil an Leib und Leben, nur mit leichter Havarie am Schiff, aber – o dieses Aber! Wie viel Seufzer, stumme Klagen, verzweiflungsvolle Thränen werden ihm folgen! Die beiden Männer wissen das genau und doch müssen sie die Unglücksbotschaft verkünden. Sobald die Beiden das sichere Festland betreten, strömen sie herzu, die Frauen und Töchter, die Greise, welche nicht mehr „hinauskönnen“, und die Kinder. Sie laufen an den Strand und mit Fragen werden die glücklich Heimgekehrten bestürmt. Nun muß es heraus. Es geschieht auch; aber mit welch zartem vorsichtigen Mitgefühl wissen diese rauhen Männer das Schreckliche mitzutheilen! Das hat Meister Jordan’s Pinsel zu überraschend naturwahrem Ausdruck gebracht.
Sie fischten hoch in der Nordsee, und nicht sie allein; eine kleine Flotte hatte ja den heimischen Hafen verlassen. Da brach das Wetter los; jedes der kleinen Fahrzeuge hatte mit sich zu thun in schwerer Noth und keines konnte auf die Noth des anderen achten. So kamen sie, durch Sturm und Wellen vertrieben, einander aus Sicht. Unter furchtbaren Anstrengungen, stets den Tod vor Augen, suchten Vater und Sohn im schwankenden Boote den Hafen zu gewinnen. Da, backbord von ihnen, unter den tobenden Wassern fast begraben, sehen sie ein zweites Fahrzeug kämpfen. Es hat den Mast verloren; unablässig stürzen die Wogen darüber hinweg; in Gischt und Schaum ist keine Menschenseele, auch kein Schiffsmann zu erkennen. Um das eigene Leben ringend, können die Beiden nicht zur Hilfe eilen. Wer hat den Vater, den Gatten, den Liebsten verloren, für ewig verloren? An wessen Thür wird nun der bleiche Hunger, das Elend pochen? Welches von den unschuldigen, harmlosen Kindlein wird niemals das helle Vaterauge schauen? O unbarmherziges Meer! Sie Alle werden jetzt warten Stunde um Stunde; jedes Boot, welches am Horizont erscheint, wird ihre bange schwache Hoffnung nähren. Das eine oder andere Fahrzeug wird, muß wiederkehren; kamen doch die beiden Erzähler glücklich heim! Gewiß, sie werden kommen, heute oder morgen, oder auch übermorgen! Vielleicht ist jenes Wrack das eines ausländischen, eines norwegischen Schiffes – an solchen Strohhalm klammert sich die bange Erwartung bis zu dem Tage, der die tödliche Gewißheit bringt.
„Ein Kuß“. Unter diesem Titel hat Paul von Schönthan in der Reclam’schen Universalbibliothek Gereimtes und Ungereimtes zusammengestellt. Er schickt eine kurze Geschichte des Kusses voraus und giebt dann eine Auswahl poetischer und prosaischer Stellen, die man im Ganzen billigen kann; denn leicht war die Arbeit nicht, bei einem Thema, das alle Poeten des Alterthums und der Neuzeit, des Morgenlandes und Abendlandes behandelt haben, in einem Miniaturbändchen das Gute und Beste auszuwählen. Für den Geschmack des Sammlers spricht es, daß er an die Spitze seines Bändchens die Verse gestellt hat, mit denen Friedrich Halm im „Wildfeuer“ den Kuß verherrlicht, die auch wir für das Schönste und Schwungvollste halten, was über ihn gedichtet worden:
„Ein Wunder, ein Geheimniß ist der Kuß,
Denn wie des Morgenlandes Weise sagen:
Die Lippe küßt, wohin das Herz sie neigt,
Ehrfurcht die Hände, Sklavendienst das Kleid,
Die Freundschaft auf die Wangen, auf die Stirne
Küßt tröstend Mitgefühl; doch auf die Lippen
Drückt Liebe ihren Kuß, wildloderndes
Verlangen auf das müd geschloss’ne Auge,
Und Sehnsucht haucht ihn seufzend in die Luft.
Noch mehr! Ein Kuß ist das, was ihr ihn schätzt,
Nichts, wenn ihr scherzt, und, wenn ihr ernst meint, alles;
Er kühlt und glüht, er fragt und er giebt Antwort;
Er heilt und er vergiftet, trennt und bindet,
Er kann versöhnen wie entzweien, kann
Vor Wonne tödten und kann Todte wecken,
Und mehr, noch mehr! Was könnte nicht ein Kuß?“ †
Die Umgebung Roms und Athens. Es giebt kaum einen neueren Schriftsteller, der solche stimmungsvolle geschichtliche Landschaftsbilder zu zeichnen weiß wie Ferdinand Gregorovius: das hat er in seinen interessanten Schriften über Italien, Sicilien, Corfu etc. zur Genüge bewiesen. Auch in seiner neuen Sammlung: „Kleine Schriften zur Geschichte und Kultur“ (Leipzig, F. A. Brockhaus) finden sich solche mit historischem Geist gesättigte Naturschilderungen, besonders in dem Aufsatz: „Aus der Landschaft Athens“. So wenn er die athenische Ebene mit der römischen Campagna vergleicht: „Alle Linien und Formen in der Landschaft Athens sind geistiger, feiner, durchsichtiger und verklärter als die der Ebenen Roms, aber sie sind kleiner und begrenzter. Der Aether, der sie umfließt, ist göttlicher und lichter, und der Gedankenstrom, der sie durchdringt, ist mit nichts auf Erden vergleichbar; denn wie muß ein von Natur schönes, anmuthsvoll gestaltetes Land die Seele des Betrachters ergreifen, wenn sein strahlender Himmel erfüllt ist mit den Göttergestalten der hellenischen Dichtung und seine geweihte Erde mit der edelsten Blüthe des geschichtlichen Menschengeschlechts. Ganz so natur- und geistgemäß wie die elysischen Gefilde hier das ideale Athen umrahmen, ganz so dem großen Wesen Roms entsprechend umschließt die feierliche Campagna dort die Majestät der ewigen Stadt, die zweimal die Gebieterin der Welt gewesen ist. Die Grazie und vollendete Schönheit der Tempel und Bildwerke Athens läßt alle Denkmäler der Römer plump und schwer erscheinen; aber die zaubervollen Formen der attischen Landschaft rauben der Empfindung nichts von der tragischen Erhabenheit der Campagna Roms oder von dem überwältigenden Hauche des Weltschicksals, der auf ihrem weiten Trümmerfelde weht.“ †
„Beim Aeppelwein in Sachsenhausen“. (Mit Illustration S. 753.) Ist München ohne Bier denkbar? Wien ohne seinen „Heurigen“? Nun – Eines ist undenkbar: Sachsenhausen ohne „Aeppelwein“. Wenn in jenen beiden großen Städten mit der Zeit auch Alles ins Große gewachsen ist und modernisirt wurde, so daß nur ein sehr erfahrener Ureinwohner den Weg nach den richtigen „Quellen“ weisen kann, so ist dagegen Sachsenhausen, die am linken Mainufer gelegene Vorstadt Frankfurts, in dieser Beziehung wenigstens von der Kultur unbeeinflußt geblieben. Der Aepfelwein übt auf die „fremden Elemente“ durchaus nicht jene Anziehungskraft aus wie Wein und Bier, und das erklärt jene Erscheinung. Die Stübchen und Gärtchen sind noch immer klein, oft haarsträubend enge, wie sie es von jeher waren, und was sich da, oft an einander gepreßt wie Häringe, zusammenfindet, ist nichts weniger als „gemischte Gesellschaft“. Da ist der Sachsenhäuser, bieder, humorvoll und grob – göttlich grob! – Und neben ihm der alte Frankfurter „Borjer“, der, wenn der Abend hereindämmert, gerne über die alte Brücke hinüberwandert in die schmalen, von alterthümlichen, hochgiebeligen Häusern gebildeten Gäßchen und dort den gewohnten Schoppen zu sich nimmt. Damit ist aber auch der Kreis vollendet – Neu-Frankfurt trinkt lieber Champagner als Aepfelwein und diejenigen, welche das Unglück haben, „von außerhalb“ zu sein, wagen sich auch nur selten in die dämmerigen Stübchen und Gärtchen. Daran wird, wie gesagt, wohl mehr der Aepfelwein als die Sachsenhäuser schuld sein; denn diesen fehlt es nicht an einer gewissen Art Gemüthlichkeit, wenn sie auch grob sind. Aber besser als Alles mag ein Stückchen den Sachsenhäuser schildern, das der Schreiber dieser Zeilen erlebte, als er einmal ein paar fremden Damen den „Aeppelwein“ zeigen wollte. An den drei langen Tischen, die in dem engen Hofe standen, war auch nicht ein Plätzchen mehr frei, aber es sollte Rath geschafft werden. „Warten Sie nur!“ brummte der nächstsitzende Stammgast, als er die Hilfe suchenden Blicke der Damen gewahrte, und dann stemmte er seine Füße an den Boden und schwupps – am andern Ende der Bank flogen Zwei zur Erde, aber neben uns waren zwei Plätze frei. So ist der Sachsenhäuser – und wer diese oft prächtigen Charaktergestalten kennen lernen will, der thut am besten, wenn er sie zu Hause aufsucht – nämlich „beim Aeppelwein“. Emil Peschkau.
K. L. in …g. Luise Otto’s jüngst erschienener kulturhistorischer Roman führt den Titel „Die Nachtigall von Werawag“ (Freiburg i. B., Adolf Kiepert). Da Sie kulturhistorische Erzählungen mit Vorliebe lesen, findet gewiß auch dieser Roman Ihren Beifall.
J. W. in B. Wir bedauern sehr, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können, da eine Fortsetzung der Serie die meisten Leser nur ermüden würde. Photographien sind vorhanden und durch jede Kunsthandlung zu beziehen.
M–a. Nicht geeignet.
Inhalt: Die Geheimräthin. Novelle von Hieronymus Lorm (Fortsetzung). S. 741. – Hofball. Illustration. S. 741. – Vom Nordpol bis zum Aequator. Populäre Vorträge aus dem Nachlaß von Edmund Alfred Brehm. Land und Leute zwischen den Stromschnellen des Nil (Fortsetzung). S. 746. – Eine gekrönte Dichterin. Von Rudolf von Gottschall. Mit Portrait. S. 749. – Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S 751. – Blätter und Blüthen: Nach dem Sturm. S. 756. Mit Illustration S. 744 und 745. – „Ein Kuß“. S. 756. – „Beim Aeppelwein in Sachenhausen“. Von Emil Peschkau. S. 756. Mit Illustration S. 753. – Die Umgebung Roms und Athens. S. 756. – Kleiner Briefkasten. S. 756.
In unserem Verlage ist erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
14 Bogen 8º mit zahlreichen Original-Illustrationen. Ganzleinenband mit reicher Deckelpressung. Preis: Eine Mark.
Der Kalender bringt wieder neben einem ausführlichen Kalendarium, verbunden mit haus-, garten- und landwirthschaftlichen Notizen, zahlreiche praktische Nachweise und Tabellen, populär-wissenschaftliche, belehrende und unterhaltende Artikel, besonders auch gute Erzählungen, Humoresken, Gedichte und vorzügliche Illustrationen. – Billiger Preis bei reichem, gediegenem Inhalt und geschmackvoller Ausstattung zeichnen auch diesen dritten Jahrgang unseres „Gartenlaube-Kalenders“ vortheilhaft aus.
Die ersten Jahrgänge 1886 und 1887 des „Gartenlaube-Kalenders“ sind zum Preise von 1 Mark für den Jahrgang ebenfalls noch zu haben.
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