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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[725]

No. 41.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ueber den Gartenzaun.

Erzählung von A. Weber.
(Fortsetzung.)


Terka’s Ehe hatte einen besseren Fortgang, als ihn der Anfang versprach; denn der „alte Pista“, wie Terka ihren Vierziger bei sich nannte, war gutmüthig und verliebt und that seiner jungen Frau Alles zu Gefallen. Terka aber war nicht unempfänglich für seine Güte und für die Annehmlichkeiten eines eigenen, reichen Hauses, und da sie von Natur arbeitsam war, machte ihr das Wirthschaften Vergnügen. Doch gab es ihr allemal einen Stich ins Herz, wenn sie über den damals noch niedrigen Gartenzaun hinweg den Janos mit der Martscha in verliebtem Getändel sah; denn die Beiden prahlten vor ihr ohne Scheu mit ihrer Zärtlichkeit. Als nun einmal der alte Pista dazukam, lief Terka ihm entgegen und fiel ihm um den Hals; aber


Der große Arbersee. 0 Nach einer Photographie gezeichnet von R. Püttner.

[726] als Pista, ganz erfreut über ihre plötzliche Zärtlichkeit, ihr einen herzhaften Kuß gab, da schämte sich Terka ihrer Heuchelei, der Prahlerei ihrer Nachbarin und ihrer eigenen sündigen Eifersucht zugleich von ganzem Herzen, entschloß sich kurz und legte auf den Gartenzaun so viele Latten, daß Niemand mehr herüber und hinüber sehen konnte. Und dann wirthschaftete sie eifrig, bis eine gewisse Zufriedenheit über sie kam, aus welcher vielleicht ein ruhiges Glück hätte entstehen können, wäre ihre Ruhe nicht bald wieder erschüttert worden.

Nach kaum Jahresfrist gebar die Frau Martscha ein Knäblein, und es ward nun im Nachbarhause ein so großes Gethue und Gerenne, so feierliche Taufe und so viel Kindergeschrei und -Jauchzen, daß das Alles wohl über den Zaun in Terka’s stillen Hof und in ihr Herz dringen mußte. Denn sie selbst hatte nicht ein gleiches Glück, und als die Jahre kamen und gingen, trug ihre vergebliche Sehnsucht über alle durch Arbeit mühsam errungene Ruhe den Sieg davon.

Nun ward sie ehrgeizig. Da sie der Martscha und dem Janos in dem einen, besten Stück nachstehen mußte, so wollte sie es ihnen in allen übrigen zuvorthun, und sie begann damit, daß sie statt des alten Lehmhauses ein neues von Fachwerk aufführen ließ.

Aber siehe da, als der zweite Sommer kam und Terka’s Haus im Rohbau fertig war, wurde das Nachbarhaus niedergerissen. Auch Janos war ehrgeizig geworden. Hätte Terka durch die Mauern und in die Herzen sehen können, sie hätte Janos minder heftig beneidet. Denn er hatte schon nach wenigen Monaten mehr Haare in seinem Glück gefunden, als Terka bei allem wirklichen Schmerz je in dem ihren fand. Die alte Martscha war bei aller Verliebtheit in ihren schmucken Gatten doch sehr stark von dem Bewußtsein durchdrungen, daß sie ihn zu sich emporgehoben und ihm ein großes Glück in den Schoß geworfen habe. Das sollte er ihr denn auch gehörig danken durch fortwährende zärtliche Aufmerksamkeit und gehorsamen Fleiß. Und weil sie die Stärkere war, so zwang sie den Mann zur Fügsamkeit und Arbeit; das behagte ihm schlecht. Weil er aber phlegmatisch, herzenskalt und leichtsinnig war, so konnte sie ihm mit allem Schelten nicht bis ans Herz kommen, und das reizte und grämte sie, und sie arbeitete und rang sich an ihm matt bis zur Verzweiflung. Als nun das Kind geboren wurde, war ihr das freilich eine große Genugthuung und gab ihr in ihren eigenen Augen wieder ein Stück von jener Wichtigkeit, welche die aalglatte Gleichgültigkeit ihres Mannes erschüttert hatte; aber sie war zu alt, zu hart und prosaisch, um nicht das viele Windelwaschen und Kindergeschrei als eine große Unbequemlichkeit zu empfinden und öfter ungeduldig als herzensfroh über ihren Kleinen zu werden. Janos nun gar war in heller Verzweiflung über die schlechten Nächte, die ihm die kräftige Lunge seines Söhnleins bereitete; denn den Schlaf hielt er für das größte aller Erdengüter. So wurde er diesseit des Zaunes nicht weniger von Herzen neidisch auf das ruhige Wohlleben der Terka, als diese jenseit des Zaunes den Janos um sein zappelndes Glück beneidete. Beide sahen im Geschicke des Andern nur das Licht und im eigenen den Schatten.

Darum dachte Janos, als Terka sich ein neues Haus baute, sie könne es vor Uebermuth im alten nicht mehr aushalten, und da er ihr zeigen wollte, daß er ebenso viel könne wie sie, so riß auch er sein altes Haus nieder und baute sich genau ein eben solches wie das der Terka war. Seine Frau war damit einverstanden; sie haßte Terka viel mehr als er; denn sie war eifersüchtig auf die jüngere Frau, welche jetzt, da sie den Mongolenmädchenzopf abgeschnitten hatte, im zierlichen Kopftuche der Frauen beinahe hübsch aussah. Als nun Terka ihre Fensterladen grün anstreichen ließ, malte Janos die seinen roth, worauf dann Terka ihre Querbalken roth anstrich und Janos die seinen grün. Als dann die Häuser von außen und innen fertig waren, schaffte sich Terka ins Wohnzimmer ein mit Kattun bezogenes Kanapée und einen Querspiegel im Barockrahmen, und Janos, welcher die Sachen ins Nachbarhaus hatte tragen sehen, kaufte ein Sofa mit Wollbezug und einen Pfeilerspiegel. Als Terka im Hause nichts mehr für ihren Ehrgeiz zu thun fand, verfiel sie auf die Idee, auch ihren Hofgarten ganz anders zu gestalten als alle Nachbargärten, und sie ließ die alten Bäume herunterschlagen und Teppichbeete anlegen. Als aber Janos ihrem Beispiel folgen wollte, fiel ihm seine Frau in den Arm.

„Die da drüben wird sich noch genug darüber ärgern, daß sie die schönen Bäume niedergeschlagen hat, daß die Sonne ihr den armseligen Plunder von buntem Kraut versengen und in die Zimmer brennen wird,“ sagte sie mit möglichst lauter Stimme und wies mit dem Daumen über die Schulter nach dem Zaune, hinter welchem, wie sie wußte, Terka stand.

Da ließ Janos seine Bäume stehen, und Terka ärgerte sich wirklich bald über ihre Thorheit, pflanzte aber, da sie diese einzugestehen sich schämte, keine neuen Bäume, quälte sich jahraus jahrein mit der Erhaltung der undankbaren Teppichbeete und setzte sich in den Schatten des Maulbeerbaums, der vom Feindeshofe her seine Zweige über den Zaun breitete.

Darüber waren fünf Jahre vergangen; als aber der Maulbeerbaum zum sechsten Mal seit jenem entscheidenden Pfingsttage Blätter bekam, hörte Terka plötzlich auf, neue Verbesserungen in Haus und Hof einzuführen; sie saß still im Schatten des Baumes, hatte die Hände in den Schoß gelegt und die Augen in die Ferne gerichtet. Was hatte sie so viel zu sinnen? Und wo war ihr Ehrgeiz geblieben? Das Glück hatte ihn hinaus geworfen aus dem Herzen: es brauchte den ganzen Platz für sich allein. Als der Maulbeerbaum blühte, saß Terka, schaute durch seine Zweige zum Himmel und dachte zum ersten Mal in ihrem Leben, wie schön doch die weißen Blüthen und der blaue Himmel und die helle Sonne seien, und wie gut ihr Mann! Und als des Baumes Beeren sich rötheten, nähte sie Hemdchen und Jäckchen, weinte und lachte und horchte hinaus, ob nicht ihr Pista vom Felde herkäme und die Gartenthür aufklinke. Und als die Blätter des Baumes fielen, lag sie mit einem kleinen Dirnlein im Arm und flüsterte dem Mann zu, der scheu und so leise, wie es seine steifen Beine nur fertig brachten, zum Bett trat:

„Schau doch, welch goldene Härchen es hat und welch große Augen! Unser Kind!“

Und als sich der alte Pista über sie beugte, faßte sie nach seinem verwetterten Gesicht und gab ihm den ersten freiwilligen Kuß nach sechsjähriger Ehe.

Und nun erst hätte Janos Grund gehabt, Terka zu beneiden; aber um inneres Glück beneiden Einen die Menschen nicht; das ist ganz still, und sie gewahren oder verstehen es gar nicht. Janos wunderte sich nur, daß Terka viel sachter hantirte als früher und im nächsten Frühjahr ganze Stunden am Zaun saß und mit leiser Stimme ihrem kleinen Mädchen Wiegenlieder sang. Sie selbst dachte gar nicht mehr an Janos. Wenn sie ihm einmal zufällig begegnete, so gab es ihr keinen Stich mehr ins Herz, und sie wunderte sich nicht einmal über diese Veränderung ihres Gefühls; so wenig waren ihre Gedanken bei der Vergangenheit.

Aber die Nachbarfamilie brachte sich ihr bald in unliebsame Erinnerung, und zwar durch ihren Sprößling, den sechsjährigen Stefan. Der war ein sehr kecker, wagehalsiger, zu allen Streichen aufgelegter kleiner Bursch, Obgleich er von der strengen Mutter mehr Schläge als Brot bekam und der bequeme Vater dem lästigen Störenfried nie ein gutes Wort gab, so minderte das weder den Frohsinn noch den Wagemuth des Buben, und alle Tage mußte ihn die erschreckte Mutter aus irgend einer Todesgefahr erretten und ihn nachher für den gehabten Schrecken durchprügeln. Bald hing er, den Kopf nach unten, am Gartenzaun, der seine Hose mit einem herausstehenden Nagel festhielt, bald schrie er von dem benachbarten Tümpel her, dessen Wasser ihm bis an den Hals ging, oder er steckte Bohnen in die Nase und brennende Schwefelhölzer als Cigarre in den Mund; denn er mußte alles erkundschaften und nachmachen, was es in der Welt von gefährlichen Dingen und Hantirungen gab.

Nun hatte dieser kleine Held von den Nachbarfrauen oft die Schönheit von Terka’s Töchterchen, der kleinen Riza[1], rühmen hören, welche die goldigsten Haare, die lachendsten braunen Augen und die lieblichsten Wangengrübchen haben sollte, die je an einem kleinen Mädchen zu sehen gewesen. Da aber seine Mutter immer in großem Aerger die Möglichkeit bestritt, daß der häßliche alte Pista und die breitnasige Terka solch engelhaftes Kind haben könnten, so war Held Stefan sehr neugierig auf [727] die Schöne in Feindesland geworden. Nun wußte er, daß das Korbwägelchen des Kindes an jedem schönen Nachmittage jenseit des undurchsichtigen Gartenzaunes stand, da, wo die herabhängenden Zweigen des Maulbeerbaumes Schatten spendeten. Als nun an einem schönen Sommertage die Mutter auf dem Felde war, lief Stefan nach dem Stall, wo der Vater nach einer kranken Kuh sehen sollte, und erblickte ihn auf der Krippe sitzen und schlafen. Da trippelte der Bube auf den Zehen aus dem Stall in den Hof, kletterte den Maulbeerbaum hinauf, der gerade schöne blaue Beeren trug, aß sich erst nach Herzenslust satt, machte sich Gesicht, Hände und Kleider schwarzfleckig, stopfte sich noch eine Menge der weichen Beeren in die Hosentaschen und dachte dann wieder an die kleine Riza im Nachbarhofe. Also klomm er noch höher, bis er auf einen Zweig kam, von welchem aus er gerade in das Wägelchen sehen konnte, darin das Kind schlief. Aber der Anblick enttäuschte ihn sehr; denn er sah nur ein rosenrothes Gesichtchen, das ihm sehr klein und gar nicht merkwürdig, sondern wie das aller anderen kleinen Kinder vorkam. Aus diesen machte er sich aber durchaus nichts, weil sie viel zu dumm waren, als daß man mit ihnen „Ritter und Räuber“ hätte spielen können, und weil sie außerdem gleich schrieen, wenn man ihnen einmal ins Gesicht fuhr oder sie ein bischen anfaßte. Da aber das kleine Mädchen die Augen geschlossen hatte, bildete sich Stefan ein, wenn es sie öffne, werde vielleicht etwas Wunderbares zum Vorschein kommen. Aus Furcht, den Vater zu wecken, konnte er die Kleine durch Anrufen nicht ermuntern; er pflückte eine Maulbeere nach der anderen und warf sie auf des Kindchens Bett, wo sie zerplatzten. Der Bube hörte jedesmal einen kleinen Knall, sah den Saft ausspritzen und freute sich unbändig darüber. Endlich trafen zwei wohlgezielte Beeren richtig das Gesicht der Kleinen; sie begann erbärmlich zu schreien, Terka stürzte aus dem Hause, sah Bett und Gesicht des Dirnleins ganz voll blauer Flecke und erblickte oben in den Zweigen des Maulbeerbaumes das halb erschrockene, halb trotzige Gesicht des Uebelthäters. Sie schalt entrüstet mit voller Kraft der Lunge hinauf; Stefan, zuerst bestürzt über diese Wirkung seiner Thätigkeit, welche ihm so großen Spaß gemacht, erinnerte sich, daß die Nachbarfrau nach der Mutter Reden sehr böse sei, und machte ihr von seinem sicheren Sitze aus die allerabscheulichsten Gesichter und Nasen, die Terka zu immer größerem Zorne reizten. Ueber dem Schelten kamen des Stefan verschlafener Vater und leider auch die eifrige Mutter herbei. Letztere, welche sofort erkannte, daß die Scheltreden der Nachbarin ihrem Büblein galten, strengte ihre Lunge zu weit giftigeren Erwiderungen an. Zwischen den beiden einander unsichtbaren keifenden Frauen, welche, der Veranlassung des Streites vergessend, sich mit jahrelang angesammelter Galle überschütteten, saß der eigentliche Uebelthäter auf dem Maulbeerbaum ganz verdutzt, aber sehr erfreut, als er merkte, daß die Kämpferinnen diesseit und jenseit des Zaunes ihn ganz unbeachtet ließen. Erst als der Mutter die Kraft der Lunge fast versagte, gebot sie dem Stefan, vom Baume herunter zu kommen. Mit einem mütterlichen Puff versehen, machte sich der Bube eiligst aus dem Staube, im Herzen den festen Glauben tragend, daß die Nachbarin eine böse, böse Hexe, ihr Dirnlein ein langweiliges Ding sei – und daß es der Mutter behagen werde, wenn er Beiden so viel Schabernack spiele wie irgend möglich. Das that er denn um so eifriger, als er sonst Niemand hatte, an dem er sein Bubenblut und seinen Bubenwitz erproben und austoben konnte! Natürlich bestärkten alle die auf weiße Wäsche geschleuderten Maulbeeren, die unvermuthet explodirenden Knallerbsen, der auf Riza’s Köpfchen gestreute Sand und tausend andere Unarten des Knaben in Terka die Meinung, daß noch nie ein schlimmerer Galgenstrick der Menschheit zum Schaden und Aerger gereicht habe, und ebenso natürlich wurde die schon halb im Einschlummern begriffene Feindschaft zwischen den Nachbarn dadurch immer eifriger angestachelt. Doch ist der Zorn des Glücklichen dem Aprilschauer gleich, durch den die Sonne lacht und dessen Spur sie sogleich auftrinkt von dem Herzen des Zürnenden. Und so verschwand Terka’s Aerger eben so rasch, wie er aufgewallt war.

Als die kleine Riza aber fünf Jahre alt war, kam der alte Pista einmal an einem heißen Sommertage sehr erhitzt vom Felde heim, trank hastig einen Schluck von dem Theißwasser, welches Terka in durchlassenden thönernen Krügen sehr kühl erhielt, und stürzte auf der Stelle todt zu Boden.

Drei Tage später kletterte Stefan auf den Maulbeerbaum und schaute von dort aus zu, wie der Priester mit den Chorknaben, welche brennende Kerzen und bunte Heiligenbilder trugen, und die Träger in ihren wallenden schwarzen Mänteln durch den Hofraum ins Nachbarhaus schritten und eine Weile später mit einem silberbeschlagenen Sarge zurückkamen. Und als er die kleine Riza im schwarzen Kleidchen und mit breiten, schwarzen Bändern in den gelben Zöpfchen an der Hand der Mutter in einem Zuge hinter dem Särge erblickte, da empfand er eine rechte Hochachtung vor dem Dirnlein, das als eine Hauptperson in einem so merkwürdigen, bunten Abenteuer mitthat. Die Kleine war sich auch ihrer Wichtigkeit bewußt; über ihr durch das Jammern der Mutter verschüchtertes Gesichtchen ging ein lustiger Sonnenstrahl; sie lachte mit allen ihren Grübchen zu ihrem Erbfeinde hinauf, dem sie plötzlich sehr hübsch vorkam, und nahm dann gleich wieder eine ernsthaft wichtige Miene an. Nachher, als das Trauermahl im Hof auf einer langen Tafel aufgestellt war, ging das kleine Mädchen von Hand zu Hand, wurde von den Männern mit einem derben Scherz in die Bäckchen gekniffen und von den Frauen mitleidig gestreichelt und bewundert. Stefan konnte von seinem Maulbeerbaum aus so viel rufen als er wollte, das Dirnlein schaute nicht ein einziges Mal zu ihm auf. Da ballte er endlich sein Taschentuch zu einem großen Knäuel zusammen und warf es nach ihr, es fiel aber auf die Tafel und warf den Weinkrug um, so daß der Wein weit umher verspritzte.

Da lachte unter dem Stefan sein Vater, der an dem Geschrei und Stühlerücken im Nachbarhof wohl merkte, daß sein Bube drüben wieder Unheil angerichtet haben müsse und den das freute. Denn Janos war diese drei Tage seit dem Tode des alten Pista in immer steigendem Grimme umhergegangen; er fühlte einen wachsenden Neid auf die Terka – die jetzt frei war von ihrem alten Mann und nach Willkür schalten und walten konnte.

Und die beneidete Terka, welche so lange gegen ihre sonstige Gewohnheit still dagesessen hatte, schaute, als des Stefan’s Wurfgeschoß solch Unheil angerichtet, müde auf und gerade in das erschrockene Gesicht des Schützen. Aber statt zu schelten, zog sie Riza auf ihren Schoß, legte das Kinn auf den Blondkopf der Kleinen und ließ bitterliche Thränen auf Riza’s Haar fallen; denn Stefan hatte einen Vater und ihr Dirnlein war verwaist. Als sie aber drüben den herzlosen Janos lachen hörte, that sie einen feierlichen Schwur, daß ihre Riza doch glücklich werden solle, viel glücklicher als des lebenden, lachenden Janos’ Sohn.

In der Folgezeit kam in ihr Weinen hinein immer die Erinnerung an des Janos’ Lachen; dann trocknete sie ihre Thränen und begann resolut zu wirthschaften; ihr Anwesen sollte nicht, wie der Janos wohl dachte, darunter leiden, daß ihm eines Mannes Auge und Hand fehlte; die Terka war Manns genug, den Wohlstand noch zu mehren und ihre Tochter zu dem reichsten Bauernmädchen in ganz Szegedin zu machen.

Ihr trauriges und leeres Herz füllte sich mit ehrgeizigen Zukunftsplänen für ihr Kind; um seinetwillen wies sie alle Freier ab, welche um die reiche und saubere Bäuerin warben, und schaffte den ganzen Tag im Felde. Ihr Dirnlein spielte indessen unter der Obhut der alten Großmutter im Hofe, jagte sich lachend mit seinen Kätzlein herum und breitete nur erschrocken die Hände über das Köpfchen, wenn der schwarzäugige Erbfeind im Maulbeerbaum saß und es anrief oder Blätter und Blüthen, wohl auch Steinchen herabwarf.

Mit wachsenden Jahren wurde Stefan es aber müde, die Rolle des Bösewichtes zu spielen, die man ihm im Nachbargarten zuertheilte; er kletterte immer seltener auf den Maulbeerbaum, hatte auch schon aus dem Grunde weniger Lust und Gelegenheit dazu, als die strenge Mutter ihn in den Stunden, welche ihm die Schule freiließ, sehr bald zur Feldarbeit heranzog, die er mit wachsendem Geschick und Eifer verrichtete. Er wurde der Mutter bald eine Stütze, und der Vater konnte mehr Zeit als früher zum Schlafen verwenden. Die Riza aber sah er fast gar nicht mehr; denn Terka erzog sie nach Art vornehmer Leute, welche die Mägdlein streng im ummauerten Haus und Hof halten und sie sehr selten, nie aber ohne Begleitung, die Straße betreten lassen.

Als Stefan siebzehn Jahre alt geworden war und an einem Mai-Abende vom Felde heimkehrte, waren Vater und Mutter [728] zu einer Kindtaufe gegangen, und es war ganz still in Haus und Garten. Stefan holte sich einen Krug Wein und ein Stück Kukuruzbrot heraus auf den Tisch unter dem Maulbeerbaum und trank, vergaß aber das Essen; denn er war durstig und müde; es war sehr heiß gewesen und noch jetzt warm. Zur andern Seite der Gartenbank stand ein Fliederbusch, der duftete süß und einschläfernd; eine wonnige Traurigkeit beschlich zum ersten Mal in seinem Leben den jungen Burschen, und dabei pochte sein Herz in unbestimmtem Sehnen. Auf der andern Seite des Gartenzauns sang eine junge, süße Stimme leise ein schwermüthiges Liebeslied. Sonst war Alles ganz still. Die sanften Töne kamen herübergeschwommen, wie der Duft des Flieders hinüberzog. Das mußte der junge Bursch denken, und daß jenseit des Zauns die Sängerin den Flieder nicht blühen sehen konnte, dessen Duft sie athmete, wie er diesseits nur die Töne hörte, ohne die Sängerin zu sehen. Und es kam eine starke Sehnsucht über ihn, mit dem unsichtbaren Wesen da drüben, welches jung war wie er, das unbestimmte Etwas zu theilen, das ihn mit so seliger Unruhe erfüllte.

Er pflückte einen großen Strauß von dem Flieder; dabei fiel sein Blick auf einen Strauch jener frühen weißen Rosen mit leichtem rothen Anhauch, welche man dort „Jungfernrosen“ nennt. Seine Blumen hatten am Morgen noch alle in der Knospe gesteckt; jetzt blühte er über und über. Da brach Stefan die schönsten Rosen ab und steckte sie sammt dem Flieder in seine weiten Hosentaschen; dann klomm er eilig, als hätte er ein Versäumniß nachzuholen, auf den Maulbeerbaum und schaute hinunter in den Nachbargarten. Drin saß auf ihrem Lehnstuhl die Großmutter und schlief, und neben ihr, auf der Bank, saß die blonde Riza, hatte die Hände in den Schoß gelegt und sang mit halb geöffneten Lippen wie ein träumendes Vögelchen. Doch saß sie so dicht am Zaun, daß Stefan ihr gerade auf den Kopf sah und folglich nichts mehr erblickte, als ihr gelbblondes Haar, das in zwei starken Zöpfen über die Schulter herabhing. Weil ihn aber eine sonderbare Ungeduld plagte, in ihr Gesicht und namentlich ihre Augen zu sehen, so zog er ein paar Rosen aus der Tasche und ließ sie hinabfallen. Sie sanken auf Riza’s Köpfchen; die griff danach und betrachtete sie mit bewunderndem und mitleidigem Ausruf: „Die schönen Rosen! Und so kurz am Kelch ohne Stengel abgepflückt!“

Dabei sah sie in die Höhe und lachte.

„Hast Du noch mehr?“ fragte sie.

„Ja,“ rief er hinunter, „darf ich sie Dir bringen?“

„Warum nicht? Wenn Du artig sein und die Großmutter nicht aufwecken willst,“ lachte sie hinauf.

Mit einem Satz sprang Stefan in den Garten, und die Großmutter mußte wahrlich einen festen Schlaf haben, daß sie von dem Geräusch des Sprunges und Riza’s Schrei nicht erwachte.

„Jesus Maria!“ sagte der Blondkopf halb lachend, halb vorwurfsvoll, „Du bist noch immer der Alte, Stefan! Konntest Du nicht zur Thür hereinkommen? Mußt vom Himmel fallen wie ein Unwetter?“

Dabei ließ sie die Augen über ihn schweifen und sagte:

„Wie groß Du geworden bist! Du bist ja ein Mann!“

Er aber stand und sah sie an; denn er meinte, noch nie so etwas Schönes gesehen zu haben, wie sie mit ihren welligen goldenen Haaren, den lachenden, goldbraunen Augen und dem weißen Gesichtchen, in welchem bei dem kleinsten Lächeln Grübchen in Wange und Kinn erschienen. Er war völlig verwirrt und wußte nichts zu sagen, sondern kramte nur Flieder und Rosen aus den Taschen auf den Gartentisch, und Riza, die, im Herzen noch völlig Kind, ganz unbefangen war, schlug ein über das andere Mal die Händchen zusammen, bald aus Freude über die Fülle der schönen Blumen, bald aus Entrüstung über den grausam zerdrückten Zustand derselben. Doch suchte sie sich die schönsten Rosen heraus, wand sich davon einen Kranz und setzte ihn sich aufs Blondhaar, unter dem ihr Gesichtchen unglaublich lieblich hervorlachte, so daß Stefan den Athem anhielt, als könne der das schöne Bild fortblasen.

Weil nun die Beiden so völlig mit einander beschäftigt waren, hörten sie nicht drüben im Hause die Thür klappen, welche nach der Straße führte und sehr selten benutzt wurde; denn man hatte sich daran gewöhnt, durch den Hof zu gehen, in welchem sich im Sommer das häusliche Leben abspann, und von welchemn eine Thür ins Feld, eine gegenüberliegende auf die Straße führte. Diesmal aber war Terka zufällig durch die Hausthür ins Haus und von da ans Fenster getreten und hatte den unerwarteten Anblick des Feindessohnes, der ganz still, aber – der Terka argwöhnischem Blick blieb das nicht verborgen – auch ganz verliebt ihr einziges, schönes, für ein großes Glück bestimmtes Kind anstarrte. Freilich belehrte ein zweiter Blick die Terka, daß dieses Kind noch völlig unbefangen sei; indeß – das Dirnlein war fast eine Jungfrau, und die Rosen brechen über Nacht auf.

(Fortsetzung folgt.)

Im deutschen Böhmerwalde.

Reiseskizzen von Karl Pröll.0 Mit Originalzeichnungen von R. Püttner.
III.

Die Stadt Prachatitz, am Fuße des 1100 Meter hohen, schönbewaldeten Libin gelegen, ist das mittelalterliche Schatzkästlein des Böhmerwaldes. In den erhaltenen Baudenkmälern und dem malerischen Schmucke vieler Häuser zeigt sich der Abglanz früherer Tage des Reichthums und der Fülle, welche längst dahin geschwunden. Einst war Prachatitz die Hauptstadt des Handels im südwestlichen Böhmen, und auf dem „güldnen Steige“, dem berühmten Handelsweg nach Passau, flossen ihm Macht und Ansehen zu. Heute suchen die Tschechen die Stadt zu erobern. Die Beseda, die tschechische Privatschule ist bereits vorhanden, und etwa ein Viertel der 4000 Bewohner giebt die letzte Volkszählung als Tschechen an. Denselben Erscheinungen begegnet man in den anderen Städten an der seit hundert Jahren ohnedies stark zurückgeschobenen Sprachgrenze, in Winterberg, Bergreichenstein. Der „deutsche Böhmerwaldbund“ hat seine Bestrebungen am besten gekennzeichnet, als er die erste Generalversammlung im September v. J. in dem schwer bedrohten Prachatitz abhielt.

Unsere Illustrationen (S. 729) veranschaulichen: eine Partie des alten Stadtwalles und die denselben flankirenden Thürme; das zinnengekrönte, kastellartige, große Stadt- oder Piseker-Thor, auf dessen Außenfront das vor wenigen Jahren restaurirte riesige Reiterwappen der Rosenberg, der früheren Schutzherren der Stadt, in lebhaften Farben prangt; endlich das aus dem 16. Jahrhundert stammende alte Gemeindebrauhaus mit vorspringenden Arkaden und Sgraffito-Malereien, welche an der Breitseite eine kühn komponirte figurenreiche Römerschlacht, an der Eckseite ein mittelalterliches Zeltlager, zwischen den Fenstern Landsknechtsfiguren in derbem Holzschnittstile darstellen. Im Hintergrunde der zwei letzten Ansichten erblickt man den pavillonartigen Aufsatz, womit man einen der Thürme verunziert hat, welche zu der schönen spätgothischen Stadtkirche Sankt Jakob gehören. In der alten Sakristei sind die eisernen Fenstergitter verbogen. Hier ließ Ziska nach Erstürmung der Stadt am 12. November 1420 neunzig gefangene deutsche Bürger durch Pechkränze verbrennen. Zweihundert Jahre später (28. September 1620) richtete der Sieger vom „Weißen Berge“, Graf Buquoy, ein Blutbad unter den Anhängern Friedrich’s von der Pfalz an, dem 1800 Menschen zum Opfer fielen. Noch von verschiedenen anderen Gräueln, welche finsterem Religionshasse entsprangen, erzählt die Chronik der ihrer einstigen Herrlichkeit beraubten Stadt, die uns als ein verfallenes Klein-Nürnberg erschien.

Auf der Fahrt von Prachatitz nach Winterberg kommt man in einschneidendes tschechisches Sprachgebiet und sieht im Markte Hussinetz das Geburtshaus des bitter gerächten Reformators Johannes Huß, der neben dem reinen Glauben leider auch den Deutschenhaß predigte. Winterberg ist ein schöngelegenes Bergstädtchen mit einem Schlosse der Schwarzenberg, in deren ungeheuren Besitzungen ich mich seit Krumau fast immer befand. Die nationalen Verhältnisse sind hier denjenigen in Prachatitz gleich; die slawische Propaganda sucht sich auch dieses Sitzes der

[729]

Ansichten von Prachatitz.
Originalzeichnung von R. Püttner.

[730] Deutschen zu bemächtigen. Zu den Merkwürdigkeiten Winterbergs gehört die Steinbrecher’sche Gebetbücherdruckerei, welche gleich jener in dem schweizerischen Einsiedeln ganze Legionen von katholischen Erbauungsschriften der verschiedensten Zungen in alle Welt sendet, und die große Glasfabrik „Adolfshütte“. Das eintretende schlechte Wetter veranlaßte mich, den Besuch von Außergefild und des Moldau-Ursprunges aufzugeben. Bei Sussen sah ich am 19. August v. J. frischgefallenen Schnee in Dachrinnen und auf Waldblößen, welcher mir die rauhe, stiefmütterliche Natur dieses Landstriches verkündete. Als der Himmel sich etwas aufklärte, sah durch zerrissenes Gewölk die großartige Ruine Karlsberg, welche an den Gründer der Prager Universität Karl IV. mahnt, auf die „königliche freie Bergstadt“ Bergreichenstein herab, deren Goldstollen, Goldmühlen und Goldwäschen zu einer goldnen Sage der Vergangenheit geworden.

Die tiefe Thalschlucht, in welche sich die Wotawa einschneidet, durchkreuzend, schritt ich nach Hartmanitz, von welchem Städtchen man zu dem Plateau der „künischen Freibauern“ aufsteigt. Hinter Gutwasser und der Kapelle des heiligen Günthers oder Gunderi – eines thüringischen Grafen und frommen Einsiedlers, der Kaiser Heinrich’s III. Scharen durch die Urwälder zum Siege über die Tschechen geführt – beginnt das Gebiet dieser Freibauern. Dasselbe erstreckt sich im Süden bis Innergefild, im Norden bis Neuern. Diese kernigen Landleute stammen von deutschen Kolonisten, welche zum Schutze der Grenze angesiedelt und mit mannigfachen Rechten ausgestattet wurden. Von ältester Zeit bis 1848 hatten sie ihre acht Freigerichte mit selbstgewählten Beisitzern und einen das gesammte Rechts-, Steuer- und Konskriptionswesen leitenden Oberrichter. Sie kannten nicht Robot noch sonstige Beschränkungen in ihrem Eigenthume. So erwuchs ein stolzes Geschlecht von Königsbauern, das durch sein Standesbewußtsein, durch seine treue Art und durch hartnäckiges Festhalten am Hergebrachten an die Westfalen erinnert. Auch die Anlage ihrer isolirten Bauernhöfe, deren Herrenhaus mit einem Glockenthürmchen versehen ist, zeugt von Selbständigkeit und Wohlhabenheit. Die Inwohner der verschiedenen Gerichtsbezirke unterscheiden sich noch heute durch andersfarbige Bänder an den runden Filzhüten. Der Boden ist hier fruchtbar, aber der Waldreichthum wird von den zahlreichen Glasbläsereien und Schleifereien fortwährend vermindert.

Das Thal des Regenbaches, eines frisch dahin sprudelnden Forellenwassers, erreicht man in Eisenstein, dem Mittelpunkt eines herrlichen Bergpanoramas, das uns durch den Wechsel von Wald und grünen Matten erfreut, von welch letzteren die Glocken der weidenden Rinder herüberklingen. Man sieht hier die Doppelgipfel des schon zum Bayerischen Wald gehörigen, 1350 Meter hohen Arber und des 1300 Meter hohen Osser, den 1350 Meter hohen Spizberg, den 1100 Meter hohen Fallbaum, den 1300 Meter hohen Falkenstein – eine hochansehnliche Gesellschaft. Im Walde bei Deffernik steht die „große Tanne“, ein Baumriese von 50 Meter Höhe und 7 Meter Umfang. Der malerische Eindruck des Ortes Eisenstein, der eine beliebte Sommerfrische für bayerische und böhmische Gäste geworden, wird durch die steinbeschwerten Dächer und luftigen Holzbalkone der Häuser noch erhöht. Originell, einem ungeheuren Rettig ähnlich ist die Kuppelüberdachung der Pfarrkirche, welche ein angeblich von Lukas Kranach herrührendes Madonnabild besitzt.

In Eisenstein stößt man bereits auf die im ganzen Bayerischen Wald heimische Sitte der „Leichenbretter“, auf welche der Todte gelegt wird und die dann, bunt bemalt, mit kurzem Nachruf und frommen Sprüchen versehen, vor den Häusern, bei Wegkreuzungen oder Krucifixen senkrecht eingepfählt werden.

Von Eisenstein aus unternahm ich die Besteigung des Arber, der schon auf bayerischem Gebiet liegt. Der Waldbund hat für einen prächtigen Aufstieg und gute Wegweiser gesorgt. Mitten im Walde liegt über 900 Meter hoch der von Schilf und Seelilien umkränzte große Arbersee (vergl. Illustration S. 725), von wo aus man den Gipfel in dreiviertel Stunde erreicht. Eine kleine Kapelle steht hier oben neben einem durch ein eisernes Kreuz gekennzeichneten Felsen, und ein für Touristen sehr praktisches Unterkunftshaus ist vor Kurzem eröffnet worden. Aber dichter Nebel, der sich während des Aufklimmens zusammengeballt, verhüllte mir die so verlockend gepriesene Aussicht. Ich hatte zweifellos kein Bergfexen-Glück im Böhmerwalde.

Einen weiteren Ausflug unternahm ich nach dem 1000 Meter hohen, malerischen Teufelssee und dem fast 1200 Meter hohen Schwarzensee (vergl. Illustration S. 732), welcher die größte Tiefe unter allen Böhmerwaldseen – 90 Meter – aufweist und zugleich der größte von allen ist. Die dunkle Färbung, welche alle diese Hochseen besitzen, wird hier noch durch die düsteren Schatten der steilen Felsen und des finsteren Nadelwaldes gesteigert, weßhalb wohl der Name gewählt worden. Das Ufer ist mit mächtigen Steinblöcken eingefaßt, ein gefälliger Pavillon ladet zur Rast ein. Auf dem Hinweg am Fuße der Seewand sowie auf dem Rückweg über den Spitzbergrand glaubte ich durch einen Park zu wandeln, so wohlgepflegt sind die heimlichen Waldespfade, die im Bereiche des ausgedehnten Besitzes der süddeutschen Hohenzollern dies- und jenseit der Grenze liegen.

Von Eisenstein fuhr ich auf der Eisenbahn, welche hinsichtlich der Kühnheit des Baues und Großartigkeit der eröffneten Berglandschaft den Vergleich mit berühmteren Gebirgsbahnen nicht zu scheuen braucht, nach Neuern. Man passirt gleich zu Anfang der Fahrt den 1800 Meter langen, 800 Meter über dem Meer befindlichen Tunnel unter dem Spitzberge und gelangt in das Thal der Angel. Die Hohenzollern erwarben hier Schloß und Herrschaft Bistritz, und auf einem Vorsprunge erblickt man die Trümmer von Baiereck, welche Burg einst als Grenzveste gegen die Tschechen errichtet wurde. Die Sage weiß hier von verzauberten, durch höllische Geister behüteten Schätzen zu erzählen. Möge eine künftige Legende nicht in ihrer Bildersprache an den versunkenen Schatz des deutschen Volkes im Böhmerwalde nachkommende Geschlechter gemahnen, ihnen einschärfen, wie leichtherzig ihre Väter diesen uralten Nationalbesitz preisgegeben haben!

Denn wir sind hier am nördlichen Ende des eigentlichen Böhmerwaldgebietes. Unweit von Neuern ist das idyllische Dörfchen Friedrichsthal, wo der „Auerbach des Böhmerwaldes“, Josef Rank, geboren wurde. Mitte Juli v. J. feierten Heimatsgenossen des greisen Dichters in erhebender Weise sein siebzigjähriges Wiegenfest und schmückten sein Vaterhaus mit einer Gedenktafel. Der Verfasser der Geschichten „Aus dem Böhmerwalde“, des „Dorfbrutus“ und des „Seelenverkäufers“ schloß seine Dankrede mit den Worten: „Wir sind beisammen in deutscher Liebe für das Vaterland, in der zuversichtlichen Hoffnung auf bessere Tage unseres Landes und Volksthums!“ O, daß diese Hoffnung nie getäuscht werde durch Diejenigen, welche schwer bedrängten Stammesbrüdern warme Sympathien schuldig sind!


Aus den Zeiten des „Brigantaggio.“

Von Isolde Kurz.
II.

Nach dem Falle von Gaëta im Jahre 1861 erhob die Hydra des Brigantaggio aufs Neue das Haupt, und auf der alten Bühne wurde wieder einmal das alte, grausenvolle Drama aufgeführt, welches schon so oft diese unglückseligen Provinzen erschüttert hatte. Die „sbandati“, das heißt die bourbonischen Mannschaften, die durch den Sieger von Gaëta entwaffnet und aufgelöst worden waren, zerstreuten sich über das Land, und die brotlos gewordenen Soldaten legten sich wie die Landsknechte des Mittelalters auf den Heerstraßen in den Hinterhalt, um friedfertige Wanderer anzufallen und zu berauben. Galeerensträflinge, denen Garibaldi auf seinem siegreichen Zug durch die Provinzen die Ketten gelöst, Vagabunden, deren Dienste die junge italienische Regierung abgelehnt hatte, schlossen sich ihnen an und bildeten die ersten Banden. Die gestürzte Regierung, minder wählerisch in den Mitteln als der König Ehrenmann, gab ihnen eine Fahne und ein Losungswort. Aber kein anständiges Element war dieser „Partei“ beigemischt, kein Officier der geschlagenen Armee befehligte sie; ihre Anführer waren gemeine Straßenräuber, ausgehungerte Bauern und Landstreicher mit Ausnahme jenes spanischen Abenteurers Josè Borjès, jenes unglücklichen Don Quixote, der im guten Glauben, einer heiligen [731] Sache zu dienen, seinen ritterlichen Degen unter den Oberbefehl eines Croccó[2] stellte, mit geheimer Mißbilligung an all den blutigen Streif- und Raubzügen in der Basilicata und Calabrien theilnahm, um endlich nach unsäglichen Leiden, Mühen und Entbehrungen sein trauriges Mißverständniß eben so tragisch wie heroisch zu büßen.

Ueber elf Jahre währte der grausige Vernichtungskampf, der in seiner gesetzlosen Wildheit fürchterlicher war als jeder auswärtige Krieg und die besten Kräfte des jungen Italien aufzehrte. Für jede zersprengte Bande wuchs eine neue aus dem Boden, bis 40.000 Briganten die heimische Erde mit ihrem Blute gedüngt hatten. Ein erschütterndes Epos, reich an wunderlichen und entsetzlichen, rührenden und lächerlichen Episoden, das leider keinen Sänger gefunden hat; denn die Abneigung, von ihren Erlebnissen zu reden, ist Allen gemeinsam, die an der blutigen Menschenjagd betheiligt waren, und die liebenswürdigsten Gesellschafter werden plötzlich verstockt und wortkarg, wenn man sie nach ihren Abenteuern während des „Brigantaggio“ fragt.

Ein Mann, der in Italien eine eigenartige litterarische Stellung einnimmt, Cav. Giuseppe Petriccioli, Kapitän der Bersaglieri und „poëta latino“, wie ihn seine Umgebung nennt, wurde mir schließlich als derjenige bezeichnet, der meine Wißbegier am besten befriedigen könnte. Dieser treffliche Schriftsteller und verdiente Officier hat sein halbes Leben auf der Brigantenjagd zugebracht und mehrere der schlimmsten Bandenführer mit eigener Hand getödtet. Inmitten des schrecklichsten aller Kriege, während der Streifereien auf die Banden Manzi’s und Capuccino’s, hat er seine gefeierte Hymne auf den Frieden gedichtet, in welcher er die allermodernsten Errungenschaften der Kultur in antiker Form und einem für klassisch erklärten Latein besingt. Ich kannte das Gedicht und die ungewöhnliche Art, wie es entstanden ist: der Kapitän hatte in jenen drangvollen Tagen des Brigantaggio einen Band neuer Gedichte Viktor Hugo’s zur Hand bekommen, in denen der „Dichter der Menschlichkeit und Brüderlichkeit“, der nie das Blut auf den Schlachtfeldern fließen sah, die Jugend Frankreichs zum unversöhnlichen Rachekrieg gegen Deutschland aufrief, und von heiliger Entrüstung ergriffen, schrieb er, der Soldat, den Hymnus auf den Frieden, der, wie der Verfasser in der Vorrede sagt, vom Frieden nichts hat als den Namen.

Im Golf von Spezia, inmitten romantischer Olivenhaine, liegt vom Meere bespült das Gut, wohin sich der gelehrte Kapitän aus dem Geräusch der Waffen und dem litterarischen Getrieb zurückgezogen hat, um in Ruhe die väterliche Scholle zu bebauen, seine Reben zu pflanzen und sein Oel zu pressen. Mit einer kleinen Gesellschaft suchte ich ihn eines Abends auf von dem benachbarten San Terenzo aus, wo ich schon vor Jahren seine Bekanntschaft gemacht hatte.

Unter dem alten himmelhohen Palmbaum, der von seinem Hügel hoch auf das Meer hinunterblickt, fanden wir unsern Diocletian bei seinen ländlichen Beschäftigungen. Wir wurden aufs liebenswürdigste empfangen und auf der rebenumrankten, marmornen Terrasse mit Wein und Obst bewirthet; aber kaum hatte ich das Wort Brigantaggio ausgesprochen, als sich das Gesicht des Kapitäns verfinsterte; er suchte das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, und nur mit Mühe gelang es, ihn bei dem Gegenstand festzuhalten.

„Infandum, regina, jubes renovare dolorem,“[3] seufzte er endlich, und mit diesem Citat aus seiner Lieblingssprache ergab er sich denn auch in sein Schicksal.

„Aber ist es nicht sündhaft, sich den Abend durch so gräßliche Erinnerungen zu verderben, sich in Zeiten und an Orte zu versetzen, wo wir zwölf Jahre lang den Segen menschlicher Gesellschaft entbehrten, wo jeder Begegnende auf der Straße den Gedanken wachrief: ‚Wenn es kein großer Verbrecher ist, so ist es doch gewiß ein kleiner‘?

Damals hat mich nur die Poesie vor der völligen Verwahrlosung und moralischen Zerrüttung bewahrt. Sobald der Dienst nicht alle meine Sinne in Anspruch nahm, ließ ich zwischen mir und der Außenwelt einen Vorhang fallen und zog meinen Virgil aus der Tasche. Bei schneidender Winterkälte, wenn wir in versteckten Höhlen im Hinterhalt lagen, ließ ich meine Bersaglieri sich der Länge und Quere nach wie Holzscheiter aufschichten, um sich gegenseitig warm zu halten, setzte mich auf einen Steinblock am Eingang und dichtete, den Säbel im Arm, meinen Hymnus auf den Frieden. Aus dem Marschtakt meiner Bersaglieri hörte ich den Rhythmus des Hexameters heraus; meine Soldaten sahen mir dann nur auf den Mund, und wenn ich murmelnd die Lippen bewegte, so flüsterten sie sich zu: ‚Der Kapitän dichtet‘ und hielten sich mäuschenstille.“

So redete der Kapitän sich unversehens in das Erzählen hinein, und wie er erzählte! Wir hüteten uns wohl, ihn durch eine Frage zu unterbrechen. Es war, als hörten wir die abenteuerlichen Gesänge Ariost’s, als zögen die Marfisen und Bradamanten leibhaftig an uns vorüber, wenn er z. B. von dem Briganten erzählte, den er einst bei einem Treffen im Handgemenge vom Pferde riß, weil der Revolver versagt hatte, und der ihm vom Boden aus in dem krächzenden Neapolitaner Dialekt zurief:

„Kapitän, schone mich, ich bin ein Weib!“

Dazwischen drängte sich das komische Element: so schilderte er ein Gastmahl bei dem Syndikus eines abgelegenen Abruzzennestes, wo nach einer Reihe höchst fragwürdiger Gänge ein Gericht erschien, das die größte Aehnlichkeit mit Flußkrebsen hatte; aber wo sollten an dem steilen, wasserlosen Ort Krebse herkommen? Bei näherer Besichtigung stellten sich die vermeintlichen Krebse als gebackene, mit wilden Spargeln garnirte Grillen heraus.

Die Officiere, die sich für gefoppt hielten, wollten aufbrausen, aber ein Blick auf die fröhlich schmausende Tischgesellschaft belehrte sie, daß man ihnen wirklich das Beste vorgesetzt hatte, was das Haus und die Stadt zu bieten vermochten.

Dann erzählte er von dem abenteuerlichen Zauberwald, dem Bosco di pontano[4] zwischen Spezzano-Albanese und Castrovillari, wo er mit seiner Kompagnie vierzehn Tage lang, auf allen Vieren rückwärts kriechend und mit den Füßen auf das stachlige Gestrüpp einhauend, sich durch den Urwald Bahn brechen mußte, immer hinter den Briganten her, deren Stimmen oft ganz in der Nähe zu hören waren. Eines Tages ertönt plötzlich aus den Reihen seiner Mannschaft ein Hilferuf, dem ein zweiter und dritter und bald ein lautes Jammergeschrei folgt. Ungefähr ein Dutzend Bersaglieri sind buchstäblich von der Erde verschlungen worden und stecken bis über die Hüften im Boden, in den sie bei jeder Bewegung tiefer einsinken. Der Kapitän hatte kaum Zeit gehabt, die Lage zu überblicken, als auch unter ihm der Grund wich und er hilflos in einer zähen, breiigen Masse versank. Nun begriff er, was der Name des Waldes zu bedeuten hatte, und erkannte zugleich den Verrath seiner Führer und die Arglist der Briganten, die ihn durch ihren Rückzug auf diesen trügerischen Grund gelockt hatten. Durch zugeworfene Stricke gelang es ihm mit Einbüßung eines Schuhs, sich und seine Leute auf festen Boden zu retten und dadurch dem Schicksal zu entgehen, das ihnen an dieser Stelle zugedacht war.

Nach langen qualvollen Kreuz- und Querzügen kamen sie endlich barfuß mit zerrissenen Kleidern, blutenden Händen und Füßen auf einer Lichtung an ein Gehöft, wo ihnen die vorüberziehenden Briganten einen gräßlichen Gruß hinterlassen hatten: da lagen auf einen Haufen geworfen neun Leichen von Männern, Weibern und Kindern, denen mit teuflischem Spott die abgehackten Gliedmaßen vertauscht und die eigenen Ohren in den Mund gesteckt waren – vielleicht das Bravourstück einiger Novizen, die derartige Proben ihrer „Seelenstärke“ abzulegen hatten, ehe sie endgültig in die Bande aufgenommen wurden.

Wuth und Rachedurst gaben den Verfolgern bei diesem Anblick neue Kräfte; sie rafften sich auf und setzten noch in derselben Stunde den Marsch fort, auf dem sie der unsichtbare, durch das Dickicht gedeckte Feind unablässig bedrängte, indem er immer langsam vor ihnen her den Wald durchzog, bis er endlich an das Ende unweit der Grenze gelangte, wo er sich schon auf bourbonischem Gebiet in Sicherheit glaubte. Aber es sollte anders kommen. Auf der Landstraße von Castrovillari liefen die abgematteten Briganten, denen die Kompagnie Bersaglieri auf den Fersen folgte, einem Sergeanten in die Hände, der mit einer Handvoll Karabinieri eine staatliche Geldsendung eskortirt hatte und auf dem Rückweg [732] seine Leute bei einem Brunnen rasten ließ. Die erschöpften Briganten liefen auf das Wasser zu, ohne die schnell zusammengeduckten Soldaten zu gewahren, und wurden wehrlos festgenommen. Die nachrückende Kompagnie begegnete gleich darauf dem gefesselten Trupp und hatte nichts mehr zu thun, als dem Sergeanten zu seinem glücklichen Fang und der leichterworbenen Medaille zu gratulieren.

„Es ist jammerschade,“ unterbrach sich der Kapitän von Zeit zu Zeit, „daß Niemand diese Ereignisse noch unmittelbar unter dem frischen Eindruck aufgezeichnet hat. Soll ich Ihnen die Geschichte von Franz Moor erzählen?

In dem Städtchen Giffone im Salernitanischen lebte der alte Gutsbesitzer M., einer der reichsten Männer des Landes, mit seinen beiden Neffen, den Söhnen seiner Schwester, die außer ihrem eigenen sehr bedeutenden Vermögen nach seinem Tode eine ungeheure Erbschaft zu gewärtigen hatten. Da geschah es, daß ein junges Bauernmädchen von ungewöhnlicher Schönheit im Haus Dienste nahm. In dem Alten erwachte bei ihrem Anblick eine jener unwiderstehlichen Leidenschaften, die aller Vernunft spotten: er warb um die Schöne und fand Gehör. Ein Sohn war die Frucht dieser Verbindung, und der nicht mehr erhoffte Segen hob den alten Mann auf den Gipfel der Seligkeit. Wie verjüngt von Glück ging er umher; er überhäufte die junge Mutter mit allen Kostbarkeiten und setzte den Knaben zum Universalerben seines unermeßlichen Besitzes ein, indem er jedem seiner Neffen ein ansehnliches Legat sicherte. Aber die Beiden waren nicht gesonnen, des fetten Bissens verlustig zu gehen: eines Tages, als der Kleine die ersten Gehversuche machte, fiel er in einen Kessel siedenden Wassers und kam jämmerlich ums Leben. Der alte M. war in Verzweiflung, und kaum vermochte er sich an der verdoppelten Liebe und Aufmerksamkeit seiner Neffen etwas aufzurichten. Jedoch das Jahr darauf wurde ihm zum Ersatz für den verlorenen ein zweiter Sohn geboren.

Der Schwarzensee.
Nach einer Photographie gezeichnet von R. Püttner.

Nun wurde die Lage für die Neffen schwierig; der siedende Kessel war nicht zum zweiten Male in Anwendung zu bringen, und auf welche Weise auch der Knabe verschwunden wäre, immer wäre der Verdacht der Staatsanwaltschaft wachgerufen worden. So ersannen sie einen andern Ausweg. Sie setzten sich mit dem Bandenführer Manzi, der gerade damals das Salernitanische unsicher machte, in Verbindung und veranlaßten ihn, den Alten selber wegzufangen.

Eines schönen Sommerabends brach Manzi mit den Seinigen in Giffone ein und nahm den alten M. im Tabakladen, der zugleich Kaffeehaus war, fest. Die Neffen waren nicht zugegen, und keine Hand rührte sich zu seiner Vertheidigung. Ja, sobald die Briganten mit ihm auf freiem Felde waren, lief das Landvolk, das immer und überall mit den Räubern gegen den Gutsherrn Partei nahm, zusammen, klatschte Beifall und ließ den Hauptmann Manzi hoch leben. Der arme M. wurde ins Gebirge geschleppt und ein enormes Lösegeld für seine Freilassung verlangt. Die Neffen als Verwalter zahlten die Summe aus und theilten mit den Briganten den Raub. Aber diese hielten den unglücklichen Greis fest, um unter beständigen Drohungen immer neue Summen von ihm zu erpressen; M., in Todesangst, willigte in Alles. Endlich wurden die Behörden benachrichtigt, und unsere Abtheilung erhielt den Befehl, zu marschiren. Wir machten scharfe Jagd und ließen die Briganten nicht mehr zu Athem kommen; von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel wurden sie aufgetrieben, bis sie den gebrechlichen Greis auf ihrer Flucht nicht länger mit sich schleppen konnten. Eines Tages erblickten wir auf einer Anhöhe in geringer Entfernung einen Trupp Bersaglieri mit blinkenden Waffen und wallenden Federbüschen, in ihrer Mitte einen alten Mann in Civil; wir waren jedoch bereits unterrichtet und wußten, wen wir vor uns hatten. Ich ließ meine Leute Feuer geben und stürmte den Hügel; die Bande stob aus einander, und der alte Mann blieb allein zurück, zum [733] Glück unverletzt – es war M., der von uns in halber Besinnungslosigkeit nach Hause zurückgebracht wurde. Manzi aber gab sich mit dem, was er erbeutet hatte, nicht zufrieden, sondern, nachdem er den Vater losgelassen, machte er verschiedene Anschläge, um nun den Kleinen in seine Gewalt zu bekommen. Sobald ich von diesen Versuchen benachrichtigt worden war, schickte ich die junge Frau mit dem Knaben täglich scheinbar allein ins Freie spazieren, um die Briganten herbeizulocken, indem ich einige meiner Leute als Bauern verkleidet in geringer Entfernung folgen ließ. Manzi aber war zu schlau, um in die Falle zu gehen, und erst nachdem wir lange vergeblich auf ihn Jagd gemacht hatten, fanden wir ihn eines Tages in einer abgelegenen Holzhütte, wo er sich mit einem Dutzend von seiner Bande verbarrikadirt hatte und durch die Thürspalten Feuer gab. Wir machten keine langen Umstände, sondern schossen ihn mit Allen, die um ihn waren, durch die verschlossene Thür hindurch nieder. An seiner Leiche fanden wir Papiere, die sein Einverständniß mit den Neffen des alten M. bezeugten.“

Noch romanhafter ging es bei dem Fange des Banditen Chiodo zu.

(Schluß folgt.)

Der Abschied.

Gedicht von Anton Ohorn. 0Holzschnitt nach dem Oelgemälde von R. Beyschlag.


Noch einmal laß den Arm mich schmiegen
Um Deinen Hals und schau’ mich an!
Dann zieh’ mit Gott, er helf’ Dir siegen,
Du einziger, geliebter Mann!“

Er küßt der Trauten Mund und Wange,
Schlingt seinen Arm um ihren Leib
Und schaut sie an so heiß und lange:
„Behüt’ Dich Gott, herzgüldnes Weib!

Sieh nicht so trüb, Du sollst nicht zagen,
Mach’ mir das trotz’ge Herz nicht weich!
Wohl geht’s hinaus zu ernstem Wagen,
Doch meine Seele bleibt bei Euch.

Leb’ wohl, mein Kind, mein kleinster Knabe,
Du spielst Großmütterchen im Arm,
Ahnst nicht, wie ich so lieb Dich habe,
Und fühlst noch nicht des Abschieds Harm.

Du aber streckst den Arm entgegen
Voll Bangen mir, mein Mägdlein mild;
Will meine Hand auf’s Haupt Dir legen:
Bleib’ Deiner Mutter Ebenbild!

Und Du, mein Aelt’ster in dem Reihen,
Des Vaters Stolz, mein muth’ger Schelm,
Gott laß Dich wachsen und gedeihen
In deutscher Art! – Nun reich’ den Helm!“

Von draußen ruft des Hiefhorns Tönen,
Der Knappe hilft ihm auf das Roß …
Im Thore hallt des Hufschlags Dröhnen
Und auf dem Burgweg jauchzt der Troß.

„Leb’ wohl, du meiner Väter Halle!“
So ruft er laut; die Tücher wehn
Im Thorweg – „Gott beschütz’ Euch Alle! –
Ihr Hörner, blast! – Auf Wiedersehn!“


[734]

Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Es war in den Morgenstunden des nächsten Tages. Gräfin Hortense hatte sich soeben erst erhoben und saß beim Frühstück, als der Marquis von Montigny eintrat.

„Ich bin heute ein früher Gast, aber ich mußte gerade an Deinem Hause vorüber,“ sagte er, die Schwester begrüßend. „Du bist allein? Ich glaubte, das Frühstück würde hier gemeinschaftlich eingenommen.“

Hortense zuckte die Achseln.

„Davon kann keine Rede sein; mein Schwiegervater pflegt mit Tagesanbruch aufzustehen und hat gewöhnlich schon drei Arbeitsstunden hinter sich, wenn ich mich erhebe. Es ist etwas Entsetzliches um solche eiserne, rastlose Naturen, die niemals das Bedürfniß nach Ruhe empfinden.“

„Ich halte das eher für beneidenswerth, zumal im Alter des Generals,“ warf Montigny ein.

„Für ihn vielleicht, aber er glaubt das auch von Anderen verlangen zu können. Unser Hauswesen ist ja wie ein Kasernendienst geregelt, Alles geht nach militärischem Kommando und wehe dem Diener, der sich eine Unpünktlichkeit zu Schulden kommen läßt. Hat es doch einen förmlichen Kampf gekostet, mir wenigstens meine persönliche Freiheit zu wahren; ich habe das endlich durchgesetzt, aber der arme Raoul wird mit vollster Strenge gezwungen, sich diesen pedantischen Vorschriften zu fügen.“

„Ich fürchte, daß die Strenge bisweilen nothwendig ist; Raoul ist schwer zu bändigen,“ sagte Montigny trocken. „Du als Frau und Mutter weißt freilich nicht viel von Dingen, die ich schon während meines kurzen Aufenthaltes erfahren habe und die dem General jedenfalls bekannt sind. Es ist Zeit, daß Dein Sohn vermählt wird, Hortense!“

„Nun ja, er mag seinem Jugendübermuth die Zügel schießen lassen,“ lenkte die Gräfin ein. „Er ist nun einmal eine feurige, überschäumende Natur, die sich gegen Schranken und Regeln aufbäumt. Die Ehe wird all diesen Tollheiten ein Ende machen, und Hertha ist schön genug, ihn auf die Dauer zu fesseln. Du bewunderst sie ja auch, sie hat gestern wieder einen grenzenlosen Triumph gefeiert.“

„Und mit vollem Rechte! Beiläufig, Hortense, die Clermonts waren ja gestern auch in der Gesellschaft. Haben sie Beziehungen zu Herrn von Reval?“

„So viel ich weiß, hat Raoul sie dort eingeführt. Es gehört ja zum guten Ton, Zutritt im Reval’schen Hause zu haben.“

„So! – Raoul ist wohl sehr befreundet mit dem jungen Clermont?“

„Gewiß, und ich würde ihn und seine Schwester gern bei uns sehen, aber – da hast Du wieder einen Beweis von der unglaublichen Tyrannei meines Schwiegervaters – er verbietet es mir geradezu! Ich habe schon einmal eine Einladung, die ich auf Raoul’s Bitte erließ, unter dem nichtigsten Vorwande zurücknehmen müssen; er besteht mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit darauf, die Clermonts aus unserem Kreise auszuschließen.“

Der Marquis war auf einmal aufmerksam geworden.

„Das ist seltsam! Welche Gründe hat Dir der General angegeben?“

„Gründe? Dazu läßt man sich mir gegenüber nicht herab. Man befiehlt oder verbietet einfach, und ich muß mich fügen.“

„Ich glaube, Du thust in diesem Falle gut, Dich zu fügen,“ sagte Montigny in einem so bedeutungsvollen Tone, daß die Schwester ihn überrascht und fragend ansah.

„Weßhalb? Hast Du auch irgend etwas gegen die Clermonts? Sie scheinen allerdings nicht in glänzenden Vermögensumständen zu sein; aber sie kamen mit den besten Empfehlungen hierher und gehören einer altadeligen Familie Frankreichs an.“

„Gewiß, das ist zweifellos.“

„Nun also – ich begreife Dich nicht, Leon!“

Der Marquis rückte seinen Sessel um einige Schritte näher und legte seine Hand auf den Arm der Gräfin.

„Hortense, ich bin gezwungen, Dir die Augen zu öffnen, denn Du scheinst in diesem Punkte völlig blind zu sein. – Du wünschest doch die Verbindung Raoul’s mit Hertha?“

„Ob ich sie wünsche? Ich setze ja meine ganzen Hoffnungen darauf! Diese Heirath bedeutet für Raoul Glanz und Reichthum und für mich die langersehnte Freiheit. Wie kannst Du nur so fragen!“

„Nun, dann rathe ich Dir, den Verkehr Deines Sohnes mit den Clermonts nicht zu begünstigen. Wie ich erfahren habe, ist er täglich dort, und – Frau von Nérac ist Wittwe.“

Hortensc stutzte, dann aber flog ein ungläubiges Lächeln über ihre Züge.

„Heloise von Nérac? Sie ist ja nicht einmal schön.“

„Aber gefährlich!“

„Doch nicht für Hertha! Eine Braut wie sie kann jeden Mann festhalten.“

„Wenn sie es will, gewiß, sie scheint aber nicht zu wollen. Die junge Gräfin hat ein ganz eigenthümliches Wesen ihrem Verlobten gegenüber; sie ist sehr abweisend – Frau von Nérac wird um so entgegenkommender sein.“

„Unmöglich!“ rief Hortense aus, in der jetzt auch die Besorgniß erwachte. „Raoul’s Vermählung steht ja in Kurzem bevor, er wird doch nicht die Tollheit, den Wahnsinn begehen, seine ganze Zukunft zu opfern, um dieser Heloise willen!“

„Er wäre nicht der Erste, den die Leidenschaft unzurechnungsfähig macht. Doch ich habe Dich nur warnen, nicht schrecken wollen. Ich hege vorläufig nur eine Vermuthung und an Dir ist es, Dir Gewißheit zu verschaffen. Aber sei vorsichtig, ein falscher Schritt könnte Alles verderben.“

Die Gräfin war bleich geworden, die angedeutete Möglichkeit war für sie allerdings schreckhaft, denn sie bedeutete das Scheitern all ihrer Pläne.

„Du hast Recht, das könnte ein Unheil geben,“ sagte sie hastig. „Ich danke Dir für den Wink, er soll befolgt werden.“

Montigny erhob sich, durchaus befriedigt von dem Erfolg der Unterredung. Der Diplomat hatte seinen Zweck erreicht, ohne irgend etwas von dem preiszugeben, was er nicht preisgeben durfte. Er wußte, Hortense würde jetzt ihre ganze mütterliche Autorität dransetzen, ihren Sohn jenem Umgange zu entreißen, und er glaubte hinreichend dafür gesorgt zu haben, daß Clermont sich in diese Nothwendigkeit fügte. Ob die ausgesprochene Vermuthung gegründet war oder nicht, kümmerte den Marquis sehr wenig; ihm kam es nur darauf an, seinen Neffen aus Beziehungen zu lösen, deren Verderblichkeit er am besten kannte. Er empfahl seiner Schwester noch einmal Vorsicht in der Behandlung der Angelegenheit und verabschiedete sich dann. – Inzwischen fand drüben im Arbeitszimmer des Generals eine andere Unterredung statt, deren Verlauf aber stürmischer war. Steinrück hatte sich gestern Abend darauf beschränkt, seinem Enkel vorläufig jeden weiteren Schritt zu verbieten. Erst heute Morgen hatte er ihn rufen lassen, und nun ergoß sich die volle Schale seines Zornes über den jungen Grafen.

„Hast Du denn jede Ueberlegnng, jede Besinnung verloren, daß Du gerade mit Michael Rodenberg Streit suchen mußtest?“ zürnte er. „Wenn es noch eine in der Aufregung, in der Uebereilung gefallene Beleidigung wäre, so ließe es sich begreifen; aber nach Allem, was ich von Hertha hörte, scheint Dein Benehmen ein planmäßiges und absichtliches gewesen zu sein.“

„Es war der unglücklichste Zufall von der Welt, daß Hertha im Nebenzimmer war!“ sagte Raoul, der finster und trotzig vor seinem Großvater stand, „und daß sie nun vollends auf den Einfall kam, es Dir mitzutheilen –“

„War das Vernünftigste und Klügste, was sie überhaupt thun konnte,“ unterbrach ihn der Graf. „Eine Andere hätte Dich mit Thränen und Bitten bestürmt, ohne irgend etwas zu erreichen, denn nachdem die Sache einmal so weit gediehen ist, kannst Du allein nicht mehr zurücktreten. Deine Braut wandte sich an mich, in der ganz richtigen Voraussetzung, daß ich allein hier eingreifen könne, und das wird auch geschehen. Das Duell darf unter keinen Umständen stattfinden.“

„Es ist eine Ehrensache, das lasse ich mir nicht verbieten!“ rief Raoul heftig, „und überdies ist es meine persönliche Angelegenheit.“

[735] „Das ist sie leider nicht, sonst würde ich ihr den Lauf lassen, denn Du bist kein Knabe mehr und mußt für Deine Handlungen einstehen. Dieser Streit aber berührt unsere Familieninteressen in der peinlichsten Weise. Hast Du denn nicht daran gedacht, daß dadurch Beziehungen aufgedeckt werden, die wir um jeden Preis geheim halten wollen?“

Der junge Graf sah betroffen seinen Großvater an. Daran hatte er allerdings nicht gedacht, und etwas kleinlaut erwiderte er:

„Ich glaube nicht, daß das die nothwendige Folge ist.“

„Es ist aber die sehr wahrscheinliche Folge! Das Duell, wie es auch ausfallen mag, richtet die allgemeine Aufmerksamkeit auf Euch Beide; man wird fragen und forschen, was denn der Grund gewesen ist, und da wird der Name Rodenberg die nöthige Erklärung liefern. Bis jetzt galt er für bedeutungslos, weil er mehrfach in der Armee vorkommt, und weil der Hauptmann uns als ein völlig Fremder gegenüberstand; jetzt wird man bald herausfinden, daß er das nicht ist, und sobald von Seiten seiner Kameraden oder Vorgesetzten eine ernste Frage an ihn ergeht, muß er die Wahrheit zugestehen. Du warst damals außer Dir bei der bloßen Möglichkeit einer solchen Entdeckung, und nun bist Du es, der sie muthwillig hervorruft.“

Die Wahrheit dieser Vorwürfe war so einleuchtend, daß selbst Raoul sich ihr nicht verschließen konnte.

„Ich habe vielleicht die ganze Tragweite nicht ermessen,“ sagte er unmuthig. „Man ist nicht immer Herr seiner Stimmung, und mich reizte der Hochmuth dieses Rodenberg. Thut er doch, als wäre er völlig meines Gleichen.“

„Ich fürchte, der Hochmuth war auf Deiner Seite,“ sagte Steinrück streng. „Ich habe schon einmal eine Probe davon erhalten, als Du hier mit Michael zusammentrafest; er mußte Dich damals geradezu zwingen, ihm die einfachste Höflichkeit zu erweisen, und das wird sich wohl bei Euren späteren Begegnungen wiederholt haben. Hast Du die Herausforderung provocirt oder nicht? Antworte!“

Raoul umging die Antwort, er erwiderte nur in wegwerfendem Tone:

„Konnte ich denn wissen, daß der Sohn des Abenteurers so empfindlich war im Punkte der Ehre? Er hat auch gerade Ursache dazu!“

„Hauptmann Rodenberg ist einer meiner Officiere, und an seiner Ehre haftet kein Makel; dessen wirst Du Dich gefälligst erinnern!“ Die Stimme des Generals hatte schneidende Schärfe. „Ich bitte mir aus, daß keine neue Beleidigung fällt, die den Ausgleich vollends unmöglich macht. Es ist gleich neun Uhr, Dein Gegner kann jede Minute kommen.“

„Hierher? Du erwartest ihn?“

„Gewiß, die Sache kann nur persönlich zwischen uns verhandelt werden. Er nahm widerwillig genug meinen Befehl an, aber er wird kommen und Dir ist es jetzt hoffentlich klar geworden, daß und warum dies Duell vermieden werden muß. Du warst der Beleidiger, Du wirst Dich zur Nachgiebigkeit bequemen müssen.“

„Das thue ich nie!“ fuhr Raoul auf. „Eher mag das Aeußerste geschehen.“

„Ich will aber dies Aeußerste nicht,“ sagte Steinrück kalt. „Ist Hauptmann Rodenberg da? Er soll eintreten.“

Die letzten Worte waren an den Diener gerichtet, der soeben Rodenberg melden wollte, und wenige Minuten später stand Michael im Zimmer.

Er grüßte den General, schien aber die Anwesenheit des jungen Grafen nicht zu bemerken, der seitwärts getreten war und ihm einen feindseligen Blick zuwarf.

„Ich habe Sie hergerufen, um die Angelegenheit zwischen Ihnen und meinem Enkel zu ordnen,“ nahm der General das Wort. „Dazu ist aber vor allen Dingen nothwendig, daß Sie wenigstens Notiz von einander nehmen. Ich bitte darum!“

Die Bitte klang wie ein Befehl, der auch befolgt wurde; die beiden jungen Männer grüßten sich, freilich in sehr gezwungener Weise, und dann erst fuhr der General fort:

„Hauptmann Rodenberg, ich habe erfahren – durch wen, thut hier nichts zur Sache – daß Sie sich von dem Grafen Steinrück für beleidigt erachten und dafür Genugthuung zu fordern beabsichtigen. Ist dem so?“

„Ja, Excellenz,“ lautete die ruhige Antwort.

„Der Graf ist selbstverständlich jeden Augenblick bereit, Ihnen diese Genugthuung zu geben, aber ich kann und werde das nicht zulassen. In jeder anderen Ehrensache würde ich die Regelung den Betheiligten selbst überlassen; bei dem eigenthümlichen Verhältniß aber, in dem Sie zu unserer Familie stehen, darf ein solcher Ausgang nicht stattfinden; Sie müssen das selbst einsehen.“

„Das sehe ich keineswegs ein. Wir haben dieses Verhältniß bisher so vollständig ignorirt, daß wir auch jetzt nicht verpflichtet sind, ihm Rechnung zu tragen, und Fremde sind überhaupt nicht davon unterrichtet.“

„Es wird aber kein Geheimniß bleiben, wenn es zu einer blutigen Entscheidung kommt. Das Publikum und die Presse pflegen alsdann die persönlichen Verhältnisse der Betreffenden einer sehr eingehenden Kritik zu unterziehen und werden die wahren Beziehungen bald genug heraus finden.“

Michael zuckte die Achseln.

„Das hätte Graf Steinrück bedenken sollen, als er eine solche Entscheidung provocirte. Jetzt ist es zu spät für derartige Rücksichten.“

„Das ist es nicht! Es soll und muß ein Ausgleich gefunden werden. Ich wiederhole Ihnen, was ich soeben meinem Enkel erklärt habe: das Duell darf unter keiner Bedingung stattfinden.“

Er sprach diese Worte mit vollster Entschiedenheit; sie brachten aber gar keine Wirkung hervor, denn die Antwort Rodenberg’s war noch entschiedener:

„Im Punkte der Ehre lasse ich mir keine Vorschriften machen, Excellenz. Wenn der Graf einen derartigen Befehl annimmt – ich thue es nicht!“

Raoul blickte ihn halb empört, halb erstaunt an. Er, der Sohn und Erbe des Hauses, hätte es nie gewagt, seinem Großvater so gegenüber zu treten, und dieser hätte auch niemals eine solche offene Verweigerung des Gehorsams geduldet; von Rodenberg nahm er sie hin. Wohl zog sich seine Stirn drohend zusammen, aber er ließ sich trotzdem zu einer Art von Erklärung herab.

„Ich bin Soldat wie Sie und werde Ihnen nichts zumuthen, was sich nicht mit Ihrer Ehre verträgt. – Sie glauben Ihrerseits keine Veranlassung zu dem Streite gegeben zu haben?“

„Nein.“

Steinrück wandte sichh zu seinem Enkel.

„Raoul, ich wünsche jetzt Deine Erklärung zu hören, ob das, was der Hauptmann als Beleidigung auffaßt, zufällig oder absichtlich geschah. Im ersteren Falle ist die Sache erledigt.“

Raoul kannte diesen Ton hinreichend, aber er dachte trotzdem nicht daran, den Ausweg zu benutzen, den man ihm ließ. Er hatte allerdings beleidigen wollen, und nur die Furcht vor dem Großvater hielt ihn ab, das offen auszusprechen; so hüllte er sich denn in ein trotziges Schweigen.

„Es war also Absicht!“ sagte der General langsam, aber mit schwerer Betonung. „Nun wohl, so wirst Du diese Beleidigung, diese muthwillige Beleidigung hier in meiner Gegenwart zurücknehmen.“

„Nimmermehr!“ brach Raoul aus. „Großvater, treibe mich nicht zum Aeußersten! Ich gehe, schon bis an die weiteste Grenze des Gehorsams, wenn ich mir vor meinem Gegner dergleichen sagen lasse; eine Demüthigung lasse ich mir nicht auferlegen. Hauptmann Rodenberg, ich stehe zu Ihrer Verfügung, bestimmen Sie Zeit und Ort!“

„Das wird noch heute geschehen,“ erklärte Michael. „Ich darf mich jetzt wohl entfernen, Excellenz?“

„Nein, Du bleibst!“ rief Steinrück, indem er plötzlich den fremden Ton fallen ließ und zwischen die jungen Männer, trat. „Ich muß Euch Beide wohl an etwas erinnern, was Ihr vergessen zu haben scheint. Ihr seid Blutsverwandte, und diese Blutsverwandtschaft will ich respektirt wissen. Fremde mögen in solchem Falle zur Pistole greifen; die Söhne meiner beiden Kinder haben ihren Streit auf andere Weise zu schlichten.“

„Großvater! – Excellenz!“ klang es mit dem gleichen Trotz von den Lippen Raoul’s und Michael’s, aber der General herrschte ihnen gebieterisch zu:

„Schweigt, sage ich, und hört mich an! Es ist eine Familiensache, die nicht vor die Oeffentlichkeit gehört, sondern einzig vor den Chef des Hauses. Ich bin Eure höchste Instanz, ich allein habe zu entscheiden, und ich verbiete Euch die Entscheidung mit den Waffen. Es ist mein Blut, das in Euch Beiden fließt, das [736] Ihr jetzt vergießen wollt, und das wird nicht geschehen. Ich fordere als Haupt der Familie, als Großvater unbedingten Gehorsam von meinen Enkelsöhnen!“

Sein Ton und seine Haltung hatten etwas so Gebietendes, daß jeder Widerstand unmöglich schien; das alte Familienhaupt der Steinrück wußte sich Gehorsam zu schaffen. In der That widersprach auch keiner der beiden jungen Männer. Raoul stand starr und gänzlich fassungslos, vor dem, was er hörte. „Meine beiden Enkelsöhne!“ und „mein Blut, das in Euch Beiden fließt!“ – das war ja eine Anerkennung in aller Form!

Auch Michael fühlte das, denn es blitzte auf in seinem Auge, aber es war kein freudiger Strahl, der daraus hervorbrach, und seine Haltung wurde nur noch unbeugsamer, doch er schwieg.

„Raoul ist der Schuldige, er gesteht, es selbst zu,“ nahm Steinrück wieder das Wort. „In seinem Namen erkläre ich Dir, Michael, daß er jede etwa gefallene Beleidigung zurücknimmt; dagegen wirst Du die schroffe Haltung aufgeben, die auch eine Art von Herausforderung ist. Genügt Dir das?“

„Wenn Graf Raoul es mir bestätigt – ja.“

„Das wird er thun – Raoul!“

Der junge Graf antwortete nicht. Er stand da, mit zusammengebissenen Zähnen, die Hand geballt, und schleuderte einen Blick des tiefsten Hasses auf seinen Gegner. Er war augenscheinlich entschlossen, dem Großvater Trotz zu bieten.

„Nun?“ fragte dieser nach einer Pause. „Ich warte.“

„Nein – ich will nicht!“ sagte Raoul aufbrausend, aber jetzt trat der General dicht vor ihn hin, das Auge fest auf ihn geheftet.

„Du mußt wollen, denn Du bist im Unrecht! Wäre Michael der Beleidiger gewesen, so würde ich das Gleiche von ihm verlangen, und er würde gehorchen; da Du es warst, so ist es an Dir, nachzugeben. Ich verlange nur ein einfaches Ja, nichts weiter. Wirst Du meine Worte bestätigen oder nicht?“

Raoul machte noch einen letzten Versuch, seinen Trotz zu behaupten, aber jene flammenden Augen schienen ihn förmlich zu bannen. Es war das Einzige, womit ihn der Großvater überhaupt zwingen konnte, aber er zwang ihn in der That damit. Noch einige Sekunden vergingen, dann preßte der junge Graf das verlangte Ja heraus, halb erstickt und fast unverständlich, aber es war gesprochen.

Michael neigte das Haupt.

„Ich ziehe meine Forderung zurück – die Sache ist erledigt.“

Steinrück athmete tief auf. Er war doch nicht ganz so eisern, als er sich zeigte. Dies Aufathmen verrieth, was er ausgestanden hatte bei dem Gedanken, seine beiden Enkel könnten sich wirklich auf Tod und Leben gegenüberstehen.

„Und nun reicht Euch die Hände,“ fuhr er in milderem Tone fort, „und erinnert Euch künftig daran, daß Ihr eines Stammes seid, wenn das auch nach wie vor der Welt ein Geheimniß bleiben muß.“

Jetzt aber war Raoul’s Gehorsam zu Ende; mit einem Ausdruck offener Feindseligkeit wandte er sich ab, doch auch Michael trat zurück.

„Ich bitte um Verzeihung, Excellenz, aber in diesem Punkte werden Sie uns wohl volle Freiheit lassen müssen,“ sagte er kalt. „Der Graf ist nicht zur Versöhnung geneigt, wie ich sehe, ich bin es auch nicht. Ich gebe ihm mein Wort darauf, daß ich keinen Anlaß zu einer Erneuerung des Streites geben werde – die verwandtschaftlichen Beziehungen lehnen wir wohl Beide mit der gleichen Entschiedenheit ab.“

„Weßhalb? Ist Dir meine Anerkennung noch nicht genug?“ fuhr Steinrück gereizt auf.

„Eine Anerkennung, die nur der Nothfall, die Furcht vor einem öffentlichen Skandal erzwang, die geheim bleiben soll, weil man sich ihrer vor der Welt schämt – nein, diese genügt mir nicht! Graf Raoul hat sein Lebelang die Liebe des Großvaters genossen; er kann sich auch seinem Befehle beugen; ich war von jeher der Ausgestoßene, Verleugnete; in jeder Stunde meines Lebens habe ich es fühlen müssen, daß die Steinrück mich als unebenbürtig betrachten und mich aus ihrem Kreise bannen, wie sie das noch heute thun. Hier an dieser Stelle haben Sie es mir erklärt, daß unsere Blutsverwandtschaft für Sie nicht vorhanden ist, und ich gebe Ihnen jetzt das Wort zurück. Ich will nicht heimlich als eine Gnade empfangen, was mein Recht ist vor aller Welt, und wenn Sie mich als Ihren Enkel anerkennen, ich werde Sie nie Großvater nennen – nie! – Und jetzt bitte ich den General Graf Steinrück, mich zu entlassen.“

Er sprach das mit voller Selbstbeherrschung; aber seine Stimme hatte einen Klang, daß Raoul überrascht und betroffen aufblickte, denn er glaubte seinen Großvater zu hören. Die Aehnlichkeit war in der That noch nie so deutlich hervorgetreten wie jetzt, wo die Beiden sich hochaufgerichtet gegenüberstanden. Der Blick, die Haltung, Alles zeugte von der eben verleugneten Blutsverwandtschaft, und auch die unbeugsame Härte zeugte davon, die der Enkel von seinem Großvater geerbt hatte. Er war dessen verjüngtes Ebenbild.

„So geh’!“ sagte der General herb und stolz. „Du willst nur den Vorgesetzten in mir sehen – Du sollst ihn künftig finden.“

Rodenberg grüßte ihn ünd grüßte auch seinen Vetter, dann ging er. Im Zimmer herrschte noch einige Minuten lang ein drückendes Schweigen, endlich trat Raoul näher.

„Großvater!“

„Was willst Du?“ fragte Steinrück, dessen Auge noch immer auf der Thür haftete, die sich längst hinter Michael geschlossen hatte.

„Ich glaube, Du hast jetzt eine hinreichende Probe von dem Hochmuthe Deines ‚Enkels‘ erhalten,“ der junge Graf sprach das Wort mit dem bittersten Hohne aus. „Es war wirklich großartig, wie er die Anerkennung zurückstieß, die Du ihm botest, und uns die Blutsverwandtschaft förmlich vor die Füße warf. Und vor dem Manne hast Du mich zu einer Demüthigung gezwungen!“

„Ja, dieser Michael ist wie von Eisen!“ murmelte Steinrück zwischen den Zähnen. „Der ist nicht zu zwingen, weder mit Güte noch mit Gewalt.“

„Und dabei gleicht er Dir zum Sprechen,“ fuhr Raoul fort, der in seiner Erbitterung und Gereiztheit gegen den Großvater die Gelegenheit nicht Vorbeigehen lassen wollte, ihn nun auch zu kränken. „Ich habe es früher nie bemerkt, aber vorhin, als er Dir gegenüberstand, war die Aehnlichkeit fast erschreckend.“

Der General wandte langsam das Auge von der Thür ab und richtete es auf seinen Enkel, aber es war ein räthselhafter Ausdruck darin.

„Hast Du das auch gefunden? – Ich wußte es längst!“

Raoul wußte sich diese Ruhe nicht zu deuten, er hatte eine zornige Abwehr, ein entschiedenes Verleugnen jener Aehnlichkeit erwartet. Der Graf bemerkte seinen erstaunten Blick, und rasch abbrechend sagte er in der alten, befehlenden Weise:

„Gleichviel! Der Streit zwischen Euch ist nunmehr ausgeglichen, und ich denke, auch Du wirst keine Lust haben, ihn wieder zu erneuern. Vermeidet Euch künftig, das wird Euch nicht schwer werden, und nun laß mich allein!“

Raoul ging, aber mit kochendem Grimm im Herzen. Wenn er bisher gegen Michael nur hochmüthige Abneigung empfunden hatte, so haßte er ihn jetzt mit der ganzen Gewalt seiner leidenschaftlichen Natur. Vielleicht hätte General Steinrück doch besser gethan, ihm jene Demüthigung nicht aufzuerlegen. Er hatte, damit das Tischtuch zwischen den beiden Vettern zerschnitten; das konnte nicht vergessen werden.

(Fortsetzung folgt.) 


„Gretchen weint“.

Bilder aus der Kinderstube.0 Von Dr. Gustav Klein.

Nein, länger halte ich das Geschrei nicht mehr aus!“ ruft der Herr Buchhalter in höchster Erregung, nimmt den Hut und eilt fort, während seine junge Frau trüben Blickes mit dem schreienden Liebling allein bleibt. Wie hatte sie sich gefreut, mit ihm heute Abend zu besprechen, was sie wohl ihrem kleinen Blondköpfchen zur Weihnacht bescheren wollten! Aber bevor noch das Abendbrot aufgetragen worden war, hatte Gretchen schon durch einzelne Schreiversuche sein Mißbehagen kundgegeben und trotz der zärtlichsten beschwichtigenden Liebkosungen endlich

[737]

Das Strafgericht. 0Nach dem Oelgemälde von Carl Schloesser.
Photogravure von Goupil u. Comp. (Boussod, Valadon u. Comp.) Berlin und Paris.

[738] eines jener Vokalkoncerte begonnen, durch welche selbst der beste Braten und das zarteste Gemüse dem ermüdeten, ruhesuchenden Familienvater verbittert wird. War es zwischen den beiden jungen Leutchen auch noch nie zu ernstlichen Zwistigkciten gekommen, so hatte doch die unleidliche Gewohnheit des kaum ein Jahr alten Mädchens, immer zur unrechten Zeit jenes steinerweichende Lied anzustimmen, schon manchmal Anlaß zu kleinen Verdrießlichkeiten gegeben – aber heute war es das erste Mal, daß sich Hans dadurch bewegen ließ, den Abend außer Hause zu verbringen.

Gewaltsam ihren Schmerz niederkämpfend, versucht es die junge Mutter, durch Liebkosungen und allerlei Spielsachcn das Kind zum Schweigen zu bringen; Alles vergeblich!

Aber wie mit einem Zauberschlage hellen sich die Züge des kleinen Trotzkopfes auf, als ihn die Mutter auf den Arm nimmt und im Zimmer auf- und niederträgt. Hell aufjauchzend sucht das Kind nach der Lampe zu greifen und strampelt so vergnügt mit den runden, dicken Beinchen, daß die Mutter selbst unter Thränen mitlachen muß. Unter Thränen! War es doch der erste Schmerz ihres Ehelebens, den sie heute erlitt! Es ist ein niederdrückendes Gefühl für jedes junge Weib, den ersten Abend allein daheim verbringen zu müssen, und doppelt niederdrückend, wenn er, der sich sonst Abend für Abend seiner Frau gewidmet, im Unmuthe schied, um vielleicht mit seinen alten Bekannten aus der Junggesellenzeit die „entsetzlichen Kneipen“ zu besuchen. Eine Fluth von düsteren Bildern bricht über die junge Frau herein, die sich, nachdem Gretchen endlich eingeschlafen ist, ganz ihren Gedanken überlassen kann.

In solchen Augenblicken sieht man Alles viel dunkler, als es ist; am Abend arbeitet die Phantasie ohnedies am lebhaftesten, und die kleinsten Mißstände wachsen dann ins Ungeheuerliche. Da brauchte es nur kurze Zeit, bis die Frau zur Ueberzeugung gelangte: „Du bist doch recht, recht unglücklich!“

Und all dieser Jammer nur wegen jener Unart des braunäugigen Blondköpfchens!

Doch halt! Ist es denn wirklich Unart und nicht vielmehr eine schlechte Gewohnheit? Und können wir denn ein so junges Wesen für seine Gewohnheiten verantwortlich machen? Sollte manchmal nicht auch ein klein wenig Schuld der Eltern dabei sein, die ihr Kind trotz aller Liebe nicht richtig zu erziehen verstanden? Und wenn es am Ende ausschließlich an den Eltern gelegen wäre?

Mit überlegenem Lächeln antwortet Jemand: „Erziehung? Läßt sich denn ein Kind, das kaum einige Monate alt ist, überhaupt erziehen? Das ist angeborner Charakter oder sonst etwas; vielleicht ist es auch gut, wenn sich das Kind tüchtig ausschreit. Das stärkt die Lungen!“

In solchen Aussprüchen liegt eine scheinbare Berechtigung; man nimmt sich nicht die Mühe, eingehender darüber nachzudenken – das Kind schreit weiter und wird durch die Eltern selbst zum Eigensinn, zur Starrköpfigkeit geradezu erzogen!

Die Erziehung des Kindes muß am ersten Tage beginnen!

Eine goldene Wahrheit, deren Beachtung viel Leid und Kummer ersparen könnte, die sich deßhalb jede Mutter, jede Frau tief einprägen sollte!

Das Neugeborene spricht eine gar verständliche Sprache für den Eingeweihten, eine Sprache, die jede Mutter bald verstehen lernt, wenn sie nur ernstlich will. – Das kranke Kind schreit ganz anders als das hungrige, und ein Kind, das sich eben satt getrunken hat, kann unmöglich nach einer Viertelstunde schon wieder Nahrungsbedürfniß haben.

Wenn das Neugeborene die Welt mit kräftigem Schreien begrüßt, so wird es Niemand einfallen, das als einen Fehler, als eine Unannehmlichkeit zu betrachten; im Gegentheile, es ist nicht nur wünschenswerth, sondern durchaus nothwendig, daß die Lungen, die bisher noch unthätig waren, dadurch kräftig erweitert, ausgedehnt, reichlich und wiederholt mit Luft gefüllt werden. Da muß selbst ein gelinder Schlag, welchen der Arzt dem Kinde versetzt, helfen, dasselbe zu kräftigem Schreien und auf diese Weise zu tiefem Ein- und Ausathmen zu bewegen.

Aber wenn einmal die Athmung gehörig im Gange ist, kann stundenlanges Schreien nicht mehr als nothwendige Uebung betrachtet werden. Da pflegen andere Gründe vorzuliegen. Gewöhnlich ist es der Hunger, welcher das Kind zum Schreien veranlaßt; nicht minder häufig geschieht dies dann, wenn der junge Erdenbürger sein Mißbehagen anzeigen will, also besonders, wenn die Windeln mit frischen vertauscht werden müssen oder bei Gesundheitsstörungen: Unwohlsein, Krankheit. Keinesfalls soll die Mutter versäumen, alle paar Stunden das Neugeborene daraufhin zu untersuchen, sobald dasselbe zu schreien beginnt. Oft läßt sich das Kind schnell durch Erneuerung der Windeln, durch bequemere Lagerung etc. beruhigen; hatte es schon drei bis vier Stunden lang nicht mehr getrunken, so wird wohl der Hunger die Ursache sein, und durch dargereichte Milch bringen wir es rasch zum Schweigen.

Schlimmer steht die Sache natürlich bei Krankheit des Kindes. Die sorgsame Mutter wird dann aber leicht noch andere Zeichen einer vorhandenen Störung entdecken: ungewöhnliche Hitze der Haut, unruhiger Schlaf, Unlust oder allzu häufiges Verlangen nach Nahrungsaufnahme, Unregelmäßigkeiten in der Entleerung der aus dem Körper auszuscheidenden Stoffe, Erbrechen etc. Daß in solchen Fällen der Arzt zu Rathe gezogen werden muß, scheint selbstverständlich; und doch, wie unendlich viel wird auch hier gesündigt! Irgend eine alte Tante oder Freundin weiß im ersten Augenblicke, ohne das Kind auch nur weiter angesehen zu haben, hier sei das „schwere Zahnen“ schuld, und sofort erleichtert sie ihr menschenfreundliches Herz durch eine Menge der abgeschmacktesten, lächerlichsten Rathschläge, die – wenn’s gut geht – unwirksam, aber leider in sehr vielen Fällen geradezu schädlich sind. Es giebt eine große Anzahl von Kinderkrankheiten, die sich durch Aenderung der Ernährungsweise und Aehnliches fast stets beseitigen lassen, und nichts rächt sich deßhalb bitterer, als in falscher Sparsamkeit oder allzu großem Vertrauen auf seine eigenen Erfahrungen die Beiziehung eines Arztes zu unterlassen, während man später durch die kostspieligsten Konsultationen und Kuren das Versäumte vielleicht nicht mehr oder nur schlecht nachholen kann.

Gewöhnlich ist es also Hunger, Unbehagen oder Krankheit, in der allerersten Zeit noch Luftbedürfniß, was die Kinder zum Schreien veranlaßt.

Und doch trifft sehr oft keiner von diesen Gründen zu, während die Kinderstube Tag und Nacht vom Geschrei der Kleinen widerhallt!

Das vier Monate alte Lieschen hat sich satt getrunken, ist ruhig eingeschlafen, aber nach einer Stunde durch irgend ein Geräusch wieder aufgeweckt worden. Sie blinzelt mit den Augen, fährt mit den kleinen Händchen ein paar Mal übers Gesicht, verzieht den Mund zu jenem gefürchteten Viereck und – erhebt nun ein so ohrenzerreißendes Geschrei, daß Mutter und Dienstmädchen eiligst herbeispringen, um zu sehen, ob dem „süßen Engel“ vielleicht gar ein Unfall zugestoßen sei. Aber nichts Derartiges läßt sich entdecken, und wie abgeschnitten ist der Lärm, nachdem die besorgte Mutter dem Kinde die Milchflasche – die unglückselige Milchflasche! – gereicht.

Lieschen trinkt in wenigen Zügen, Hunger hat sie ja nicht, und schläft befriedigt wieder ein.

Nach kurzer Zeit wiederholt sich das gleiche Spiel, obwohl das Kind keineswegs von Hunger geplagt ist; und die arme Mutter hat Tag und Nacht keine Ruhe, wird durch die ewige Anstrengung und Erregung selbst abgespannt, nervös – der „süße Engel“ wird zum Plagegeist der Eltern, zum Störenfried des Familienlebens!

Ein anderes Bild.

„Gottfried ist kaum 11/2 Jahre alt, aber schon groß und kräftig wie manches doppelt so alte Kind. Einige Zeit hat er Nachmittags vergnügt in der Stube gespielt, aber plötzlich scheint’s ihm da nicht mehr zu gefallen. Er krabbelt langsam gegen die Thür hin, und dort angelangt heult er ganz ohne Weiteres mit seiner gellenden Stimme so lange darauf los, bis – ihm die Thür geöffnet wird, so daß er seine Entdeckungsreisen auf dem Flur fortsetzen kann.

Wie beim kleinen Lieschen geht’s auch hier. Unbewußt oder bewußt merken die Kinder, daß sie durch das Geschrei ihren Willen stets durchsetzen, und benützen diesen einfachen Weg, um Alles zu erreichen, was ihnen gerade in den Sinn kommt.

Und weiter. Gottfried ist 5 Jahre alt geworden und ein äußerst kluges Kind von schneller Auffassungsgabe. Nur eine Untugend hat er: seinen unbezähmbaren Eigensinn. Thut man nicht nach seinem Willen, so stampft er mit dem Fuße, lärmt und weint, bis man ihm nachgiebt, „nur, damit endlich wieder Ruhe ist“, oder bis er für seine Ungezogenheit, richtiger Unerzogenheit, gestraft wird; natürlich wird er jetzt nur um so trotziger. „Woher doch das Kind diesen Trotz hat?“ klagen seufzend die mit Engelsgeduld und paradiesischer Sanftmuth begabten Eltern.

Woher? Von euch selbst – von eurer falschen Erziehungsmethode! Und man kann fest überzeugt sein, daß unser Gottfried nach einem und mehreren Jahrzehnten noch genau derselbe Trotzkopf ist; vielleicht ändert und glättet die harte Schule des Lebens später Manches, aber gewiß nicht ohne schlimme Erfahrungen und Lehren!

Beginnt also, wenn euch ein kleiner Weltbürger beschert ist, gleich am ersten Tage mit dessen Erziehung. Hegt und pflegt ihn, wie sich’s für verständige Eltern gehört; bewacht sorgsam alle Regungen seines erwachenden Geisteslebens; aber hütet euch, ihn gleich von Anfang an in seinem Eigenwillen zu bestärken.

Schreit das kleine Gretchen, ohne daß sich irgend eine Ursache dafür finden läßt, gut – so laßt es ruhig fortschreien; gesunden Kindern kann das Schreien nicht schaden; am allerwenigsten können sie dabei etwa „ganz ausbleiben“, wie man oft ängstlich aussprechen hört.

In den ersten Wochen genügt es vollständig, dem Kinde alle 3 bis 4 Stunden Nahrung zu reichen. Dies öfter zu thun, ist unnöthig und schädlich. Und wenn das Kind erst merkt, daß ihm sein Schreien selbst bei häufiger Wiederholung nicht hilft, so wird es von selbst damit aufhören. Besser, ihr vertragt den Lärm anfangs einige Tage lang, als ihn später Monate lang anhören zu müssen und euch selbst eine Quelle fortdauernden Aergers zu schaffen.

Ist das Kind schon älter, so erfüllt seine berechtigten Wünsche, gebt aber keinen Finger breit nach, wenn ihr bemerkt, daß euer Sprößling nur aus langer Weile oder anerzogenem Eigensinn nach dem und jenem verlangt. Man braucht da nicht gleich mit Drohungen und Strafe zu kommen. Die einfache Bemerkung: „Das ist unnöthig“, wird genügen, dem Kinde bald verständlich zu machen, daß nicht seine, sondern der Eltern Absichten maßgebend sind. Und in den ersten paar Monaten des Daseins ist es vollständig hinreichend, unter sorgfältiger Ueberwachung des Kindes streng immer dieselbe Tagesordnung einzuhalten. Der junge Weltbürger gewöhnt sich so vom ersten Tage an Ordnung und läuft nicht Gefahr, sich selbst und allen Anderen später durch seinen Eigensinn fortdauernden Anlaß zu Unannehmlichkeiten zu geben.

Nicht die ist die beste Mutter, welche es versteht, ihr Kind durch Liebkosungen und ewige Nachgiebigkeit zum Schweigen zu bringen, sondern die, welche es ein paar Mal ruhig schreien läßt, sobald sie sich überzeugt hat, daß kein Grund zur Besorgniß vorhanden ist, sondern ihr Sprößling nur Versuche macht, seinen Willen durchzusetzen.


[739]
Blätter und Blüthen.

Kriegsminister Boulanger. Von dem Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt: das ist ein bei unseren Nachbarn jenseit des Rheins in Schwang befindliches geflügeltes Wort; doch ebenso gut kann man sagen, daß dort auch oft nur ein Schritt ist vom Lächerlichen zum Erhabenen, und Mancher, den vielleicht anfangs der Spott der Menge begrüßt hat, richtet sich auf einmal auf einem geschichtlichen Piedestal auf. Zwischen diesen beiden Gegensätzen schwankt auch das Bild des französischen Kriegsministers hin und her, in welchem die Einen nur einen ruhmredigen Soldaten sehen, die Andern einen großen General und vielleicht sogar den Diktator der Zukunft. In hunderttausend Exemplaren ist seine illustrirte Lebensbeschreibung auf den Boulevards verkauft worden: er selber sah sich zuletzt durch die Angriffe der Presse genöthigt, den weiteren Verkauf dieser Broschüre, deren Verfasser jedenfalls dem Kriegsministerium nahe steht, dem Verleger zu verbieten: mit welchem Rechte, ist zweifelhaft. In dieser Broschüre wird der Held abgebildet hoch zu Roß, mit wallendem Federbusche, und in einem zweiten Bilde wird dargestellt, wie die Tonkintruppen vor ihm vorüber defiliren, wobei für den Präsidenten der Republik offenbar kein Platz vorhanden war. Beide Bilder sind in grellem Farbendruck ausgeführt; in ebenso grellen Farben ist der Text gehalten, welcher die Verdienste des Helden um das Vaterland schildert. Von seiner Persönlichkeit heißt es: „Von mittlerem Wuchse, kräftig gebaut, vereinigt General Boulanger in sich alle Merkmale der Jugend und der Kraft. Sein Antlitz athmet jene Kaltblütigkeit, von welcher er erst kürzlich neue Beweise gegeben; das blaue Auge ist lebhaft und klar, unter der scharfgeschnittenen Nase ragt ein dichter blonder Schnurrbart, in einen starken Vollbart übergehend, darunter ein Mund, der selten lächelt, es sei denn, daß der General sich als Familienvater zeigt; denn dieser kühne Soldat, dieser tapfere, mit Narben bedeckte Officier, welcher im Dienste so scharf, so rauh sein kann, ist der beste aller Väter und, wie alle Starken, nur schwach gegenüber seinen Kindern.“

Das ist der „erhabene“ Boulanger; daneben wird auch der „lächerliche“ auf den Boulevards verkauft, eine Schmähschrift mit Illustrationen, welche den General in verschiedenen Stellungen mit komischem Anstrich zeigen und außerdem die Schwankungen seines Herzens von Napoleon zu den Orleans und dann zur Republik in sinnbildlicher Weise sehr bezeichnend darstellen. Dies wankelmüthige Herz wird bei uns Deutschen einer scharfen Kritik begegnen: bei den Franzosen steht’s nicht so schlimm damit; denn die Meisten, die im öffentlichen Leben eine Rolle gespielt, haben ein ganzes Sündenregister von Wandlungen zu verzeichnen; wo die Staatsform selbst so oft umgestürzt wird, da werden ja die Diener des Staats immer in Mitleidenschaft gezogen und sie müssen, wenn sie ihre Stellen behaupten wollen, in die stets neuen Hochrufe mit einstimmen, die den wechselnden Staatsgewalten gebracht werden. Boulanger hat sich keinesfalls dadurch unmöglich gemacht, daß er seine früheren Beziehungen zum Herzog von Aumale verleugnete, während die monarchischen Blätter seine Briefe mit den Faksimiles seiner Handschrift zum Abdruck brachten: Briefe, in denen er für seine Beförderung sich um die Fürsprache des Herzogs bewirbt und ihm seinen Dank und seine dauernde Ergebenheit ausspricht. Das steht nun freilich nicht im Einklang mit der feindseligen Maßregel, daß er den Namen des Herzogs jetzt aus der Armeeliste ausstrich; doch weder Vergeßlichkeit noch Undank sind Todsünden in den Augen der Franzosen: dadurch verliert Boulanger nicht sein Ansehen, wenn sich auch eine Gegenpartei gebildet hat, die den stürmischen Hochrufen vor den Kasernen oder wo er sonst erscheint, ein Hoch auf Monseigneur, den Herzog von Aumale entgegensetzt. Sollte die Partei Gambetta’s und Ferry’s wieder ans Ruder kommen, so ist der volksthümliche General der Boulevards allerdings in seiner Stellung bedroht, wenn ihn auch die Pariser Radikalen, besonders der mächtige Clemenceau beschützten. Vorläufig ist der schnauzbärtige Haudegen, der gelegentlich in die Posaune der Patriotenliga stößt, in Paris sehr populär, und selbst der Präsident Grévy hat ihn durch Verleihung eines hohen Ordens ausgezeichnet, zum Dank für seine Verdienste um die Neugestaltung der Armee. †      

Die Deportation nach Sibirien. Das riesige Land, das für die Weltwirthschaft wie für die wissenschaftliche Forschung von gleichem Interesse ist, hat neuerdings eine eingehende Darstellung erfahren in dem von Petri übersetzten russischen Werke von N. Jodrinzew „Sibirien“ (Jena, Costenoble). Von besonderem Interesse sind die Mittheilungen über die Deportation in jenes Land, über welche zum großen Theil in Deutschland noch unrichtige Anschauungen herrschen. Die Zahl der Deportirten beträgt in neuester Zeit jährlich 18000 bis 20000, während sie früher sich auf 8- bis 9000 belief. Die Deportation wächst in unglaublicher Weise an, man hat sich derselben im Interesse der Strafe und auch der Vorbeugung von Verbrechen und schließlich auch im Interesse der Kolonisation bedient. In der Regel glaubt man in Deutschland, daß nur politische und andere Verbrecher nach Sibirien verbannt werden; doch ein Register der Verbannten aus dem Jahre 1884 ergiebt, daß die große Mehrzahl auf Anordnung der Gemeinden dorthin verbannt werden. Die Zahl derartiger Verbannter erreicht die Ziffer von 4565, die fast doppelt so hoch ist als diejenige der nach Sibirien übergesiedelten Verbrecher; hierzu kommen die Vagabunden, deren Zahl sich auf 1467 beläuft. Es ist dies also eine bequeme Manier, sich die Unterstützungsbedürftigen vom Halse zu schaffen, und manche deutsche Gemeinde würde sich auch ein kleines Sibirien zu diesem Zwecke wünschen.

Die Frauen begleiten sehr oft ihre Männer, während das Umgekehrte in den seltensten Fällen geschieht: in jenem Register werden nur drei freiwillige Männer aufgeführt, die ein solches Opfer gebracht haben. Die Sterblichkeit unter den Frauen ist groß, ihr moralisches Verkommen während des Aufenthaltes bei den Verbannten sehr bemerkbar. Außerordentlich aber ist die Sterblichkeit der Kinder während der Reise: im Jahre 1874 wurden aus Moskau Arrestantenkinder entsandt, die an Masern erkrankt waren; diese Kinder verschleppten eine Masernepidemie; bei dem Mangel an medicinischer Hilfe auf den Barken und Dampfschiffen, auf den Etappenpunkten und während der Fußreise in Sibirien erlag die Hälfte aller Kinder dieser Krankheit.

Die Lage der Verbannten ist eine trostlose und elende: nur ein geringer Theil sind Hausbesitzer, die meisten Heimatlose, die in elenden Hütten wohnen, bei den Bauern arbeiten, von ihnen durch Vorschüsse in fortwährender Sklaverei gehalten werden. Suchen sie Arbeit bei den Goldwäschen, so geht es ihnen nicht besser. Das Verhältniß der Verbannten zu den Einheimischen ist ein sehr ungünstiges: jene gelten diesen als gebrandmarkte Verbrecher, mindestens als Leute von zweifelhafter Moralität. Die Versuche mit Strafkolonien hatten bisher nicht den gewünschten Erfolg. Wie viele entsprangen schon auf dem Wege, mehr als 15% von 120000! Im Ganzen hat die Verbannung nach Sibirien, die oft ohne Gesetz und Urtheil von der Willkür der Verwaltungsbehörden und der Gemeinden ausgeht, etwas Befremdendes für die im übrigen Europa herrschenden Anschauungen. †      

Ein altenburgisches Bauernhaus in ursprünglicher Gestalt, wie es die Vorfahren der altenburgischen Bauernschaft bewohnten, die, wie allgemein bekannt, das von diesen in Sitte und Brauch Ererbte in vielen Stücken noch heute in Treue bewahren, erregte wegen seiner originellen Einrichtung auf der letzten Altenburgischen Landesausstellung allgemeines Interesse. Das mit grünem Staket versehene Vorgärtchen fehlt demselben nicht, ebenso wenig am Giebel der grüne Vogelbauer für die Wachtel, einen Lieblingsvogel des altenburgischen Getreidebauern. Der Eingang zum Hause befindet sich an der rechten Seite desselben. Der kleine Flur ist mit Ziegelsteinen gepflastert. Ein wenig über Mannshöhe ist an der linken Wand des Flurs der Tellerkasten angebracht, aus dem sich jeder Gast – das Innere ist das einer altenburgischen Dorfschenke – seinen hölzernen Teller, auf dem er zu essen beabsichtigte, selbst mitnahm. Mächtige, quadratförmige, dunkelroth angestrichene Tische nebst gleichfarbigen Bänken füllen das Zimmer, welches das ganze Erdgeschoß umfaßt. Zur Linken der Thür befindet sich an der Wand ein gleichfalls dunkelrothes, hölzernes Gestell, der Aufbewahrungsort einer Anzahl kleiner, niedriger Tassen und grell bemalter Teller und Schüsselchen. Zur Rechten der Thür sind in bequem zugänglicher Höhe der Wand zwei Nischen angebracht. In der unteren steht die zinnerne Waschschüssel nebst der „Handquehle“ zum Allgemeingebrauch, in der oberen zwei kleine Handlampen zum Hausgebrauch in Küche und Keller und zwei – Schnapsfläschchen zum privaten Handgebrauche; – in der Mitte der linken Wand „der Seiger“, eine jener heute selten gewordenen Wanduhren, die „vom Kopf bis zu den Füßen“ in ein hölzernes Gehäuse, den Seigerschacht, gehüllt waren. Auf einem Brett an der der Thür gegenüberliegenden Wand über den kleinen, schmalen, quadratischen Fenstern stehen verschiedenartige Krüge und Büchsen und Töpfe, wie sie die wirthliche Hausfrau der Neuzeit etwa zur Aufbewahrung gerösteten Kaffees oder auch „eingemachter“ Früchte benutzt. Hier aber haben dieselben noch einen anderen Zweck, nämlich den von – Dokumentenschränken. An der rechten Wand: der Ofen, aber nicht etwa einer jener vierschrötigen Kachelöfen, die eine so große Nachhaltigkeit zu entwickeln vermögen, sondern ein Ofen von schlanker Gestalt, allerdings auch aus grob und grell bemalten Kacheln zusammengesetzt, aber in Aus- und Einbuchtungen spitz zulaufend. Dicht daneben befindet sich in der halben Höhe der Wand der Käseschragen, auf welchem das weitberühmte Erzeugniß altenburger Land- und Milchwirthschaft getrocknet wird. Auf der Seite der Thür, rechts von der Waschschüssel und den Handlampen und den Schnapsflaschen: der Schanktisch und hinter diesem die Backstube und der Backofen, der draußen neben der Hausthür weit aus der Mauer herausragt. Hier sind die Wirthin und ihre Gehilfinnen in der althergebrachten Tracht, deren Eigenart ja wohlbekannt ist, in emsigster Thätigkeit beim Kaffeebereiten und Kuchenbacken. Denn der Nachfrage vermögen sie kaum zu genügen. Am glühenden Backofen aber steht der Wirth in weißen Kniestrümpfen, umfangreichen, schwarzsammtenen Pumphosen und weißen, bauschigen Hemdärmeln, im Schweiße seines Angesichts. Aber die Erzeugnisse dieser Backstube sind vortrefflich. Der Altenburger versteht seinen Mehl- und Butter- und Milch- und Eierüberfluß anzuwenden. Wem die Wahl schwer wird unter den verschiedenen Kuchensorten, welche die altenburger Bäuerinnen hier bereiten – aus eigener Ueberzeugung vermag ich aus der Schule, oder vielmehr aus der Küche zu plaudern: – der Platzkuchen ist der allerbeste! H. Meißner.     

Das Strafgericht. (Mit Illustration Seite 737.) Verbotene Frucht schmeckt bekanntlich süß. Nur eine kleine Bedingung darf dabei nicht außer Acht gelassen werden: die – sich nicht ertappen zu lassen, wenn die begehrlichen Finger sich nach einer solchen „süßen“ Frucht ausstrecken. Sonst kann’s allzuleicht kommen, daß den Näschern der Geschmack an der verbotenen Frucht gründlich verdorben wird, wie zum Exempel den drei Missethätern auf unserem Bilde. Was sie verbrochen haben, steht zwar nicht auf ihren Gesichtern geschrieben, aber daß sie ertappt, in flagranti, das heißt „auf frischer That“ ertappt worden sind, wird ohne viel Kunst jeder schon aus ihrer beklommenen Haltung herauslesen können. Wer sie erwischt hat, ist unschwer zu erkennen; schon die selbstbewußte Haltung des Gemeindedieners läßt es errathen, wer der Häscher war. Und solch ein Unglück! Denn dieser starre Vertreter des Gesetzes machte nicht viel Federlesens. Die Uebelthäter wurden zum gestrengen Amtmann geführt und von dort in die Schule. Und das war das Schlimmste. Denn dort gab’s, wie vorauszusehen, nicht nur eine derbe Strafpredigt und Schlimmeres, sondern sie wurden auch ihren Mitschülern recht eindringlich als Nichtsnutze vorgestellt, und das hieß ihnen den Spaß auf die Dauer verderben. * *     
[740] Die Kunst im Kleinen. Der Elfenbeinschnitzer Leo Pronner in diürnberg hatte einst auf einen Kirschkern die beiden Wappen seiner Vaterstadt so fein und deutlich gravirt, daß diese Arbeit die Bewunderung aller Kenner erregte. Aber wie erstaunten die Letzteren, als der Künstler den Deckel von dem Kern abnahm und mit einer überaus feinen Pincette ein Dutzend Teller, ein Dutzend Messer, die Klingen von Stahl und die Hefte von Holz, und endlich ein Dutzend Löffel von Buchsbaum aus dem Innern hervorlangte! Derselbe Künstler konnte das Vaterunser mit Frakturschrift so zart schreiben, daß man dasselbe mit einer halben Erbse bedecken konnte. Die sechs Hauptstücke der christlichen Lehre schrieb er so fein, daß die ganze Schrift nur den Raum eines Pfennigs einnahm. Der Mathematiker David Schwenter[WS 1], mit welchem Pronner befreundet war, erhielt einst ein glattpolirtes Pfennigstück von ihm zum Geschenk, auf welchem zwölf Vaterunser und der Glaube gravirt, in der Mitte aber ein Krucifix mit Maria und Johannes gezeichnet war. Selbstverständlich konnte man die Schrift nur mit Hilfe eines ziemlich starken Vergrößerungsglases erkennen. Roß und Reiter schnitzte er aus Elfenbein von solcher Feinheit, daß man dasselbe durch ein Nadelöhr schieben konnte.

Ein ähnlicher Tausendkünstler war der schwäbische Drechsler Oswald Uerlinger. Er drehte einst ein Pfefferkorn zu einem Miniaturtrinkgeschirr aus und versah es mit einem elfenbeinernen Füßchen und dergleichen Deckel. Sechshundert andere mikroskopisch kleine Becher hatte er zum Einlegen in den größeren bestimmt, und sie sämmtlich erschienen durch das Vergrößerungsglas vollkommen ebenmäßig und proportionirt. Ein anderer kleiner Pokal, von demselben Künstler herrührend und ebenfalls aus einem Pfefferkorn gefertigt, hatte Fuß und Deckel von Gold und sein Inneres war mit nur dreihundert goldenen Kelchen angefüllt, weil sich das Gold nicht zu so überaus feinen Gegenständen verarbeiten läßt, wie das Elfenbein. M. L.     

Dank und neue Bitte. Seitdem Herr C. L. Glück, Chef der Hof-Pianofortefabrik zu Friedberg in Hessen, die Bitten unbemittelter Klavierbedürftiger in so großmüthiger Weise berücksichtigte, daß er, statt mit drei, mit sechs Instrumenten ebenso viele Familien wahrhaft beglückte (wofür wir ihm noch in Nr. 6 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ unseren Dank ausgesprochen haben), wurde es uns ermöglicht, die Zahl solcher Gaben bis auf 17 zu bringen. Einer Pastorswittwe war das 7. Instrument zu Theil geworden von einem edlen Geber in Sachsen. Mit dem 8., „der Freude ihrer Jugend“, bereitete Frau S. Merklein, Professorswittwe in Nürnberg, einer Lehrerwittwe in Ostpreußen und deren Sohne wieder eine dauernde Freude. Aus derselben Stadt kam das 9. Instrument, ein Fortepiano, als eine Gabe der sehr kranken Frau Julie Hautsch an eine arme Lehrerin in Westpreußen. Abermals eine Lehrerwittwe, diesmal in Berlin, wurde mit einem Flügel überrascht, welchen Fr. Räthin Elise Bloem in Schöneberg der „Gartenlaube“ zu diesem Behufe zur Verfügung gestellt. – Das 11. Instrument, wieder ein Flügel, hilft einer schon in den Siebzigern stehenden Kaufmannswittwe in Berlin durch Ertheilen von Klavierunterricht das bescheidene Dasein erhalten. Und wie freut sich darüber der Spender desselben, ein Lehrer, der seinen lieben Flügel zurücklassen mußte, beim Umzng an einen andern Ort, weil er dort keine auch dem großen Instrument Raum bietende Wohnung miethen konnte! – Die Postkarten-Anfrage des Herrn H. Adam, Pianofortefabrik in Aachen: „Sollten Sie noch Verwendung für ein paar alte Flügel haben, so stehen diese gern zur Verfügung“ wurde sofort mit zwei Adressen beantwortet. Der eine (also Nr. 12) ist für einen Lehrer im Hannöverischen bestimmt und der andere von der Gattin eines Bäckergesellen, im Westerwald, welche durch Verwerthung ihrer musikalischen Begabung ihrem Manne die Erziehung ihrer sechs Kinder erleichtert, bereits mit Dank empfangen worden. – Das 14. Instrument, ein Fortepiano, kam aus dem sang- und klangreichen Thüringen, aus dem Besitz des Herrn Sanitätsraths Dr. Preller, des Eigenthümers und Leiters der Wasserheilanstalt in Ilmenau, in die Nähe von Magdeburgerforth, wo es nun die Freude einer Lehrerfamilie ist. – Mit dem 15. Instrument, einem Tafelklavier, wurde durch Herrn B. in C. der Wunsch eines Lehrers in der Rheinpfalz erfüllt. – Das 16., von Frau Th. Kettembeil in Leipzig geschenkt, erhielt ein alter pensionirter Lehrer in Hof, der in der Musik die einzige Freude seiner alten kummer- und sorgenvollen Tage erblickt. – Mit dem 17., welches uns von einer hochherzigen Dame in Leipzig überwiesen wurde, zog große Freude in die dürftige Behausung eines oberschlesischen Landbriefträgers, welcher, der Erblindung und damit der Erwerbsunfähigkeit nahe, seine beiden musikalisch sehr begabten Kinder für ihre spätere Laufbahn ausbilden will.

Siebzehn Instrumente – in siebzehn Familien jahrelang ersehnte Freude! Und dennoch trübt sich unser Blick, wenn er auf den hohen Stoß von Bittbriefen fällt, für welche bis heute noch keine entsprechende Antwort möglich war. Nicht weniger als siebenundsechzig Instrumente würden nothwendig sein, um alle die hier niedergelegten dringenden und flehenden Wünsche zu befriedigen. Wir sind nicht so ängstlich, diese Befriedigung für unmöglich zu halten: im Gegentheil, wir sind überzeugt, daß noch Hunderte von zurückgestellten, noch brauchbaren Instrumenten im Besitz Wohlhabender und in den Niederlagen unserer vielen großen Fortepianofabriken vorhanden sind und daß die Besitzer gewiß nicht abgeneigt wären, dieselben an unbemittelte Familien zu verschenken, wenn nicht allerlei Unbequemlichkeiten mit der Ausübung solcher Wohlthätigkeit verbunden wären. Aber diese Umständlichkeiten will die „Gartenlaube“ ja gern auf sich nehmen und bittet hiermit dringend, ihr auf diesem Wege so viel Arbeit wie nur möglich zu machen. Daß die Verlagshandlung unseres Blattes die Frachtkosten für die Beförderung der Instrumente von den Gebern an die Empfänger zu tragen sich erboten, ist schon oft hier ausgesprochen. –

Täglich tritt soviel Elend und Noth mit der Bitte um Hilfe an uns heran, daß wir wiederholt und immer aufs Neue den Wohlthätigkeitssinn unserer verehrten Leser anrufen müssen. Jede Gabe, auch die kleinste, wird dankbar angenommen und nach bestem Wissen segensreich verwendet.

Möge Jeder, der ein Herz für die Armen und Verlassenen hat, sich derselben bei freudigen Ereignissen erinnern und uns ein Scherflein – seien es auch nur Pfennige (in Briefmarken) – zuwenden. In zahlreichen Fällen kann nur eine Unterstützung in baarem Gelde helfen, und viele Wenig machen ein Viel!

Gedenket der Armen! Vergesset ihrer nicht, wenn es Euch wohlgeht!

Festspiele für Kinder. Es ist nicht leicht, Passendes zu finden, wenn das junge heranwachsende Geschlecht Lust bekommt, sich auf dem künstlerischen Gebiete zu versuchen durch Deklamation und Gesang. Dafür hat jetzt Frida Schanz, die Sängerin des preisgekrönten Studentenliedes, Sorge getragen, indem sie vier Kinderfestspiele: „Die Jahreszeiten“ gedichtet hat; die darin enthaltenen Lieder sind von K. Goepfart in Mnsik gesetzt. Mit diesen Liedern wechseln zum Vortrag geeignete Gedichte ab. Nichts ist in diesen Festspielen enthalten, was über den Horizont der Kinder hinausgeht: die Verse sind gefällig und leichtgeflügelt; dafür besitzt Frida Schanz ja ein anerkanntes Talent. †      


Schach.
Von J. Hintzpeter in Siegen.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem vierten Zuge matt.

Dieses Problem sei der besonderen Beachtung unserer Schachfreunde anempfohlen.

Briefkasten.

P. K. Sie haben Recht. Das schöne Problem von Pospisil auf Seite 536 ist leider nebenlösig durch 1. D b 7, S f 3!, 2. K f 6 nebst 3. T d 8! etc. oder falls 1. .... S g 4!, so 2. T e 8 nebst 3. L g 7 !! etc. Der Verfasser vermochte eine Korrektur bisher nicht aufzufinden.

Architekt Fritz Sch. in Hannover. Falsch! Sie haben die Natur und das Wesen des Schachproblems irrig aufgefaßt. Hermann von Gottschall’s „Kleine Problemschule“ (Verlag von Adolf Roegner in Leipzig, Preis 1 Mark) sei Ihnen zum Studium anempfohlen.



[ Inhalt der Nr. 41 / 1886 ]




[ Verlagswerbung für den „Gartenlaube-Kalender 1887“ ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint ist Daniel Schwenter.

  1. Spr. Risa, magyarische Abkürzung von Therese; Terka volksthümliche Form des gleichen Namens.
  2. Berüchtigter Brigantenführer aus der Basilicata.
  3. „Unsäglichen Schmerz läßt Du mich, Königin, erneuern.“ Mit diesen Worten beginnt Aeneas in Virgil’s „Aeneide“ der Königin Dido von dem Untergang Trojas zu berichten.
  4. Sumpfwald

Anmerkungen (Wikisource)