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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[705]

No. 40.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Ueber den Gartenzaun.

Erzählung von A. Weber.


Ja, wenn nur der Maulbeerbaum am Gartenzaun nicht gewesen wäre! Der hat die ganze Geschichte auf dem Gewissen. Aber so machen’s die Dinge immer: schon das kleine Kind muß den Tisch schlagen, weil derselbe seinem Köpfchen nicht hat ausweichen wollen. Und mit derselben Tücke stellen sich uns vernünftigen Menschen die unvernünftigen Dinge unser ganzes Leben lang in den Weg, so daß wir über sie stolpern und uns stoßen müssen; oder sie reizen uns, bis wir um ihretwillen Sünde thun und hinterher den Schaden davon haben.

Und so ist es, wie gesagt, der Maulbeerbaum, welcher diese Geschichte auf seinem Gewissen hat – er und allerdings auch zwei Ohrfeigen, die in zwei kritischen Augenblicken gegeben und empfangen wurden; aber der Maulbeerbaum ist doch der eigentliche Schuldige. Er stand dicht an einem Zaun, welcher die Gärten zweier merkwürdig gleichartiger Bauernhäuser in Szegedin trennte. Aber versteht mich recht: nicht die völlige Gleichartigkeit dieser Gebäude an sich wäre merkwürdig gewesen; denn der weitaus größte Theil der großen Stadt Szegedin besteht aus Reihen von niedrigen, mit weißem Kalk beworfenen Bauernhäuschen, welche für das Auge des Fremden einander so ganz und gar gleichen, daß er in diesen Straßen sich verirren kann, wie ein Unkundiger auf der weiten See oder in der Heide aus Mangel an unterscheidenden Merkzeichen. Von allen diesen weißen Bauernhäuschen heben sich die erwähnten zwei durch ihre Eigenart stark ab. Das eine hat grüne, das andere rothe Fensterläden und Thüren und in umgekehrter Reihenfolge das eine rothe, das andere grüne Quadrate über den weißen Wänden; denn sie bestehen nicht aus Lehm, sondern aus Fachwerk, und zeigen diesen Vorzug durch besagte Malerei. Ferner sind sie, wenn möglich, noch sauberer als die anderen Häuschen, haben auch jedes ein Vorgärtchen, dessen Buchsbaum, Narcissen und Lilien im Sommer mit dickem Staub bedeckt sind, in den übrigen Jahreszeiten aber im Sumpf versinken. Geht man durch die grün oder roth bemalte Hausthür, so tritt man bei beiden Häusern linker Hand in eine Küche, welche von schön bemalten Näpfen und Löffeln schillert und in deren Estrich mit Wasser geometrische Figuren gegossen sind, rechter Hand aber in ein großes Zimmer, welches den unerhörten Luxus eines Sofas und eines großen Spiegels aufweist. Geht man dagegen durch die hintere Thür in den Hof, so findet man in dem Vordertheil des einen kindliche Versuche, in abgezirkelten Beeten eine Art von Teppichgärtnerei zu erzielen, in dem des andern schöne, wohlgepflegte, alte Bäume, Flieder- und Jasminsträucher und dicht am Zaun einen Maulbeerbaum, eben jenen schon genannten Schuldigen, der seine mächtigen Zweige weit in den Nachbargarten hineinstreckt und demselben den einzigen Schatten spendet, welchen er überhaupt aufzuweisen hat. Diese beiden

„Morgen muß ich fort von hier.“0 Originalzeichnung von E. Hesse.

[706] Anwesen verdanken alle ihre ausgezeichneten Vorzüge, die eingebildeten wie die wirklichen, der grimmigen Feindschaft ihrer Besitzer, welche diesmal nicht, wie es sonst wohl zu geschehen pflegt, die Feinde dazu getrieben hat, einander ruiniren zu wollen und dadurch sich selbst zu ruiniren, sondern dazu, es sich gegenseitig in allen Tugenden zuvorzuthun. Und dieser rühmliche Wettlauf ist wohl aus der Entstehung der Feindschaft zu erklären. Es war, um es nur gleich herauszusagen, in Haß umgeschlagene Liebe.

Er, der ziemlich passive Held dieser Geschichte, hieß Janos und war im Beginn seiner Laufbahn Utvaros (Hausknecht) in dem größten Mädchenerziehungs-Institute Szegedins; sie, die Heldin, hieß Terka und war Köchin in demselben Hause. Er war ein so hübscher Bursche, wie man nur einen in den weiten Pußten Südungarns treffen kann; sein schlanker, geschmeidiger Wuchs, seine schwarzen Augen, seine krausen Haare, die kühne Nase und die rothen Lippen mit dem verwegen zugespitzten Schnurrbärtchen thaten es allen Mädchen an. Und tanzen konnte er! Kein besserer Csardastänzer war weit und breit zu finden. Nur arbeiten mochte er nicht gern; doch war ihm das nicht sehr zu verdenken; denn Lasten schleppen verdirbt den geraden Wuchs und Holzspalten schlanke Hände. Auch brauchte er sich nicht übermäßig anzustrengen. Das thut ein Szegediner Utvaros überhaupt selten und ein hübscher nun gar nicht! Wozu wären da die Mädchen auf der Welt, welche die schmucken Bursche so gern haben?

Seit Janos vollends bei der Terka in Gunst stand, war sein Los beneidenswerth; denn eine Köchin ist beinahe allmächtig in Szegedin. Vor ihr zittert selbst die Hausfrau, und der Herr hält sie mit Geschenken und Schmeicheleien bei guter Laune, damit sie ihm die Apfelkrapfen und Schinkenfleckerl und den Paprika zu seiner schmunzelnden Zufriedenheit bereite. Ob es aber ein unabänderliches Naturgesetz ist, daß alle Szegediner Köchinnen häßlich sein müssen, weiß ich nicht; Thatsache ist, daß ich nie eine hübsche gefunden habe. Vielleicht trägt der Umstand dazu bei, daß ein mehr oder minder ehrwürdiges Alter zur Bekleidung dieses Amtes erforderlich zu sein scheint, vielleicht mehr noch der, daß die Köchin sich kontraktlich ein- bis zweimal in der Woche berauschen und auch an den übrigen Tagen eine ziemlich große Menge Weines zu sich nehmen darf.

Da aber unsere Terka von diesem Vorrechte nur mäßigen Gebrauch machte, so waren ihre breiten Backen noch nicht gar zu blauroth geworden und ihre derbe Gestalt noch nicht allzu sehr aus einander gegangen. Auch hielt sie viel auf ihren Anzug, flocht ihr schwarzes, dickes, straffes Haar am Wirbel des Kopfes so fest in den üblichen Mongolenzopf und durchwand ihn Sonntags mit so breiten rothen Bändern, daß sie – mindestens in ihren eigenen Augen – eine gar nicht üble Person war. Sie hatte freilich schon das bedenkliche Alter von vierundzwanzig Jahren erreicht, ein Alter, in welchem in Szegedin die Mädchen mehr zur Köchin als zur Frau begehrt werden. Was that das aber, da sie und Janos sich dennoch ineinander verliebt hatten? Eigentlich hatte der Zeit nach Terka sich zuerst in den Janos verliebt. Er sah wirklich zu hübsch aus, wenn er ihr den großen Henkelkorb auf den Markt nachtrug und dazu einen Csardas pfiff oder ihr ein keckes Wort zuraunte. Terka hob dann noch einmal so stolz den Kopf, denn sie merkte wohl, wie die vierschrötigen walachischen Marktweiber hinter ihr und dem Janos die Köpfe zusammensteckten. Ja, sie konnten weit suchen, bis sie eine Köchin fanden, welche einen so stattlichen Utvaros hinter sich hatte wie die Terka!

Dem Janos aber schmeichelte die Vorliebe der gestrengen Köchin, die ihm durch die vier Jahre, welche sie vor ihm voraus hatte, noch besonders imponirte, und da die Eitelkeit viel mehr noch der Männer als der Frauen schwächste Seite ist, so eroberte Terka von dort aus sein Herz, wenn auch vorläufig ohne weitere Folgen; denn an Heirath dachte wohl sie, nicht aber er.

Nun war gerade in die Zeit, da die Beiden ziemlich stark in einander verliebt waren, der Karfreitag gefallen, der eine von den beiden Tagen, welchen die Szegediner durch gänzliche Enthaltung von aller Speise heiligen und welcher neben dem Weihnachts-Heiligabend dem Herrn Sarosdy, dem Institutsvater, wie ihn die Pensionärinnen unter sich nannten, stärkere und zahlreichere Seufzer erpreßte, als alle übrigen dreihundertdreiundsechzig Tage des Jahres zusammengenommen.

Am heurigen Karfreitag goß es zur Vollendung der Plage in solchen Strömen vom Himmel, daß die ungepflasterten Straßen sich im Nu in Sümpfe verwandelten und dem Herrn Sarosdy das einzige Mittel nahmen, den Tag zu kürzen: das Schlendern von einer Kirche zur andern. Das heißt, er hätte ja freilich mit seinen hohen Stulpstiefeln ungefährdet die Pilgerreise unternehmen können, wozu aber, da er genau wußte, daß von allen den hübschen Frauen und Mädchen, welche sonst die Kirchen bevölkern, heute auch nicht das kleinste Stirnlöckchen dort zu erblicken sein werde! Und da an diesem Tage jede Weinstube geschlossen, das Anrühren von Karten verboten war, da Madame, die Gattin und Institutsvorsteherin, heute den unschuldigsten Spaß mit den Pensionsfräulein durch strenges Stirnrunzeln bestrafte, da man nicht einmal ein Buch aufschlagen durfte – in welche Versuchung übrigens Herr Sarosdy seit seinen Studienjahren noch nie gerathen war – was sollte er Anderes thun, als seufzen? Und wer konnte es ihm verdenken, daß er mit lautem „Eljen Sarosdy néni!“ („Es lebe Tante Sarosdy [Scharoschdi]!“) das kleinste Institutsfräulein, die achtjährige serbische Katicza, bis über seinen grauen Kopf hob, als seine Gattin schon um drei Uhr Nachmittags die Behauptung aufstellte, die Sonne sei bereits untergegangen, und den Tisch decken ließ, welcher nun in der ganzen Länge des kleineren Schulsaals mit Kuchen, Kaffee, Fleisch und eingelegten Früchten besetzt wurde.

War nun seine Empfänglichkeit für solche Genüsse gesteigert, oder hatte Terka sich wirklich besondere Mühe gegeben; genug, Herr Sarosdy fand die Aprikosenkrapfen so vorzüglich, daß er die Köchin hereinrufen ließ und ihr eine launige Lobrede in sehr schlechtem Ungarisch hielt; denn Herr Sarosdy war wie viele Ungarn früher deutscher Abstammung gewesen, hatte „Gärtner“ geheißen und war erst, als die magyarische Abstammung Modesache wurde, zu dieser, seinem magyarischen Namen und seinem schlechten Ungarisch gekommen. Außer der Lobrede aber verehrte Herr Sarosdy der Terka noch einen ganzen Papiergulden, und die überglückliche Köchin trug das Geschenk gleich nächsten Tages den Weg, welchen alle Ersparnisse aller ungarischen Köchinnen gehen: „ins Terno“, die Lotterie, welche dreimal wöchentlich ihre Ziehungen hält. Sie setzte den Gulden auf die Nummer vierundvierzig, welche sie durch Addiren von ihrem Alter zu dem des Geliebten unter schwerem Kopfzerbrechen gefunden hatte. Zwar sah sie im Traume der nächsten drei Nächte jedesmal die Zahl fünfzig mit leuchtender Schrift auf dem Kuchenblech stehen und machte sich schwere Vorwürfe, daß sie ihr Glück nicht auf diese Ziffer gebaut hatte, welche das Alter ihres Gönners bezeichnete; aber diesmal wie immer trug die Liebe über die Pflicht der Dankbarkeit den Sieg davon; die Nummer vierundvierzig kam heraus und zwar mit dreihundert Gulden.

Dieser Erfolg machte die Terka närrisch, den Janos hingegen klug; er fühlte plötzlich, daß er ohne Terka nicht länger leben könne, und da Terka in Bezug auf Janos im Stillen schon lange zu dem gleichen Schluß gekommen war, so beschlossen die Beiden, schon am zweiten Pfingstfeiertage Hochzeit zu machen.

Der erste Pfingsttag war herangekommen; Janos und Terka kehrten aus der Kirche zurück, wo sie als Vorbereitung für ihre Hochzeit zusammen die Messe gehört hatten. Terka wollte den letzten Abend ihres Mädchenlebens bei ihrer alten Mutter verbringen, welche sie bei einer Bäuerin in Kost und Pflege gegeben hatte. Aber es war ein so schöner Nachmittag: die Sonne leuchtete, die Oleander vor den Häusern blühten, ein schier betäubender Duft von Rosen und Nelken zog aus den ummauerten Hofgärten durch die Straßen, eine bunte Menge geputzter Menschen strömte aus den dunkeln Kirchen heraus in das Licht des Maitages, den großen Plätzen zu, von welchen her Geige und Cimbal zum Csardas lockten! In Terka’s Adern wallte das Blut; eine unbestimmte und furchtsame Sehnsucht glühte in ihr auf. Sie scheute zum ersten Mal das Alleinsein mit ihrem Geliebten und mochte ihn doch nicht lassen und ihr glühendes Herz in der dumpfen, dunkeln Stube der kranken Mutter abkühlen. So faßte sie Janos bei der Hand und zog ihn in das dichteste Gewimmel der Menschen hinein, die dem großen Marktplatz der oberen Stadt zudrängten. Janos, dem ziemlich gleichgültig zu Muth war, tanzte gern und folgte der Braut willig.

[707] Der Csardas wogte schon her und hin. Die Geige schrie, das Cimbal hämmerte, zuckte und wirbelte, wie Terka’s Herz und Kopf. Mit voller Leidenschaft begann sie sofort die zuckenden Tanzschritte zu machen und jauchzte hellauf, wenn Janos sie umschlang, mit wilder Schnelle herumdrehte und sie wieder fahren ließ, worauf sie dann floh, um ihm um so feuriger in die Arme zu fliegen. Eine volle Stunde schon hatte sie getanzt, ohne zu ermüden. Sie achtete nicht auf ihre Umgebung und fühlte nur, daß das wilde Gewoge ihre Lust verstärkte und ihr mehr Sicherheit gab.

Janos dagegen, dessen Blut, wie gesagt, ziemlich ruhig floß, hatte bald in Nähe und Ferne viele Einzelheiten betrachtet, und sein Blick war vorzugsweise auf einem Paare ruhen geblieben, welches dicht neben ihm tanzte. Das Paar, ein Bauer und eine Bäuerin, Beide am Ende der Dreißiger stehend, war natürlich kein Ehepaar, da die Beiden sonst, so schloß Janos, nicht mit einander getanzt hätten. Aber obgleich die Bäuerin viel älter und keineswegs hübscher war als seine Braut, fiel doch der Vergleich, welchen Janos zwischen den Beiden zog, sehr zu Ungunsten der Letzteren aus; denn Terka hatte wohl ihren Zopf mit handbreiten rothen und grünen Bändern durchflochten und die verhältnißmäßig zierlichen Füße in hübsche graue Atlasschuhe mit grünen Rosetten gesteckt; sonst aber trug sie, wie alle geringeren Leute, nur ein helles Battistkleid, und ihren Busen umspannte ein Mieder von schwarzem Tuch. Die Bäuerin dagegen trug ein vielfältiges Kleid von schwerer rother Seide; ihren hartknochigen Oberkörper umschlossen ein goldgeschnürtes Sammetmieder und ein rothseidenes Busentuch, und um das scharfe Gesicht schlang sich ein Kopftuch von ebenfalls schwerer Seide; ein großes, schwarzseidenes Umschlagetuch mit eingestickter Blumenborte hatte sie sich der Hitze wegen über den Arm gehängt. Und ihre großen, tiefliegenden schwarzen Augen blickten unverwandt zu Janos hinüber. Der ärgerte sich unwillkürlich, daß er nicht seinen Hochzeitsstaat anhatte, und freute sich, daß sein schlanker Wuchs auch in den älteren Kleidern der reichen Bäuerin in die Augen stach. Je öfter er nach ihr hinsah, desto mehr erblich der Reiz der rothen Wangen und der liebeglänzenden Augen Terka’s vor der Pracht der rothen Seide und der goldglänzenden Schnüre. Als vollends die Zigeuner wieder einmal den Csardas in den wiegenden „Lassan“ des ersten Theiles übergehen ließen, da trat die Bäuerin einen Schritt von ihrem Partner weg zu Janos hin, Janos aber that fünf Schritte von Terka fort zur Bäuerin. Nun wiegten sich die Beiden vor einander in den Hüften, und Janos sah mit aufleuchtenden Augen in die düstern der Bäuerin, die ihren Ausdruck nicht änderten, aber unverwandt an ihm hingen.

Terka hatte nur einen Augenblick allein gestanden; im nächsten wiegte sich der Bauer vor ihr in den Hüften und sah sie dabei zuerst mit grimmiger Miene, dann wie wägend und schätzend an. Auch Terka betrachtete ihren Partner; er hatte ein verwettertes Gesicht mit ungeheurem Schnauzbart, sah trotz seiner listig funkelnden Aeuglein eher dumm als klug, aber sehr gutmüthig aus; seine Gestalt war auch verwettert und ausgearbeitet, starkknochig und so wenig elastisch, wie die von Leuten wird, welche lange Zeit schwere Arbeiten verrichtet haben. Aber das hagere Bein steckte in bestem Tuch und hohen Stulpstiefeln; eine rothe Weste mit großen silbernen Knöpfen öffnete sich über einen reichgestickten Gurt, und der Szür (Mantel), welchen er über den knochigen Schultern trug, war von feinster, weißer Wolle, über und über bedeckt mit kostbarer Handstickerei von bunter Seide. Der Bauer war also reich, und Terka hätte mit dem Tausch des Tänzers zufrieden sein können; aber ihr Herz brannte und bebte in einem unklaren Gefühl von Gekränktheit, Scham, Eifersucht und Liebe. Indeß war es so sehr üblich, im Csardas den Partner zu wechseln, daß sie vorläufig keinen rechten Grund zum Zorn hatte und den aufsteigenden Argwohn niederhielt.

Der Bauer hatte sie indeß immer schweigend betrachtet; ihre stattliche Fülle mußte nach seinem Geschmack sein; denn er sagte mit wohlgefälligem Augenzwinkern:

„Bist ’ne saubere Dirn!“ Dann mit einem Augenwink nach dem Nachbarpaar: „Wohl Dein Liebster? He?“

Terka schoß das Blut ins Gesicht, und sie antwortete rasch und scharf: „Wir wollten morgen Hochzeit machen.“

„Wollten?“ fragte der Bauer. „Wollen jetzt nicht mehr? He? Er will nicht? Oder Du willst nicht? He?“

„Was geht das Euch an? Ihr seid unverschämt!“ rief Terka zornig.

„Geht mich schon an,“ sagte der Bauer nun grimmig. „War mit der da versprochen, mit dem dalketen Fratz da, der verliebten Bäuerin. Ich Wittwer, sie Wittwe … Nachbarn! Reich! Keine Kinder! In vier Wochen Hochzeit … Vorhin a bissel gezankt ... Und nun? Dank schön! Ess’ kein abgefall’nes Obst. Ist wurmstichig. Solltest es auch so machen, Dirn’!“

„Ich brauch keinen Rath; weiß mir selbst zu helfen,“ brauste Terka auf. Der Bauer aber erwiderte gutmüthig:

„Auch gut! Resolutes Frauenzimmer. Gefällst mir.“

Der eifersüchtige Argwohn in Terka’s Herzen war nun aber üppig ins Kraut geschossen. Sie that sich Gewalt an, die Augen von dem Nachbarpaar ab- und ihrem Partner zuzuwenden; aber sie drehten sich unwillkürlich immer wieder nach der Seite hin. Der Csardas wogte wilder; man trug Wein von den benachbarten Schenken herbei; die Männer griffen begierig nach den Gläsern; lautes Jauchzen übertönte schon die schrille Geige. Die Bäuerin winkte während des Tanzes mehrere Male den Schenken herbei, nippte ein wenig von dem rothen Wein und reichte ihn dann dem Janos, der ihn in einem Zuge herunterstürzte. Beider Augen wurzelten in einander. Der Terka Herz und Wangen brannten im Zorn; ihr Tänzer betrachtete sie schmunzelnd. Jetzt reichte die Bäuerin während des Tanzes wieder ein Glas dem Janos hin; als er es nahm, verzog sich ihr Gesicht zum ersten Mal zum Lächeln, und sie nickte ihm zu. Da stürzte er den Wein herunter, warf mit einem hellen Jauchzer das Glas in die Luft, umfaßte die Bäuerin, wirbelte sie umher, und als sie athemlos stillstand und ihn mit ihren brennenden Augen ansah, stieß er wieder einen Jauchzer aus und küßte sie auf den Mund.

Kaum hatte er’s gethan, so verflog im Schreck sein Rausch zur Hälfte; er blickte unwillkürlich nach Terka hin, die schneebleich und nach Athem ringend mechanisch die Bewegung des Tanzes machte. Noch ganz unter dem sinnverwirrenden Einfluß des Rausches, und doch im unklaren Reuegefühl trat er rasch auf sie zu und sagte:

„Na, Terka, bist ja ganz blaß, Schatz! Nimm’s Dir nicht so zu Herzen, wenn ich ’ne Andere hübsch finden und ihr ’nen Kuß geben thu’. Da hast auch einen.“

Er legte den Arm um sie und wollte sie küssen. Sie aber, blaß bis in die Lippen, bog sich weit zurück und schlug ihn ins Gesicht.

Ein lautes Lachen scholl aus zwei Kehlen; vor Wuth ebenso blaß wie Terka, aber mit einer flammendrothen Wange sah sich der Bursche um.

Noch immer lachend trat die Bäuerin auf ihn zu.

„Ich lach’ über die da,“ sagte sie, mit dem Finger auf Terka deutend. „Wie dumm sie ist! Nun ist’s doch aus zwischen Euch Beiden. Komm her, ich hab’ Dir was zu sagen.“ Sie faßte Janos bei der Hand und zog ihn fort, in dichtes Gewühl hinein.

Terka stand noch einen Augenblick wie angewurzelt. Dann stürzten ihr die Thränen aus den Augen; sie drehte sich kurz um und ging, immerfort schluchzend und nichts um sich her sehend, weiter und weiter durch die heißen, staubigen Gassen bis an die Theißbrücke. Hier forderte ihr der Zöllner die zwei Kreuzer Zoll ab, und da sie nicht einsah, warum sie für ihren Gram noch bezahlen sollte, so stand sie still, sah, daß die Kaufbuden an der andern Seite des Weges geschlossen und die Gassen ganz menschenleer waren, setzte sich platt in den Sand am Ufer des trägen gelben Wassers, legte die Schürze über die Augen und heulte laut. Dann, als sie sich des Schmerzes ersättigt hatte, nahm sie die Schürze von den Augen und schaute sich um. Da stand der Bauer, sah auf sie und lachte.

Sie wollte in zorniger Scham aufspringen; er aber sagte: „Bleib sitzen, Dirn’! Hast’s recht gemacht mit dem dalketen Bub’. Gefallst mir. Aber was nun? Abbitten? Ihn doch heirathen?“

„Nimmermehr!“ schrie Terka auf; denn die Worte stachen sie so stark ins Herz, daß sie schreien mußte; aber desto größer war ihr Zorn auf den ungetreuen Janos.

Der Bauer nickte und schmunzelte. „Ist schon recht. Gefallt mir,“ sagte er wieder. „Aber die Hemdlein sind genäht, die Betten gestopft, der Kuchen ist gebacken. Wer ißt ihn? Dein Blut kocht. Meins auch. Und Du gefällst mir. Was meinst,

[708]

Aus der Jubiläums-Kunstausstellung in Berlin:
Die Krönung der heiligen Elisabeth.
Nach dem Oelgemälde von Hermann Kaulbach.

[709] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [710] Dirn’? Wir sind Beide betrogen. Jetzt lachen sie über uns. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. Sie denkt natürlich, ich nehm’ sie doch, weil sie reich ist; und er denkt, Du kommst zu ihm zurück, weil Du in ihn verliebt bist. Wollen wir ihnen ein Schnippchen schlagen? Was meinst? In zwei Wochen bist Du Bäuerin und ’ne reiche dazu. Und ich hab’ ’ne saubere junge Frau. Was meinst?“

Terka trat zurück, bis ins Herz erschrocken. Ihr ganzes Wesen wehrte sich gegen den Antrag.

„Nein,“ stammelte sie, „nein, Bauer! Ich kann nicht.“

„Na, überleg’s Dir, ich komme nach ’ner Stunde zurück,“ sagte der seltsame Freier ruhig. „Willst dann nicht, so geh fort; willst, so bleib’ hier sitzen; das soll meine Antwort sein. Ueberleg’s recht. ’s kommt nicht alle Tag’ ein reicher Bauer nach Dir.“

Er ging über die Theißbrücke in den Park.

Und Terka saß im Sand und überlegte. Das heißt, sie fing wieder an heftig in ihre Schürze zu weinen und dünkte sich die gottverlassene ärmste Kreatur auf der ganzen Welt, und da ihr von dem starken Schluchzen das Herz bis in den Hals hinauf weh that, dachte sie, daß sie nun alle Tage ihres Lebens so werde verweinen müssen; denn was konnte einer verlassenen Braut noch Gutes auf der Welt beschieden sein?

Dann warf sie einen rechten Haß auf den Janos, den schlimmen Buben, der sie in Elend und Schande gestoßen – denn es war doch immerhin eine Schande, einen Tag vor der Hochzeit verlassen zu werden! Und sie war vierundzwanzig Jahre alt! Wer würde sie noch freien?

Nun nahm sie die Schürze von den Augen. Wer sie freien würde? Ei, ein reicher Bauer in den besten Jahren hatte sie so sauber gefunden! Sie verweilte bei dem Gedanken, denn er richtete ihren gedemüthigten Stolz wieder auf. Sie war also noch hübsch und begehrenswerth und würde das dem ungetreuen Janos beweisen.

Wie er sich ärgern würde, wenn er sie sehen würde, wie sie als reiche, angesehene, vom alten Mann gehätschelte Bäuerin im Hause herumhantirt und die Dienstboten ausschilt!

Sie konnte sich dann Dienstboten halten! Vielleicht nahm sie einmal den Janos zum Utvaros! Sie lachte hell auf bei dem Gedanken.

„Nu, bist ja schon gar lustig!“ rief hinter ihr plötzlich der Bauer. „Schön, daß Du da sitzest,“ fuhr er fort, als er auf sie zugekommen war. „Also heut über vierzehn Tage ist Hochzeit. Gilt’s? Schlag’ ein!“

Er reichte ihr die Hand hin, und Terka legte nach kurzem Zögern die ihre hinein.

Als an einem der nächsten Tage Terka den Janos vor dem Hause ihrer Mutter stehen sah, schlug sie ihm die Thür vor der Nase zu und riegelte sie zum Ueberfluß mit großem Geräusch ab.

Als an demselben Tage die Bäuerin dem Bauern einen großen Wels mit schönem Gruß hinüberschickte, warf der Bauer das Thier über den Hofzaun, gerade in der Bäuerin Schoß hinein.

Und Terka weinte nach ihrer Kundgebung ein paar Stunden, und der Bauer lachte nach der seinen und sagte bei sich: „’s ist gut so; krieg ’ne saubere, junge, arme Frau, die mir um den Bart gehen wird, und an der sich meine Augen verlustiren können, statt ’ner alten, geizigen, herben Hex’. Ei, wie sie sich ärgern soll, wenn sie am Sonntag die Ueberraschung haben wird!“

Und ganz heimlich betrieb er die Anstalten zur Hochzeit. Auch Terka flüsterte in den vierzehn Tagen, während welcher sie mehr weinte, als lachte:

„Ei, wie er sich ärgern soll, wenn er die Ueberraschung haben wird!“

Und eine Ueberraschung wurde es, aber für beide Paare. Denn als am bezeichneten Sonntag nach der Messe der Bauer mit Terka von der einen Seite her an den Altar trat, kam Janos mit der Bäuerin von der andern Seite im Hochzeitsstaat daher.

Auch dieses Paar hatte dem andern eine Ueberraschung bereiten wollen.

Da wurden denn zwei Ehen in halbem Aerger und halber Verliebtheit geschlossen.

(Fortsetzung folgt.)

Aus den Zeiten des „Brigantaggio“.

Von Isolde Kurz.
I.

Es lautet wie eine Mär aus fernen verklungenen Tagen, wenn man heute noch vom „Brigantaggio“ redet, und mancher unserer Leser kann sich den Briganten mit Kalabreserhut und schwarzen Sammethosen, das Messer im Gürtel, nur noch auf der Bühne heimisch denken. Aber der merkwürdige Proceß wegen Sequestrirung des Herrn Notarbartolo, der im vorigen Sommer vor den Assisen von Palermo seinen Abschluß gefunden, hätte der Welt beweisen können, daß jene Tage doch nicht so fern und verklungen sind, wenn sein Widerhall nicht vom Lärm zweier riesiger Skandalprocesse, die gleichzeitig die Tagespresse in Athem hielten, verschlungen worden wäre.

Die Art und Weise, wie diese Sequestrirung in Scene gesetzt worden, zeigte klar, daß die alten echten Ueberlieferungen des Brigantenthums nicht erloschen sind. Während Herr Notarbartolo mit zweien seiner Pächter bewaffnet vom Lande nach Palermo zurückkehrte, wurde er unterwegs von vier Bersaglieri und einem Karabiniere im Namen des Gesetzes mit angelegtem Gewehr aufgehalten, nach dem Waffenschein gefragt und nebst seinen Begleitern entwaffnet. Dann erst gaben sich die Angreifer als verkleidete Briganten von der Bande des gefürchteten Barone zu erkennen; sie entließen die beiden Pächter, um die Familie des Gefangenen zu benachrichtigen, und schleppten Herrn Notarbartolo nach einer Höhle im Gebirge, aus welcher er erst nach langen Verhandlungen gegen ein Lösegeld von 51.000 Franken entlassen wurde.

Dieser Fall steht keineswegs vereinzelt da, und wenn er ein besonderes Aufsehen erregt hat, so war es nur wegen der angesehenen Stellung des Betroffenen, denn ich kann kaum eine italienische Zeitung zur Hand nehmen, in der nicht von irgend einem bewaffneten Ueberfall, von der Sequestrirung begüterter Personen oder einem Treffen zwischen Briganten und Karabinieri die Rede wäre, und keineswegs bloß in den halbwilden südlichen Provinzen, selbst in dem wohlgeordneten ruhigen Toskana pflegen sich Banden von Uebelthätern zusammenzurotten und eine Zeit lang die Gegend zu terrorisiren. Der „Brigantaggio“ ist ausgetilgt, aber man muß bekennen, daß der Brigant geblieben ist; nur hat er seinen romantischen Nimbus verloren und ist von einer politischen Macht zum gemeinen Straßenräuber herabgesunken.

Aufgefordert, die denkwürdigsten Erinnerungen aus den sagenhaften Tagen des Brigantaggio zu sammeln, habe ich aus den privaten Mittheilungen von Augenzeugen und officiellen Berichten zusammengestellt, was ein Bild von den damaligen Zuständen zu geben vermag, und werde die gleichzeitigen politischen Vorgänge nur so weit berühren, als nöthig ist, um die Fülle von Anekdoten, die mir zu Gebote steht, an einem losen Faden aufzureihen und verständlich zu machen.

Aber „da des Liedes Stimmen schweigen von dem überwund’nen Mann“, verlangt es die Billigkeit, daß ich wenigstens einige Worte voranschicke über die unerhörten socialen Zustände, die so unerhörte Gräuel ausgebrütet haben.

Ausgezeichnete Nationalökonomen haben es längst ausgesprochen, daß das Brigantenwesen lediglich eine agrarische Frage sei. Wie aus der Bedrückung der städtischen Bevölkerung die Camorra, so ist aus dem Elend des Landvolks der Brigantaggio hervorgegangen. Es ist bekannt, daß der Süditaliener der nüchternste und anspruchsloseste Arbeiter ist, den Chinesen vielleicht ausgenommen; gründliche Kenner versichern, daß es auch keinen fleißigeren gebe, als ihn. Aber welches Loos ist ihm bereitet? Seine Landsleute mögen die Frage beantworten.

„Die Feldarbeiter, welche die oft weit entlegenen Güter bebauen,“ erzählt ein berühmter italienischer Gelehrter, Pasquale Villari, in seinen bekannten „Briefen aus dem Süden“ („Lettere [711] meridionali“), „halten sich fast das ganze Jahr dort auf und kommen nur alle vierzehn bis zwanzig Tage in die Stadt, um Frau und Kinder zu sehen. Auf dem Lande schlafen sie in einem Gelaß zu ebener Erde in Nischen, die ringsum in die Wand gehöhlt sind, auf einem Strohsack. Ihr Vorgesetzter ist ein ‚Massaro‘ (Verwalter), der ihnen täglich auf Kosten des Gutsherrn ein Kilo Schwarzbrot verabreicht. Diese Bauern arbeiten von der Morgendämmerung bis Sonnenuntergang; um zehn Uhr Vormittags ruhen sie eine halbe Stunde aus und essen ein wenig von ihrem Brot. Abends, wenn die Arbeit zu Ende ist, setzt der ‚Massaro‘ einen großen Kessel aufs Feuer und siedet Wasser mit ein klein wenig Salz darin. Die Bauern stellen sich in der Reihe auf, zerschneiden ihr Brot und legen es auf einen Holzteller, auf den ihnen der Massaro etwas gesalzenes Wasser nebst ein paar Tropfen Oel gießt. Das ist das ganze Jahr über ihre Suppe, und nie genießen sie andere Kost, als zur Erntezeit, wo sie überdies einen bis zweieinhalb Liter Tresterwein erhalten, um sich auf die härtesten Strapazen vorzubereiten. Jeden Tag sparen sie noch ein Stück von ihrem Schwarzbrot auf, um es zu verkaufen oder nach Hause zu bringen. Damit und mit einem Jahreslohn von 132 Lire sowie einem halben Tomolo[1] Mehl und einem halben Tomolo Bohnen, die sie nach der Ernte erhalten, müssen sie ihre Familie ernähren. Ueberdies haben die Grundbesitzer noch aus feudalen Zeiten her ein Recht auf unentgeltliche Arbeit ihrer Bauern für bestimmte Tage. Und nicht selten geben sie, statt den Lohn in Cerealien oder Geld zu zahlen, den Arbeitern ein bestimmtes Maß desjenigen Produkts, das gerade in Ueberfülle vorhanden ist, wie Citronen oder etwas Aehnliches, das wegen mangelnden Exports verfaulen müßte.“

Diese wenigen Züge mögen genügen, um den Zustand der ländlichen Bevölkerung in den südlichen Provinzen Italiens zu kennzeichnen. Aus den Reihen dieser Enterbten lösen sich jeder Zeit stärkere und gewaltthätigere Naturen oder solche, denen außer der socialen Unbill noch eine private zugefügt ist, ab, um das Recht des Stärkeren, das sie so lange erlitten haben, nun ihrerseits auf eigene Faust an der Gesellschaft zu üben. Durch die Lage ihrer heimatlichen wenig bereisten Gebirgsgegenden geschützt, schließen sie sich in Banden zusammen, fangen reiche Gutsbesitzer und vornehme Reisende weg, deren Familien ein stattliches Lösegeld zu entrichten haben und häufig durch ein eingesandtes Ohr des Sequestrirten an prompte Bezahlung gemahnt werden. Dabei darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß manche Briganten aus Menschenfreundlichkeit stets einen Vorrath abgeschnittener Leichenohren bei sich führen sollen. Das ist das Brigantenwesen in den gewöhnlichen Zeitläuften, und es ist gar nicht lange her, daß die italienische Regierung der englischen das Lösegeld heimzahlen mußte, welches die letztere für einen britischen Unterthan entrichtet hatte, dessen Zahlungsfähigkeit von den Banditen bei Weitem überschätzt worden war. Der gemeine Mann nimmt den Briganten mit offenen Armen auf und feiert in ihm den Verfechter der Unterdrückten; der Besitzende zahlt ihm gutwillig eine Steuer, um ihn nicht zum Feinde zu haben – auch die Ortsbehörde wählt häufig von zwei Uebeln das kleinere, indem sie sich lieber dem Unwillen der Regierung als der Rache der Briganten aussetzt, und das Beispiel jenes Syndikus steht wohl nicht vereinzelt da, welcher nach vollbrachter Plünderung den Räubern sagte: „So, nun macht, daß Ihr fort kommt; denn ich muß jetzt meine Pflicht als Staatsbeamter thun und die Soldaten rufen, damit sie Euch vertreiben.“ Dieser treue Staatsdiener rühmte sich dann bei Ankunft der Soldaten, die Briganten selbst in die Flucht gejagt zu haben.

Traten nun aber früher noch politische Wirren hinzu, in denen es eine gefallene Regierung sich nicht zur Schande anrechnete, ihr Banner in die Hände von Straßenräubern zu geben, so fraß das Feuer schnell auf dem ganzen Süden der Halbinsel um sich, und alsdann begann der eigentliche „Brigantaggio“, der wohlorganisirte militärische.

Das Bourbonenthum, das aus Furcht vor Bildung und Aufklärung den Bürgerstand unterdrückte und dem gemeinen Mann durch die Finger sah, war zu allen Zeiten bei den niederen Volksschichten beliebt und ist es vielleicht noch heute. Im Süden Italiens giebt es nur zwei Stände: den „galantuomo“ und den „cafone“, das heißt den Besitzenden und den Proletarier, und sehr scharfsinnig bemerkt ein geistreicher französischer Schriftsteller, der viel über den „Brigantaggio“ schrieb, daß schon um seines Ehrentitels willen der „Rè galantuomo“ (Viktor Emanuel) dem Südländer verdächtig war, denn er witterte in ihm einen König der Reichen, während Franz II. ein König der „Cafoni“ gewesen. Kein Wunder also, daß von Fra Diavolo bis auf die sechziger Jahre die Legitimität ihre glühendsten Vertheidiger im Auswurf des Volkes fand; denn ein Funke Idealismus lebt in jeder Menschenbrust, und auch der Brigant macht seine Sache besser, wenn er zugleich für Thron und Altar zu kämpfen glaubt.

Proteusartig nimmt der Brigant tausend Gestalten an; er ist überall und nirgends; während ihn ein Bataillon in den Wäldern sucht und sich in beschwerlichen Gebirgsmärschen aufreibt, mäht er vielleicht friedlich als Schnitterin verkleidet das Gras in der Ebene oder er kommt den Soldaten als ein freundlicher Eseltreiber entgegen, der ihnen gegen Lohn die Wege weist, auf denen sie der versteckten Bande in die Hände fallen. Als Kind des Landes, wo er kämpft, hat er alle Vortheile auf seiner Seite. In der Hütte, in welcher die vom Marsch, vom Hunger und tausend Entbehrungen erschöpften Soldaten eine gastfreie Aufnahme finden, liegt er in einem unzugänglichen Versteck, wo er jedes Wort ihres Gespräches hört, und hat, wenn die Seinigen in der Ueberzahl sind, alle Gelegenheit, den Feind im Schlafe niederzumachen.

Seine Gewandtheit, sich in jeder Rolle und Verkleidung zu bewegen, ist staunenswerth. So erzählte mir ein befreundeter Officier, wie ihm einst in einer Hütte im Neapolitanischen, wo er einquartiert war, der Hausherr ein reizendes junges Mädchen in der kleidsamen Landestracht mit schlanken Formen, hängenden Zöpfen und sittsam niedergeschlagenen Augen vorstellte:

„Kapitän, dies hier ist mein ältestes Töchterchen, mein liebes kleines Hausmütterchen.“

Das holde Geschöpf entpuppte sich später als derselbe Brigant, zu dessen Verfolgung der Officier ausgesandt war.

In den siebziger Jahren war zu Florenz viel von einem Advokaten F., einem Neapolitaner von Geburt, die Rede, der in den besten Gesellschaftskreisen verkehrte und großen Aufwand machte. Galt es eine officielle Festlichkeit zu veranstalten, so war der Advokat F. einer der Ersten im Komité; fand eine öffentliche Sammlung zu wohlthätigen Zwecken statt, so stand sein Name mit den höchsten Summen verzeichnet. Mit seinen Kollegen lebte er auf dem besten Fuß, da er keine Processe annahm, obwohl er auf der Advokatenliste eingetragen war. Er verlobte sich mit einer jungen Dame aus aristokratischer Familie und bewarb sich um eine Kandidatur bei der nächst bevorstehenden Deputirtenwahl. Um diese Zeit wurde ein Brigadier der Gendarmerie, der viele Jahre auf der Brigantenjagd zugebracht hatte, von den südlichen Provinzen nach Florenz versetzt. Gleich in den ersten Tagen meldete sich dieser Mann bei seinem Vorgesetzten und theilte ihm in größter Aufregung mit, daß ihm soeben der Brigant C. begegnet sei, derselbe, auf den er vor einigen Jahren mit seiner Kompagnie in der Basilicata Jagd gemacht habe und der seitdem in Amerika verschollen sein sollte. Obwohl er jetzt einen schwarzen Vollbart trage, habe er ihn auf den ersten Blick erkannt und sei ihm heimlich bis zur Thür seiner Wohnung in der Via A. gefolgt, wo er erfahren habe, daß dieser Herr seit einigen Jahren in Florenz ansässig sei und den Namen eines Advokaten F. führe.

Der Officier, aus dessen eigenem Mund ich diese Geschichte gehört habe, lachte seinen Untergebenen aus, nannte ihn einen Geisterseher und versicherte ihn, daß der Advokat F. ein ehrenwerther, ihm persönlich wohlbekannter, durchaus unverdächtiger Mann sei. Aber der Brigadier gab sich nicht zufrieden und ließ nicht ab, in seinen Vorgesetzten zu dringen, bis dieser bei der neapolitanischen Behörde Erkundigungen über das Vorleben des Advokaten einzog. Die Auskunft lautete so befriedigend wie möglich: F. stammte aus einer angesehenen Familie, hatte mit großem Erfolg seine Studien absolvirt, und in seiner Vergangenheit gab es nirgends eine dunkle Stelle.

Der Officier ließ den Brigadier rufen und theilte ihm die Nachrichten mit, aber nicht wenig erstaunte er, als der hartnäckige Karabiniere eine Photographie hervorzog, die er unterdessen aus Potenza hatte kommen lassen. Sie stellte den verschollenen Briganten dar und war von überraschender Aehnlichkeit mit dem Advokaten F., nur daß der Brigant bartlos und mehrere Jahre [712] jünger war. Die Bestürzung seines Vorgesetzten benützend, drang der Brigadier demselben die Erlaubniß ab, den Advokaten unter irgend einem Vorwand in seinem Hause aufsuchen zu dürfen, um ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Während er nun dort im Vorzimmer wartete, kam der Diener, welcher ihn anmelden sollte, todesbleich herausgestürzt mit dem Ruf: „Hilfe, Hilfe! Mein Herr hat den Verstand verloren. Soeben ist er zum Fenster hinausgesprungen.“

Der Karabiniere flog die Treppe hinab, konnte aber seiner Beute nicht mehr habhaft werden, und erst in Siena gelang es, den Entsprungenen zu fassen, der sich durch seine unzeitige Flucht selbst verrathen hatte. Seiner Identität überführt, mußte er bekennen, daß er durch Betrug die Papiere des verstorbenen Advokaten F. an sich gebracht hatte, und Florenz erlebte das Schauspiel, einen seiner gefeiertsten Elegants, der durch seine glänzende Erscheinung und seine vollendete Kourtoisie alle Herzen gewonnen hatte, als gemeinen Straßenräuber entlarvt, auf die Galere wandern zu sehen.

Unter der Herrschaft Joseph Napoleon’s und Joachim Murat’s stand das Brigantenwesen in seiner höchsten Blüthe, da die legitimistische Partei von Sicilien aus die Verschwörung an langem Faden lenkte und die verfolgten Banden jederzeit auf bourbonischem Gebiet Sicherheit und Unterstützung fanden. Es blieb der Regierung von Neapel nichts übrig, als die Schrecken des „Brigantaggio“ durch noch größere Schrecken zu überbieten. Fürchterliche drakonische Gesetze entstanden, die den häufig nur gezwungenen Helfer und Hehler, ja zuweilen auch den Unschuldigen mit dem Schuldigen trafen. Ein französischer General, Graf Manhès, machte sich vor Allem durch die eiserne Strenge seiner Kriegsführung in jenen Provinzen berüchtigt und berühmt, aber ihm gelang es auch, in wenig Jahren das tausendköpfige Ungeheuer des Briganten-Aufstands auf lange Zeit niederzuwerfen.

In einem sehr interessanten, trefflich geschriebenen Büchlein über den „Brigantaggio“ von Marco Monnier finden sich einige höchst merkwürdige Anekdoten aus den Zeiten dieses Manhès, welche den Stoff zu erschütternden Balladen, eines großen Dichters würdig, enthalten. Aus der Fülle des phantastisch Entsetzlichen will ich nur einige charakteristische Züge hervorheben.

Der berüchtigte Brigantenführer Parafante nahm eines Tags im Walde von Sant’ Eufemia einen Franzosen Namens Astruc fest. Für seine Freilassung verlangte er, daß sämmtliche gefangene Brigantenfamilien in Freiheit gesetzt und überdies mit Lebensmitteln und Kleidung versehen werden sollten. Die Regierung, welche über eine Truppenmacht von 60000 Bajonetten verfügte, nahm diese Bedingungen an und hielt sie treulich. Bald darauf hatte der Brigant Gelegenheit zu beweisen, wie hoch er selbst beschworene Verträge hielt. Ein vollzähliges Bataillon marschirte von Cosenza ab unter der Führung eines höheren Officiers, der den Briganten besonders verhaßt war. Parafante hatte die Kühnheit, ihm durch eine Art Herold anzukündigen: er werde ihn auf der Landstraße, die von Cosenza nach Rogliano führt, und zwar an einem Ort, welcher Lago heißt, umzingeln. Der Officier achtete nicht auf die Warnung, sondern setzte sich in Marsch, aber genau auf dem angegebenen Punkte wurde er von den Briganten überfallen und sein Bataillon zersprengt. Zwei seiner Officiere, Filangieri und Guarasci, fielen mit 25 Mann in die Hände der Briganten, welche ein Kriegsgericht hielten und den Spruch fällten, daß Filangieri und Guarasci von ihren eigenen Soldaten erschossen werden sollten. Unter dieser Bedingung wurde den übrigen Gefangenen das Leben zugesichert.

Alle weigerten sich, aber die beiden Officiere befahlen ihren Leuten zu gehorchen, da sie hofften, auf diese Weise das Leben von 25 Mann zu retten. Nach langer Weigerung und qualvollem Seelenkampf vollzogen die Soldaten endlich den Befehl; Filangieri und Guarasci kommandirten selbst Feuer und fielen. Darauf wurden die 25 Soldaten niedergemetzelt.

Ein anderer Brigantenführer, Namens Bizarro, hatte einige große Hunde zur Menschenjagd dressirt. Nach dem Kampfe hetzte er seine Bestien auf die Fliehenden, und auf diese Weise wurde ein Officier von der Civilgarde zerrissen. Als General Manhès gegen Bizarro marschirte, fiel die ganze Bande mit Ausnahme von zwei Mann von diesem ab, und er gerieth in solche Bedrängniß, daß er sein eigenes neugeborenes Kind an einem Baume zerschmetterte, um nicht durch das Gewimmer desselben verrathen zu werden. Da beschloß die muthige Frau, die den Briganten bis dahin begleitet und ihm unter den Drangsalen der Flucht dieses Kind geboren hatte, sich selbst Recht zu verschaffen; sie wartete, bis er eingeschlafen war, nahm dann sein eigenes Gewehr und tödtete ihn. Hierauf wagte sie es, sich den Behörden von Mileto vorzustellen und den Preis zu verlangen, der auf Bizarro’s Kopf gesetzt worden und der ihr auch richtig ausbezahlt wurde.

Noch eine letzte Anekdote aus jener Zeit theilt der Verfasser des interessanten Büchleins mit, einen Fall, der sich liest wie eine alte Legende und wohl werth ist, der Vergessenheit entrissen zu werden. Es ist ein Geniestreich des Generals Manhès, den ich möglichst mit des Autors eigenen Worten wiedergeben will:

„In den Schluchten von Aspromonte liegen zwischen endlosen, undurchdringlichen Wäldern die Gemeinden von Serra und Mongiana. Dort hausten die ärgsten Briganten, furchtlose Kalabresen, welche die Bataillone überfielen, die den Staatsbeamten zum Geleit nach den Eisenbergwerken von Mongiana dienten.

Eines Tages kündigten diese Briganten den Behörden von Serra an, daß sie bereit seien, sich zu unterwerfen, aber ihre Führer wollten sich nur bei Nacht und in einem bestimmten Hause zur Besprechung einfinden. Zur festgesetzten Stunde begaben sich der Syndikus, der Kommandant der Bürgergarde und der französische Lieutenant Gerard von der Gendarmerie in das bezeichnete Haus. Die vier oder fünf Briganten fanden sich pünktlich ein, aber sie zogen die Unterhandlungen in die Länge, um Zeit zu gewinnen. Unterdessen wurde das Haus von der Bande umstellt und plötzlich überfallen; der Syndikus und die beiden Officiere fielen von den Händen der Briganten.

Wenige Monate zuvor hatten die Briganten in den Bergen zwischen Lauria und Castelluccio einen Transport Uniformen, welcher für das 20. französische Linienregiment bestimmt war, überfallen, die Eskorte geschlagen, den Zug ausgeraubt und triumphirend die erbeuteten Uniformen mit den französischen Epauletten angelegt. Bei diesem Treffen war auch die Frau des Lieutenants Gérard getödtet worden.

Der neue unerwartete Handstreich setzte die ganze Stadt in panischen Schrecken. Sobald Manhès Kunde erhielt, gab er Befehl, das Haus zu zerstören, das die Briganten aufgenommen hatte; aber er fand keinen Gehorsam. Manhès fragte bei dem König an, welche Strafe er über die Stadt verhängen solle, und Murat antwortete: ‚Thun Sie, was Ihnen gut dünkt, aber thun Sie es in Person. Reiten Sie selbst nach Serra, untersuchen Sie und strafen Sie!‘

Manhès flog nach Serra, indem er den Weg durch die Wälder nahm, um schneller an Ort und Stelle zu sein. Erst die Trompeten seiner Eskorte, die plötzlich drohend wie die Gerichtsposaunen am Stadtthor erschollen, kündigten ihn an. Die Bevölkerung war starr vor Schrecken. An den Bäumen, welche den öffentlichen Platz zierten, hingen einige abgehauene Köpfe, roth von zurückgetretenem Blut. Manhès fragte, was das zu bedeuten habe, und erfuhr, daß die betroffenen Familien die Eigenthümer des Hauses, in welchem das Verbrechen geschehen war, enthauptet hatten. Er wandte den Kopf ab, schloß sich in einem Zimmer ein und ließ Niemand mehr vor sich: eine ganze Nacht dachte er über die Bestrafung nach.

Die Frage war schwierig. Man konnte doch nicht ohne weiteres eine ganze fleißige Bevölkerung, welche in den Eisenminen des Landes arbeitete, zusammenschießen lassen. Die Einwohner mußten geschont und dennoch ein fürchterliches Exempel statuirt werden.

Unterdessen brachten die Leute die ganze Nacht damit zu, ihre kostbarste Habe in die Wälder zu schleppen, denn sie glaubten nicht anders, als die ganze Stadt solle dem Erdboden gleich gemacht werden.

Am Morgen ließ Manhès alles Volk auf dem öffentlichen Platz zusammenrufen. Eine große Versammlung fand sich ein; auch nicht ein Bewohner fehlte. Manhès trat unter die Menge und donnerte sie mit solcher Heftigkeit und Strenge an, daß Alles zitterte. Sie hätten sich wie ehrlose Memmen betragen, sagte er, nicht Einer von ihnen sei unschuldig und nicht Einer solle verschont werden. Man denke sich den Schreck. ‚Ich verordne,‘ rief er, ‚daß alle Kirchen von Serra geschlossen werden und daß

[713]

Römerin.
Nach einer Skizze von Franz Lenbach
auf Holz gezeichnet von R. Huthsteiner.

[714] alle Geistlichen ohne Ausnahme augenblicklich diesen Ort zu verlassen und sich nach Maida zu begeben haben! Eure Kinder sollen ohne Taufe zur Welt kommen, Eure Greise ohne die Sakramente sterben. In Eurer Gemeinde werde ich Euch auf ewige Zeiten abschließen, und Ihr sollt nicht hoffen, meiner Gerechtigkeit zu entrinnen, indem Ihr in eine andere Gemeinde auswandert. Die Einwohner der benachbarten Ortschaften werden strenge Wache halten, und wer sich untersteht, herauszukommen, wird niedergeschossen wie ein toller Hund.‘

Man muß den Ort kennen, um den Jammer und die Verzweiflung zu begreifen, die das Volk bei diesen Worten befielen. Manhès verließ noch desselben Tages mit seiner Eskorte von sechzig Ulanen Serra. Als er fortritt, war die Stadt wie ausgestorben; aber kaum auf freies Feld gelangt, stieß er auf eine gespenstische Procession: es war die ganze Bevölkerung, die barfuß, im Büßerhemd auf den Knieen lag, sich die Brust mit Steinen schlug und um Gnade flehte. ‚Tödten Sie uns lieber,‘ riefen Alle, ‚besser sterben als so leben!‘

Manhès blieb unerbittlich; er trieb sein Pferd an und sprengte vorüber. Und obwohl der Klerus besonders in den höheren Sphären sich die Sache sehr zu Herzen nahm, wurde das Urtheil vollzogen. Alle Geistlichen, selbst ein achtzigjähriger Greis, der getragen werden mußte, wanderten nach Maida aus.

Dieser Bann hatte ein wunderbares Resultat. Das Volk von Serra erhob sich auf den Ruf eines Gutsbesitzers hin wie ein Mann und machte eine grimmige, rastlose, unerbittliche Jagd auf die Briganten, die nicht eher endete, als bis der letzte Bandit gefallen war.

Der ganze Kampf dauerte nur wenige Tage, und als er zu Ende war, wurde der Bann aufgehoben. Die ganze Bevölkerung zog in Procession nach Maida, um ihre Priester zurückzuholen. Und seit dieser Zeit hatte das Land keine Truppen mehr zu seiner Vertheidigung nöthig: die Nationalgarde besetzte ein kleines Fort in einer Gebirgsschlucht und hielt sich tapfer daselbst. Ihren Lieblingsfluch per santo diavolo! haben die Bewohner jener Provinz seitdem in ein per santo Manhès umgewandelt.“


Erholungsreisende und Bergfexe.

„Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage.“ 
 Goethe. 

Ich saß in dem behaglichen Speisezimmer des Kuraten von St. Gertraud, nachdem ich Vormittags die auf das Stilfser Joch führende Post in Gomagoi verlassen und zu Fuß das etwa zwei Stunden lange Suldenthal heraufgekommen war. Die angenehme Wanderung, Angesichts der großartigen Gebirgsscenerie, welche sich mit jedem Schritte weiter und herrlicher vor mir aufthat, hatte mich wunderbar erfrischt, und heiteren Sinnes musterte ich die Theilnehmer an der sonderbaren Table d’hôte, welche in diesem entlegenen Gebirgswinkel unter dem Vorsitze des freundlichen Pfarrherrn und Hôteliers von St. Gertraud stattfand.[2]

Eine Table d’hôte in einem städtischen Hôtel oder auch in einem fashionablen Bade-Orte hat stets ein mehr oder weniger gleichmäßiges, meist etwas langweiliges Gepräge. Nicht so hier. „In den Bergen ist Freiheit,“ besonders auch was die Toilette anlangt. Davon hatte ich mich auf meiner diesjährigen Gebirgsreise mehr als je überzeugen können. War doch gestern erst auf der Terrasse in Trafoi zu meinem Erstaunen hinter einem Engländer mit flatterndem weißen Hutschleier unser guter, sonst mit peinlichster Sorgfalt gekleideter und rasirter Justizrath R. gänzlich verwildert, in einer Lodenjoppe und mit einem Stoppelbarte von mindestens acht Tagen, aufgetaucht, so daß ich mich ernstlich fragte, ob er es denn auch wirklich sei! Und in Eyrs war ich der Frau Geh. Kommerzienräthin B. mit drei Töchtern, sämmtlich mit Alpenstöcken und keck auf die Häupter gesetzten Miesbacher Hütchen mit Gemsbärten, begegnet, hatte auch den jungen Banquier Isidor S. begrüßt, welcher ihnen in Schnürstiefeln, Wadenstrümpfen, Kniehosen und mit einer drohend nach vorn gerichteten Spielhahnfeder auf dem Hute folgte, in der einen Hand ebenfalls den unvermeidlichen Alpenstock, in der andern einen Violinkasten tragend. Ich hatte bei dem Anblicke still in mich hinein gelacht, aber das Lachen war mir vergangen, als nach dem Abendessen die älteste der drei jungen Damen sich an den Flügel im Korridor setzte, Herr Isidor seine Violinbüchse öffnete und, während ich schon lange im Bette lag, mit seiner Partnerin die schmelzendsten Duette losließ!

Ein Klavier – davon hatte ich mich sofort überzeugt – gab es nun glücklicherweise in dem Speisesaale zu St. Gertraud nicht, aber wohl eine so seltsam zusammengewürfelte Gesellschaft in allen möglichen und unmöglichen Toiletten und Kostümen, wie sie eben nur in einem renommirten, internationalen Gebirgsorte denkbar ist. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Bergbesteigungen, und die Moränen, Gletscher, Schneefelder, Eisstufen, Kamine und „Wächten“ schwirrten ohne Unterlaß die Tafel entlang. Nicht lange dauerte es, so wurde auch hier das Lieblingsthema der diesjährigen Gebirgssaison, der Pallavicini’sche Unglücksfall, erörtert. Von den Einen ward der am Groß-Glockner mit einem Freunde und zwei Führern abgestürzte junge Markgraf ob seiner zahlreichen kühnen Besteigungen und seiner heldenhaften Kraft bewundert und gefeiert, von den Anderen wegen seiner zwecklosen, tollkühnen Bravourstücke, die früher oder später zu solchem Ende führen mußten, getadelt und verdammt.

„Es ist der reine Wahnsinn,“ mischte sich mein Tischnachbar, den ich seinem Aussehen und Dialekte nach für einen preußischen Beamten hielt, ins Gespräch, „der reine Wahnsinn, der jetzt in die Leute gefahren ist. Ich gebe zu, daß in der Anspannung aller Körper- und Willenskräfte, wie sie eine schwierige Besteigung erfordert, etwas Kräftigendes für Körper und Geist liegt. Auch mag der Blick von höchster Höhe unter günstigen Umständen ganz ungeahnte, erhebende Genüsse bereiten. Aber um all Das ist es ja den eigentlichen Bergfexen gar nicht zu thun! Es ist die Gefahr, welche sie in erster Linie lockt, und der zweifelhafte Ruhm, einen bis jetzt für unmöglich gehaltenen, noch von Niemand vor ihnen gemachten Aufstieg durchgeführt zu haben. Eine Besteigung auf gefahrlosem, schon von Anderen gemachtem Wege reizt sie nicht, und wäre die Aussicht oben noch so herrlich! Dagegen eine noch niemals bestiegene, möglichst senkrechte Wand, auf schmalsten ‚Bändern‘ oder in Eis geschlagenen Stufen hinaufzuklettern, wo mit jedem Schritte der Sturz in eine grauenhafte Tiefe droht – das erst ist ihnen das wahre Vergnügen, und je nach der Zahl solch unsinniger Besteigungen wächst ihr Ruhm wie der des Indianers nach der Zahl von Skalpen erschlagener Feinde.“

„Glauben Sie nicht,“ wandte ich mich jetzt an meinen Nachbar, „daß die in letzter Zeit sich bedenklich häufenden Unglücksfälle abkühlend wirken und eine Einschränkung dieses gefährlichen Sports herbeiführen werden?“

„Im Gegentheil,“ erwiderte der eifrige Mann. „Es scheint ja fast, als ob der Unsinn dadurch nur noch an Reiz gewönne! Fangen doch jetzt sogar die Damen an, sich an demselben zu betheiligen! Sehen Sie dort an der Wand die zahlreichen photographischen Portraits von Besuchern des Suldenthals. Sie finden verschiedene weibliche Portraits, und auch das einer Dame darunter, welche schon über hundert Spitzen ersten Ranges bestiegen und sich dadurch eine gewisse Berühmtheit in alpinen Kreisen, sowie den Namen ‚Spitzenkönigin‘ erworben hat. Sie hat übrigens bereits gefährliche Nebenbuhlerinnen, und wenn das noch eine Weile so fortgeht, werden wir unsere Frauen und Töchter nicht mehr mit Stickrahmen und Stricknadeln, sondern mit Steigeisen und Gletscherbeilen in die Sommerfrische ziehen sehen. Ich danke!“

Alle Umsitzenden lachten über den komischen Zornesausbruch des Mannes, der nun wüthend mit Messer und Gabel hantirte und große Brocken saftigen Gemsbratens hinunterschlang. Nur ein ihm gegenüber sitzender junger Mann sah sehr mißvergnügt drein. Derselbe war, wie ich gehört hatte, kurz vor Tisch von der Ortlerspitze zurückgekehrt, und sein Anzug, seine kräftig entwickelte Muskulatur und tief gebräunte Hautfarbe ließen in ihm einen jener „Bergfexe“ vermuthen, gegen welche mein Nachbar eben gewüthet hatte.

„Gestatten Sie mir die Bemerkung,“ begann er jetzt, indem er sich an den Letzteren wandte, „daß Sie sehr stark übertreiben. Es mag ja einzelne Herren und vielleicht auch Damen geben, bei welchen die Besteigungen zur Manie geworden sind. Aber im Großen und Ganzen wird jetzt – besonders in Folge der dankenswerthen Bemühungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins – die Erforschung unseres Alpengebiets und die Besteigung seiner Spitzen in durchaus rationeller Weise betrieben. Im Uebrigen finde ich, daß es Jedermanns eigene Sache ist, wenn er sein Leben an halsbrecherische Unternehmungen setzen will.“

Mein Nachbar ließ Gabel und Messer sinken und sah sein Gegenüber mit funkelnden Augen an.

„So? Finden Sie?“ knurrte er. „Nun gut, wenn Einer die Sache für sich allein macht! Aber die Führer? Wie denken Sie darüber? Sie finden wohl, daß es auch ihre Sache sei, ob sie ihre Haut zu Markte tragen wollen oder nicht? Wie aber, wenn die armen Teufel, um den ihnen gebotenen Lohn zu verdienen, um Frau und Kinder zu ernähren, trotz aller Bedenken und Einwände sich endlich von jenen unheimlichen Narren beschwatzen und verführen lassen, den Todesweg anzutreten? Glauben Sie nicht, daß Derjenige, welcher einen Anderen zu einem offenkundig lebensgefährlichen Wagestück verleitet, eine schwere Verantwortung auf sich nimmt? Ich meinestheils finde, daß man ihn sogar gesetzlich bestrafen sollte und daß es eine beklagenswerthe Lücke in unserer Gesetzgebung wäre, wenn man es nicht könnte!“

Die Worte waren so laut gesprochen, daß sie die Aufmerksamkeit sämmtlicher Gäste erregten, und der junge Mann schickte sich eben zu einer Erwiderung an. Da ich einen Streit fürchtete, so kam ich ihm zuvor, indem ich die Frage an meinen Nachbar richtete:

„Sie sind schon längere Zeit im Gebirge?“

„Seit zehn Tagen. Ich reiste vom Starnberger See zu Fuß – ich mache so ziemlich Alles zu Fuß, das ist gesünder – an den Kochelsee, Tegernsee und Achensee. Von da durchs Zillerthal ins Duxerthal, über das Duxerjoch ins Schmiernthal, von Stafflach aus über den Brenner nach Gossensaß, von wo aus ich mehrere Exkursionen machte, dann nach Bozen, Meran, durch das Vintschgau nach Spondinig und hierher.“

„Ah! eine ziemlich anstrengende Tour, wenn Sie Alles zu Fuß gemacht haben.“

[715] „Ich habe nur drei Wochen Urlaub und muß dieselben zu meiner Erholung gehörig ausnützen, da ich das ganze Jahr über in meinem Berufe sehr angestrengt bin. Ich mache mir deßhalb immer, bevor ich meine Sommerreise antrete, ein Reiseprogramm mit genau bestimmter Marschroute für jeden Tag, welche unter allen Umständen pünktlich eingehalten wird.“

„Und den Rest Ihres Urlaubs gedenken Sie nun wohl hier zuzubringen? Es ist in der That ein wundervoller Ort, um sich auszuruhen.“

„Sehr schön, allerdings, aber ich beabsichtige noch über das Stilfser Joch, Bormio, Tirano, Poschiavo, über die Bernina, Pontresina, St. Moritz, nach der Maloja, dann zurück über die Albula nach Chur und dem Bodensee zu gehen, unterwegs Ragaz und Pfäffers anzusehen, vom Bodensee aus auf die Meldegg und den Pfaender zu gehen, den Hohentwiel noch mitzunehmen und dann direkt nach Hause zu fahren.“

„Und das Alles bis zum Hohentwiel wollen Sie zu Fuß machen in den – wenn ich richtig rechne – noch etwa zehn Tagen, welche Ihnen verbleiben?“

„Gewiß, ich werde zwar ab und zu einmal eine kleinere Strecke fahren, aber das Meiste wird gegangen, der Gesundheit halber. Leider habe ich mir die Füße aufgelaufen, so daß mir das Gehen etwas schwer wird. Auch leide ich seit einigen Tagen an einer Erkältung, die ich mir auf dem Duxerjoch zugezogen; ich war etwas erhitzt, und es ging ein kalter Wind dort oben.“

Und er begann heftig zu husten.

„Ein sehr schönes Programm, welches Sie sich da gemacht haben – indeß –“

„Schön,“ fiel er mir ins Wort, „und enthält nur vernünftige Touren, keine waghalsigen, unsinnigen Bergbesteigungen, wie sie jetzt zur Manie werden!“

Dabei fixirte er scharf sein Gegenüber, den jungen Mann in Bergsteigerkostüm, welcher aber nur lächelnd die Achseln zuckte und sich an mich wandte: „Sie wollen nach Tisch zu den Gampenhöfen gehen, wie ich höre. Ich werde Sie, wenn es Ihnen angenehm ist, zu einem kaum zehn Minuten von denselben entfernten, etwas höheren Punkt führen, wo Sie eine noch schönere Rundschau auf die Gletscher und Spitzen haben.“

Ich nahm dankend an.

„Werden Sie sich anschließen?“ fragte ich meinen Nachbar, „oder schmerzen Sie Ihre Füße zu sehr?“

„Ich habe leider keine Zeit. Der Blick von den Gampenhöfen soll allerdings sehr schön sein, aber ich muß heute noch nach Franzenshöhe.“ Er sah auf die Uhr. „Es ist jetzt halb drei Uhr, und ich habe noch fünf gute Wegstunden zu machen.“

Während er aufstand, verzerrten sich seine Züge etwas, offenbar in Folge des Schmerzes, welchen ihm seine aufgelaufenen Füße verursachten.

Er bezahlte und entfernte sich.

In Begleitung des jungen Mannes machte ich mich nun auf den Weg. Die gegenseitige Vorstellung hatte ergeben, daß wir engere Landsleute waren, was unserem Verkehr sofort einen ungezwungeneren Charakter gab.

Als wir durch die Wiesen dem nahen Wald zuwanderten, sahen wir noch in der Ferne meinen Tischnachbar, wie er, von Zeit zu Zeit auf seinen Stock sich stützend, einherwankte.

„Der Mann wirft uns nun Unsinn vor,“ bemerkte mein Gefährte, „und rennt mit seinem gebrechlichen Körper wie besessen in der Welt herum! Zu seiner Erholung, wie er sagt, und um sein Programm zu absolviren, welches ihm nicht gestattet, irgendwo, und wäre es am schönsten Punkt der Erde und gäbe es das Interessanteste zu sehen, wie z. B. hier, noch ein paar Stunden zu verweilen, wenn am gleichen Tage noch einige weitere Nummern seines Programmes zu erledigen sind!“

„Ein sonderbarer Erholungsreisender allerdings,“ erwiderte ich. „Der Mann thäte wirklich besser, sich irgendwo an einem schönen Punkte niederzulassen und von dort aus hübsche Ausflüge zu machen. Seine Frau und Kinder werden wenig Freude an ihm erleben, wenn er nach Hause kommt; er wird nervöser zurückkehren als er ging und vielleicht sechs Wochen gebrauchen, um sich von seiner dreiwöchigen Erholungsreise zu erholen!“

„Er steht aber durchaus nicht allein da, ich bin schon vielen Aehnlichen begegnet,“ erwiderte mein Begleiter. „Kennen Sie z. B. den jungen X. aus L.? Nun ja, ich habe ihn neulich im Oetzthal getroffen. Er läuft und klettert unermüdlich, um sein überflüssiges Fett los zu werden, hat auch schon um zehn Pfund in drei Wochen abgenommen und sieht recht elend aus. Wenn er aber dann wieder nach Hause kommt, schmeckt’s ihm um so besser, er ißt für Drei und wird dann binnen vier Wochen seine zehn Pfund, wenn nicht mehr, wieder zugelegt haben.“

„Nun,“ erwiderte ich, „er hat dann doch Platz geschaffen für diese neuen zehn Pfund!“

„Sehen Sie,“ fuhr mein Begleiter lachend fort, „da finde ich sogar die sogenannten Sonntagstouristen, welche zu Wagen mit tadelloser Toilette und lackirten Bergstöcken von einem Hôtel ins andere fahren, noch weit vernünftiger, da sie wenigstens ihre Nerven nicht zu Grunde richten, dabei doch von der guten Luft Nutzen ziehen und immerhin manches Schöne sehen.“

„Gewiß! Das Richtige wird aber auch hier in der Mitte liegen. Und was den immer mehr um sich greifenden gefährlichen Bergbesteigungssport betrifft, so sollte in der That Alles geschehen, um denselben in vernünftigen Grenzen zu halten. Die Alpenvereine thun in dieser Richtung ja schon sehr viel, indem sie von Touren bei gefährlichem Wetter, ungünstigen Boden- und Schneeverhältnissen abrathen, auch davor warnen, Ungeübte und solche, deren Kräfte größeren Anstrengungen nicht gewachsen sind, bei schwierigen Besteigungen mitzunehmen. Auch die Führer haben natürlich das gleiche Interesse. Aber wie unser Tischgenosse heute bemerkte, ,die Führer müssen leben, und es ist menschlich, daß sie zuweilen nicht allzu wählerisch sind, damit ihnen ein guter Verdienst nicht entgehe.‘ Die Sachverständigen sollten erwägen, ob hier nicht noch schärfere Kontrolle geübt werden könnte. Anerkannt lebensgefährliche Touren wären wohl am besten überhaupt behördlich zu verbieten.“

„Sie werden mir, einem passionirten Bergsteiger, nicht verübeln, wenn ich in letzterem Punkte anderer Meinnng bin. Aber darin gebe ich Ihnen Recht: man sollte in jeder Weise, besonders auch in der Presse zur größten Vorsicht mahnen.“

„Sagen Sie mal,“ wandte ich mich jetzt an meinen Begleiter, „ist es richtig, daß einzelne unserer Bergbesteigungs-Koryphäen, nachdem sie sämmtliche europäische Alpengebiete erledigt, nunmehr nach Neuseeland, in die Kordilleren, an den Himalaya gereist sind, um dort, wo es noch höhere Spitzen und kolossalere Gletscher giebt, ihrer Manie zu fröhnen?“

„Gewiß! und sogar Führer haben sie dazu aus unseren Alpengebieten mitgenommen, welche natürlich jahrelang vom Hause abwesend sind und hoch bezahlt werden müssen.“

„Verfolgen die Herren dabei auch wissenschaftliche Zwecke?“

„Die Meisten wohl nicht, und ich muß sagen, daß dies schade ist. Aber immerhin – interessant muß es doch sein, und wenn ich die nöthige Zeit und die nöthigen Mittel hätte, wer weiß –“

Ich mußte lächeln. Die Augen meines jungen Begleiters glänzten vor Lust bei dem Gedanken, an einer Schneewand des Himalaya hinauf zu klettern! Wir waren inzwischen an dem bezeichneten Aussichtspunkt angekommen, welcher in der That einen entzückenden Blick auf die in einem Halbkreis gelagerten imposanten Bergriesen gewährte.

„Sehen Sie hier,“ begann mein Begleiter, „die Königsspitze, die Königswand, die großen und kleinen Zebru, hier den Ortler mit der Tabarettaspitze, die Hochleitenspitze, die Kreilspitze, das Königsjoch, das Schrötterhorn, den Passoforno, die Sultenspitze, den Eisseepaß, die Schöntaufspitze, die –“

„Ich danke Ihnen außerordentlich für Ihre Erklärung. Schade nur, daß ich morgen schon wieder Alles vergessen haben werde. Es ist eigenthümlich: ich kann mir wohl die hauptsächlichsten und charakteristischsten Berge merken, aber vergeblich habe ich mich lange geplagt, mir all die Namen der beim Wechsel des Standortes sich immer wieder anders präsentirenden Berghäupter einzuprägen, diese verschiedenen Mondatsch, Madatsch, Pufflatsch, Tollpatsch, Piz Miz, Piz Friz und Piz Blitz – ich habe mich so lange damit gequält, an den schönsten Stellen in meinem Bädeker und auf meinen Karten studirt und mir die Stimmung und den vollen Genuß des Anschauens damit verdorben, daß ich es jetzt aufgegeben habe und mich wohler dabei befinde.“

Wir lachten herzlich, wurden aber Beide sofort wieder ernst, als unartikulirte Laute wie menschliches Stöhnen an unser Ohr drangen. Auch schwere Schritte näherten sich jetzt, und es dauerte nicht lange, so sahen wir durch den Bergwald zwei Männer in Gebirgstracht herankommen, welche sich die Hände gereicht hatten und so gemeinschaftlich ein anscheinend weibliches Wesen trugen, welches die Arme um die Häupter ihrer Träger geschlungen hatte und kläglich stöhnte. Auf dem Kopfe trug sie eine jener wollenen Pudelmützen mit einem Büschel in der Mitte des Deckels, welche man jetzt so häufig bei den Damen im Gebirge sieht, und welche besonders älteren Gesichtern unbeschreiblich komisch stehen.

Um den Kopf war ein weißer Schleier gewunden, welcher bei jeder leichten Verschiebung ein entsetzlich roth und blau geschwollenes Gesicht mit aufgesprungenen Lippen und an den Wangen herabhängende Hautfetzen zeigte. Gefolgt war die Gruppe von einer zweiten, hochgewachsenen Dame, welche in halbmännlichem Kostüm, in kurzen Röcken, eine bunte Schärpe um die Taille, einen Hut mit Gemsbart und Spielhahnfeder auf dem Kopf, in der Hand einen gewaltigen Bergstock mit zahlreich eingebrannten Höhennamen und -Zahlen, stolz einherschritt und der Schwäche ihrer Genossin zu zürnen schien.

„Was war denn das?“ wandte ich mich, nachdem wir der Gruppe eine Zeit lang sprachlos nachgeblickt, an meinen Begleiter, „die arme Dame ist ja furchtbar zugerichtet!“

„Folgen einer Besteigung, vermuthlich der Königsspitze. Es ist nicht selten, daß die Luft auf solcher Höhe Damen und auch Herren in dieser Weise mitspielt. Erst vor einigen Tagen sah ich in Gomagoi zwei Italiener, welche dermaßen geschwollene Gesichter vom Ortler herunterbrachten, daß sie nicht einmal mehr Nahrung zu sich nehmen konnten.“

„Ist das nun nicht Tollheit?“ rief ich aus. „Freiwillig, zu seinem Vergnügen, sich so zurichten zu lassen!?“

„Für schwächliche Personen ist es allerdings ein sehr thörichtes Unterfangen,“ erwiderte mein Gefährte, „Eines schickt sich eben nicht für Alle! Haben Sie die zweite Dame gesehen? Dieser hat es offenbar nicht im Mindesten geschadet. Sie schritt einher, als wollte sie heute noch eine zweite Besteigung unternehmen! – Doch hier sind wir an der Stelle, wo ich mich von Ihnen verabschieden muß.“

Ich dankte dem freundlichen jungen Manne für seine Begleitung und kehrte allein nach St. Gertraud zurück, wo ich nach dem Marsche, den ich im Laufe des Tages gemacht, bald das Bett aufsuchte und in einen festen, aber nicht traumlosen Schlaf verfiel. Mir träumte, ich säße am Fuße eines himmelhohen Berges, neben mir die Wiege unseres Jüngsten, unseres kleinen Hänschens, welche ich schaukelte, während hoch oben auf dem Berge meine gute Frau, die jetzt eigentlich doch zu Hause Scheuerfest halten sollte, mit einem Gletscherbeil Stufen ins Eis hieb. Mich schauderte, da ich jeden Augenblick fürchtete, sie möchte in die Tiefe stürzen!

Plötzlich kam sie wie auf Adlerflügeln heruntergesaust und stand vor mir in seltsamer Gewandung, in kurzem Röckchen, hohen Stiefeln, eine Art von Helm auf dem Kopf, einen Speer in der Hand – halb Walküre, halb Regimentstochter.

Den Speer schleuderte sie mir jetzt vor die Füße mit den Worten: „Hier, Schwächling, brenne wieder dreitausend Meter ein auf den Piz Blitz!“

Ich erwachte von dem Geräusch des geschleuderten Bergstocks, wie ich glaubte, hatte aber in der Erregung nur den Leuchter vom Nachttische auf den Boden geworfen. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, und ich dankte Gott im Stillen, daß ich nur geträumt!


[716]

Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Hans Wehlau, der an jenem Abende klüglich die Nähe seines Vaters mied, hatte sich Michael’s bemächtigt und hörte mit augenscheinlichem Interesse einem kurzen Bericht desselben zu.

„Du hast sie also gesehen und gesprochen?“ fragte er gespannt.

„Gesehen – ja, gesprochen – nein. Die Gräfin stellte mich allerdings dem Fräulein von Eberstein vor, aber ich erhielt keine Antwort auf meine Anrede, nur einen ganz unglaublichen Knix. Es ist ja fast noch ein Kind und viel zu jung, um schon in die Gesellschaft geführt zu werden.“

„Mit sechzehn Jahren ist ein junges Mädchen kein Kind mehr,“ sagte Hans ärgerlich. „Wie hat sie Dir denn sonst gefallen?“

„Es ist ein sehr liebliches Gesichtchen. Von den Augen habe ich allerdings nichts gesehen, da sie hartnäckig gesenkt blieben, und es war auch nicht möglich, Rede und Antwort zu erhalten. Das kleine Burgfräulein, wie Du sie nennst, scheint doch etwas beschränkter Natur zu sein.“

Der junge Künstler sah seinen Freund mit einem Blick der tiefsten Verachtung an.

„Michael, an Deinem Geschmack habe ich stets gezweifelt; jetzt zweifle ich auch an Deiner Urtheilskraft. Beschränkt! Ich sage Dir, Gerlinde von Eberstein ist klüger als die Anderen all’ zusammen.“

„Das ist eine etwas gewagte Behauptung,“ sagte Michael trocken. „Du nimmst es ja gewaltig übel, wenn man ein Wort gegen die junge Dame sagt. Hast Du wieder einmal Feuer gefangen? Zum wievielten Male?“

„Davon ist diesmal gar keine Rede, mein Interesse an diesem holden kindlichen Geschöpf ist ein ganz selbstloses.“

„So?“

„Michael, ich verbitte mir dies spöttische: So?“ erklärte Hans gereizt. „Aber ich vergesse ganz, Dich Frau von Nérac vorzustellen, Clermont hat mich ausdrücklich darum ersucht.“

„Clermont? Ah so, der junge Franzose, dessen Haus Du öfter besuchst! Du wolltest mich ja auch einmal veranlassen, mitzugehen.“

„Und Du schlugst es mir ab, wie gewöhnlich.“

„Weil ich weder Zeit noch Neigung zu einer so ausgebreiteten Bekanntschaft habe, zumal in diesem Winter. Mit Dir ist das etwas Anderes, Du bist Künstler. Kennst Du diesen Clermont schon längere Zeit?“

„Nein, ich lernte ihn erst im Laufe des Winters kennen und wurde mit großer Liebenswürdigkeit eingeladen. Er und seine Schwester haben mich auch schon einige Male ersucht, Dich mitzubringen.“

Rodenberg stutzte bei den letzten Worten.

„Mich? Das ist seltsam; sie kennen mich ja gar nicht.“

„Gleichviel, es wird wohl Höflichkeit gewesen sein. Jedenfalls wirst Du in der jungen Wittwe eine interessante Frau kennen lernen, vielleicht auch eine gefährliche Frau.“

„Wirklich?“ Die Frage klang sehr gleichgültig.

„Nun, selbstverständlich nicht für Dich,“ spottete Hans. „Deine Eisnatur hält ja sogar der schönen Gräfin Steinrück Stand, ohne zu schmelzen, und Heloise von Nérac ist nicht einmal schön; trotzdem könnte sie ihr den Rang ablaufen an einer Stelle, die selbst die stolze Hertha empfindlich verletzen würde. Ich sprach Dir doch einmal die Vermuthung aus, daß Graf Raoul in ganz anderen Banden liege, als in denen seiner Braut – er ist ein täglicher Gast im Clermont’schen Hause.“

„Und Du glaubst, daß Frau von Nérac Antheil daran hat?“ fragte Michael plötzlich aufmerksam werdend

„Sehr wahrscheinlich. Jedenfalls macht der Graf ihr mehr den Hof, als es sich mit seinen Bräutigamspflichten verträgt. Wie weit die Sache geht, kann ich natürlich nicht – still, da ist er selbst!“

Raoul kreuzte in der That soeben ihren Weg, er kannte Hans Wehlau nur oberflächlich, trotzdem blieb er jetzt stehen und begrüßte ihn in der verbindlichsten Weise. Es sah fast aus wie eine Demonstration, denn während er angelegentlich mit dem jungen Künstler sprach und ihm Komplimente über die so äußerst gelungene Vorstellung machte, ignorirte er den Hauptmann Rodenberg, der dicht daneben stand, so andauernd und beharrlich, daß die Absicht unverkennbar war. Michael betheiligte sich mit keiner Silbe an dem Gespräche und schien ganz ruhig zuzuhören, aber er sah dem Grafen, als dieser sich, endlich entfernte, mit einem Blicke nach, der Hans veranlaßte, rasch, wie in erwachender Besorgniß, die Hand auf seinen Arm zu legen.

„Du wirst dieser Unart doch keine Wichtigkeit beilegen?“ fragte er, während sie weiter gingen. „Zwischen Dir und den Steinrück herrscht ja nun einmal Feindschaft –“

„Die hier einen sehr kindischen Ausdruck fand,“ ergänzte Michael. „Graf Raoul müßte es doch nun nachgerade wissen, daß ich mir dergleichen nicht bieten lasse.“

„Was meinst Du?“ fragte Hans unruhig, aber er erhielt keine Antwort, denn sie standen bereits vor Clermont und seiner Schwester und er mußte seinen Freund vorstellen.

Beide empfingen den Hauptmann mit vollendeter Artigkeit, und Henri trat ihm sofort seinen Platz neben Heloise ab, während er selbst Hans in Beschlag nahm. Er stellte über ein Gemälde, das ihnen gegenüber an der Wand hing, eine Behauptung auf, welcher der junge Künstler mit Lebhaftigkeit widersprach, blieb aber hartnäckig bei seiner Meinung, und endlich traten Beide vor das Bild, um dort den Streitpunkt zu entscheiden. Auf diese Weise erhielt Frau von Nérac die Freiheit, sich gänzlich ihrem Nachbar zu widmen, was sie auch mit großer Liebenswürdigkeit that.

Das Gespräch drehte sich anfangs noch um die Gesellschaft, und die junge Frau sagte unbefangen, während sie auf Hertha wies, die wieder den Mittelpunkt eines bewundernden Kreises bildete: „Gräfin Steinrück ist wirklich eine Schönheit ersten Ranges! Allerdings etwas sehr souverän; die ganze Gesellschaft liegt ihr zu Füßen, und sie nimmt das mit der Miene einer Fürstin hin, die den schuldigen Tribut empfängt. Ich bin überzeugt: sie wird auch dem künftigen Gemahl gegenüber ganz Herrscherin sein.“

„Die Frage ist nur, ob der Gemahl sich dieser Herrschaft beugt,“ warf Rodenberg ein.

„Einer schönen und geliebten Frau beugt sich der Mann immer! Sie scheinen freilich sehr unbeugsam zu sein.“

„Vielleicht bin ich nur ruhiger und nüchterner als Andere; denn ich pflege selbst schönen Frauen gegenüber die Besinnung zu behalten. Ich weiß allerdings nicht, wie Graf Steinrück in dieser Hinsicht veranlagt ist. – Sie kennen ihn ja wohl näher, gnädige Frau?“

„Er ist ein Freund meines Bruders, und da sehe ich ihn gleichfalls öfter.“

Die Antwort klang eben so harmlos wie die Frage; aber dabei kreuzten sich die Blicke der Beiden, der eine kühl beobachtend, der andere aufblitzend, wie im erwachenden Mißtrauen. Das dauerte freilich nur einen Augenblick, dann lächelte Heloise und ging mit einer leichten Wendung auf andere Dinge über.

Sie sprach viel und lebhaft, während Michael, der zwar kein elegantes, aber ein fließendes Französisch sprach, sich mehr auf das Zuhören beschränkte. Es war ein heiteres, zwangloses Geplauder, das alle möglichen Gegenstände berührte und bei keinem verweilte, aber trotzdem zu fesseln wußte. Politik, Tagesneuigkeiten, Kunst und Gesellschaft: das Alles wurde nur wie im Fluge gestreift, aber es waren sehr originelle Streiflichter, die darauf fielen, ein Blitzen und Sprühen von Gedanken und Bemerkungen, das etwas Blendendes hatte. Frau von Nérac war offenbar eine Meisterin in der Unterhaltungskunst.

Rodenberg hatte es auf den ersten Blick bemerkt, daß sie nicht schön war, aber nach fünf Minuten hatte er bereits begriffen, daß diese Frau der Schönheit nicht bedurfte, um gefährlich zu sein; schon in ihrer bloßen Nähe lag etwas Bestrickendes. Sie lehnte in ihrem Sessel mit jener unnachahmlichen Grazie, die

[717]

Die ehemaligen Fischstände auf dem Spittelmarkt in Berlin.
Nach einer Originalzeichnung von Hans Herrmann.

[718] ihr eigen war, und spielte nachlässig mit dem Fächer – eine äußerst pikante Erscheinung, die durch die geschmackvollste Toilette noch mehr gehoben wurde. Ihr Lächeln war von bezaubernder Anmuth, und das Aufsprühen der dunklen Augen hatte einen fast dämonischen Reiz. Leider schien Hauptmann Rodenberg gegen diesen Zauber gänzlich unempfindlich zu sein; so oft die sprühenden Augen den seinigen auch begegneten, sie trafen immer wieder den kalten, forschenden Blick, und Heloise fühlte, daß es kein Blick der Bewunderung war.

Endlich hatten Clermont und Hans ihre Debatte beendigt Und traten wieder heran. Die Unterhaltung wurde noch einige Minuten lang gemeinschaftlich geführt, dann empfahlen sich die beiden jungen Männer, und Henri nahm wieder den Platz neben seiner Schwester sein.

„Nun, was ist’s mit diesem Rodenberg?“ fragte er. „Er war sehr einsilbig, so viel ich bemerken konnte. Du sprachst ja fast allein, vermuthlich ein schwerfälliger, pedantischer Deutscher.“

Heloise zuckte kaum merklich die Achseln.

„Den Mann gieb auf, Henri, ein für alle Mal. Der ist starr und unzugänglich wie ein Fels.“

Um die Lippen Clermont’s spielte ein halb spöttisches, halb verächtliches Lächeln.

„Unzugänglich ist Niemand; man muß nur die rechte Seite zu finden wissen, und gerade die Schroffsten sind am leichtesten zu nehmen.“

„Diesmal könntest Du Dich doch täuschen. Dieser Rodenberg hat etwas in der Haltung und in den Zügen, was mich unwillkürlich an den General Steinrück erinnert. Es ist dasselbe Eiserne, Unerbittliche, derselbe kalte, stahlharte Blick, wie bei dem alten Grafen – mir ist er unerträglich!“

„Mir ist er wichtig!“ sagte Henri trocken. „Hast Du ihn eingeladen?“

„Nein, und er würde auch schwerlich kommen; es müßte denn sein, um zu beobachten, wie er während der ganzen Unterredung beobachtet hat. Ich habe nicht Lust, diesen Augen noch einmal Rede zu stehen. Nimm Dich in Acht vor ihnen, Henri!“

Clermont schien kein besonderes Gewicht auf diese Warnung zu legen, denn er sah, daß Heloise übler Laune war, und kannte auch den Grund davon. Sie ertrug es nun einmal nicht, durch irgend Jemand in Schatten gestellt zu werden, und am heutigen Abende erblich jedes andere Gestirn vor der strahlenden Sonne, die Alles in ihren Bannkreis zog. Gräfin Hertha Steinrück feierte Triumphe, die selbst die verwöhnteste Eitelkeit befriedigen mußten. Wo sie nur erschien, umdrängte man sie von allen Seiten; wohin sie sich wandte, folgten ihr die bewundernden Blicke, und sie nahm die Huldigungen, die man ihr verschwenderisch zu Füßen legte, in der That wie eine Fürstin hin, gnädig, aber höchst souverän.

Raoul befand sich fast unausgesetzt an der Seite seiner Braut. Es schien ihm heut doch voll und ganz zum Bewußtsein zu kommen, wie hoch der Preis war, den er mühelos gewonnen, und die alte Neigung, die schon seit den Knabenjahren in ihm wurzelte, flammte wieder hell auf. Es war einer jener Wendepunkte, wo es in Hertha’s Hand lag, ihn zurückzugewinnen. Ein warmer Blick aus ihren Augen, ein herzliches Wort aus ihrem Munde hätte ihn vielleicht jenen gefährlichen Banden entrissen und eine Brücke über die Kluft geschlagen, die sich mit jedem Tage weiter zwischen ihnen öffnete. Aber auch heute lag wieder in ihrem Wesen jene für Fremde unmerkliche, eisige Abwehr, die ihn bis in das Innerste verletzte und erkältete und seinen ganzen Trotz wach rief.

Augenblicklich befand sich die junge Gräfin nicht im Saale, sondern im Zimmer der Frau von Reval. Sie war, wie alle bei der Vorstellung Mitwirkenden, im Kostüm geblieben, und der Schleier, der von ihrem Haupte niederfloß, hatte sich gelöst. Er mußte von Neuem befestigt werden, wobei ihr die Jungfer der Frau vom Hause hilfreiche Hand leistete. Die Sache war bald wieder in Ordnung gebracht und das Mädchen entlassen, aber Hertha, anstatt in die Gesellschaft zurückzukehren, saß noch im Armsessel und blickte träumend vor sich hin.

Die Wohnzimmer lagen auf der andern Seite des Hauses, getrennt von den Gesellschaftsräumen, und wurden heute nicht benutzt; sie waren nur matt erleuchtet, eine stille, angenehme Zuflucht für Jemand, der sich auf einige Minuten der Hitze und dem Gewühl entziehen wollte, und die junge Gräfin schien in der That ermüdet zu sein, ermüdet von Triumphen und Huldigungen.

Der heutige Abend war ja nur ein einziger fortgesetzter Triumph für sie gewesen, sie beugten sich Alle der siegreichen Macht ihrer Schönheit, Alle – bis auf Einen! Nur Einer wagte es, ihr zu trotzen; nur der allein behielt mitten im Sturme der Leidenschaft Kraft und Besinnung genug, das Netz zu zerreißen und sich „freie Bahn“ zu schaffen. War er doch auch heute so fremd und kalt an sie herangetreten, hatte so artig und eisig mit ihr gesprochen, als sei jene Stunde von Sankt Michael für ihn ausgelöscht und vergessen.

Um so lebhafter stand sie in Hertha’s Erinnerung. Der Zorn wallte noch immer heiß in ihr auf, wenn sie daran dachte, daß jener Mann es gewagt hatte, ihr ins Gesicht zu sagen, daß er sie für eine Kokette halte, daß er die Liebe zu ihr als etwas Unwürdiges aus seinem Herzen reißen werde. Aber mitten in der Empörung darüber erhob sich eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß er Recht gehabt! Ja, sie hatte ein rücksichtsloses Spiel mit ihm getrieben. Es war der Uebermuth einer vom Glück verwöhnten, von einer schwachen Mutter zur schrankenlosen Willkür erzogenen Natur, die es nur zu früh gelernt hatte, die Huldigungen der Männerwelt zu verachten oder mit ihnen zu spielen. Freilich, damals war sie noch frei gewesen! Das stolze, eigenwillige Mädchen erkannte jenen Familienbeschluß, der über ihre Hand verfügte, nicht als eine Fessel an; es stand ja bei ihr, Nein zu sagen, wenn die Entscheidung an sie herantrat. Statt dessen hatte sie Raoul ihr Jawort gegeben, freiwillig, ohne Zwang, allerdings auch ohne Liebe! Aber gab es denn überhaupt eine Liebe? Hatte sie es nicht selbst gesehen, daß eine große, glühende Leidenschaft, welche die ganze Seele eines Mannes auszufüllen schien, sterben und vergehen konnte in wenig Monaten?

Das Oeffnen der Thür des Nebenzimmers und nahende Schritte weckten Hertha aus ihrer Träumerei und mahnten sie, daß es Zeit sei, zu der Gesellschaft zurückzukehren. Sie wollte sich erheben, als eine Stimme, die nebenan ertönte, sie an ihren Platz fesselte.

„Hier sind wir ungestört! Ich werde Sie nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, Graf Steinrück.“

„Sie wünschten mich allein zu sprechen, Hauptmann Rodenberg, ich stehe Ihnen zu Diensten,“ ließ sich jetzt auch Raoul’s Stimme vernehmen.

Hertha konnte die Eingetretenen nicht sehen und auch von ihnen nicht gesehen werden, aber sie lauschte betroffen. Was sie hörte, klang seltsam schroff und feindselig.

Jm Nebenzimmer standen sich in der That die beiden jungen Männer gegenüber mit einer Feindseligkeit, die keiner mehr zu verbergen sich bemühte, aber Raoul war erregt und gereizt, Michael kalt und ruhig, und das gab ihm von vorn herein eine Überlegenheit.

„Es handelt sich nur um eine Frage,“ nahm er wieder das Wort. „War es Zufall oder Absicht, daß Sie mich vorhin, als Sie mit meinem Freunde sprachen, so vollständig – übersahen?“

Um die Lippen des jungen Grafen spielte ein sehr verletzendes Lächeln, und noch verletzender war sein Ton, als er fragte: „Legen Sie so großen Werth darauf, von mir bemerkt zu werden?“

„Nicht den mindesten! Ich geize überhaupt nicht nach der Ehre, mit Ihnen bekannt zu sein. Da wir uns aber nun doch einmal kennen, so fordere ich, daß Sie mir gegenüber die Formen der guten Gesellschaft beobachten, die Ihnen allerdings nicht geläufig zu sein scheinen.“

„Herr Hauptmann Rodenberg!“ fuhr Raoul drohend auf.

„Herr Graf Steinrück?“ klang es eisig zurück.

„Sie scheinen mich zwingen zu wollen, von Beziehungen Notiz zu nehmen, die nun einmal für mich nicht vorhanden sind. Auf diese Weise werden Sie nichts erreichen.“

Michael zuckte verächtlich die Achseln.

„Ich glaube hinreichend gezeigt zu haben, welchen Werth ich auf die Beziehungen zu der gräflich Steinrück’schen Familie lege. Fragen Sie den General danach: er wird es Ihnen bestätigen. Aber ich bin nicht gesonnen, noch länger ein Benehmen zu dulden, das von Anfang an darauf berechnet war, mich zu beleidigen. Werden Sie dies Benehmen in Zukunft ändern? Ja oder Nein?“

[719] Die Frage klang so gebieterisch, daß Raoul ihn halb empört, halb verwundert anschaute.

„Das muß man gestehen, Herr Hauptmann, im Hochmuth leisten Sie das Aeußerste.“

„Es giebt Persönlichkeiten, die man nur mit ihren eigenen Waffen schlagen kann. Darf ich jetzt um Antwort bitten?“

„Ich bin es nicht gewohnt, auf einen solchen Ton Rede zu stehen,“ sagte der junge Graf stolz. „Am wenigsten dem Sohne eines Abenteurers und einer Mutter, die –“

Er kam nicht weiter, denn Michael stand bereits an seiner Seite, todtenbleich, aber mit flammenden Augen.

„Schweigen Sie, Graf Steinrück!“ herrschte er ihm zu. „Ein Wort gegen meine Mutter, ein einziges, und ich vergesse mich und schlage Sie zu Boden!“

„Mit den Fäusten?“ fragte Raoul höhnisch. „Ich bin an ritterliche Waffen gewöhnt.“

Die Mahnung fruchtete, Rodenberg trat langsam einen Schritt zurück und zwang sich gewaltsam zur Ruhe.

„Und doch sind Sie unritterlich genug, den Gegner mit Beleidigungen zu reizen, die kein Mann erträgt!“ sagte er bitter. „Ich habe diesen Ton nicht angeschlagen, aber ich sehe, daß wir die Unterredung für jetzt endigen müssen. Sie werden morgen Weiteres von mir hören.“

„Ich warte darauf,“ versetzte Raoul, und mit einem kurzen, hochmüthigen Gruße wandte er sich um und verließ das Zimmer.

Michael blieb zurück, er wollte nicht zugleich mit dem Grafen den Saal betreten. Finster, mit verschränkten Armen ging er einige Male auf und nieder und warf sich dann in einen Sessel.

Hertha war inzwischen regungslos auf ihrem Platze geblieben, aber ihr anfängliches Befremden hatte sich zur Besorgniß und endlich zum Schrecken gesteigert, als sie den Ausgang des Gespräches vernahm. Jetzt erhob sie sich und trat bleich, aber mit voller Entschlossenheit auf die Schwelle.

„Herr Hauptmann Rodenberg!“ sagte sie leise.

Er sprang auf, überrascht, erschrocken, denn in dem Moment, wo er sie erblickte, fiel es ihm auch ein, daß die Thür des Nebenzimmers offen geblieben war und daß man dort jedes Wort hören konnte – weder er noch Raoul hatten daran gedacht.

„Sie hier, Gräfin Steinrück?“ fragte er hastig. „Ich glaubte Sie doch soeben noch im Saale gesehen zu haben.“

„Nein, ich verweilte dort,“ sie deutete auf das Nebengemach, „und bin dadurch unfreiwillig Zeugin einer Unterredung geworden, die wohl nicht für fremde Ohren bestimmt war.“

Michael biß sich auf die Lippen. Also doch! Indessen er faßte sich und entgegnete in möglichst leichtem Tone:

„Wir glaubten allerdings allein zu sein, aber die Sache ist ja von keiner Bedeutung. Ich hatte eine kleine Differenz mit dem Grafen Steinrück, die in etwas erregter Weise zwischen uns erörtert wurde, aber zweifellos ausgeglichen wird.“

„Ist das wirklich so zweifellos? Das Ende des Gespräches schien eher das Gegentheil anzudeuten.“

Rodenberg vermied es, ihrem Blick zu begegnen, aber er erwiderte gelassen: „Unsere Unterredung war in der That auf dem Punkte, sehr gereizt zu werden, deßhalb brachen wir sie ab. Wir werden die Sache morgen ruhiger verhandeln.“

„Mit den Waffen in der Hand – ich weiß es!“

„Sie hegen ganz unnöthige Besorgnisse, davon ist gar keine Rede.“

„Halten Sie mich für so unerfahren, daß ich die Bedeutung Ihrer letzten Worte nicht verstehe?“ fragte Hertha gepreßt, indem sie dicht vor ihn hintrat. „Es war eine Herausforderung und die Annahme derselben.“

Michael schwieg, er sah, daß hier jedes Leugnen nutzlos war.

„Es war ein sehr unglücklicher Zufall, der gerade Sie zur Zeugin unseres Gespräches machte,“ sagte er endlich. „Dem Grafen wird das sicher ebenso peinlich sein wie mir, aber es ist nun einmal nicht zu ändern, so wenig wie die Sache selbst, und ich darf Sie daher wohl in unser Beider Namen um Schweigen ersuchen. Vergessen Sie, was nicht für Ihre Kenntniß bestimmt war!“

„Vergessen! Wenn ich weiß, daß Sie Beide sich morgen vielleicht schon auf Tod und Leben gegenüberstehen!“ brach Hertha mit vollster Heftigkeit aus.

Rodenberg sah sie befremdet, fragend an.

„Wir Beide? Für Sie kann doch nur die Gefahr Ihres Verlobten in Frage kommen. Es ist natürlich, daß Sie für ihn zittern; mein Tod wird die Gräfin Steinrück sehr gleichgültig lassen, sie muß ihn hier sogar wünschen, denn er bedeutet das Leben für meinen Gegner.“

Hertha antwortete nicht, sie hob nur langsam das Auge zu ihm empor. Es war ein seltsamer Blick, es lag etwas darin wie Vorwurf, und mehr noch: eine bebende Angst. Aber Michael verstand es nicht mehr, in diesen Augen zu lesen, oder wollte es nicht verstehen. Sollte das alte Spiel von Neuem beginnen? Er richtete sich plötzlich auf, und seine Haltung wurde so starr und unzugänglich, als stehe er bereits vor seinem Gegner.

Die junge Gräfin las vielleicht jenen Gedanken von seiner Stirn, denn eine dunkle Röthe überfluthete ihr Gesicht; sie trat hastig einige Schritte seitwärts, als wolle sie auch äußerlich einen Raum zwischen sich und ihn legen, und auch ihre Haltung wurde kalt und gemessen.

„Ist denn kein Ausgleich möglich?“ fragte sie, das Beben ihrer Stimme beherrschend.

„Nein!“

„Auch nicht, wenn ich mit meinem Verlobten spreche, wenn ich ihn bitte –“

„Sie werden nichts erreichen. Der Graf wird sich schwerlich bestimmen lassen, seine Worte zurückzunehmen, und darauf müßte ich unter allen Umständen bestehen. Ich bitte Sie überhaupt den Gedanken aufzugeben, solche Dinge vertragen nun einmal nicht die Einmischung einer Frau.“

„Aber eine Frau war doch die Veranlassung dazu, und jetzt will man ihr nicht einmal den Versuch zur Versöhnung gestatten?“ sagte Hertha mit Bitterkeit. „Sehen Sie mich nicht so verwundert, so fragend an; ich weiß es, weßhälb Sie den Streit gesucht haben, wie auch der Vorwand dazu lauten mag. Sie vergessen nie eine Beleidigung, Herr Hauptmann Rodenberg! Nie – das habe ich erfahren, und Sie rächen sich jetzt auf solche Weise dafür.“

Michael’s Gesicht verfinsterte sich, und seine Antwort klang in voller Schärfe: „Halten Sie mich in der That einer so niedrigen, gemeinen Rache fähig? Das glaube ich doch nicht verdient zu haben!“

„Und doch hassen Sie Raoul? Ich kenne den Grund nur zu gut –“

„Sie kennen ihn nicht!“ fiel er mit vollem Nachdrucke ein. „Sie täuschen sich vollständig darüber. Ich habe überhaupt den Streit nicht gesucht; wenn ich mich veranlaßt sah, den Grafen zur Rede zu stellen, so hat mich sein Benehmen dazu gezwungen. Von ihm ging die Feindseligkeit aus, die ich allerdings theile, aber sie wurzelt in Verhältnissen, von denen Sie keine Ahnung haben, und hat nichts zu thun mit jener Stunde in Sankt Michael!“

Es war das erste Mal, daß er diesen Punkt wieder berührte, aber der herbe Ton, die schroffe Haltung milderten sich nicht, als er jenen Namen aussprach – sie schienen nur noch härter zu werden. Nur seine Augen hafteten auf der jungen Gräfin, die heute in der That den Namen rechtfertigte, den Hans ihr gegeben: eine Märchenfee vom Märchenglanze umflossen!

Sie stand im vollen Lichtkreise der Lampe, die das Zimmer erhellte, und in diesem Lichte schimmert das halb mittelalterliche, halb phantastische Prachtgewand, ein kostbares Gemisch von schwerem Goldbrokat, leuchtendem Sammet und zarten, duftigen Schleiergeweben, in dem es überall funkelte und blitzte von Steinen und Geschmeide. Aber von dem Haupte, das ein sternartiges Diadem schmückte, floß noch ein anderer Schleier nieder und gleißte mit rothgoldigem Schimmer: das gelöste Haar, das heute frei und fessellos über die Schultern wogte, in seiner ganzen natürlichen Pracht, es wob sich wie ein Glorienschein um das schöne Antlitz.

Michael stand außerhalb des Lichtkreises, des Bannkreises, aber sein Blick flog doch hinüber. So hatte er sie vorhin im lebenden Bilde gesehen, auf steilem, unzugänglichem Felsen, und so stand sie jetzt vor ihm, die berückende Zaubergestalt der Sage. Auch ihm war ja einst das süße, verlockende Lied erklungen, und was ihn schreckte, das war nicht der Fels und nicht die Gefahr des Sturzes, das war der Preis selbst gewesen! Er wollte nicht [720] Leben und Heil wagen, um endlich vielleicht – einen Dämon zu umarmen. Mit der ganzen Kraft seines Willens hatte er sich losgerissen. Und doch ergriff ihn auch in diesem Augenblicke wieder jenes Gefühl, das schon damals aufgewacht war, als sei der eine selige Augenblick es werth, Leben und Heil und Zukunft dafür hinzuwerfen, als gelte der zerschmetternde Sturz ihm nicht, wenn er nur ein einziges Mal ein grenzenloses Glück in die Arme schließen und es sein nennen dürfe!

Aber während es so in seinem Innern wühlte und stürmte, stand er wie festgewurzelt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Hertha sah nur die kalte, unbewegte Miene, hörte nur die herben Worte, und so klang ihre Antwort in dem gleichen Tone: „Seit jener Stunde sind wir Feinde geworden! Leugnen Sie es nicht, Herr Hauptmann Rodenberg! Wir brauchen uns die Wahrheit nicht zu verhehlen. Von Allem, was Sie mir damals so maßlos entgegenschleuderten, ist nur der Haß geblieben, das hätte ich bedenken sollen, als ich Ihre Versöhnlichkeit anrief – auf die Großmuth eines erbitterten Feindes darf man nicht rechnen.“

Michael ließ den Vorwurf schweigend über sich ergehen, ohne sich mit einer Silbe dagegen zu vertheidigen; nur seine Hand krampfte sich zusammen, und auf seinem Gesicht lag wieder die Blässe, die bei ihm stets das Zeichen der äußersten Erregung war.

„Und gegen wen sollte ich denn Großmuth üben?“ fragte er endlich. „Soll ich vielleicht den Grafen im Kampfe schonen, während ich weiß, daß ich von ihm die vollste Schonungslosigkeit zu erwarten habe? Zum Märtyrer bin ich nicht geschaffen! Aber noch einmal, Gräfin Steinrück, Sie thun mir Unrecht, wenn Sie mich einer kleinlichen, niedrigen Rachsucht zeihen. Geben Sie mir die Möglichkeit eines Ausgleiches, der sich mit meiner Ehre verträgt, und ich werde ihn annehmen. Aber ich glaube nicht an diese Möglichkeit, und wie der Ausgang der Sache auch schließlich sein mag: uns würde sie zu Feinden machen, wenn wir es nicht schon wären – und vielleicht ist es am besten so!“

Er warf noch einen Blick auf den hellen Lichtkreis, auf das schöne, schleierumwobene Haupt, dann verneigte er sich und ging. –

Das Fest hatte inzwischen seinen Fortgang genommen, aber Einzelne der Gäste brachen schon auf, und unter diesen die gräflich Steinrück’sche Familie, die stets spät zu kommen und früh zu gehen pflegte. Die Damen verabschiedeten sich bereits von Frau von Reval, als Michael, der eben allein durch den Saal schritt, plötzlich aufgehalten wurde.

„Hauptmann Rodenberg – auf ein Wort!“

Der junge Qfficier wandte sich überrascht um; es war das erste Mal, daß General Steinrück ihn heute einer Anrede würdigte.

„Ich stehe zu Befehl, Excellenz!“

Der Graf gab ihm einen Wink und trat mit ihm seitwärts.

„Ich wünsche Sie zu sprechen,“ sagte er kurz. „Morgen früh um neun Uhr in meiner Wohnung!“

Michael stutzte; er wußte nicht, wie er diese Worte nehmen sollte.

„Ist das ein dienstlicher Befehl, Excellenz?“

„Sehen Sie es als solchen an. Jedenfalls lasse ich keine Verhinderung gelten, welcher Art sie auch sei, und rechne unbedingt auf Ihr Erscheinen.“

Rodenberg verneigte sich schweigend. Der General trat noch näher an ihn heran und senkte die Stimme, während er fortfuhr: „Und wenn Sie zufällig in der Lage sein sollten, einen Entschluß fassen zu müssen, so ersuche ich Sie, das bis nach unserer Unterredung aufzuschieben. Ich werde sorgen, daß das Gleiche auch von – anderer Seite geschieht.“

„Mein Entschluß ist bereits gefaßt,“ sagte Michael kalt, „aber ich werde gehorchen.“

„Gut! Auf morgen denn!“

Steinrück wandte sich ab, und der Hauptmaun sah, daß er zu der Gräfin Hertha trat, die ihm rasch entgegen kam. Sie hatte also gesprochen, sie hatte, als ihre Einmischung versagte, eine andere Autorität angerufen, die man nun allerdings nicht so ohne Weiteres zurückweisen durfte; aber der Ausdruck in Michael's Gesicht, als ihm der Zusammenhang klar wurde, verrieth, daß er nicht gesonnen sei, sich dieser Autorität zu beugen.

Der General hatte inzwischen den Arm der jungen Dame genommen und führte sie zu ihrer Mutter; sie sprach keine Frage aus, aber ihre Augen fragten um so angstvoller.

„Sei ruhig, mein Kind!“ sagte er halblaut. „Ich habe die Sache in die Hand genommen. Du brauchst Dich nicht mehr zu ängstigen. Aber bedenke, daß sie ein Geheimniß bleiben muß; ich fordere Dein unverbrüchliches Schweigen.“

Hertha athmete tief auf und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich danke Dir, Onkel Michael! Ich vertraue Dir unbedingt – Du wirst es nicht zu einem Unglück kommen lassen!“

(Fortsetzung folgt.)

Die Fortschritte der Luftschiffskunst.

Kaum dürfte es eine zweite Technik geben, die in demselben Maße ununterbrochen von phantasievollen Träumern heimgesucht worden ist, wie die Aëronautik. Seit der Erfindung des Luftballons durch Montgolfier im Jahre 1783 verging bis auf unsere Zeit kein Jahr, in welchem das ersehnte Problem des lenkbaren Luftschiffes nicht verschiedentliche Male auf dem Papiere gelöst wurde. Und welche Mannigfaltigkeit der Ideen und Formen ist dabei zu Tage gefördert worden! Die meisten Erfinder neuer Luftschiffe sind Laien in der Technik und suchen in mehr oder minder nebensächlichen Aeußerlichkeiten oder Details den Schlüssel zu dem Räthsel zu finden. Daher kommt es, daß ihre Luftschiffe oft die merkwürdigsten Anhängsel besitzen und mehr den Eindruck von Höllenfahrzeugen als von solchen des Himmels hervorrufen. Allerhand Fischformen vom Walfisch bis zur Flunder, Schildkröten-, Ei-, Keil-, Cylinder-, Kegel-, Linsen- und Ringformen besitzt der Ballonkörper, und sonderbare Flügel, Flossen, Ruder, Wendeflügel, Schrauben etc. sollen zu seiner Fortbewegung dienen.

Natürlich gehen diese Erfinder über die zur Bewegung ihrer Luftschiffe nöthigen Kraftmaschinen sehr leicht hinweg, indem sie schlechthin angeben, ein Dampfmotor oder Elektromotor würde zum Betriebe verwendet. Andere dagegen wollen wieder die Reaktionskraft von komprimirter Luft oder von Raketen ausnützen. Um die Luft aber zu komprimiren, braucht man wiederum eine Maschine, und mitgenommene Raketen sind, abgesehen von ihrer Gefährlichkeit, von so kurzer Wirkungsdauer, daß dem Luftschiffer wenig damit gedient wäre. Es möge mir gestattet sein, hier eines Vorschlages besonders zu gedenken, welcher einen großen Theil dieser sogenannten Erfindungen charakterisirt. Derselbe beruhte darauf, aus einer Kanone vom Ballonschiffe aus eine an einer Kette am Schiff befestigte Kugel zu schießen; diese sollte das Schiff nach sich ziehen!

Gegen dergleichen sinnlose Projekte mußten zunächst Diejenigen Front machen, welche zur weiteren Förderung der Luftschiffahrt zusammengetreten waren. Es mußte gezeigt werden, daß die Ansicht, in dieser Art das Problem des lenkbaren Luftschiffes lösen zu wollen, eine durchaus irrige war, die nur dazu beitragen konnte, das Interesse für die Aëronautik bei der gebildeten Gesellschaft zu untergraben. Zunächst in Frankreich, später in Deutschland traten denn auch Männer auf, welche mit Thatkraft die Entwickelung der wichtigen Frage in die richtigen Bahnen leiteten.

In erster Linie war es Henri Giffard, welcher im Jahre 1852 nach einer Reihe von Vorversuchen in Paris an den Bau eines spindelförmigen, durch eine Dampfmaschine beweglichen Ballons schritt. Der Versuch, welchen er mit diesem Fahrzeuge machte, glückte allerdings nicht, weil die Maschine nicht die genügende Kraft besaß, gegen den zur Zeit herrschenden Wind anzukämpfen. Immerhin war aber damit das bisher Unglaubliche, eine Dampfmaschine gefahrlos am Ballon anzubringen, mit Glück zur Durchführung gebracht worden; diese Erfahrung gestattete, mit größeren Hoffnungen in die Zukunft zu blicken. Giffard strebte danach, den Versuch mit einem größeren Ballon und stärkerer Maschine zu wiederholen. Im Jahre 1855 konnte er auch in einem solchen aufsteigen; die Konstruktion erwies sich aber als unbrauchbar; der spindelförmige Ballon stellte sich aufrecht, platzte und fiel mit beiden Insassen sehr schnell herab. Giffard besaß keine Mittel, seine Arbeiten weiter fortzuführen; zudem wurde er mißgestimmt über das geringe Entgegenkommen, das er allerseits fand. Die Weiterentwickelung des Luftschiffens blieb darauf bis zur Zeit der Belagerung von Paris auf sich beruhen. Damals gab die französische Regierung dem Marine-Ingenieur Dupuy de Lome den Auftrag, auf ihre Kosten ein solches Fahrzeug zu erbauen. Der Ballon wurde bis zur Beendigung der Belagerung nicht fertig und beim Einzuge des siegreichen deutschen Heeres mit knapper Noth in Sicherheit gebracht. Erst im Jahre 1872 konnte ein Fahrversuch von statten gehen, der aber so schlechte Resultate ergab, daß die französische Regierung keine weitere Neigung verspürte, diese theure Arbeit fortzusetzen. Dupuy de Lome hatte nämlich anstatt einer Maschine Menschenkraft verwendet.

Um dieselbe Zeit fand auch in Brünn ein Versuch mit einem von dem deutschen Ingenieur Haenlein erbauten Ballon statt, welcher in geschickter Weise eine vom Ballongase selbst gespeiste Gaskraftmaschine angewandt hatte (vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1882, S. 215). Aber auch hier wie bei den um zehn Jahre späteren Versuchen von Tissandier [721] mit einem Elektromotor in der Gondel zeigte sich, daß die Verwendungsfähigkeit eines beweglichen Luftschiffes auf der genügenden Kraft seines Motors beruhe und daß dieser vollständig den aëronautischen Verhältnissen angepaßt werden müsse. Wenngleich die Herstellung eines solchen Motors vielleicht nicht außerhalb der Grenze der Leistungsfähigkeit unserer Technik liegt, so konnte doch niemals die Lösung dieser Aufgabe in kurzer Zeit erwartet werden, wenn nicht der Staat oder bemittelte Gesellschaften die Sache in die Hand nahmen. Da nun der erstere für Kriegsverhältnisse einen großen Werth auf lenkbare Ballons legen muß, Private aber kaum bei dem unsicheren Erfolg die hierzu nöthigen enormen Mittel hergeben können, war es vorauszusehen, daß schließlich der Staat hierfür eintreten würde. Frankreich hatte den Mangel eines solchen Ballons während der Belagerung von Paris besonders empfunden und fing demnach auf Betreiben Gambetta’s sehr bald an, der Frage staatlicherseits näher zu treten.

Wie glücklich die Versuche schließlich von statten gegangen sind, lebt noch in eines Jeden Gedächtniß. Nach langjährigen Arbeiten und Versuchen an Modellen hatten die Kapitäne Renard und Krebs im Mai 1884 ihr Luftschiff vollendet, um damit am 9. August zum ersten Male die Welt in Erstaunen zu setzen (vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1884, S. 683). Es war natürlich, daß ein großer Theil der Sachverständigen dem ersten Gerüchte wenig Glauben schenkte, und nicht minder natürlich, daß nach dem Mißlingen der zweiten Fahrt die Zweifler in ihrer abfälligen Meinung bestärkt wurden und der Sache fernerhin ihre Aufmerksamkeit nicht mehr schenkten. Aber es bleibt nun einmal Thatsache, daß Renard sieben Fahrten mit seinem Ballon gemacht hat und bei fünf derselben genau auf seinen Ausgangspunkt zurückgefahren ist. Nach dem Bericht, welchen Renard im November 1885 der Akademie der Wissenschaften über seine Versuche eingereicht hat, besitzt der Ballon „La France“ eine Eigenbewegung von 6,22 Meter in der Sekunde, das ist 22,4 Kilometer in der Stunde. Eine Meile würde er demnach bei windstillem Wetter in 20 Minuten zurücklegen können. Nun ist gewiß vollkommene Windstille namentlich in höheren Regionen kaum jemals vorhanden; der Ballon kann aber doch gegen jeden Wind vorwärts fahren, der eine geringere Geschwindigkeit als 6,22 Meter in der Sekunde besitzt.

Abgesehen von dieser Unvollkommenheit ist auch die Fahrtdauer in Folge der Wirksamkeit des Elektromotors vorläufig noch eine so beschränkte, daß sie über das Maß einer halben Stunde nicht hinausgeht. Der Werth des Luftschiffes „La France“ für die Kriegspraxis kann daher zur Zeit immer noch nicht als ein bedeutender bezeichnet werden. Das gesteht Kapitän Renard auch ein und ist gegenwärtig eifrig bemüht, diesen Uebelständen durch die Konstruktion eines stärkeren Motors abzuhelfen. Nach seiner Ansicht würde eine Eigengeschwindigkeit von 10 Meter in der Sekunde während des größten Theiles des Jahres zur Fortbewegung eines lenkbaren Luftschiffes ausreichen; der Motor muß hierzu 31 Pferdekraft besitzen.

Das 100 Jahre lang vergeblich erstrebte Problem wäre also als gelöst zu betrachten und bedürfte für die Zukunft nur der Vervollkommnung, die sicherlich mit den Fortschritten der Wissenschaft und Technik folgen wird. Wir werden sie uns auch nähergerückt sehen, wenn mehr als bisher die sachgemäße Pflege der Aëronautik eine allgemeine Unterstützung erhält.

Momentphotographie des Ausstellungsgebäudes, Lehrter Bahnhofs u. s. w. in Berlin.
Vom freien Ballon aus in 800 Meter Höhe aufgenommen von Freiherrn von Seld.

Die heutige Zeitströmung in dieser Beziehung berechtigt in der That zu guten Hoffnungen. Auch bei uns hat man neuerdings in Berlin ein militärisches Luftschiffer-Detachement eingerichtet. Alle Augenblicke sieht man über Berlin große Ballons, und eben so häufig kann man auf dem Tempelhofer Felde die Uebungen mit den gefesselten Ballons beobachten. Die Meteorologen nehmen regen Antheil an der Fortentwickelung der Aëronautik, und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Fahrten findet man in der „Meteorologischen Zeitschrift“ veröffentlicht. In der Reichshauptstadt hat sich ferner ein Verein gebildet, welcher sich die Förderung der Aëronautik theoretisch und praktisch angelegen sein läßt. Auch die Litteratur über Luftschifffahrt hat eine wesentliche Bereicherung erfahren; namentlich das vor Kurzem erschienene Werk „Die Luftschifffahrt unter besonderer Berücksichtigung ihrer militärischen Verwendung“ von H. Moedebeck (Verlag von E. Schloemp, Leipzig) füllt eine früher tiefempfundene Lücke aus und verdient der allgemeinen Beachtung empfohlen zu werden. Wenn wir aber unseren westlichen Nachbarn, welche ohne Zweifel allen anderen Nationen in der Luftschifffahrt überlegen sind, nacheifern wollen, müssen wir vorerst wie diese das Fahren mit dem gewöhnlichen Ballon in einer wissenschaftlichen Weise betreiben. Daher dürfte man wohl auch dem deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt vor allem Anderen wünschen, daß er recht häufig seinen Mitgliedern die Gelegenheit böte, freie Fahrten zu unternehmen. Solche Fahrt hat ohne Zweifel einen romantischen Reiz. Den Winden überlassen, weiß der Luftschiffer nicht, welchem Geschick er entgegeneilt. Die Welt zieht als ein prächtiges, weithin übersehbares Bild unter ihm vorbei; sie erscheint ihm herrlich und schön, aber doch auch winzig klein. Und er steigt höher in die Wolken, bewundert die prächtigen Sonnenspiegelungen und fühlt sich erhaben über die ganze Erde, zu der er doch so bald wieder zurückkehrt. Jeder, welcher das erste Mal eine Luftfahrt unternimmt, wird über das Bewundern kaum hinauskommen. Erst bei späteren Fahrten wird es ihm möglich, sich wieder so nüchternen Beschäftigungen, wie Ablesen von Instrumenten etc. zu widmen. Neuerdings wird auch vielfach vom Ballon aus photographirt, und man ist darin schon zu ganz erheblichen Resultaten gekommen, welche für die Landesaufnahme und besonders zu militärischen Zwecken nicht ohne Wichtigkeit sind. Das Photographiren vom Ballon aus ist insofern überaus schwierig, als die Schwingungen der Gondel ein gutes Bild verderben und größere Städte, vor Allem Berlin, selbst bei schönstem Sonnenschein eine Dunstmasse über sich zeigen, welche eine klare und schöne Aufnahme zu den Seltenheiten zählen läßt.

Wir bringen heute eine derartige treffliche, in 800 Meter Höhe aufgenommene Photographie jenes Theils der Kaiserstadt Berlin, welcher in Folge der Jubiläums-Kunstausstelluug sich eines überaus zahlreichen Besuches aus allen Gauen Deutschlands erfreute. Wir sehen die einzelnen Gebäude, die Spree, Schienenstränge und Straßen wie auf einer Specialkarte vor uns ausgebreitet. Die weiße Linie, welche das Bild in der Mitte durchschneidet, ist die Invalidenstraße. Verfolgen wir dieselbe auf unserem Bilde von unten nach oben, so bemerken wir zur rechten Hand zuerst Theile des Ausstellungsparkes, dann die Schienenstränge der Stadtbahn und dicht an ihnen das Ausstellungsgebäude. Oberhalb des letzteren liegt ein längliches Viereck – der Lehrter Bahnhof, durch Schienenstränge von jenem getrennt. An der oberen Kante des Vierecks erweitert sich das Geleise der Stadtbahn zu einem länglichen Cylinder: es ist die Haltestelle „Lehrter Bahnhof“ der Stadtbahn. Die rechte Seite des Gesammtbildes wird durch die Spree, die hier einen Bogen beschreibt, umgrenzt; unten erblicken wir die gegenwärtig in Reparatur befindliche Moltkebrücke, oben die Alsenbrücke, vor welcher nach links und oben ein Theil des Humboldthafens sichtbar wird.

Kehren wir jetzt zu unserem Ausgangspunkt an der Invalidenstraße zurück und wenden uns der linken Hälfte des Bildes zu! Das Viereck ganz unten stellt die Ulanenkaserne dar; die ziemlich undeutlichen Gebäudereihen oberhalb derselben bezeichnen die Ober-Feuerwerk-Schule. Dann folgt ein weißer Streifen, die Lehrter Straße, und dicht über derselben ein großes Sechseck, die Musterstrafanstalt „Zellengefängniß“. Hier erregen die wunderbar ausschauenden Rosetten unser Hauptinteresse. Es sind die zum Spazierengehen für die Gefangenen bestimmten Räume, welche von einem in ihrer Mitte befindlichen Beobachtungsthurm ausgehen und durch hohe Mauern von einander getrennt sind.

Schienenstränge schließen das Bild nach oben ab.

Wir nehmen nach dieser Abschweifung den Faden unserer Betrachtung wieder auf.

Der Kernpunkt der Romantik einer Ballonfahrt liegt in dem Niederkommen. Die Landung kann unter den verschiedensten Abenteuern von statten gehen. Man kann ruhig und sanft auf einem Acker herabkommen, oder bei scharfem Unterwind Kilometer weit geschleift, ja womöglich in Bäume hineingeschleudert oder in ein Wasser gesetzt werden. Aber alles das ist weniger unangenehm, als wenn man hernach in die Hände erzürnter Landbewohner fällt, welche im Bewußtsein ihrer physischen Uebermacht von den Luftschiffern hohe Flurentschädigung zu erpressen [722] suchen. Gottlob kommen derartige Scenen nicht zu häufig vor; dagegen muß besonders hervorgehoben werden, daß der vom Himmel unerwartet erschienene Besuch sehr häufig eine gastliche Aufnahme findet.

Dem kühnen Luftschiffer, welcher in Kriegszeiten mit dem Ballon gegen die feindlichen Truppen operirt, drohen nicht zu unterschätzende ernste Gefahren. Er muß darauf gefaßt sein, daß er heruntergeschossen werden kann. Ueber diesen Punkt sind im Publikum die irrigsten Ansichten verbreitet. Die meisten glauben, daß schon ein einziger Treffer aus einem Handgewehr genüge, den Ballon zum Sinken zu bringen. Dem gegenüber wollen wir nur folgende in Moedebeck’s Werke namhaft gemachten Versuche erwähnen: Im Jahre 1850 wurde bei Sheerneß in England mit einem alten, etwa 300 Kubikmeter großen Ballon zum ersten Male ein Schießversuch veranstaltet. Man war damals unsicher, ob der Ballon beim Auftreffen der Gewehrkugeln nicht bald platzen und plötzlich herabfallen würde. Es ergab sich jedoch, daß erst 60 Treffer, demnach 120 Kugellöcher fähig waren, einen derartigen Gasverlust herbeizuführen, daß der Ballon allmählich zum Sinken gebracht wurde.

Ein weiterer Versuch wurde am 7. Oktober 1870 in Tours gemacht. Man wollte dort wissen, bis zu welcher Höhe Ballons von Chassepotgeschossen noch erreicht werden könnten. Zu dem Zwecke ließ man einen gefesselten Papierballon von vier Meter Durchmesser an einer Schnur 400 Meter hoch aufsteigen und von 18 guten Schützen beschießen. Nach dem Herabziehen fand man ihn von 11 Geschossen getroffen. Bei einer Höhe von 500 Meter hatte ihn jedoch kein Geschoß erreicht.

Endlich wurde im Jahre 1880 in England ans einer achtzölligen Haubitze nach einem 2000 Ellen weiten und in einer Höhe von 800 Fuß gefesselten Ballon gefeuert. Der erste Schuß blieb erfolglos; beim zweiten platzte eine Granate nahe vor dem Ballon und riß ihn auf. Er brauchte trotzdem noch 15 Minuten, um vollständig herabzusinken.

Es wurde außerdem festgestellt, daß die Kriegsballons, wenn sie durch stärkere Annäherung an die feindlichen Linien wirklich nützliche Beobachtungen anstellen wollen, bis zu einer Höhe von 500 Meter im feindlichen Geschützfeuer bleiben. Und wie die Einführung der Panzerplatten zur Vervollkommnung der Riesengeschütze geführt hat, so wird auch die Verwendung der Ballons im Kriege neue Mittel zu ihrer Vernichtung hervorrufen. Schon im deutsch-französischen Kriege konstruirte die Firma Krupp ein besonderes Ballongeschütz, welches nach der Art eines Gewehres schnell und leicht gehandhabt werden konnte. Es wird behauptet, daß mit Hilfe dieses Geschützes der Ballon „Daguerre“ herabgeschossen wurde, aber dieser Behauptung steht allerdings die Nachricht entgegen, wonach es überhaupt nicht zur Verwendung gelangt wäre.

Dem Menschenfreund muß es bedauerlich erscheinen, daß die Eroberung des Luftreiches, ein seit Jahrtausenden ersehntes Ziel, mit blutigen Thaten, mit Kampf und Vernichtung eröffnet wird; aber die Menschheit schreitet immer vorwärts durch Nacht zum Licht, und so wird auch einst die Zeit kommen, wo das lenkbare Luftschiff nicht nur als mächtige Waffe im Kriege, sondern auch als nützliches Verkehrsmittel dem Völker verbindenden friedlichen Verkehr dienen wird.


Blätter und Blüthen.

Die heitere Muse und der Selbstmord. Es ist eine keineswegs neue Erfahrung, daß beliebte Komiker, welche durch ihre Scherze auf der Bühne das ganze Publikum erheitern und oft schon durch ihr bloßes Erscheinen in die beste Laune versetzen, im Leben große Hypochonder sind. Wer gedenkt nicht hierbei des Wiener Komikers Ferdinand Raimund, dem seine Freunde und Anhänger am 5. September d. J. eine Todtenfeier veranstalteten? Fünfzig Jahre sind verflossen, seitdem der Dichter des „Verschwenders“ zum Terzerol griff und sich erschoß mitten in einer erfolgreichen Laufbahn als dramatischer Dichter und darstellender Künstler. Doch Raimund war kein Possendichter im Stile seines Genossen Nestroy, der frisch aus dem Wiener Leben seine burlesken Gestalten herausgriff und in lustigen Verwickelungen über die Bühne führte. Raimund’s Muse war der Humor, der die lachende Thräne im Wappen führte; in seinen Zauberpossen „Der Diamant des Geisterkönigs“, „Der Bauer als Millionär“, „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ sowie in seiner besten „Der Verschwender“ ist neben dem genrebildlich Heiteren, neben dem phantastisch Nebelhaften einer Bühnenromantik, welche Himmel und Erde mit allerlei sagenhaften Gestalten bevölkert, ein melancholischer Zug unverkennbar, ein düsteres Brüten über den Geheimnissen des Menschenlebens, eine sinnige Vertiefung, welche in dem schönen Hobellied einen unvergänglichen Ausdruck gefunden hat. Ein Dichter wie Raimund stand der eigentlichen Possenkomik, so glücklich er sie in einzelnen Scenen zu verwerthen wußte, doch fern genug, und man begreift es eher, wie er düsteren Anwandlungen verfallen konnte, welche viele schwermüthige Dichter zum Wahnsinn geführt oder ihnen die Pistole in die Hand gedrückt haben.

Eine merkwürdigere Erscheinung ist es, daß neuerdings Künstlerinnen, welche das Reich der leichtgeflügelten Operette, des gesungenen und gespielten Leichtsinns beherrschen, freiwillig den Tod gesucht haben. Schon in der vorigen Saison und neuerdings wiederum wurden aus der Reichshauptstadt derartige Fälle gemeldet: Vor allem aber kam die traurige Kunde, daß die erste Soubrette des Walhalla-Theaters, die anmuthige Ungarin Eugenie Erdösy, sich im Thiergarten erschossen habe; sie hatte sich die Schläfe verletzt und erlag bald darauf ihren Verwundungen. Um so überraschender kam diese Nachricht, als noch an demselben Tage mehrere Bekannte und Freunde die junge Dame gesprochen und nicht bemerkt hatten, daß ihre unverwüstliche gute Laune die geringste Einbuße erlitten. Fräulein Erdösy gehörte überdies zu den glücklichen und erfolgreichen Künstlerinnen; sie war bei Publikum und Kritik beliebt, eine gewinnende Bühnenerscheinung, und hatte sich durch ihre Kunst ein Vermögen erworben. Aus so glänzenden, von allen jungen Kunstnovizen beneideten Verhältnissen schied sie freiwillig; so konnte nur ein entscheidender Grund vermuthet werden: unglückliche Liebe. Und in der That hat diese Vermuthung sich bestätigt; darin stimmen alle Berichte überein, daß Enttäuschungen der Liebe sie zum Selbstmorde geführt haben: eine Verlobung mit einem jungen Aristokraten war rückgängig geworden, vermuthlich weil die Familie eine Verbindung mit einer leichtlebigen Soubrette nicht wünschte oder die Verleumdung ihr Vorleben anklagte. Gleichviel: es bleibt Stoff genug übrig zum Nachdenken über das Trauerspiel in der Operette, über eine ernste Liebesleidenschaft in dieser Welt des bunten Scheins, in welcher die Liebe ihre tollsten Maskeraden aufführt und dabei verspottet wird von Offenbach’s leichtfertigen Rhythmen und dem bacchantischen Taumel der Strauß’schen Walzer. Da flüchtet sich die Reigenführerin dieser oft zügellosen Tänze in die Schatten des einsamen Waldes und stirbt einer ihr ganzes Herz ausfüllenden Liebe nach. Die Lippen schließen sich, die manch keckes Wort sprechen mußten, von denen das Herz nichts wußte; denn die Priesterin am Altare der leichtgeschürzten Theatermusen war eine edle und reine Jungfrau. †      

Die Krönung der heiligen Elisabeth. (Mit Illustration S. 708 und 709.) Das Gemälde von Hermann Kaulbach besitzt alle Vorzüge des hochbegabten Malers. Der feierliche und ergreifende Akt, welchen unser Holzschnitt nach dem Bilde treu wiedergiebt, wurde vom deutschen Kaiser Friedrich II. an der Landgräfin von Thüringen, als sie nach erfolgter Heiligsprechung beigesetzt wurde, im Jahre 1236 in der Deutschordenskirche zu Marburg an der Lahn vorgenommen. Der Hohenstaufe hat nach Mittheilung eines Theilnehmers an dieser Kirchenfeier, des Cäsaro Heisterbach, bedauert, daß er die edle Frau nicht als Kaiserin krönen konnte: „er wolle sie deßhalb durch die Krone als eine ewige Königin im Reiche Gottes ehren“. Damit wurde auf eine Herzensbeziehung des Kaisers zu der tugendreichen Frau hingewiesen, wodurch der Krönungsakt einen menschlich anmuthenden Beweggrund gewinnt. Unstreitig die lieblichste Gestalt des Bildes ist der kleine Sohn der Landgräfin, Hermann, der seine Ergriffenheit beim Anblicke der todten Mutter kaum zu bemeistern vermag und mit Mühe den Ausbruch der Thränen zurückhält. Die ältere Tochter der heiligen Elisabeth, Sophie (später Herzogin von Brabant), ist offenbar durch die Heiligkeit ihrer Mutter gehoben und getröstet, während sich die jüngste Tochter der Landgräfin, Gertrud, nach Kinderart neugierig umsieht, da ihr die ernste Bedeutung der Kirchenscene unverständlich bleibt. Im Mittelgrunde des Domes fällt der Kanzler des deutschen Ordens, Hermann von Salza, auf, in dessen Kopfe sich eine stahlfeste Willenskraft ausprägt. Unweit vom Kanzler stützt sich auf einen Pilgerstab der Schwager Elisabeth’s, Konrad, welcher die an der Landgräfin verübten Gewaltthaten tiefgebeugt zu bereuen scheint.

Wie Kaulbach Kinder- und Frauenanmuth darzustellen versteht, beweisen die Gruppen der Sängerknaben und der Nonnen vom Orden des heiligen Franciscus, deren Klostergenossin vormals die Landgräfin Elisabeth gewesen war. Besonders ist die jüngste der Nonnen eine Himmelsbraut, die sich anmuthiger kaum denken läßt. Das durch Weihrauchwolken gedämpfte Sonnenlicht durchzittert den Dom und läßt nur die Umrisse der das Todtenamt celebrirenden Priester wahrnehmen. H. Kaulbach hat es auch in diesem Bilde verstanden, klar und geschmackvoll zu schildern, menschliches Mitempfinden wachzurufen und das Interesse durch charaktervolle und schöne Gestalten zu fesseln, sowie durch die feine Durcharbeitung der Formen auch beim kleinsten Nebenwerk ästhetisch zu befriedigen. Dieses Gemälde H. Kaulbach’s fand bei seiner Ausstellung in München und in Berlin günstigste Aufnahme und Beurtheilung. Dr. Adalbert Svoboda.     

Anekdoten von Franz Liszt. Der verstorbene große Musiker, dessen Bedeutung für das gesellschaftliche Leben unserer jüngsten Vergangenheit keineswegs durch die kritische Würdigung seiner künstlerischen Leistungen in erschöpfender Weise dargelegt werden kann, war nicht nur aus Herzensneiguug ein Anhänger der römischen Kirche, er war auch ein pikanter Abbé im Geiste des vorigen Jahrhunderts, ein Mann des Salons mit schlagendem Witze, von großer Gewandtheit und unerschütterlicher Geistesgegenwart. In der „Revue Internationale“, einer in Florenz erscheinenden Zeitschrift, veröffentlicht Janka Wohl Erinnerungen an Liszt, welche manchen werthvollen und pikanten Beitrag zu einem Charaktergemälde des Meisters und vor Allem manche interessante Probe seiner geistigen Schlagfertigkeit geben. Als ein so feiner Hofmann und Diplomat sich Liszt in den höchsten Kreisen bewegte: so wenig ließ er sich’s gefallen, wenn das Recht des Künstlers in ihm verletzt wurde. Während einer Soirée am Petersburger Hofe, wo er sehr gern gesehen war, begab es sich, daß sich der Kaiser Nikolaus, der sich wenig aus Musik machte, mit einer Dame zu unterhalten anfing und, um den musikalischen Vortrag von Liszt sich weiter nicht kümmernd, ganz laut sprach. Plötzlich stand Liszt auf und verließ das Piano. Der Zar, darüber befremdet, wandte sich an den Meister und fragte ihn: „Warum haben Sie Ihr Spiel unterbrochen?“ Der Künstler erwiderte: „Wenn der Kaiser spricht, muß man schweigen.“

Die Fürstin Metternich, die Gattin des berühmten Premierministers, war eine eifrige Gegnerin von Liszt, den sie nie für sich hatte gewinnen können. Einmal fragte sie ihn zu Wien in ihrem Salon, vor allen Gästen: „Machen Sie gute Geschäfte, Doktor?“ „Nur die Banquiers und die Diplomaten machen gute Geschäfte, Durchlaucht,“ erwiderte er.

Mit Recht sagt die Verfasserin dieser Erinnerungen, daß Liszt einer der gemischtesten Charaktere gewesen, daß er eben so viel vom Dämon wie vom Engel gehabt. Keiner von den berühmten Größen der Gegenwart [723] würde einer Anekdotensammlung so reichen Stoff bieten: alle seine geflügelten Worte einzufangen, dürfte unmöglich sein; denn an glücklichen Abenden, wie sie am Hofe von Weimar den Anwesenden in bester Erinnerung sein werden, jagte bei ihm, um die Wendung einer Posse zu gebrauchen, ein Witz den andern, und kein Abbé der Rokokozeit konnte sich an funkelndem Esprit und unerschöpflichen Einfällen mit diesem oft so tiefsinnig ernsten Meister der Töne messen. †      

Die Kaisermanöver im Elsaß im September d. J. und der Aufenthalt des Kaisers im „wunderschönen Straßburg“ haben den gewiß ebenso erhebenden wie überzeugenden Beweis geliefert, daß es schon jetzt in erfreulichster Weise gelungen ist, bei dem Kerne der Bevölkerung die Liebe zum deutschen Volke und deutschen Kaiserhause wieder wach zu rufen. Straßburg hatte ein ungewöhnlich reiches, glänzend festliches Gewand angelegt, und mit den Einwohnern der alten würdigen Stadt zugleich brachten zahlreiche Landgemeinden der Kreise Straßburg, Erstein und Weißenburg dem greisen Kaiser ihre Huldigungen dar. Nicht weniger als vierzig Gemeinden waren am 14. September durch Reitertrupps und reich geschmückte Wagen bei der Huldigung vertreten. Die Burschen schwenkten jubelnd ihre Hüte; die Mädchen, welche in den Wagen Platz genommen hatten, erhoben sich von ihren Sitzen, wehten mit Tüchern und warfen dem Kaiser ihre Blumen zu. Alle Burschen und Mädchen waren in ihrem besten Sonntagsstaat, und die Nebeneinanderstellung der verschiedenen Volkstrachten bot ein ungemein abwechselungsreiches, malerisches Bild, in welches die nach den Hauptnahrungsquellen der Gemeinden mit Weintrauben, Obst und Kornähren, mit Hopfenbüscheln, Flachsbündeln und Tabaksblättern, mit Fischergeräthen und Bienenkörben phantastisch geschmückten Wagen vortrefflich paßten. Eine dieser anziehenden Scenen aus dem festlichen Zuge hat unser Künstler im Bilde festgehalten. **      

Elsässische Landleute vor dem Kaiserpaar in Straßburg.
Nach einer Originalzeichnung von H. Lüders.

Das Justinus Kerner-Jubiläum, auf dessen Bedeutung wir schon hingewiesen, ist am 18. September in Weinsberg gefeiert worden. Böllerschüsse vor der Burg Weibertreue und ein Morgenkoncert auf dem Weinsberger Markte eröffneten die Feier. Ein Zug von Bürgern begab sich dann auf den Friedhof, wo der Dichter seit 1862 ruht. Oberpräceptor Bokel aus Heilbronn hielt hier die Festrede; dann legten Mädchen Blumen auf das Grab. Um elf Uhr setzte sich der große Festzug, Kinder im Winzerkostüm, Festjungfrauen, Vereine, Deputationen, Gäste in Bewegung; auf den Ehrenpforten und Tribünen prangten Festsprüche aus Kerner’s Gedichten, wie die schönen Verse zum Preis der Frauen:

„Preis jeder Stunde – wo gegeben
Gott dieser Welt ein lieblich Kind
Zu lichtem warmen Freudenleben,
Und wenn es noch so viele sind.“

Dann begrüßte der Sohn von Justinus, Theobald Kerner, die Versammlung. Die Hauptrede, ein umfassendes, liebevoll entworfenes Bild von Kerner’s Eigenart und dichterischer Bedeutung, hielt Hönes, der Helfer von Weinsberg; beim Festmahl brachte J. G. Fischer aus Stuttgart, der beste der jetzt lebenden schwäbischen Dichter, ein Hoch auf den „zum Lied gewordenen und in vielen Liedern gefeierten Dichter“. So verlief die Feier in sinniger und gemüthvoller Weise; das Schwabenland gab seinem wackeren Dichter die verdienten Ehren. †      

Die ehemaligen Fischstände auf dem Spittelmarkt in Berlin. (Mit Illustration S. 717.) Ein gleiches Schicksal, wie den Blumenmarkt am Dönhofsplatz und andere Märkte, hat den Fischmarkt auf dem Spittelmarkt ereilt; auch dieser ist in die Markthallen gewandert.

Unser Bild zeigt uns die alte Zeit, wo auf dem Spittelmarkt, im Herzen der Stadt und in unmittelbarer Nähe des Dönhofsplatzes, ein überaus reges Treiben herrschte. An denselben Tagen, an denen der Wochenmarkt auf letzterem Platze abgehalten wurde, also Mittwoch und Sonnabend, wurden hier Fische von allen Gattungen und von der verschiedensten Größe, wie sie nur die nahe Spree beherbergt, aber auch Seefische und Krebse feilgcboten. In riesigen, mit Wasser angefüllten Kübeln und Fässern, hinter denen die behäbigen Fischverkäuferinnen in ihren großen, runden Hüten hockten, tummelten sich die unruhigen Thiere im bunten Durcheinander, und darüber war ein weites, leinenes Schutzdach gegen Sonne und Unwetter, meist in Form eines Riesenschirmes, ausgespannt. Auch todte Fische, auf Kasten und in Körben ausgebreitet, wurden gehandelt.

Wenn die Käuferinnen ihre Wahl getroffen, fuhr das unerbittliche Netz zwischen die ängstlich aufgescheuchten und aufplätschernden Thiere, bis der richtige, in dem Fänger zappelnd, herausgehoben und der Käuferin in ihr Handnetz hineingeschoben wurde.

Natürlich fehlte es hierbei auch an komischen Scenen nicht, namentlich, wenn die Straßenjugend auf einen dem Netz wieder entkommenen und in langen, schnellen Windungen über den Platz sich dahinringelnden Aal eine Hetzjagd anstellte.

Die drallen Fischfrauen sorgten aber auch während der Geschäftszeit für ihren eigenen leiblichen Bedarf, wie das auf unserem Bilde bei der im Vordergrunde Placirten ersichtlich. Während der Hitze mußte die „große Berliner Weiße“ die sonst unvermeidliche Kaffeekanne ersetzen; bisweilen fehlte auch die Schnapsflasche nicht.

Ursprünglich befand sich dieser Fischverkauf auf dem Köllnischen Fischmarkt an der Breiten-Straße, der davon auch den Namen hat. Seitdem aber der Verkehr in dortiger Gegend ein so bedeutender geworden, wurde der Markt nach dem Spittelmarkt verlegt.

Nun ist er auch dort verschwunden, und die Fischhändlerinnen sind, gleich den übrigen Markthökerinnen, „Damen der Halle“ geworden. zr|H. H.     

Journalistische Bravourstücke. Die Amerikaner und Engländer stehen in dem Rufe, die schnellsten, erfindungsreichsten und tüchtigsten Journalisten zu sein, die vor keiner Schwierigkeit zurückscheuen, um ihren Lesern etwas Neues und Originelles zu bieten. So hat ein Mitarbeiter der in London in sehr großer Auflage erscheinenden Zeitung „Tit-Bits“ (Leckerbissen), um seinen Lesern einmal den Zustand, in welchen Morphiumeinspritzungen versetzen, wahrheitsgetreu zu schildern, sich ohne persönlichen Hang dieser verderblichen Leidenschaft ergeben. Was vorauszusehen war, traf ein: der junge Mann konnte sich von dieser Gewohnheit nicht mehr befreien; er verfiel der Morphiumsucht. Umsonst bemühten sich seine Angehörigen, ihn zum Eintritt in eine Heilanstalt zu bewegen, in welcher die Unglücklichen von ihrem Laster entwöhnt werden; erst als der Chefredakteur dem jungen Mitarbeiter nahelegte, eine wahrheitsgetreue Schilderung der „Sehnsuchtsqualen eines in der Anstalt befindlichen Morphiumsüchtigen“ zu schreiben, begab sich der pflichtgetreue Journalist ohne Zaudern in die Pflege; er war gerettet.

Der Chef dieser Zeitung, die unter Anderem durch ihre Preisausschreibungen: „Das Interessanteste aus dem Leben eines Londoner Schutzmann“ u. dergl., Aufsehen erregte, ist überhaupt ein schlauer Kopf. Er ist auch der Erfinder der Einrichtung, daß jede Person, welche auf der Reise oder auf der Straße verunglückt, angefallen oder beraubt wird, eine ziemlich beträchtliche Geldentschädigung erhält, wenn sie nachweisen kann, daß sie zur Zeit des Unfalls die neueste Nummer der „Tit-Bits“ in der Tasche hatte. Die Zeitung enthält das Verzeichniß derjenigen, denen diese einfache Lebens- und Unfallversicherung bereits zu Gute gekommen ist.

Von einem großen amerikanischen Blatt erzählt man, es habe einen Specialreporter angestellt, der den Präsidenten Lincoln überallhin zu begleiten und niemals zu verlassen hatte, um dessen „letzte Worte“ im „Interesse des Leserkreises“ wahrheitsgetreu berichten zu können: eine Absicht, die, wenn sie wirklich bestanden hätte und nicht bloß als originelle Reklame, dennoch vereitelt worden wäre, da der große amerikanische Staatsmann bekanntlich im Theater erschossen wurde und nicht Zeit hatte, eine „letzte Aeußerung“ zu thun.

Ein anderer amerikanischer Journalist ließ sich sogar mit einem zur Hinrichtung vorbereiteten Delinquenten während der letzten Nacht [724] einschließen, um eine interessante Schilderung liefern zu können, und wahrscheinlich würde der starknervige Reporter auch am nächsten, entscheidenden Morgen sich eine Verwechselung, wenn eine solche möglich gewesen wäre, bis zu einem gewissen Augenblicke haben gefallen lassen, um den Lesern auch mittheilen zu können, welche Gedanken Einen auf dem Wege zum Galgen überkommen.

Eine jenseit des Oceans erscheinende Zeitung enthielt vor einiger Zeit die schauerliche Beschreibung einer nächtlichen Eisenbahnfahrt durch den Schneesturm mit amerikanischer Eilzuggeschwindigkeit. Der Erzähler stand auf der Plattform der Maschine, an der Seite eines Lokomotivführers, bei dem eben ein Anfall des Säuferwahnsinns zum Ausbruche gekommen war. Und wie kam der Erzähler zu dieser haarsträubenden Fahrt? Das Weib des wahnsinnigen Maschinisten war in ihrer rathlosen Verzweiflung auf die Redaktion geeilt, in der er journalistischen Nachtdienst verrichtete, und beschwor ihn, das drohende Unheil abzuwenden – nachdem sie die Anzeichen des Wahnsinns bei ihrem unglücklichen Manne bemerkt hatte. Er aber benutzte die Gelegenheit und suchte das Abenteuer auf.

Auch von französischen Journalisten wird Aehnliches erzählt. In Paris ist neulich im Elend ein Journalist gestorben, der wiederholt die Höhlen des Lasters, der Noth und Armuth aufgesucht hat, auch im Asyl der Obdachlosen ein paar Mal übernachtete, um diesen trübseligen Ort zu studiren. Als er wenige Wochen vor seinem Tode wieder an die Pforte klopfte – diesmal, weil er wirklich kein Nachtlager mehr besaß – wies man ihn respektvoll und höflich ab: für einen „Neugierigen“ war an diesem Abend kein Platz.

Daß Journalisten zu Verkleidungen ihre Zuflucht nehmen, ist nichts Neues. Erst vor wenigen Jahren hat ein bekannter Pariser Feuilletonist sich während der Vorbereitungen zu einer großen Bilderausstellung mit der Mütze und in dem Kittel eines Arbeiters in den Industriepalast Eintritt verschafft und beim Bildertransport Hand angelegt, nur um der Erste zu sein, der über die Ausstellung schreiben konnte. – Um einen pikanten Artikel „Die Schönheiten zu Hause“ liefern zu können, gerieth endlich ein Franzose auf den Einfall, in der Verkleidung eines Schlächtergesellen am Morgen die Runde zu machen und die schönsten Pariserinnen im Negligé zu – studiren. P. v. Schönthan.     

Der Bauernphilosoph von Goisern. Als die „Gartenlaube“ in Nr. 45 des Jahrgangs 1872 mit einem Nachruf für Ludwig Feuerbach einen Rückblick auf sein Leben verband, wurde darin zum ersten Mal ein österreichischer Landmann, Konrad Deubler, genannt, als der treue Freund Feuerbach’s und seiner Familie bezeichnet und zugleich als ein Beispiel aufgestellt, welch kerngesunde, nach höherer Wahrheit sich sehnende und ringende Menschen Oesterreich in sich berge, und welcher Opfer für die Wahrheit solche Menschen fähig seien. Deubler entstammte einer jener lutherischen Familien, welche bei der Austreibung der Salzburger Protestanten, 1732, heimlich im Lande zurückgeblieben waren. Es war offenbar angeborener Forschungs- und Wissensdrang, der schon den Jüngling erfüllte und ihm den Muth gab, nachdem er „Die Stunden der Andacht“ und „Der Mensch im Spiegel der Natur“ gelesen hatte, mit Zschokke und Roßmäßler einen Briefwechsel anzuknüpfen, und der ihn immer mehr zu Naturforschern und Philosophen hintrieb, je weiter sein Geist sich entwickelt hatte. Seine Bücher- und Briefsammlung, zu deren Beschaffung er Mittel und Muße durch harte Arbeit als Müller, dann als Bäcker, Wirth und Fremdenführer sich erwarb, war sein Glück und Stolz, wäre aber fast sein Unglück geworden. Der charakterlose Witzling Saphir sah dieselbe, schlug Lärm über den merkwürdigen Fund von solchen Schriften in einem Bauernhaus und verursachte dadurch in der schlimmsten Konkordatszeit Oesterreichs eine Verfolgung, die dem zum Verbrecher gegen Staat und Religion gestempelten Mann die Leiden vierjähriger Untersuchungs- und schwerer Zuchthaushaft zuzog. Ungebrochenen Geistes kehrte Deubler an seinen Herd zurück und erlebte die Genugthuung, daß die Gemeinde von Goisern ihn zu ihrem Bürgermeister und zum Präsidenten des Ortsschulrathes erwählte. Im Jahre 1864 erwarb er ein Alpenhaus auf dem Primesberg bei Goisern, das im Jahrgang 1875, S. 401 der „Gartenlaube“ abgebildet ist, in welchem 1867 Feuerbach sich frische Gesundheit holte, das seitdem eine Wallfahrtsstätte vieler kühn und fröhlich strebender Geister geworden ist und nun die neugesammelten Bücher-, Brief- und Kunstschätze enthält, welche Deubler’s Seelennahrung waren bis zu seinem Tod, am 31. März 1884.

Der reiche Briefschatz und die Selbstgeständnisse Deubler’s in seinem Tagebuche verdienten, der Vergessenheit entrissen zu werden. Das ist jetzt geschehen, indem sie einem Buche des Professors Dodel-Port in Zürich: „Konrad Deubler’s Lebens- und Entwickelungsgang und handschriftlicher Nachlaß, mit Deubler’s Bildniß“ (Leipzig, B. Elischer) einverleibt sind. Unter den Briefen verräth einer von Ernst Keil, daß unser Bauernphilosoph auch ein stiller Mitarbeiter der „Gartenlaube“ gewesen ist. Fr. Hfm.     

Eisenbahn-Fundgegenstände. Mit dem 1. Oktober d. J. wird auf sämmtlichen preußischen Staatsbahnen hinsichtlich der im Eisenbahnbereiche zurückgelassenen, bez. wieder aufgefundenen Gegenstände eine einheitliche Neuerung eingeführt.

Am Sitze jeder Direktion, also in Berlin, Bromberg, Breslau, Magdeburg, Altona, Hannover, Erfurt, Frankfurt am Main und Köln wird ein Fundbureau errichtet, welchem alle aufgefundenen Gegenstände zugesandt, bez. gemeldet werden.

Auf allen Stationen findet der Reisende Formulare für Verlustanzeigen, welche dem Fundbureau sofort nach ihrer Ausfüllung zugesandt werden. Dasselbe wird die erforderlichen Nachforschungen anstellen und Alles thun, um dem Verlierer zur Wiedererlangung seines Eigenthums zu verhelfen. Für eine verlangte telegraphische Nachforschung werden 50 Pfennig erhoben. Dieselbe feste Gebühr wird für die Wiederzusendung aufgefundener Sachen berechnet.

In Berlin wird eine Centralfundstelle eingerichtet, welcher monatlich von allen Fundbureaus die unerledigt gebliebenen Verlustanzeigen und die nicht abgeforderten Fundstücke gemeldet werden und welche darauf das Nöthige veranlaßt, um den Verlierern wieder zu ihrem Eigenthume zu verhelfen. Möchten diese eben so einfachen wie wirksamen Vorschriften im Interesse des reisenden Publikums bald gleichmäßig auf allen deutschen Bahnen eingeführt werden, damit sich die z. Z. leider immer noch sehr häufigen Fälle verringern, daß zurückgelassene Gegenstände nicht wiedererlangt werden können. G. F.     

Ein deutsches Fest in Paraguay. Auch in dieser südamerikanischen Republik hat das Deutschthum Wurzel geschlagen und darf frisch und fröhlich seine Fahnen entfalten. Im Juli feierte der deutsche Krankenunterstützungsverein in Assuncion ein Fest, indem er seine prachtvolle goldgestickte deutsche Fahne, in Gegenwart des deutschen außerordentlichen Gesandten und des Vicekonsuls, einweihte. Ein Hoch auf Kaiser Wilhelm wurde ausgebracht, und das Musikcorps des 1. Linienbataillons spielte ausgewählte passende Stücke von Anfang bis zu Ende des Festes. Es ist erfreulich, daß bei dieser Gelegenheit das officielle Blatt der Republik Paraguay „El Orden“ es anerkannte, wie die Söhne des starken und verständigen Deutschlands, indem sie sich mit den nationalen Elementen vermischen, in hervorragender Weise den Fortschritt und Wohlstand des Landes fördern. †      

Skataufgabe Nr. 6.[3]
Von K. Buhle.

Obwohl nach folgenden ersten 4 Stichen:

der Spieler alle übrigen Stiche hereinbekommt und überdies 13 Augen im Skat findet, so hat er doch das Spiel bei fehlerfreier Spielführung verloren.

Welcher von den Dreien war der Spieler und welches Spiel hat er angesagt? Wie waren die übrigen Karten vertheilt?


  1. Süditalienisches Fruchtmaß – etwa zwei Scheffel.
  2. Die Wirthschaftsleitung liegt in den Händen der Schwestern des Kuraten. Uebrigens ist es bekanntlich keine Seltenheit, daß an entlegenen Gebirgsorten, wo sich sonst kein Gasthaus befindet, die Verpflegung und Beherbergung der Fremden von den Geistlichen in ebenso freundlicher wie uneigennütziger Weise übernommen wird.
  3. Diese Aufgabe cirkulirte bei dem 1. deutschen Skat-Kongreß als Preis-Aufgabe


Auflösung der Skataufgabe Nr. 5 auf Seite 644.

Wenn Mittelhand mit folgender Karte:

gD, gZ, gK, g9, rD, r9, r8, sD, s9, s8

das Spiel auf Grünfrage behalten und r7, s7 im Skat gefunden hat, so wird sie am besten nicht Grün- sondern Eichelfrage ansagen, weil die letztere, obwohl kein einziger Trumpf vorhanden, höchst wahrscheinlich gewonnen wird, während erstere sehr leicht verloren gehen kann. Der Umstand nämlich, daß beide Mitspieler auf Grünfrage gepaßt haben, läßt im Zusammenhalt mit obiger Karte darauf schließen, daß in Eicheln die Trümpfe zu 5 und 6 vertheilt sind, und weder rZ noch sZ blank, sondern je einmal besetzt ist, weil sonst die Mitspieler kaum gepaßt hätten. Ist dies aber der Fall, so können die fehlenden drei Grün nicht in einer Hand sitzen, so daß gK einen Stich machen muß, was bei Grünfrage nicht anzunehmen war. Sind nun aber die Karten so vertheilt:

Vorhand: gW, sW, eZ, eO, e8, e7, g8, rZ, [r]O, sK,
Hinterhand: eW, rW, eD, eK, e9, gO, g7, rK, sZ, sO

so wird, nachdem der Spieler gD, gZ (+ 21) gedrückt hat, sich dieses Spiel:

1. sK, sD, sO (+ 18) 2. rD, rK, rO (+ 18) 3. gK, g7, g8 (+ 4)

ergeben, denn diese drei Stiche muß der Spieler machen, [e]s mag die Vorhand ausspielen was sie will. – Eichelfrage ohne 11 Matadore ist aber auch wohl das einzige Spiel, das bei der gegebenen Sitzung sicher gewonnen wird. Hätte Vorhand oder Hinterhand Eichelfrage gespielt, so würden sie höchst wahrscheinlich sogar mit Schneider verloren haben. Ebenso wäre Tourné, Solo, Grand und Null von jedem der Mitspieler verloren worden.


Kleiner Briefkasten.

A. W. St. Ein Bildniß von Justinus Kerner im Kreise seiner Familie und Freunde (Lenau, G. Schwab, Alexander von Württemberg, Karl Mayer, Ludwig Uhland, Varnhagen von Ense) hat die „Gartenlaube“ mit einem längeren Artikel „Die Sängerrunde am Weinsberger Thurm“ schon im Jahre 1866 S. 4 gebracht.

A. K. in R. Auf die Frage über die Bedeutung der Endung -roda in Ortsnamen, wie Friedrichroda etc. giebt Ihnen schon der alte biedere Joh. Leonh. Frisch in seinem „Teutsch-Lateinischen Wörterbuch“ (Berlin 1741) Bd. II S. 112c–115a ausführliche Auskunft.

„Von reuten oder roden sind die Namen vieler Teutscher Oerter hergenommen, nämlich von reut oder roda mit ihren Derivatis und Compositis. Nachdem sich die Teutschen, als das römische Reich an sie gelangte, in einigen noch übrigen waldigen Gegenden, sonderlich gegen die Grenze, wo sie sonst Vieles unbebaut gelassen, ausgebreitet, haben sie von dem geschehenen Ausreuten und Roden mit Vorsetzung anderer Umstände vielen Oertern den Namen gegeben. Unter Anderen ist dieses absonderlich in dem heutigen Frankenland, in dem Burggrafthum Nürnberg geschehen, vom anspachischen Fürstenthum an bis zu Ende des Bayreutischen, d. i. in den 2 Theilen desselben, unterhalb und oberhalb des Gebirgs, allwo die Endung reut häufig geblieben. In Niedersachsen ist die Endung roda an vielen Namen der Städte, Dörfer und bewohnten Plätze bekannt … Roda oder reut ist in Thüringen und in Niedersachsen gebräuchlich.“


Inhalt: Ueber den Gartenzaun. Erzählung von A. Weber. S. 705. – „Morgen muß ich fort von hier!“ Illustration. S. 705. – Aus den Zeiten des „Brigantaggio“. Von Isolde Kurz. I. S. 710. – Römerin. Illustration. S. 713. – Erholungsreisende und Bergfexe. S. 714. – Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 716. – Die Fortschritte der Luftschiffskunst. S. 720. Mit Abbildung. S. 721. – Blätter und Blüthen: Die heitere Muse und der Selbstmord. S. 722. – Sie Krönung der heiligen Elisabeth. S. 722. Von Dr. Adalbert Svoboda. Mit Illustration S. 708 und 709. – Anecdoten von Franz Liszt. S. 722. – Die Kaisermanöver im Elsaß im September d. J. Mit Illustration. S. 723. – Das Justinus Kerner-Jubiläum. S. 723. – Die ehemaligen Fischstände auf dem Spittelmarkt in Berlin. S. 723. Mit Illustration S. 717. – Journalistische Bravourstücke. Von P. v. Schönthan. S. 723. – Der Bauernphilosoph von Goisern. S. 724. – Eisenbahn-Fundgegenstände. S. 724. – Ein deutsche Fest in Paraguay. S. 724. – Skataufgabe Nr. 6. Von K. Buhle. S. 724. – Auflösung der Skataufgabe Nr. 5. auf Seite 644. S. 724. – Kleiner Briefkasten. S. 724.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.