Die Gartenlaube (1884)/Heft 32
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No. 32. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Raban wurde von Frau von Eibenheim in Beschlag genommen, die ihn über die Vorbereitungen zu einem Bazar zu Gunsten einer durch Ueberschwemmungen ruinirten Gemeinde unterhielt, bei welchem die Damen der Gesellschaft als Verkäuferinnen der Gegenstände thätig sein sollten. Die Damen freuten sich sämmtlich außerordentlich auf dies Fest; Frau von Eibenheim hatte mit ihrer Tochter Resi eben weitläufig die Frage um Leni's Costüm erörtert. Raban fragte ironisch, ob nicht ein „fescher“ Ball das Ganze beschließen werde?
„Würden Sie das wünschen?“ entgegnete Resi Lorbach.
„Ich? wünschen? Ganz sicherlich nicht! Aus dem Boden, den eben ein tückisches Element armen Leuten auf Jahre hinaus für ihre Frucht verdorben hat, sich einen Tanzboden machen, finde ich nicht geschmackvoll, Gnädigste. Und solch eine große Landescalamität benutzen, um ein großes Kokettirfest, ein allgemeines Bundesschießen von bestrickenden Blicken zum Anlocken der Käufer auf dem Bazar zu veranstalten – auch das, wenn Sie mir es nicht übel nehmen, scheint mir nicht ganz tactvoll!“
„Aber ich bitte Sie, welche Ketzereien! – Man veranstaltet doch überall in der Welt bei solchen Anlässen derartige Festlichkeiten, um den Leuten Gelegenheit zu geben, für Verunglückte etwas zu thun,“ meinte Frau von Eibenheim.
„Freilich, freilich, überall in der Welt ist der Egoismus sehr stark und scheut sich nicht, das Unglück selbst zu seinem Vergnügen auszubeuten – oder zu seinen Zwecken! Diese Wohlthätigkeitsfeste, Concerte, Aufführungen, Bazare, Albums sind doch wohl ein Beweis, wie gering der unmittelbare Wohlthätigkeitsdrang, der dem Unglücklichen ohne besondere Reizmittel zu helfen eifert, unter uns ist, und wie groß die Zahl der Menschen, welche sich in die Oeffentlichkeit zu bringen wünschen ...“
„Sich in die Oeffentlichkeit bringen? Sie glauben also, nur das sei es, was ...“
„Ich bin verwegen genug, es zu glauben – von all diesen Wohlthätigkeitsmusikern, Wohlthätigkeitssängerinnen und Wohlthätigkeitsdichtern, die sich dem Landesunglücke noch als eine weitere Plage auferlegen ...“
„Hören Sie einmal“. unterbrach ihn Gräfin Lorbach, indem sie den in ihre Nähe kommenden Graf Kostitz anrief, „welche griesgrämische Erörterungen hier Herr von Mureck anstellt ...“
„Den Zeiger der Weltenuhr vorwärts stellen,“ entgegnete Graf Kostitz wie aus tiefen Gedanken auffahrend – „das wäre so etwas! Was denken Sie, Gnädigste? Oder sagte man besser: ‚Den Zeiger voran rücken?‘“
Raban entzog sich dem nun beginnenden Geplauder und bald dem ganzen Kreise, indem er still verschwand – er hatte ein drückendes Gefühl des Fremdseins hier, wie er es so stark nie empfunden, und es drängte ihn fort – fort in sein einsames Zimmer, wo er sich vornahm, noch einmal den Brief seines Vaters zu lesen.
Am Tage darauf gegen Abend schlug er den Weg nach der Wohnung der Stiftsdame ein. Er wurde in einen sehr dämmrigen, in den Hof eines großen neuen Gebäudes gehenden Salon geführt – es herrscht eine eigenthümliche Lichtlosigkeit in so vielen Neubauten der großen Stadt – und nach einigem Harren betrat er das schon durch eine Lampe erhellte Wohngemach der alten Dame. Marie kam ihm entgegen und stellte ihn der Tante vor – es war eine große hagere Dame mit einem langen, sehr blassen Gesichte. Sie grüßte Raban mit mattem freundlichen Lächeln, bot ihm die Hand zum Kusse und entschuldigte sich, daß sie ihn in ihrer ruhenden Lage auf dem Sopha empfange, da ihr jede Bewegung Nervenschmerzen mache. Er mußte sich in einem Fauteuil am Kopfende ihres Ruhebettes niedersetzen, während Marie eine Stickerei, welche sie hingeworfen, wieder aufnahm.
„Ich habe,“ sagte das alte Fräulein, „Ihren Vater sehr wohl gekannt. Als junges Mädchen war ich sehr oft bei meiner Schwester auf Arholt, und von dort kamen wir nicht selten zu Besuche nach Mureck. Es ist ein sehr hübscher Ort, Mureck, das Herrenhaus liegt schön und frei und ist so behaglich eingerichtet ...“
„Es ist doch lange nicht so imposant wie das stattliche Arholt mit seinen mächtigen Thürmen,“ sagte Raban.
„Mit seinen Thürmen, ja,“ fuhr das Fräulein mit ihrer leisen gedämpften Stimme fort – „in denen ich so oft herumgeklettert bin, auf die Gefahr hin, auf den ausgebrochenen morschen Stiegen den Hals zu brechen. Man ist so verwegen und kopflos, wenn man jung ist. Aber solch eine feudale Herrlichkeit, wie Arholt, ist recht gründlich unbequem, wenn man darin wohnen muß. Welche Mühe meine Schwester hatte, sich darin leidlich einzurichten, Sie glauben es nicht! Mein Schwager, ihr Gatte, hatte gar keinen Sinn dafür – aber Ihr Vater, Herr von Mureck, ging ihr mit manchem guten Rath zur Hand. O, ich erinnere mich Ihres Vaters so gut! Er war ein Original, ein wahres Original; er ging meist ganz in Leder, in Hirschleder gekleidet, [522] in ledernem Wamms, Weste und Beinkleidern, mit Stiefeln à la Caspar Larifari – dem Knappen aus dem Donauweibchen, muß ich wohl hinzusetzen, denn wer kennt heute noch das Donauweibchen? Man behauptete auch, er habe sich in seinem vollen Leder trauen lassen, was aber gewiß nur ein schlechter Scherz war . . .“
„Aber,“ unterbrach hier Raban das Stiftsfräulein, das sich offenbar mit Befriedigung in diese Jugenderinnerungen vertiefte – „mein Vater in so befremdlichem Costüme? Ich kann meiner Phantasie durchaus nicht abgewinnen, ihn mir so – ledern vorzustellen . . . wirklich nicht!“
„Es ist aber so, wie ich Ihnen sage,“ fiel lebhafter das alte Fräulein ein – „ich sehe ihn ja noch vor mir mit dem großen rothen Flecke unter der linken Schläfe . . .“
„Ach,“ rief Raban aus, „das war mein Großvater – den ich gar nicht mehr gekannt habe . . .“
„Ihr Großvater war es? Nun ja, nun ja, Sie haben Recht, Ihr Großvater wird es gewesen sein – mein Gott, wenn man so alt wird! – man denkt immer nicht daran, daß die Menschen, die Dinge, die Welt in ewiger Strömung bleiben, während man selber stehen geblieben und etwas wie ein Fossil geworden ist. – Also Ihr Großvater war es – ein Original war er aber doch – und sonst ein ganz praktischer Mann. Er war es, der meiner Schwester rieth, die alte Wendelstiege in Arholt ganz abtragen und dafür ein geräumiges helles Stiegenhaus herstellen zu lassen – es war damals, weißt Du, Marie,“ wandte sich das Stiftsfräulein an ihre Nichte, „als man im Mauerwerke bei den Arbeiten die kleine eiserne Kiste mit allerlei alten Münzen fand . . .“
„Ich weiß, liebe Tante,“ sagte Marie, sich tiefer auf ihre Arbeit bückend.
„Man fand alte Münzen,“ fiel Raban, jetzt wieder des Silbermann’schen Kummers gedenkend, ein – „die später hierher in das kaiserliche Cabinet kamen?“
„Hierher?“ sagte das Stiftsfräulein. „Das weiß ich nicht. Aber es ist sehr möglich. Weißt Du es, Marie? besitzest Du nicht selbst solche Münzen; hast Du mir sie nicht gezeigt – vor längerer Zeit?“
„In der That, liebe Tante, habe ich Dir einige davon einmal gezeigt. Ein halbes Dutzend der größten und werthvollsten hat die Mutter schon vor vielen Jahren, wie sie mir erzählte, an einen Herrn verkauft, der auf alte Kunstsachen fahnden ging und der einen großen Werth darauf legte, sie zu bekommen. Einige wenige davon hat die Mutter aber für sich behalten und nachher mir geschenkt. Ob die anderen hierher nach Wien in ein Cabinet gekommen, davon weiß ich nichts zu sagen. Ich hörte nie davon.“
Marie hatte rasch und mit jener Tonlosigkeit gesprochen, womit man Dinge, die uns nicht interessiren oder über die man rasch hinweggleiten möchte, erledigt. Sie hatte dabei sich tiefer über ihre Arbeit gebückt. Und so ließ man das Gespräch über die Münzen, das Raban ja nicht ergänzen durfte, fallen.
Die Stiftsdame fragte Raban, wie ihm das Klima Wiens gefalle, ob er sich wohl darin fühle, ob er von dem kalkigen Staube nicht leide, und dann fuhr sie fort, wie sie es anfangs gefürchtet, wie sie aber finde, daß es besser als sein Ruf sei. Die alte Dame war dabei auf etwas, das eine Lebensfrage für sie schien, gerathen, denn sie sprach viel darüber und klagte am Ende über ihre Nichte, die mit soviel jugendlicher Unbekümmertheit bei jedem Wetter ausgehe und so gar keine Scheu habe, überall hinzugehen in der großen Stadt, während in vielen Häusern doch sicherlich ansteckende Krankheiten herrschten, und ein junges Mädchen doch nie davor sicher sei, auf unangenehme Begegnungen zu stoßen . . .
„Ich gehe doch nie in ein mir noch unbekanntes Haus, ohne die Anna bei mir zu haben, liebe Tante,“ gab Marie zur Antwort.
„Als ob die Anna ein Schutz wäre!“ fiel die Großtante ein.
„Gegen ansteckende Krankheiten freilich nicht,“ entgegnete Marie lächelnd – „da schützt mich am besten meine Furchtlosigkeit; ich denke nicht an mich, nicht daran, daß mir etwas zustoßen könne.“
„Leider,“ seufzte die Tante, „bis es zu spät und Dir etwas angeflogen ist! Aber Du hast einmal Deinen Beruf verfehlt, Du bist einmal eine geborene ‚barmherzige Schwester‘ . . . Es ist schrecklich mit meiner Nichte, Herr von Mureck, sie hat eine wahre Manie, sich mit allerlei armem Volke einzulassen, von dem sie ausgeplündert, ausgebeutet wird – ich bin überzeugt, sie ist unter diesen Menschen schon überall bekannt. Einer weist sie dem Andern zu, und so vermehrt sich diese schreckliche Kundschaft, die sie sich gemacht hat, und die Last mit jedem Tage ... in die höchsten Stockwerke, in die Dachkammern klettert sie empor, um da, weiß Gott, in welche Scenen und Dinge zu blicken, die doch, das werden Sie mir zugeben, Herr von Mureck, nichts für die Augen eines jungen Mädchens sind . . .“
„Ich fürchte,“ fiel Marie von Tholenstein ein, „Herr von Mireck, liebe Tante, wird Dir nichts zugeben. Er begreift es, daß man, von Nothleidenden angegangen, mehr thun möchte, als sich durch einige Kreuzer mit ihnen abfinden. Wenn ein alter, durch die Arbeit oder im Kriege invalid gewordener Mann uns seine Klagen vorbringt, so thut man ihm doch mehr wohl, wenn man geduldig seine Geschichte anhört, mit Theilnahme auf seine Lage eingeht und mit ihm darüber spricht, als durch die geringe Gabe, die man ihm hinterlassen kann. Und armen verlassenen Kranken hilft man gar nicht durch ein Almosen, das im Augenblicken verzehrt ist, man muß zu ihnen gehen, man muß sehen, wo es und was am Nöthigsten fehlt, und ihnen das zu verschaffen suchen . . .“
„Ja – wenn man canonisirt werden will, wie die heilige Elisabeth,“ sagte spöttisch die Tante.
Raban blickte mit leuchtenden Augen auf die neue Heilige – heilig schien sie ihm in der That mit ihren feinen weichen Zügen, die etwas so Hinreißendes und Bezwingendes für ihn hatten. Es waren ihm ja nun auch alle letzten Räthsel, die anfangs um ihre Erscheinung für ihn gelegen, geschwunden – er wußte, wie es zuging, daß er sie in so auffallenden Unterredungen mit Invaliden und alten Frauen erblickt, und wenn man sie damals, wo er ihr nachgegangen, vor ihm verleugnet hatte, so war auch das nicht schwer zu erklären – er hütete sich jedoch, darnach zu fragen und seine Verwegenheit zu gestehen. Nach ihrem Amazonenthume fragte er aber doch, indem er erwähnte, daß er sie einmal als kühne Reiterin zu sehen Gelegenheit gehabt; er hörte. daß sie zuweilen ein Pferd einer entfernten Verwandten benutze und deren Vater und Brüdern sich auf einem Ritte durch den Prater anschließe. Daheim in Arholt war sie ja gewohnt, auf diese Art häufig ihre Ausflüge zu machen.
„Was ja auch wahrhaftig besser ist, als Deine Ausflüge unter die Dächer,“ fiel die Tante dabei ein.
„Die Sie dem gnädigen Fräulein doch auch nicht übel nehmen dürfen,“ meinte Raban. „Jeder folgt dem Antriebe seiner Natur, und wir haben doch dem Himmel zu danken, wenn diese Natur eine so edle und gute, so von dem Drange, wohl zu thun, erfüllte ist. Nur vor der Maßlosigkeit müssen sich, glaube ich, dabei alle Frauennaturen bewahren, da ihnen diese, wie unsere Psychologen behaupten, in allen Dingen so bedenklich nahe liegen soll. Wir gehören doch hauptsächlich und zuerst uns selber an und dann erst denen, die uns mit der Schilderung ihrer Noth gefangen nehmen – wir würden uns selbst krank und elend machen, wenn wir unsere Phantasie zu ausschließlich anfüllen ließen von den Bildern alles Elends, und wenn wir auch den Augenblicken nicht ausweichen können, in denen wir uns sagen müssen: ‚der Erde ganzer Jammer faßt mich an‘, so dürfen wir uns doch nicht dauernd durch diesen Jammer die frohe und frische Lebenslust verkümmern und verderben lassen, nicht das Dankbarkeitsgefühl gegen die guten Götter, die uns so viel Schönes, Großes und Beglückendes gaben, – Ihnen, Fräulein von Tholenstein, zum Beispiel das Talent, die Krone von Allem!“
„Angenommen, ich hätte ein solches,“ versetzte Marie sanft, „kann es nicht auch eine Versuchung sein, uns von höheren Pflichten fortzulocken?“
„Gewiß, sehr möglich – aber diese Pflichten müssen doch erst als vom Sittengesetz fest bestimmte vor uns hintreten und uns rufen. So lange dies nicht der Fall, müssen wir unserem Talente gehorchen. Das Talent kann nicht entwickelt werden, ohne unser Wesen immer mehr zu idealisiren, und giebt es eine schönere Pflicht, als solch einer Erlösung und Veredlung, einer Idealisirung unseres Seins zu leben, sich von der Hand der Kunst eine bleibende Wohnung ‚in den Gefilden hoher Ahnen‘ bereiten zu lassen?“
„Sie betrachten es mit einem sehr jugendlichen Enthusiasmus,“ versetzte Marie. „Wenn Sie so viele unserer Künstler mit sehr [523] ausgebildetem Talent und sehr, sehr geringer Idealisirung ihres Wesens kennten, würden Sie anders denken über die Macht der Talentübung zur Veredlung der Menschen.“
Marie sagte das mit einem Seufzer, als ob eine persönliche Erfahrung ihr diese Worte auf die Lippen lege. Dachte sie an ihren jungen Lehrer Wolfgang Melber? Raban sagte sich, daß er allerdings im Stande sein dürfte, seine Theorie bedenklich zu erschüttern, wenn der Eindruck ihn nicht täuschte, den ihm bis jetzt der junge Bildhauer gemacht.
Die Stiftsdame unterbrach das Gespräch über die Kunstübung, das ihr kein behagliches schien, als ob sie von den Modellirversuchen ihrer Nichte nicht gerade erbaut sei. Sie fragte Raban nach seinen Beziehungen und Bekanntschaften in Wien. Sie selbst sei von allen Beziehungen durch ihre Krankheit so abgeschlossen, daß sie auf den allerkleinsten Kreis beschränkt sei. Den Eibenheim’schen Kreis kannte sie nur vom Hören-Sagen. Raban umging ihn zu schildern und verabschiedete sich in dem Gefühl, nicht länger die Kräfte der alten Dame in Ansprnch nehmen zu dürfen. Die Stiftsdame forderte ihn lebhaft auf, seinen Besuch bald zu wiederholen.
Raban sah von diesem Tage an Marie Tholenstein sehr oft. Er konnte sich nicht schmeicheln, daß seine Aeußerungen, die sie mahnen sollten, nicht zu selbstverleugnend von ihrem künstlerischen Talente zu denken, einen großen Eindruck auf sie gemacht. Aber er fand sie ziemlich regelmäßig an ihrem Modellirstuhl in dem Atelier Melber’s, wenn er in dieses kam, um nach dem Fortschreiten der für ihn bestimmten Arbeit zu schauen. Immer lebhafter und immer mehr von einem wachsenden wechselseitigen Vertrauen belebt wurden dann ihre Unterredungen, Marie vertraute bald sogar einige ihrer Pfleglinge Raban an und sandte ihn oft in weit entlegene Regionen, wohin er mit dem frohen Gefühl, ihr solche Last abnehmen zu können, hinauseilte. Aber freilich, ein ihnen doch nahe liegendes Gebiet der Erörterung und Besprechung mußten sie in Wolfgang Melber’s Atelier ruhen lassen. Es war das sich so natürlich aufdrängende der großen socialen Fragen, der Frage nach den Mitteln, durch gesellschaftliche Einrichtungen von Grund aus den Leiden vorzubeugen, gegen welche die vereinzelte Kraft der Wohlwollenden nicht ausreichte. Wolfgang Melber unterbrach dann stets mit spöttischen Bemerkungen und bezeichnete diese Pläne als Utopien barmherziger Seelen, die ihr Vergnügen darin fanden, sich ausbeuten zu lassen. Er sah eine Beschäftigung darin, die so gut wie jede andere zum Steckenpferd werde. Das Gespräch über diese Gegenstände mußte darum weiter geführt werden in dem Salon der Tante Stiftsdame, in welchem Raban jetzt ein Paar Mal in der Woche erschien und stets herzlicher Aufnahme begegnete. Dem Herrn Wolfgang Melber schien die Tante auch nicht sehr geneigt; nicht allein erschien er niemals bei ihr, es glitt auch über das blasse Gesicht der alten Dame jedesmal ein Schatten, wenn seiner erwähnt wurde. Auch stimmte sie nie Raban bei, wenn dieser seine lebhaften Reden hielt, welche Marie mahnen sollten, über ihrem barmherzigen Schwesterdienst ihre Kunstausbildung nicht zu vernachlässigen. Sie schwieg dazu. Sie fragte auch niemals nach dem, was Marie in Melber’s Atelier arbeite – diese ganze Seite von Mariens Existenz schien ihr etwas zu sein, was ihr unangenehm, bedrückend war, und das, weil sie es nicht verhindern konnte, von ihr mit Schweigen bedeckt wurde.
Aber sehr gern hörte sie zu, wenn Raban und Marie sich mancherlei zu erzählen hatten von den Gängen, welche sie zu armen Leuten gemacht. Da kam des Tragischen freilich genug zu Tage, Raban aber wußte manchen komischen Zug aus dem Volksleben, den er dabei belauscht, mit einem gewissen Humor vorzutragen, an dem die Stiftsdame ihre Freude hatte, der ihr von Zeit zu Zeit ein Lachen entlockte.
„Wie jung Sie noch sind, wie jung!“ sagte die Stiftsdame dann oft lächelnd, wenn er mit einem hübschen Vorstadtabenteuer kam, „wie jung, die Dinge so heiter fassen zu köulleu! Ich glaube, ich bin nie so jung gewesen; ich war immer so ernst, wie heute Marie es ist, die es ja schon zu einer philosophischen Ketzerin gebracht hat. Wenn man Sie beide über solche Dinge reden hört, Ihre weltverbessernden Ideen austauschen, staunt man ja förmlich, womit sich ein junges Mädchen von heute beschäftigen kann! . . .“
„Ich bin doch keine philosophische Ketzerin, liebe Tante,“ fiel Marie ein, „weit entfernt davon! Für Philosophie habe ich nicht das geringste Verständniß – dafür fehlt mir jedes Begriffsvermögen.“
„Und unsere weltverbessernden Ideen sind sehr einfacher Art,“ fiel Raban ein.
„Sie bestehen in einem Cultus der Liebe und des Wohlthuns gegen die Geschöpfe der Gottheit. Dazu gehört doch weiter keine Philosophie,“ meinte Marie.
„Nein,“ erwiderte die Tante, „wenig. Und wenn die neue Religion, welche Ihr stiften wollt, nur diese alten Wahrheiten enthält, so läßt sich nicht viel gegen dieselbe einwenden.“
Wenn Raban nach solchen Marie gegenüber zugebrachten Stunden heimging, fühlte er sich unendlich glücklich. Das leidenschaftliche Gefühl, das ihn mit wachsender Stärke für sie erfaßt und sein ganzes Wesen ihr zu eigen gemacht hatte – es schien ja unmöglich ihr verborgen geblieben zu sein, und dennoch begegnete es nur ihrem immer unbefangener und rückhaltloser sich ergebenden Vertrauen. Er durfte sich sagen, daß er, ohne ein Thor zu sein, den Glauben an eine Begegnung ihrer Gefühle hegen dürfe, welche ihn das schönste Lebensglück hoffen ließ.
Nur wenn er von einem Besuche in Melber’s Atelier zurückkam, lag gewöhnlich eine dunkle Wolke auf seiner Stirn. Er wußte sich in das Verhältniß der jungen Kunstschülerin zu ihrem ebenso jungen Lehrer nicht zu finden. Er beobachtete – so wenig scharf und ungeübt sonst seine Beobachtungsgabe auch noch war – doch ein ihm immer mehr auffallendes Benehmen beider gegen einander. Mariens Auge lag oft wie mit einer zärtlichen Sorge auf Wolfgang Melber. Sie folgte dann seinen Bewegungen, schien auf die Beugungen seiner Stimme zu hören, als ob sie dabei innerlich zu deuten habe, als ob seine Aeußerungen ihr nicht genügten und sie hinter denselben, über sie hinaus etwas suche. Melber’s Benehmen gegen sie dagegen hatte etwas Unbekümmertes, kurz Angebundenes – es schien Rücksichten gegen die Dame nicht zu kennen – es schien wie in einer Art Ablehnung gegen sie zu verharren und manchmal gerade so, als ob etwas von ihm Abzuwehrendes, Belästigendes in ihrem Wesen sei.
Zuweilen, wenn er kam, hörte er im Vorraum schon ihren Stimmenwechsel im Innern durch den leichten Vorhang dringen. Nach dem Ton der Stimmen war es alsdann jedoch, als ob Marie Tholenstein Vorwürfe mache, Mahnungen ausspreche, die nur kurze trockene Erwiderungen von seiner Seite fanden. Sobald Raban eintrat, erstarben diese Gespräche sofort.
Rabatt hatte ein Paar Mal Gelegenheit gehabt, den Auftrag seines Vaters beachtend, Erkundigungen über Wolfgang Melber einzuziehen. Er hatte von seinem bedeutenden Talent reden hören, aber nichts Günstiges über seine Persönlichkeit. Er stieß durch schroffes hochmüthiges Benehmen ab, er war leichtsinnig und hatte einen Hang zu schlechter Gesellschaft – wohl deshalb, weil er darin seiner Ueberhebung als großer Künstler ein Genüge thun konnte und seine Eitelkeit hier Huldigungen genoß, welche er anderswo nicht fand.
Es war nicht anders möglich unter diesen Umständen, als daß Raban sich sagte: es ist offenbar, Marie Tholenstein hat durch ihn das Geheimniß ihrer Herkunft erfahren; sie weiß nicht allein, wie nahe verwandt er ihr ist, sondern glaubt auch, daß er alle Rechte auf den Namen besitzt, den sie trägt, auf Alles was sich daran knüpft, ihr ganzes Erbe. Er wird ihr, von seinem Vater, dem Graveur, unterrichtet, gesagt haben, daß dieser Mann nicht sein Vater, daß er der Sohn des verstorbenen Gatten Melanie Tholenstein’s ist! So muß es ja auch sein – sein Betragen gegen sie beweist es am besten. Sie weiß es, sie haben sich darüber ausgesprochen, sind aber überein gekommen, es der Welt noch verborgen zu lassen; die alten nichtsahnenden Frauen, die Großmutter auf Arholt, die arme leidende Stiftsdame ruhig und ungehärmt ihre Augen schließen zu lassen. Bis dahin aber befindet sich Marie Tholenstein in einer Situation diesem Wolfgang Melber gegenüber, welche er roh genug ist, auszubeuten, und welche sie demüthig erträgt, welche sie als Buße für das Unberechtigte ihrer glänzenderen Existenz auf sich nimmt, welche sie zu seiner Unterworfenen macht!
Ein chinesischer Schulmeister auf dem Throne.
Daß die wirklichen Ereignisse oft merkwürdiger, überraschender, ja sogar phantastischer sind als die in Romanen geschilderten, ist schon vielfach nachgewiesen worden; aus der neuesten Zeit aber ließe sich kaum ein Beispiel auffinden, das auffallendere und auf weite Kreise wirksamere Schicksalswechsel zur Anschauung brächte, als die erschütternde Tragödie, welche vor nunmehr zwanzig Jahren das „Reich der Mitte“ durchtobte.
Die meisten Reiche uralter Cultur sind vom Erdboden verschwunden. Die Hieroglyphen des Landes am Nil und die Keilschriften desjenigen am Tigris und Euphrat zeugen nur noch von einer längst dahingegangenen Herrlichkeit; lediglich die bizarren einsilbigen Wortzeichen der Gefilde des Hoang-ho und Yangtsekjang werden noch immer von Sterblichen im Verkehr des täglichen Lebens verwendet. Noch steht es da, in ungeschwächter Macht und Ausdehnung, das „Reich der Mitte“ (Tschung-kue) oder „was unter dem Himmel liegst“ (Thjang-hja), wie es seine Angehörigen abwechselnd nennen (nicht aber: das „himmlische Reich“, was ein bloßes Mißverständniß für den zweiten jener Namen ist). Freilich, nicht Alles ist mehr, wie es ehedem war, selbst dort, in dem conservativsten aller Reiche, das in so vielem das Gegentheil von dem thut, was wir thun. Bei uns ist der Ehrenplatz rechts, dort links, bei uns trauert man in schwarz, dort in weiß, bei uns ist der Zopf ein überwundener Standpunkt, dort ist er – eine Neuerung! Und gerade diese erinnert uns an die großen Veränderungen, die mit dem „Reiche der Mitte“ vor sich gegangen sind. Es sind nicht mehr die echten Angehörigen des Landes China (wie wir es mit unserer Aussprache der englischen Schreibart seines indischen Namens Tschina nennen, der wieder von der Dynastie Tschin herkommt, unter welcher das Land in Indien näher bekannt wurde), es sind nicht mehr die „schwarzhaarigen Leute“, wie sie sich ehedem mit Stolz nannten, die sich selbst regieren oder von einem geborenen Landsmann regiert werden. Die weltberühmte chinesische Mauer, welche der blutige Eroberer, der vandalische Zerstörer der alten Literatur Chinas, Schi-hoang-ti (d. h. erhabener Kaiser), ein Zeitgenosse Hannibal’s und Scipio’s, zum Schutze des Landes gegen die Einbrüche der Mongolen errichtet hatte, – die kolossale Landesfeste erfüllte ihren Zweck nicht auf die Dauer. Zweimal wurde China von Hochasien her erobert, einmal unter einem Enkel des wilden Dschingischan, Kubilai, dem Gönner des kühnen venetianischen Reisenden Marco Polo, und das zweite Mal von den Mandschus zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, welchem damals im fernen Osten ein beinahe ebenso langer hartnäckiger Widerstand der echten Chinesen gegen die Fremdherrschaft zur Seite ging, der sie aber endlich erlagen. Seitdem ist ihnen von den Siegern der Zopf aufgezwungen, der zur Nationaltracht der Letzteren gehörte.
Gegen diese Fremdherrschaft bestand schon längst Mißstimmung unter gewissen Theilen des chinesischen Volkes. Geheime Gesellschaften, wie sie in China seit sehr langer Zeit üblich sind, agitirten gegen dieselbe. Einem ernsten Conflicte trieben jedoch die Verhältnisse erst nach dem Frieden von Nanking zu, welcher 1842 dem verhängnißvollen Opiumkriege mit England ein Ende gemacht hatte. Zum ersten Male in Chinas mehrtausendjähriger Geschichte war der „Sohn des Himmels“, der Kaiser, genöthigt gewesen, eine feindliche Macht als gleichberechtigt anzuerkennen und mit ihr Verträge abzuschließen, statt ihre Huldigungen zu empfangen, was man in China als die Pflicht aller Staaten der Welt betrachtete. Die damit an den Tag gelegte Schwäche der Mandschu-Dynastie gegenüber den Europäern machte unter den Chinesen sehr böses Blut. Zuerst wandte sich die Erbitterung derselben gegen die Europäer, namentlich in Kuangtong (Kanton), wo blutige Excesse vorfielen und wiederholt Engländer ermordet wurden. Aber die verderblichen Folgen des Krieges, die durch diesen und die an England zu zahlende Entschädigung herbeigeführte Finanznoth, das verzweifelte Mittel des Stellenverkaufes, zu dem der Kaiser Taokuang griff, ebenso aus Verzweiflung eingeführte Geldstrafen, die Einstellung der früher an Nothleidende verabreichten Unterstützungen, die Entlassung eines Theils der Truppen, die dann sengend und mordend das Land durchschweiften, das Ueberhandnehmen von Land- und Seeräuberbanden, – alles das trug dazu bei, das Ansehen der Mandschu-Regierung völlig zu untergraben und die Macht der geheimen Gesellschaften zu stärken. Es blitzten überall Empörungen auf, und als der Kaiser 1850 gestorben war und sein Sohn Hien-fung sich der immer drohender emporsteigenden Gefahr nicht gewachsen zeigte, erhob sich, von zahlreichen Rebellenhaufen unterstützt, bereits ein Prätendent, der von der letzten rein chinesischen Dynastie Ming abzustammen behauptete.
Die Organisation und Leitung des Aufstandes fielen jedoch in andere Hände. In einem Dorfe der Umgebung von Kanton lebte ein Schulmeister, Namens Hung-siu-tsuen, welcher in seiner Jugend (er war 1813 geboren) das Vieh gehütet hatte und später sich lange ohne Erfolg bemühte, bei den Staatsprüfungen den ersten Grad der Gelehrsamkeit zu erlangen. Während er sich 1837 zu diesem Zwecke wieder einmal in Kanton aufhielt, theilte ihm ein zum protestantischen Missionär gewordener Landsmann Auszüge aus dem Alten und Neuen Testament mit. In einer Krankheit, die seine verfehlten Hoffnungen ihm zugezogen, hatte er Visionen und wollte dieselben nach seiner Genesung durch die Bibel bestätigt finden. Er beschloß, sein Vaterland zu dem wahren Gotte zurückzuführen, den es in alter Zeit unter dem Bilde des Himmels (Thjan) verehrt hatte. Er taufte sich selbst und zog predigend umher, mit ihm ein College ähnlichen Schicksals, Fung-yung-san. Sie lasen den Leuten auf dem Felde beim Viehhüten aus der Bibel vor, und es sammelten sich Gemeinden um sie, welche sich rasch verbreiteten. Die Gläubigen zerstörten die Götzenbilder und hatten in ihren Versammlungen Verzückungen. Hung faßte sofort nach dem Tode des Kaisers Tao-kuang den Plan, die Mandschus zu stürzen. Er verband sich mit einem gewissen Yang-sin-tsing, der die politische und militärische Leitung der Rebellen übernahm, während er selbst die höchste geistliche Würde bekleidete.
Die Organisation der Insurgenten war rein communistisch; alle lieferten ihr Vermögen in die gemeinsame Kriegscasse ab. Die Tai-ping, wie sie sich nach ihrem ersten Hauptsitze, einem Kreise der Provinz Kuang-si nannten, standen bald gerüstet den kaiserlichen Truppen gegenüber und zeigten sich ihnen gewachsen. Hung, der sich „himmlischer Fürst“ und „jüngerer Bruder Christi“ betitelte, erließ Manifeste, in denen er sich (1851) zum Herrn des Reichs erklärte und die Mandschus und Götzendiener auszurotten befahl.
In einer solchen Kundgebung proclamirte er sich endlich auch als Kaiser und ernannte seinen Bruder zum Hülfskönig und seine fünf hervorragendsten Anhänger zu „Königen des Nordens, Ostens, Westens und Südens“ (Yang und Fung befanden sich natürlich unter ihnen). Das Heer des Rebellenkaisers zählte etwa 16,000 Mann; in seinen Proclamationen aber prahlte er mit „neun Armeen“! Alle Tai-ping schnitten sich die Zöpfe ab als Zeichen des Aufstandes gegen die Mandschus und ließen das Haar wachsen. In merkwürdigem, unaufhaltsamem Siegeszuge drangen sie nordwärts, und am 19. März 1853 eroberten sie Nanking, die „südliche Residenz“ des Reichs der Mitte, welches elf Jahre lang ihre Hauptstadt sein sollte. Daß sie aber diesen Erfolg überschätzten und es untertießen, sich sofort nach Peking, der „nördlichen Residenz“ zu wenden, was ihnen im damaligen Siegesrausche, bei einer inzwischen erlangten Stärke von wenigstens 160,000 Mann und bei der vollständigen Demoralisation der Kaiserlichen leicht gewesen wäre, – das war ihr Unglück.
Hung umgab sich in seiner neuen Residenz mit einem glänzenden Hofe und einer Menge Frauen, beschäftigte sich daneben eifrig mit theologischen Fragen, schloß sich vom Volke ab und überließ die Regierung ganz seinen fünf „Königen“. Diesen fehlte es aber an Bildung und Erfahrung und sogar an Energie. Die Tai-ping machten nicht nur keine Furtschritte mehr, sondern ein Heer, das sie nach dem Norden sandten und vor welchem der Kaiser und Hof in Peking erzitterte, ließ sich von den Kaiserlichen, denen mongolische Nomaden, angebliche Nachkommen Dschingischan’s, zu Hülfe kamen, einschließen und mußte froh sein, sich zurückschlagen zu können. So verloren die Tai-ping nach und nach auch ihre bisherigen Eroberungen, da sie dieselben nicht besetzt hielten, und behaupteten nur Nanking und dessen nächste Umgebung auf die Dauer. Hung
[525][526] aber, der sich als „Kaiser“ Tien-wang (himmlischer Fürst) nannte, bewies nicht nur seine völlige Unfähigkeit, sondern verfiel geradezu in Wahnsinn, nahm für seine Person eine eigentliche Vergötterung in Anspruch und ließ sich den „zweiten Sohn Gottes“ und den „Herrn der ganzen Welt“ nennen.
Während so die Tai-ping in Unthätigkeit versanken, erhielten sie eine Concurrenz in den bereits genannten Anhängern der Dynastie Ming, die der alten geheimen Gesellschaft des „Dreifaltigkeitsbundes“ angehörten, sich im Herbst 1853 der Stadt Schanghai bemächtigten und sie anderthalb Jahre lang behaupteten, aber dann den Kaiserlichen weichen mußten, welche die Stadt für ihren Abfall in grausamster und blutigster Weise bestraften.
Gleiches geschah in Amoi, welches die Dreifaltigkeitsbündler sechs Monate lang besetzt hatten. Diese Leute theilten die christlichen Anläufe der Tai-ping nicht und wurden daher von ihnen ebenso angefeindet wie die Kaiserlichen, was alles die Zustände in dem zerrütteten Reiche in noch höherem Grade verschlimmerte. Die Heere aller drei Parteien bestanden beinahe durchweg aus dem niedrigsten Gesindel, und es läßt sich demzufolge denken, was das Land unter ihren „Operationen“, die nicht mehr Kriegs-, sondern blos noch Raubzüge waren und nur Verwüstung und alle möglichen Gräuel im Gefolge hatten, leiden mußte. Das chinesische Volk hatte früher nur den Mandschus geflucht, jetzt fluchte es auch den Tai-ping und den Dreifaltigkeitlern.
Das nunmehrige Treiben der Tai-ping stand im schreiendsten Widerspruche zu ihrer Lehre, welche Hung in einem selbstverfaßten Buche dargelegt hatte und welche von trefflichen moralischen Grundsätzen überfloß. Sie war ein Gemisch aus der auf der reinsten Sittenlehre beruhenden altchinesischen Religion vor ihrer Entartung zum Götzendienst und einem großentheils mißverstandenen Christenthum. Die mosaischen „zehn Gebote“ wurden als Grundlage dieser Lehre anerkannt; aber Christus wurde nicht als Gott, sondern, wenn auch Gottes Sohn genannt, nur als der erhabenste Mensch betrachtet; nach ihm kam indessen gleich der neue Kaiser der Tai-ping. Nach der altchinesischen Lehre konnte nur der Kaiser, der „Sohn des Himmels“, den höchsten Gott, dessen Hülle der Himmel war, anbeten; die Tai-ping erlaubten dieses jedem Menschen und verbannten die Verehrung der unzähligen Geister, welche im alten China die Vermittler zwischen Gott und Menschen waren. Gleich den alten Chinesen bedurften sie keiner Priester und hatten auch keine Tempel, sondern versammelten sich, wo es war, zu Gebet und Andacht, wobei die Schrift ausgelegt wurde; am Hofe that Tien-wang das letztere selbst.
Den Gläubigen war das Rauchen sowohl des Tabaks als des Opiums verboten; ersteres wurde mit Bambushieben, letzteres sogar mit dem Tode bestraft. Die Gütergemeinschaft wurde beibehalten, und in Nanking selbst herrschte die größte Ordnung und strengste Mannszucht und dabei Frohsinn und Heiterkeit. Da aber Alle Soldaten waren, hörten Handel und Gewerbe auf und man bezog die Bedürfnisse von den in die Stadt kommenden Landleuten; das Geld dazu war natürlich geraubt. So hatten die Tai-ping als große Räuberbande viele Aehnlichkeit mit den Arabern unter Mohammed und den ersten Chalifen, während ihr religiös gefärbter Militarismus an die Puritaner unter Cromwell und ihre Religionsmengerei, verbunden mit bürgerlicher Ordnung, an die Mormonen erinnerte.
Nachdem jedoch Tien-wang durch seinen Selbstvergötterungswahn den Verstand verloren, entartete die ganze Bewegung. Es griffen confuse und mystische, ja geradezu verrückte Ideen über die Dreieinigkeit, über die Maria, über die Erbsünde und Erlösung Platz, und der Rebellenkaiser behauptete sogar, den Himmel besucht zu haben! Dabei aber versank er in Ueppigkeit und Schwelgerei und wurde immer mehr zum blutdürstigen Despoten; die geringsten Fehler seiner Untergebenen ahndete er mit dem Tode, die größeren mit grausamen Qualen. Merkwürdiger Weise aber empörten sich die Bedrückten nicht gegen ihn, sondern blieben ihm bis zum Untergange ihrer Sache mit Gut und Blut ergeben. Nur sein Freund Yang, der „Ostkönig“, Obergeneral und eigentlicher Regent, arbeitete im Geheimen an seinem Sturze und suchte ihn in Verzückungen zu überbieten, worin er soweit ging, sich für ein Organ des „himmlischen Vaters“ auszugeben, was der Rebellenkaiser in seinem Wahnsinn soweit anerkannte, daß er von ihm Verweise über sein Verhalten hinnahm und Besserung versprach! Ja, Yang erhielt für seine Zusprüche den Titel des „Trösters“ und „heiligen Geistes“, sein Name wurde in den Litaneien an die Stelle des letzteren gesetzt und seiner Lobpreisung gleich auch diejenige der vier übrigen „Könige“ beigefügt, welche als „Regenmacher, Wolkensammler, Donnerer und Blitzschleuderer“ betitelt wurden, womit also die angeblichen Neu-Christen glücklich wieder bei dem rohen Schamanismus der Vorfahren ihres Volkes angekommen waren. Daß Tien-wang selbst nicht in die Litanei kam, ist offenbar nur den Ränken Yang´s zuzuschreiben, welcher sich nach und nach der Regierung so vollständig bemächtigte, daß der Glaube um sich griff, der Kaiser wäre gestorben.
Endlich aber ermannte sich der Letztere und ließ 1856 den Yang und alle seine Anhänger ermorden. Damit hatten jedoch die Tai-ping ihren einzigen fähigen Feldherrn verloren, und die Folge war, daß die Kaiserlichen wieder Erfolge gewannen und wiederholt Nanking belagern konnten. Daß sie nicht mehr erreichten, hatte seinen Grund in dem unaufhörlichen Auftauchen der Rebellenschaaren, welche mit den Tai-ping mehr oder weniger in Verbindung standen und die Mandschus nicht zur Erholung kommen ließen. Das ganze Reich war zerrüttet, und so oft eine Partei siegte, verhängte sie furchtbare Blutgerichte über die Gegner. In Kanton wurden angeblich 70,000 Rebellen hingerichtet! Das Land war, soweit der Krieg raste, das heißt in elf von den achtzehn Provinzen des eigentlichen China, eine Wüste, Millionenstädte, die sonst in höchster Blüthe standen, lagen in Trümmern und boten wilden Thieren Zuflucht dar. Das Volk hungerte und verzweifelte; denn wo die Tai-ping hinkamen, preßten sie alle waffenfähigen Männer zum Kriegsdienste und jagten alle anderen Personen in’s Elend. Gefangene köpften sie, Spione marterten sie zu Tode; Gnade gab es keine. Grundsätze aber beherrschten die Soldaten der Rebellen so wenig mehr, daß sie die Zöpfe nicht mehr abschnitten, sondern nur aufbanden, um je nach Bedürfniß zu den Kaiserlichen überlaufen zu können.
Dies Alles aber störte den Tien-wang in seinem Irrsinne nicht; er erließ wahnwitzige Proclamationen, nicht um die Noth des Landes zu heilen, sondern um seine Göttlichkeit zu betonen (er selbst war jetzt „heiliger Geist“) und den Mord Yang’s zu beschönigen, als wäre derselbe, „vom Unglück ereilt, zum himmlischen Vater zurückgekehrt“. Selbst für seinen zehnjährigen Sohn setzte er göttliche Verehrung durch; ja derselbe erließ besondere Edicte und beteiligte sich an den Staatsgeschäften.
Den größten Einfluß am Hofe der Rebellen übte seit 1858 Hung-Dschin, ein Verwandter des „Kaisers“, als erster Minister mit dem Titel „Schildkönig“ aus. Obschon von Missionären besser als sein Vetter im Christentume unterrichtet, ließ er sich bald von dessen Blutdurst anstecken und mordete unbedenklich. Tien-wang selbst kümmerte sich in seinem Stumpfsinne weder um die Siege noch um die Niederlagen seiner Partei. Für ihn handelten, statt der nun todten Könige der vier Weltgegenden, neue fähigere Generale, welche als „Heldenkönig“, „treuer König“ etc. betitelt waren und manche Erfolge errangen, sodaß es zeitweise, namentlich 1859 und noch mehr 1860, als zugleich die Engländer und Franzosen Peking demüthigten, mit den Mandschus herzlich schlecht stand. Schanghai widerstand den Rebellen 1860 nur, weil es von Engländern und Franzosen besetzt war, welche nun auch die Rebellen ebenso jämmerlich zusammenschossen, wie die Mandschus. Dennoch führten die Tai-ping eine hochfahrende Sprache gegen die Europäer und betrachteten sie fortwährend als „Barbaren“, die ihrem „Kaiser“ Gehorsam schuldeten!
Längst war es den Europäern in China klar, welch Geistes Kinder diese Leute waren. Nur einige Missionäre glaubten noch im Ernste an ein aufrichtiges Christenthum der Rebellen. Ein solcher war der Engländer Roberts, welcher dem Tien-wang, als dieser noch ein obscurer Mensch und noch kein Gott war, Unterricht ertheilt hatte. Von ihm eingeladen, begab er sich 1860 nach Nanking, erhielt eine hohe Stelle am Hofe und trug das gelbe Kleid der Tai-ping und eine goldgestickte Krone; da er aber als Christ die Göttlichkeit des Usurpators nicht anerkennen konnte, fiel er in Ungnade. Er wurde gründlich enttäuscht und lieferte seinen Landsleuten ein nichts weniger als schmeichelhaftes Bild von den traurigen Zuständen an dem possenhaften Hofe des Gottkaisers. Er wurde dafür 1862 von Hung-Dschin mit dem Tode bedroht und mißhandelt und sein Diener vor seinen Augen erschlagen, dessen Kopf der „König“ und „Minister“ mit Füßen trat! Erst nachdem er bei dem irrsinnigen und verschlossenen ehemaligen [527] Zögling kein Recht gefunden, verließ Roberts den Herd blutigen Wahnes, welchen Leute ohne alle Bildung beherrschten, die so weit gingen, Chinas berühmtestes Bauwerk, den weltbekanten Porcellanthurm, zu zerstören!
Nachdem der zweite englisch- (diesmal auch französisch-) chinesische Krieg 1860 durch die Verträge von Peking beendigt worden, fanden es die europäischen Sieger in ihrem Interesse, der chinesischen Regierung zur endlichen Niederwerfung des Tai-ping-Aufstandes, dem sie allein nicht beikommen konnte, behülflich zu sein, denn ihr Handel litt durch den innern Krieg, und Hoffnung auf einen Sieg der Rebellen war längst keine mehr vorhanden. Es wurde 1862 ein Heer gegen die letzteren in Bewegung gesetzt, das aus englischen und britisch-indischen Truppen, englischen und französischen Seeleuten und einem angeworbenen chinesischen Corps unter europäischen und amerikanischen Officieren bestand. Das Heer hatte aber keine so leichte Arbeit, wie man wohl gehofft hatte. Es wurde im Mai von den Tai-ping unter dem „treuen König“ Tschun-wang so empfindlich geschlagen, daß es von 7000 Mann kaum 2000 am Leben behielt. Die Verbündeten verstärkten sich nun, die kaiserlichen Chinesen kamen ihnen mit 40,000 Mann zu Hülfe, und nun gelang die Einnahme von Ningpo. Noch lange jedoch wechselte das Glück; denn die Europäer und die Chinesen vertrugen sich schlecht, und dem angeworbenen Corps fehlte es an Mannszucht.
Da trat 1863 ein Mann an die Spitze des letzteren, der jetzt, während diese Zeilen erscheinen, wiederum in fernen Landen, aber unter ungünstigeren Umständen, die Sache seiner Landsleute zu retten sucht. Major Gordon, der sich schon im Krimkriege ausgezeichnet, der den letzten Krieg in China mitgemacht, dann das Land bereist hatte und die Chinesen gründlich kannte, und der jetzt wieder im heißen Sudan von Feinden umringt ist, stellte die fehlende Disciplin her. Aber auch die Tai-ping hatten viele europäische, amerikanische und indische Abenteurer und Ueberläufer in ihren Schaaren, denen sie aber schlechte Behandlung angedeihen ließen. Gordon verstand es, sie unschädlich zu machen, indem er sie bewog, zu ihm überzutreten. Ihm vorzüglich ist die Abkürzung des Rebellionskrieges zu verdanken, der endlich im Jahre 1864 ausathmete.
Es ging mit den Tai-ping immer mehr bergab; bald besaßen sie nichts mehr, als die Stadt Nanking, die seit elf Jahren als ihre Hauptstadt Tien-king, das heißt Himmelsresidenz, genannt wurde.
Jetzt aber nahte die kurze und doch allzu lange Herrlichkeit ihrem tragische Schlußacte. Die kaiserlichen Mandschu-Chinesen wollten in ihrer Klugheit und in ihrem Mißtrauen gegen die Europäer denselben allein besorgen; der Mohr hatte seine Pflicht gethan und konnte nun gehen, – Gordon und seine Schaar wurden verabschiedet; zur Anerkennung seiner Dienste erhielt er den Sternenorden, ein Banner und die gelbseidene Jacke – die höchsten chinesischen Ehrenzeichen.
Tschun-wang, der letzte Feldherr der Rebellen, ihr bester Mann und ihr Geschichtschreiber zugleich, war noch in die „Himmelsresidenz“ gelangt, ehe sie von den Kaiserlichen eingeschlossen wurde. Sie litt bereits große Noth. Tien-wang, immer noch unempfindlich gegen die Wechselfälle seiner Sache, hatte nur für seine religiösen Grillen Sinn und betrachtete sich bis zum letzten Augenblicke als incarnirten Gott und Herrn der Welt; bis zuletzt aber auch blieb er wollüstig und grausam zugleich, und aus dem Harem, in den er sich eingeschlossen, kamen nur Blutbefehle, wobei Hung-Dschin seinen Herrn noch zu übertreffen suchte, indem er die hungernde Bevölkerung vollends ausplünderte. Aber noch bevor das Ende seiner Sache eintrat, ging der Schulmeister auf dem usurpirten Throne, angeblich indem er Gift nahm, aus der Welt. Am 19. Juli 1864 fiel die Stadt in die Hände der Kaiserlichen; Tschun-wang, tapfer kämpfend, übergab den kaiserlichen Palast den Flammen und rettete den jungen „Kaiser“ Hung-fu-tien, der wenige Tage den Scheinthron besessen hatte. Sie Beide, sowie Hung-Dschin, der Minister, entkamen, wurden aber eingeholt und enthauptet. Umsonst hatte der tapfere Feldherr gehofft, durch seine im Kerker geschriebene Lebensgeschichte sein Leben zu retten. Den Leichnam des alten Rebellenkaisers und „Gottessohnes“ fand man im Palastgarten nothdürftig eingescharrt, ein gelbes Seidenkleid und grauer Schnurrbart kennzeichneten ihn. - Was die Schrecknisse des Krieges noch von Nanking übrig gelassen, vernichtete Tschun-wang's Flammenmeer; die stolze Stadt blieb noch lange ein Trümmerhaufen. – Soweit hatte es politisch-religiöser Fanatismus gebracht! Zäh und unzerstörbar aber muß eine Cultur sein, die solche Stürme überdauert, wie sie das „Reich der Mitte“ erlebt hat, und die sicher noch lange und oft wiederkehren werden.
Aerzte und Publicum.
Wenn es mir in meinem ersten Artikel[1] gelungen ist, meine Leser zu überzeugen oder in der Ueberzeugung zu befestigen, daß ein ständiger Arzt oder Hausarzt für die Gesundheit der Einzelnen wie der Fanilien außerordentlich viel mehr zu leisten vermag, als ein nur gelegentlich consultirter oder nur zu anscheinend dringenden und gefährlichen Krankheiten gerufener Arzt, so muß ich den früheren Gründen noch einen hinzufügen, der, wenn auch nur indirect wirkend, doch kaum weniger werth sein dürfte, als die andern.
Es ist nicht zu bezweifeln, weil tief in der menschlichen Natur begründet, daß ein ständiger Arzt ein größeres Interesse an dem Kranken und seinen Angehörigen hat, die ihm sämmtlich mehr oder weniger bekannt und durch die Sorgen und Freuden, die sie ihm bereitet haben, an’s Herz gewachsen sind. Ja, er hat gewiß an ihnen ein größeres Interesse, als ein nur für den einzelnen Fall befragter Arzt, mag er auch an sich human sein und die Kranken, die ihn gewissermaßen wie einen durch Zahlung abzufindenden Erwerbtreibenden oder Lohnarbeiter betrachten, nicht blos als Objecte seiner Thätigkeit ansehen, an die ihn neben dem Geschäfte höchstens nur das wissenschaftliche Interesse knüpft. Zu solcher bedauernswerthen Anschauung treiben es die Hülfesuchenden selber dadurch, daß sie von einem Arzte zum andern laufen, ohne dem einzelnen so viel Zeit zu lassen, daß er sich auch gemüthlich etwas für sie erwärmen kann. Von einer tieferen Theilnahme, welche dem Kranken wie seinen Angehörigen auch neben ärztlichen Verordnungen, Leiden und Schmerzen, körperliche und seelische, ertragen und überwinden hilft, kann da nicht wohl die Rede sein, wo der Arzt und der Kranke einander nur sehen, wenn letzterer es wünscht. Auch ein freundschaftliches Verhältniß ist undenkbar, wenn der Kranke fast unwillig die Prüfung seiner Lebensverhältnisse und die Beeinflussung seiner Entschlüsse durch den Arzt erträgt, denselben durch eigenes Lesen medicinischer oder populärer Schriften, oder durch heimliche oder offene Befragung anderer Aerzte zu controlliren oder wohl gar zu meistern sucht. Solche Mißtrauer oder Besserwisser machen es den Aerzten schwer, dem weisen Dichterworte gemäß zu leben: „Edel sei der Mensch, hülfreich und gut,“ und sich jene Herzenswärme zu bewahren, die ihnen den inneren Lohn gewährt, den sie von der Dankbarkeit ihrer Patienten nur zu oft vergeblich erwarten.
Damit ist nicht der klingende Entgelt für ihre Leistungen gemeint, der freilich oft auch ungleich und ungerecht genug zugemessen oder vergessen zu werden pflegt, sondern jene dankbare Anerkennung, die Denen gebührt, welche jeden Augenblick bereit sind, nicht blos die eigene Ruhe und eigenen Genüsse entsagungsvoll zu opfern, sondern ihre ganze Herzenstheilnahme und Geisteskraft, ja Gesundheit und Leben einsetzen, um Anderen, oft Fremden und kaum solcher Opfer Würdigen, hülfreich zur Seite zu stehen. Wohl ist es für alle Aerzte hoch erfreulich und erhebend, zu sehen, wie unser Kaiser und Reich den dankbaren Gefühlen der ganzen gebildeten Welt Ausdruck verliehen haben gegen die deutschen Forscher Robert Koch und seine Begleiter, die mit opferfreudigem [528] Muthe die Cholera, diesen gefürchteten Feind des menschlichen Lebens, in seiner giftschwangeren Heimath, in seinen todsprüheden Schlupfwinkeln aufgesucht habe; aber wer gedenkt jener Tausende von Aerzten, die ohne Rücksicht auf Ruhm und Ehre, ohne die treibenden Reize des Kampfes den Kriegern auf dem Schlachtfelde, den Verwundeten und Kranken in Verderben hauchenden Lazarethen ihre todesmuthige Hülfe bringen, oder die täglich, und wie oft ohne Aussicht auf Entgelt und Lohn, ja nur auf Anerkennung und Dank, den Gefahren der Ansteckung durch die bösartigsten Krankheiten, durch Typhus und Ruhr, durch Blattern und Diphtherie, durch Cholera und Pest und viele andere mehr trotzen und mit Einsetzung von Gesundheit und Leben Trost und Hülfe auch in die Hütten der Armen bringen und dem Tode seine schon umklammerten Opfer abzuringen suchen?
Einzelne Aerzte finden in ihrem Wirkungskreise gewiß noch oft solche Anerkennung, dem Stande der Aerzte im Ganzen aber wird sie oft in einer Weise versagt, als sei dieser Stand nur aus Dünkel, Beschränktheit, Eigennutz und Gewinnsucht zusammengesetzt und verdiente Haß und Verachtung statt Dank und Anerkennung. Man sehe nur die übertriebenen Schriften der Antivivisectionisten und vieler Anhänger der sogenannten Naturheilverfahren, deren Methoden der Natur des Menschen weit mehr Gewalt anzuthun pflegen, als die weit überwiegende Mehrzahl der von Aerzten neben Diät etc. angeordneten Arzneimittel, und man sehe nur, wie diese in Verbindung mit Heilschwindlern aller Art nicht blos in die höchsten, sondern, Dank unserer einseitigen, die Natur vernachlässigenden Gymnasialbildung, bis tief in die gebildetsten Kreise hineinreichen und sogar in Parlamenten und Regierungen ihre Fürsprecher finden, – und stelle dem gegenüber, was man bei fast jedem einzelnen Arzte an Berufstreue und Aufopferungsfähigkeit sieht und wie der ganze Stand für die Gesundheitspflege thatkräftig eintritt, die den Aerzten doch ihre Gründung und Förderung theils ganz allein, theils in erster Linie verdankt: das wolle man vergleichen, um sich ein Urtheil zu bilden.
Es soll und kann nicht geleugnet werden, daß die Aerzte einen nicht geringen Theil der Schuld an jenen unerfreulichen Verhältnissen tragen. Nicht daß im Wissen und Können auch die Aerzte fehlgehen, wie jeder Sterbliche auch bei bestem Willen fehlen kann, auch nicht daß in Charakter und Lebensführung Einzelnen berechtigte Vorwürfe gemacht werden können, wie das gewiß nicht seltener in jedem andern Stande vorkommt: das Alles trägt nicht die Schuld, denn es trifft doch nur Ausnahmen: die Hauptsache liegt in einer jetzt glücklicher Weise zum größten Theil überwundenen Entwickelungsphase der wissenschaftlichen und praktischen Medicin.
Um die Mitte unseres Jahrhunderts erfuhr ja die Medicin in Folge der sich beinahe überstürzenden Entdeckungen so gewaltige Veränderungen, daß die älteren Aerzte den neuen Anschauungen nicht zu folgen vermochten, während den Neueren auch die Brücke zum Verständniß der älteren Erfahrungen verloren ging. Dort hielt man fest am Alten, weil man das Neue nicht verstand, hier verachtete man das Alte, weil es aus den oft noch so unvollständigen, neuen Lehren nicht erklärt werden konnte. Den anatomischen Veränderungen gegenüber hielt man die alten Mittel und Methoden nicht blos für unwirksam, sondern auch für durchweg falsch, weil man manche Kranke ohne arzneiliche Behandlung nicht schlechter und manchmal sogar besser fahren sah, als die nach den alten Regeln der Kunst behandelten. Die äußersten Ansichten wurden, wie es Menschenart ist, am lautesten und zuversichtlichsten verkündet, das laute Kampfgeschrei erfüllte den Markt, und das Publicum, welches die Gründe nicht zu verstehen, noch zu würdigen vermochte, entnahm aus dem Streite nur so viel, daß etwas faul sei im medicinischen Staate, und erfüllte sich mit Mißtrauen gegen die gesammte Medicin. Und da es viel leichter ist, alles Geglaubte und Bestehende schlechthin zu verwerfen, als selbstdenkend und selbstthätig zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden, so beherrschten bald die Negirenden und Nihilisten in der Arzneikunst das Feld.
Die Kranken aber, die doch mit Recht nicht blos beobachtet und „diagnosticirt“ oder gar nach ungünstigem Ende „secirt“ werden wollten, warfen sich allem medicinischen Unsinn und Aberglauben in die Arme und suchten von Heilschwindlern und Geheimmitteln die Hülfe, welche ihnen die Aerzte nicht gewähren, oder wenigstens nicht mit der gleichen Dreistigkeit verheißen wollten.
Diese verhängnißvolle Uebergangsperiode der Wissenschaft ist glücklicher Weise jetzt vollständig überwunden, und auch die Praxis, das ärztliche Handeln am Krankenbette, hat jetzt auf wissenschaftlichen Grundlagen einen festen Kern gewonnen, der in der sogenannten innern Medicin kaum weniger erfreuliche Früchte zeitigt, als wie die Chirurgie ungeahnte Erfolge erzielt hat. Die sichere und frühzeitige Erkenntniß der Krankheiten, die genaue Bekanntschaft mit ihrem Verlaufe und mit vielen ihrer Ursachen, sowie die auf solchen Grundlagen theils neu aufgefundenen, theils richtiger gewürdigten Mittel und Methoden zur Bekämpfung der Krankheiten, haben den Aerzten eine Macht in die Hand gegeben, von der man noch vor wenigen Jahrzehnten keine Ahnung haben konnte. Und wenn auch jetzt noch viele Krankheiten, wenigstens sobald sie gewisse Entwickelungsstufen erreicht haben, uns unheilbar erscheinen, manche vielleicht sogar immer unheilbar sein werden, so haben wir sicher in der Kunst sie zu verhüten, ihren Verlauf günstig zu beeinflussen und ihre Leiden und Schmerzen zu verringern und zu mildern, ganz erstaunliche Fortschritte gemacht.
Es liegt auf der Hand, daß der Arzt um so leichter, schneller und sicherer die reichen Hülfsmittel der Wissenschaft anzuwenden vermag, je früher er zu dem Kranken gerufen und je vollständiger er durch Mittheilungen und eigene Untersuchung über die Verhältnisse, die Krankheitsursachen und den gegenwärtigen Zustand des Kranken unterrichtet wird, je aufmerksamer und liebevoller er alle Verhältnisse und Veränderungen aufspürt und verfolgt. Seine Leistungen, die nicht mehr an große Medicinflaschen gebunden sind, wie in der alten Zeit, und oft mehr in hygienischen und diätetischen Maßregeln bestehen, wirken sicherer und vollkommener, wenn das Publicum, und besonders die Kranken, ihm mit Vertrauen und folgsamem Verständniß entgegenkommen.
Zur Wiederanbahnung und Sicherung eines solchen guten, für beide Theile gleich ersprießlichen und erfreulichen Verhältnisses beizutragen, ist die Aufgabe dieser Zeilen, welche bei dem weiten Leserkreise der „Gartenlaube“ eine wohlwollende Aufnahme verdienen dürften.
[529]
Die Zucht der Tropenfische in Deutschland.
Die Ueberschrift mag dem freundlichen Leser wohl etwas wunderlich vorkommen, denn es dürfte nur wenig bekannt sein, daß es bei uns im Reiche auch Leute giebt, die sich nicht blos mit der Massenvermehrung der Forellen, Karpfen und Lachse beschäftigen, sondern eifrig an der Einbürgerung ganz seltener und kleiner Wasserbewohner aus warmen Erdstrichen arbeiten. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein neues Nahrungsmittel, denn auf lange Zeit hinaus würde sich kaum ein Rothschild eine Mahlzeit von jenen Luxusfischen gestatten können, von denen ich hier etwas mittheilen werden aber werthvoll in anderer Hinsicht ist die Sache doch für die gesammte Oeffentlichkeit, denn noch vor wenigen Jahren wanderten für solche Luxusartikel ungezählte Tausende in’s Ausland, nach England und mehr noch nach Frankreich, wo besonders der Importeur Carbonnier in Paris ein ganz enormes Geschäft in Zierfischen entwickelte. Das Ausgreifen Deutschlands in alle Fernen der Erde hat auch hierin Wandel geschaffen und uns selbstständig gemacht, sodaß wir jene Prachtthiere aus China, Afrika und Südamerika nicht mehr, wie seiner Zeit das deutsche Kronprinzenpaar das erste Makropodenpärchen mit 300 Mark, sondern nur noch mit bescheidenen Preisen bezahlen.
Wer jetzt Sinn dafür hat, der braucht in seinem Aquarium nicht mehr seine drei bis vier langweiligen Goldfischchen allein zu halten, die er ohnehin nur betrachtet, wenn er sie gerade füttert, sondern er kann sich eine ganz andere, eine wirklich spannende Unterhaltung verschaffen, er kann sogar selber, ohne viel Kosten und Mühen, sich der Fischzucht widmen und dies Dank dem Unternehmungsgeist besonders des ältesten deutschen Zierfisch-Züchters Paul Matte in Groß-Lichterfelde bei Berlin.
Besuchen wir deshalb im Geiste einmal die Anstalt dieses Mannes, eine Sehenswürdigkeit allerersten Ranges, und lernen wir die Objecte der Bemühungen des Züchters kennen. Bisher erschienen wohl die Naturforscher regelmäßig dort, um neue Kenntnisse zu sammeln und Thiercharaktere zu studiren, die sonst nur entlegenen fernen angehörten, der gewöhnliche Tourist aber achtete nicht des stillen Oertchens Lankwitz bei Groß-Lichterfelde. Wer jedoch einmal dort war der kehrt noch oft zurück und lernt immer wieder.
Man kann sich kaum wenden in den Räumen, die, mit Heizeinrichtungen versehen, bis in den letzten Winkel mit Aquarien für größere und kleinere Fische vollgepfropft sind. Matte züchtet eben nur ausländische, exotische Fische, die durch ihre Farbenschönheit oder Eigentümlichkeiten der Lebensweise einen besonderen Werth besitzen. Da werden, unter großen Mühseligkeiten, aus Indien, Japan, China, Nord- und Südamerika die Fische herbeigeschafft, beobachtet und gezüchtet, nur den deutschen Handel an die Stelle des fremden zu setzen und Jedermann die Freude an selteneren Geschöpfen zu ermöglichen. Man sieht da die monströsesten Formen und Gestalten der Teleskopfische mit weit hervorstehenden Augen gleich Operngläsern, der Schleierschwänze, japanischen Goldfische, der mexicanischen Axolotls, darunter einer ganz weißen Art mit rothen Ohren, und vieler anderer Sorten, besonders aber einen Fisch, klein und zierlich, aber von einer Farbenpracht, die man sich nur schwer vorstellen kann und die dem Thier mit Recht den Namen des Paradiesfischchens erworben hat, nämlich den Großflosser (Makropoden, macropus venustus).
Letzterer wird immer mehr der Liebling der Aquarienfreunde, und er besonders ist es, dessen Zucht und Vermehrung Jedermann selbst betreiben kann. Die Natur hat an diesem Thierchen all ihren Farbenreichthum verschwendet und ihm eine Zutraulichkeit gegeben, wie sie kein anderer Fisch besitzt. Der lange, breite Schweif gleicht ganz dem des Pfauen, der Körper schimmert in gelb, blau und roth mit stahlgrünen Querstreifen, die Kiemenränder sind orangefarbig, die langen Flossen grünlich-blau, der Bauch hellgelb bis braun. Das Thier ist nur fingerlang, das Weibchen kenntlich an kleineren Flossen und matteren Farben, und kein Fisch ist so intelligent und zahm wie dieser und so bequem zu halten. Der Großflosser [530] stammt aus den warmen Gewässern Südchinas und hat labyrinthförmige Schlundknochen, sodaß er nicht nöthig hat, den Sauerstoff des Wassers zu verzehren, sondern die an der Oberfläche geholte Luft mit in’s Wasser nimmt. In Folge dessen bedarf er eigentlich niemals eines Wasserwechsels, der bei den Aquarien so lästig wird, sondern es genügt vollkommen, wenn man die Futterreste (Ameiseneier, geschabtes Rindfleisch) vor dem Schimmeln wieder entfernt und das Aquarium mit recht vielen Wasserpflanzen besetzt, welche die Reinigung besorgen. Das Wasser kann und soll sogar lauwarm sein, niemals unter 15° R., und kann man nach meinen eigenen Versuchen einfach warmes und kaltes Wasser zusammenthun, um im Winter den nöthigen Grad zu erhalten.
Je heller die Sonnenstrahlen in’s Wasser fallen, desto wohler ist es dem Großflosser. Er schwimmt nicht nur gerade aus, sondern rückwärts, seitwärts; der Kopf, die Augen, Alles ist beweglich und drückt sichtlich die Leidenschaften aus, wie Liebe, Eifersucht, Zorn, Vorsicht. Stehen sich mehrere gegenüber, so erkennt man leicht, ob sie spielen oder ernstlich kämpfen; in beiden Fällen treten die Farben besonders stark hervor, das ganze Flossenwerk vibrirt und spreizt sich, die abstehenden Kiemendeckel deuten an, ob Kampflust sie erfüllt, und dann führen sie gleich Hähnen Stöße gegen einander, bis der schwächere Reißaus nimmt.
Freilich können wegen der Wassertemperatur nicht alle Fische mit den Großflossern zusammen leben, sondern meist nur die Schlammbewohner Deutschlands, aber auch diese sind während der Laichzeit des kleinen, buntfarbigen Raubthiers nicht vor schlimmen Verletzungen sicher und werden besser entfernt, auch schon darum, weil sie das Brutnest des Makropoden stören.
Sind, wie wir in der Zuchtanstalt beobachten konnten, mehrere Großflosser zusammen, so spielt der größte den Schiedsrichter und treibt die Streitenden stets aus einander. Jeder hat im Behälter seinen besonderen Platz, und dort duldet er keinen andern. Die Farbenpracht geht im Winter zurück und kehrt mit dem Frühlinge wieder, aber das Thier entfärbt sich, wie Matte beobachtete, auch, wenn ihm sein Gefährte genommen wird oder wenn es von einem stärkeren besiegt wird.
Die Lebensfähigkeit der Makropoden ist geradezu wunderbar: Matte hat in einem kleinen Behälter mit circa drei Liter Inhalt ein Paar 14 Wochen lang in fauligem Wasser gehalten, und die Thiere blieben munter wie zuvor, weil sie sich die nöthige Luft einfach durch Auftauchen holten, und ihre Kiemengebilde als Reservoirs für dieselbe dienten. An Wasserpflanzen ist die Wasserpest, das untergetauchte Hornkraut und besser noch die valisneria spiralis zu empfehlen, welche eine Menge Infusorien sowie Sauerstoff zur Erhaltung der Fische erzeugen und den Unrath derselben verbrauchen.
Ende Juni beginnt die Paarungszeit; die Männchen umkreisen die Weibchen stets lebhafter und beginnen ihr Nest zu bauen, indem sie immerfort auftauchen, kleine Luftblasen verschlucken und unten, mit Schleim vermischt, wieder ausspeien, wodurch eine Schaumdecke von fünf bis sechs Centimeter Breite und zwei Centimeter Höhe entsteht, manchmal auch in Gestalt einer halben Nuß. Hierauf folgt die eigentliche, hochinteressante Paarung; die Eier speit das Männchen nachher in jene Schaumhülle hinein, vertheilt dieselben und bewacht fortan den Laich vor der Gefräßigkeit des Weibchens, welches unablässig zurückgetrieben wird. Schon nach drei Tagen erkennt man die Jungen, welche auch bald aus dem Neste wollen und vom Männchen mit dem Maule wieder aufgefangen werden. Oft packt es sogar mehrere der Flüchtlinge auf einmal und sperrt sie wieder ein, um sie vor dem Weibchen zu retten. Nach 10 bis 12 Tagen sind die Kleinen schon selbstständig, und nun ist es Zeit, die Alten zu entfernen, denn jetzt betheiligt sich auch das Männchen an dem Vertilgen der Jungen, weshalb man für das alte Paar einen andern Behälter haben muß, worin sie das Nistgeschäft nach drei Wochen fortsetzen. Das Laichen wiederholt sich bis Mitte September mehrmals, der jedesmalige Wurf mag an 1000 Eier betragen, doch gehen sehr viele zu Grunde in Folge von Pilzbildungen im Wasser. Man füttert die Jungen erst, wenn sie zwei bis drei Centimeter groß sind, und dann nur mit sehr wenig Milch von ausgequetschten Ameiseneiern. Erst später erhalten sie die obengedachte Nahrung der Alten. Fortpflanzungsfähig sind manche schon mit einem Jahre, meist aber erst mit zwei Jahren.
Außerdem züchtet die Anstalt Matte’s noch die ebenfalls ziemlich begehrten japanischen Goldfische in Masse, doch sind dieselben noch theuer, während Makropoden um sechs bis acht Mark das Paar zu haben sind. Jene Goldfische sind ganz eigenartig, mit sonderbaren Formen und großem Doppelschwanze, der die Bewegungen sehr hindert. – Eigenthümlich erinnert der Teleskopfisch an die schiefen Schlitzaugen der Chinesen, seiner Heimathgenossen; man ist förmlich überrascht ob des seltsamen Geschöpfes, das den japanischen Goldfischen an Gestalt ähnlich ist, aber solch fürchterliche Glotzaugen zeigt, daß dieselben von der Mutter Natur wohl in einer ganz speciell chinesisch angehauchten launischen Stunde erschaffen sein müssen. Diese Art ist dazu noch durch Zucht verändert worden, sodaß man sogar eine ganz schuppenlose Varietät davon erzielt hat.
Die Anstalt stellt nebenbei auch die Aquarien auf Wunsch her und versendet sie sammt aller Einrichtung dazu, falls man sich diese nicht selber in Wald und Feld, an Seen und Flüssen einsammeln will, wo es ja nicht an Pflanzen, Steinen, Bachmuscheln, Flugsand etc. mangelt. Bisher, so berichtet der Besitzer, fanden sich bei ihm immer vorwiegend Gäste mit den langen Bärten vom Newastrande oder mit hohen grauen Filzhüten und englischen Reisehandbüchern ein, weniger hingegen die deutschen Touristen, deren Interesse zu wecken bei der finanziellen Bedeutung der Sache eine nationale Pflicht ist.
Brausejahre.
(Fortsetzung.)
Die Festlichkeiten auf der Ettersburg waren zur allseitigen Zufriedenheit abgelaufen. Die Hofgesellschaft kehrte nach Weimar zurück und bereitete sich auf neue gesellige Freuden vor, als eine Trauernachricht für kurze Zeit eine ernste Gemüthsstimmung unter den lustigen Weltkindern verbreitete.
Es langte von den Verwandten Emiliens von Werthern auf Leitzkow die Anzeige ihres plötzlichen Todes in Weimar an, und lief bald als Neuestes, Schreck verbreitend, von Mund zu Mund.
Die junge reizvolle Frau, bewundert und beneidet, der Ausgelassensten Eine, plötzlich dahingerafft, mitten aus dem blühenden Leben fort – es war erschütternd für alle jene fröhlichen, lebenslustigen Gemüther, die kaum jemals an ein Ende solcher guten Zeit gedacht hatten, oder doch nur an ein ganz fernes, das sich lange vorher mit grauen Locken und lebensmüder Hinfälligkeit ankündigt. Das Ergreifendste aber war ein leises Gerücht, als sei die Nachricht, daß Emilie am Schlagfluß gestorben, nicht wahr, als habe sie gewaltsam und von eigner Hand geendet.
Der so plötzlich verwittwete Rittmeister von Werthern hatte die Trauerkunde nicht einmal so früh erhalten, um zur Beerdigung hinüber zu reisen. Er schien nicht sonderlich betrübt, was Niemanden Wunder nahm, da das Verhältniß des Ehepaares zu einander kein Geheimniß geblieben war.
Der Herzog ließ es sich nicht nehmen, die alte würdige Frau von Werthern persönlich aufzusuchen. Er hatte so manche frohe Stunde mit der hübschen Milli vertändelt, hatte einen pikanten Reiz in dem Kokettiren mit ihr gefunden, daß er jetzt in seinem warmen, ehrlichen Herzen sich recht erschrocken und betrübt fühlte. Mochte sein eigentliches Liebesempfinden bei jenem Verkehr auch kaum gestreift sein, so war es doch die beste Cameradschaft gewesen, welche jetzt von der rauhen Hand des Todes so plötzlich getrennt wurde. Er fand die alte Dame, bei der er seinen Besuch zuvor hatte ansagen lassen, gefaßter als er fürchtete. Sie kam ihm mit der feinsten Form entgegen; und bald waren diese beiden Menschen in einer ernsten Unterhaltung.
„Mein armer Liebling,“ sagte Frau von Werthern mit bebender Stimme, „ist früh hinweggerafft; wie sollte aber ich darüber klagen, da für mich ja ein Wiedersehen so nahe liegt. Was mich betrifft, so will ich Eurer Durchlaucht nicht verhehlen, daß ich Gottes gnädige Fügung bewundere. Jetzt darf ich es wohl aussprechen, daß dies liebenswürdige Geschöpf nicht glücklich war; ach, und sie hätte es so sehr verdient! – Wenn ich hinzufüge, daß einer jungen schönen Frau, die ohne Schutz und Stütze von Seiten ihres Gatten dasteht, Gefahren drohen, werden Eure Durchlaucht mich gewiß verstehen. Wir sind mehrmals überein gekommen, daß der Tod besser sei als ein Verirren vom rechten Wege. Sie wollte so gern brav und tugendhaft bleiben, meine kleine leichtlebige Tochter; jetzt ist sie allen Versuchungen entrückt; wohl ihr!“
„Ich fühle den Vorwurf, der in diesen Worten liegt, verehrte Frau,“ entgegnete der Herzog tief bewegt. „In seiner ganzen Schwere verdiene ich ihn aber nicht. Es war zwischen uns immer nur auf eine flüchtige Unterhaltung abgesehen; ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich nie etwas gethan habe – und hoffentlich nie gethan hätte – was Emilie mit ihrem Gewissen in einen Conflict hätte bringen können. Außerordentlich bedaure ich in diesem Augenblicke mein Verhalten, da ich fürchten muß, daß es Ihnen Anlaß zu Besorgnissen gegeben hat.“
Frau von Werthern konnte dies nicht in Abrede stellen, war aber in ihrem loyalen Herzen gerührt, ja geradezu ergriffen von der Offenheit und Güte ihres jungen Landesherrn; sie gab diesen Empfindungen Ausdruck, und man trennte sich beiderseits mildbewegten Gemüths.
Karl August fühlte sich heute weich gestimmt. Nie war ihm bisher in seiner jungen Ehe das Bedürfniß gekommen, mit Luisen [531] eine Verständigung zu suchen, jetzt aber empfand er Verlangen darnach. Verheirathet, ehe er den Wunsch empfunden, hatte er den Besitz der liebenswürdigen Frau bis jetzt nicht zu schätzen gewußt. Es war nicht das Rechte zur rechten Zeit gewesen. Aber sollte sich nichts nachholen lassen? Getrieben von einem warmen Impulse, verließ er die milde alte Frau mit dem guten Vorsatz, einmal bei seinem jungen Weibe anklopfen zu wollen.
Seine Gemahlin trauerte wie er; sie hatte gleich nach ihrer Rückkehr von der Ettersburg Nachricht vom Tode ihrer geliebten Schwester – der Großfürstin Paul in Petersburg – erhalten, und ihm fiel ein, daß er sie in den letzten Tagen nur flüchtig und dann mit verweinten Augen gesehen habe. Mitleidige Sympathie und eine größere Gleichstimmung als je zuvor ließen ihn mit erwartungsvoll pochendem Herzen ihrer Thür nahen.
Luise saß in tiefes Schwarz gekleidet, die Hände im Schooß gefaltet, das feine, bleiche Haupt gesenkt, in ihrem Zimmer, dem Vorlesen ihrer Gesellschaftsdame, des Fräuleins Henriette von Wöllwarth, lauschend. Es war ein Gesang aus Klopstock’s eben erschienenen Messias, den Henriette mit kräftig ernster Stimme und einem gewissen monotonen Pathos vortrug.
Als der Herzog, den man nicht gewöhnt war um diese Stunde hier zu sehen, plötzlich eintrat, blickten sich beide Damen erschrocken nach ihm um und erhoben sich gleichzeitig zur Begrüßung; Luise sank müde wieder auf ihren Stuhl zurück, das Hoffräulein machte eine tiefe Verbeugung.
Karl August reichte seiner Frau mit theilnahmsvollem, zärtlichem Ausdruck seiner lebhaften Augen die Hand; Luise senkte ihre Blicke, die sie nur flüchtig erhoben hatte, sogleich wieder und verharrte in einer matten Apathie.
Sich jetzt zu dem Hoffräulein wendend sagte der Herzog einfach: „Ich möchte mit meiner Frau allein sein.“
Henriette sah ihn erstaunt an, so ernsthaft und ruhig war ihr Gebieter nie gewesen; sie wiederholte ihre Verbeugung und verließ das Zimmer, worauf er ihren Platz einnahm.
Jetzt blickte auch die Herzogin fragend zu ihm auf.
Als er schwieg und – wie stets, von ihrer Erscheinung, ihrem Ausdruck erkältet – nicht gleich das rechte Wort finden konnte, um eine Unterhaltung anzuknüpfen, rief sie:
„Ist etwas Besonderes geschehen? Ist wieder eine Trauerbotschaft gekommen?“
„Nein,“ entgegnete er ernsthaft, „ich dächte, wir hätten Beide genug.“
„Wir?“ fragte sie, und lehnte sich mit kühler Gereiztheit zurück. „Bis jetzt hast Du an meinem Verlust, der mich so tief schmerzt, nicht diesen persönlichen Antheil genommen.“
Er ward verlegen. Niemals sonst – nur ihr gegenüber, die es hätte vor Allen verstehen sollen, ihn behaglich zu stimmen – hatte Karl August mit einer Anwandlung von Verlegenheit zu kämpfen. Und da etwas Derartiges seiner freimüthigen Natur fern lag, seinem Blut ein fremder Tropfen war, dessen er sich gewöhnlich in derber Weise entledigte, ward dieser lästige Einfluß, der von ihrer Persönlichkeit auf ihn ausging, eine der Ursachen jener traurigen Entfremdung, welche zwischen ihnen bestand.
Karl August hatte in seiner geraden Arglosigkeit in der That gar nicht daran gedacht, daß er kaum Theilnahme von seiner Frau bei dem Verluste einer Coeur-Dame erwarten könne, die, ihrer ganzen Art nach himmelweit von Luisen verschieden, dieser gewiß sehr wenig sympathisch gewesen war. Was sollte er jetzt sagen? Sollte er plötzlich über den Tod der ihm unbekannten Schwägerin mit ihr klagen, oder sollte er seinen von dem ihren so verschiedenen Herzenskummer ihr verrathen? Sein gerader Charakter verschmähte Alles, was einer Verstellung ähnlich sah, und so erwiderte er ihr nach kurzer gedankenvoller Pause: wie er ja über den Tod der Schwester ihr sein Bedauern längst ausgesprochen, wie sie keinen eigentlichen Schmerz von ihm erwarten könne, da er die Verstorbene nie gesehen habe, und wie er jetzt betrübt zu ihr komme, um ihre Theilnahme an dem Tode der kleinen Werthern – der ihm nahe gehe – zu suchen, bei deren trefflicher alter Schwiegermutter er eben gewesen sei.
„Die kleine Werthern?“ sagte Luise kühl, „ja, ich hörte, daß sie plötzlich irgendwo auf dem Lande gestorben sei. Das mag einer so lebenslustigen Person schwer geworden sein; da sie es aber einmal überstanden hat, wüßte ich nicht, was mein Gemahl in ihr oder mit ihr verloren haben könnte?“
Sie sprach das in der allerruhigsten, gleichgültigsten Weise. Sie hätte ihn um die Welt nicht verrathen mögen, welche peinvollen Stunden eifersüchtiger Sorge sie der hübschen Verstorbenen halber schon durchlitten, wie oft sie sich gekränkt gefunden, wenn sie gesehen, daß Emilie es verstand, den Herzog zu erheitern, und wie viele Male sie die Leichtigkeit und Grazie jenes jungen Weibes zu besitzen gewünscht hatte. Sie that aber jetzt, als habe sie nie geahnt, daß der Herzog Milli bevorzuge.
Er begriff diese Arglosigkeit nicht, die er für volle Nichtbeachtung seiner selbst nahm.
„Wenn ich froh und lustig bin,“ sagte er jetzt in verdrießlichem Tone, „willst Du nichts davon hören; wenn mich etwas betrübt, ist Dir’s einerlei; ich möchte wissen, wann wir uns einmal in derselben Empfindung begegnen, und ob wir uns jemals verstehen werden?“
Dieser Vorwurf berührte das Herz der jungen Frau auf das Schmerzlichste, da er die Wahrheit traf; die Wahrheit, welche sie anerkennen mußte, so sehr sie auch darunter litt. Was sollte sie aber thun? Wie konnte sie mit ihm über den Tod einer Frau trauern, deren Hinscheiden ihr doch die größte Erleichterung verschaffte! Sie war viel zu rein, viel zu stolz, sich mit der Lüge einer solchen Trauer zu beflecken, und fand in ihrem hülflosen Ungeschick keinen anderen Ton, als den kühler Gleichgültigkeit. Ihre geringe Anlage für unbefangene, liebenswürdige Gefühlsäußerungen wurde aber unter den ihr beschiedenen Verhältnissen weder geweckt noch gepflegt. Karl August besaß nicht die Zartheit und Consequenz, um ihr Empfinden heraus zu locken und zu schonen. Ihre scheue Zurückhaltung, ihr Festhalten an der anerzogenen strengen Form langweilten ihn; er wollte heitere, ankömmliche, derbe Menschen! – Wagte sie sich einzelne Male mit leisen Symptomen ihres Empfindungslebens hervor, so beachtete er dieselben, an stärkere Reizungen gewöhnt, gar nicht, verschüchterte sie, widersprach ihr und beging täglich Dinge, die sie – wenn sie es gewagt hätte, ihn streng nach ihrem Sinne zu beurtheilen – Rohheiten und Tactlosigkeiten genannt haben würde. Sie liebte ihn aus Pflichtgefühl – eine davon abweichende Neigung wäre dieser Natur nicht möglich gewesen – und empfand es stets als Schmerz, ihm ihre Liebe nicht zeigen zu können. Aber ebenso wie ihr Sein einen Druck auf ihn ausübte, so empfand sie in seiner Nähe die Scheu der zarten Seele vor der Möglichkeit einer von ihm ausgehenden harten Berührung.
Auch diesmal fanden Beide keine Verständigung.
Der Herzog ließ sich, halb aus Aerger und Eigenwillen, jetzt noch lobender über die Verstorbene und betrübter über den Verlust aus, welchen er mit ihr erlitten, als er vorher gewollt hatte. Er sagte mehr, als er empfand, sagte, daß er Milli gern gehabt habe. Luise ärgerte ihn mit ihrer kühlen Passivität, mit der er nichts anzufangen wußte. Hätte er sie doch aufstacheln, beleben, einmal zur Heftigkeit reizen, bis auf den Grund zur vollsten Offenheit erschließen können! –
Sie war ein Wesen, das er nicht begriff; ihr schweigendes Zurückweichen hielt er für Trotz, ihr stilles Dulden für Kälte, er glaubte, es liege nur an ihrem mangelhaften guten Willen, sich ihm so warm und offen zu geben, wie er sie zu finden begehrte.
Als er sie jetzt wieder so weit in sich verscheucht sah, daß sie bewegungslos mit niedergeschlagenen Augen dasaß, kein Wort sprach, kaum zu hören schien, sprang er auf, murmelte zwischen zusammen gebissenen Zähnen: „Automat!“ und stürzte fort.
Er fühlte sich so sehr in seinem innerstern Gleichgewicht gestört, daß er aus eigener Kraft kein Behagen wiederfinden konnte und sich mächtig gedrängt fühlte, ein Aussprechen mit dem verständnißvollen Freunde zu suchen. Unverweilt eilte er nach Goethe’s Gartenhaus am Stern hinaus, um sein Herz vor dem Getreuen auszuschütten. Es war ein schöner, warmer Sommerabend; Goethe begoß seine neben dem Häuschen gelegenen Blumenfelder. Sowie er, sich von seiner Arbeit aufrichtend, dem heranstürmenden Herzoge in’s Gesicht sah, las er in dessen erregten Zügen, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müsse. Prüfend und fragend senkten sich seine Blicke in die Augen des Andern.
„Komm, Wolfgang,“ sagte der Fürst gereizten Tones, „laß Deine Blumen und schenke mir die Wohlthat einer liebevollen Linderung meiner Herzensdürre.“
Er nahm Goethe’s Arm und zog ihn unter die Bäume, auf schattigen Terrassenwegen hinan, auf denen sie in der Stille und [532] Einsamkeit eines Waldpfades mit einander allein waren und wo nichts des Herzens, freie Sprache hinderte.
„Und nun –,“ so schloß Karl August, sein ehrliches Bekenntniß – „nun komme ich zu Dir, um einen gesunden Athemzug zu thun, des Grimms ledig zu werden Und mich mit mir selber zurecht zu finden. O, warum sind doch zwei so verschiedene Naturen an einander gekettet!“
„Und die Fürstin ist so verehrungswürdig,“ sagte Goethe mild. „Mitleidig sehe ich sie auf ihrer einsamen Höhe; ohne Talente, ohne Wirksamkeit auf Andere, abgeschlossen, schwerlebig, aber rein und klar wie Bergwasser.“
„Und ebenso unangreiflich, unter den Händen kühl verrinnend. Man kann ebenso gut Wasser mit der Scheere schneiden, wie Eindruck auf diese Natur machen! Dagegen das arme Ding, die Milli! Ein immerwährendes Schillern, Reizen, Ausweichen und Entgegenkommen; ein Spielzeug in lustig wechselnden Formen. Sie war mir nicht so werth wie Du, ich habe sie kaum recht lieb gehabt, aber sie wird mir in jeder Gesellschaft fehlen, und mein Herz kommt mir leer vor, wie ein ausgeblasenes Ei.“
„Könnte man doch in dasselbe die rechtmäßige Bewohnerin, Dein Weib, triumphirend hinein führen! Fände sich doch eine Hülfe, Euren Mißklang zur Harmonie zu lösen! Aber Alles bleibt bei der Herzogin in verschlossener Knospe. Das Zugeschlossene schließt Alle zu, das Offene öffnet, vorzüglich wenn Hoheit in Beiden wohnt. Trotz Allem ist Luise ein Engel!“
„Ho ho!“ rief der Herzog und sah den Freund scharf an.
„Das war ein starker Ausdruck! Gehst Du zur feindlichen Partei über?“
Der Herbst kam. Es war beschlossen, in Tiefurt ein Erntefest zu begehen; der ganze Hofkreis sollte – zu einer ländlichen Maskerade ausstaffirt – dort erscheinen und sich in ungebundener Weise ergötzen. Das kleine Kammergut Tiefurt, an beiden Ufern der Ilm gelegen, gehörte der Herzogin-Mutter, die hier dem Prinzen Konstantin mit Knebel seinen Wohnsitz angewiesen hatte, aber selbst oft auf Wochen mit Thusnelda draußen war. Sie ließ dann nach ihrem Sinn arbeiten und bessern und die Umgebung mehr und mehr verschönern. Wieland, der hier oft bei seiner Gönnerin weilte, nannte den Park einen so holden Zauber, daß er ihn gegen das allerbrillanteste Stück der Feenwelt nicht vertauschen möchte!
Das Schlößchen, eigentlich nur ein zweistöckiges Wohnhaus mit fünf Fenstern in der Front und einem Wirthschaftsgebäude, wurde von prächtigen Kastanien beschattet; wilder Wein deckte das Nebengebäude und die Mauer, welche den Oekonomiehof absonderte. Unten wohnte Knebel mit seinem Prinzen und einem Kammerdiener. Auf der andern Seite des Flurs lagen ein paar Gastzimmer, von denen das beste vorwiegend für den Herzog bestimmt war. Oben befanden sich die Gemächer der Herzogin, der Göchhausen und einige Gesellschaftsräume.
Die Herzogin Luise hatte zu dem heutigen Feste mit ihrem Hofstaat absagen lassen; nur Henriette von Wöllwarth, die dienstfreie Hofdame, durfte erscheinen. Luise hielt sich seit jener unerfreulichen Berührung mit ihrem Gemahl, unter dem Vorwande in Trauer zu sein, streng abgeschlossen und brütete in Trostlosigkeit über der fürchterlichen Bitterniß jenes Bekenntnisses Karl August’s: der Neigung für die Verstorbene. Luisens reine Natur konnte darüber nicht hinauskommen; sie nahm die übermüthige Knabenlaune ihres Gatten für ebenso heiligen Ernst, wie solcher ihr ganzes Empfinden beseelte, und zog sich tief verletzt immer mehr von ihm und in sich selbst zurück.
Die Herzogin Amalie war recht erleichtert, daß Luise mit ihrem Hofpersonal ihr harmlos lustiges Fest nicht stören werde. Es hatte zwei Uhr geschlagen, um drei erwartete man die Gäste aus Weimar. Alles war vorbereitet, und die Herzogin ging in ihr Schlafzimmers um Toilette zu machen. Die Göchhausen stieg mit ihr die Treppe hinan, da ihr kleines Gemach nicht weit von dem der Herzogin lag.
„Komm mit zu mir herein, Thusnelda,“ sagte Amalie, „Du wirst immer noch fertig.“
Das Hoffräulein trat mit in das Zimmer der Herrin. Demoiselle Kotzbue, die hübsche Kammerfrau der Herzogin, hielt deren ländlichen Putz bereit. Während sie ihr den Puder aus dem Haar bürstete, dasselbe mit rothen Bändern in zwei starke Zöpfe flocht und sie stattlich als Wirthin und Pachtersfrau herausstaffirte, plauderte die Herzogin mit der Vertrauten.
„Deine Schulzin schläft diese Nacht natürlich im Wirthschaftshause,“ sagte sie zunächst zu der Göchhausen. „So leid mir’s thut, Kotzebue,“ fuhr sie dann fort, „Sie müssen auch dahin; wir brauchen hier jedes Winkelchen für die Gesellschaft. Ihre Kammer wird Damengarderobe. Für den Herzog, für Goethe, Wieland, Einsiedel und Steins sind unten die Zimmer fertig, sie bleiben ein paar Tage hier.“
Thusnelda Göchhausen schlüpfte in ihr Gemach, wo die Schulzin sie eilig in ein drolliges kleines Bauernmädchen umwandelte.
Der Herzog, Constantin, Goethe, Wieland und Einsiedel hatten sich, in ihrem ländlichen Putze einander belachend und neckend, schon auf dem Rasenplatze vor dem Hause eingefunden.
„Solch eine Maskerade bei hellem Tage, im Sonnenscheine, zwischen grünen Bäumen und anderen Wirklichkeiten, ist ein Götterspaß!“ rief der Herzog mit jugendlicher Heiterkeit. „Nie sah ich einen würdigeren Erbonkel, als hier unsern liebwerthesten Gevatter Wieland. Ein gediegeneres Prachtstück von einem Dorfältesten kann man sich nicht denken!“ fügte er, den Hofrath halb umarmend, hinzu. „Und unser süßer Constantin sieht aus, als wolle er, von seiner Lina angelächelt, ein weiß Lämmlein am Seidenbande auf die elysische Weide von Camillenblumen und Rosenblättern führen!“
Der schlanke Prinz schnitt ein Gesicht und wandte sich ab, ihm war es so durchaus Ernst mit seiner sentimentalen Gemüthslage. Er empfand tiefer als der burschikose ältere Bruder und trachtete voll heiliger Scheu darnach, die lebhaften Regungen seines jungen Herzens zu verhüllen.
Mittlerweile fuhren die ersten Wagen der Stadtgäste in der Allee herauf, und zugleich trat Anna Amalia mit der Göchhausen, Herrn und Frau von Stein und Knebel, Alle in ländlichem Putz, vor die Thür. Die beiden Steins sollten Hofknecht und Magd vorstellen, die Göchhausen war Kleinmädchen – wie sie selbst sagte: Kükenlise –, Knebel aber galt für den Hausherrn und Pachter und spielte eine recht würdige Figur mit seinem breitschößigen Rocke und den rothen Tragbändern auf weißem Hemde.
Die Gäste, welche mit ihren Rollen und dem Festprogramm vertraut waren, fuhren unter Winken und freudigen Zurufen am Schlosse vorbei auf den Pachthof, wo jeder Wagen mit Musik empfangen wurde. Ihnen schlossen sich einzelne Gefährte an, die Gäste brachten, welche am Erntezuge nicht betheiligt waren.
Wieland hatte sich mit zu den Hausgenossen gesellt, während der Herzog, Constantin, Goethe und Einsiedel, durch ein Mauerpförtchen nach dem Wirthschaftshofe schlüpfend, dort die Ankömmlinge begrüßten und ihren Festzug ordneten.
Es währte nicht lange, so war Alles bereit. Blasend schritten einige Dorfmusikanten voran, denen der ganze Aufzug folgte. Zuerst kam der mit vier Pferden bespannte Erntewagen, auf dem Auguste von Kalb und Henriette von Wöllwarth mit dem Erntekranze saßen; bunte Bänder flatterten und Blumengewinde hingen von oben herunter. Auf dem vordersten Sattelpferde ritt der Herzog als erster, auf dem andern Goethe als zweiter Fahrknecht. Mit Rechen, Sicheln, Garben, grünumwundenen Schäferstäben, Netzen, Körben und anderen Geräthen folgte nun eine erlesene Schaar jugendlicher Theilnehmer; Alle in ländlich buntem Anzuge, phantastisch herausgeputzt.
Man nahm Aufstellung; während die Musik ein lustiges Stückchen blies, stiegen die Reiter ab, halfen den beiden Mädchen vom Wagen und trugen den Erntekranz zu dem Herrn und der Herrin. Es folgte ein Anreden- und Antwortenspiel, welches, von Hildehrand von Einsiedel verfaßt, munter von den Betheiligten vorgetragen, Sinn und Zweck der Auffahrt darthat und die Gesellschaft angenehm unterhielt. Den Schluß machte die Aufforderung der Herrin: zum Danke für die Erntemühen Bewirthung und Tänzchen anzunehmen.
Der Herzog als Großknecht antwortete für die Uebrigen: die Einladung freue sie herzlich. Das Spiel war zu Ende, und eine angenehme, heitere Unterhaltung folgte.
[533]
Blätter und Blüthen.
Die Erderschütterungen in Staßfurt.
„Habt Acht!
Halt mit Wacht
An diesem Schacht,
Du liebe Vaterstadt!
Daß er niemals untergehe,
Daß er fort und fort bestehe
Zum Wohl der Stadt.
Aus zehntausend Bergmannshänden
Mög’ er seine Schätze senden,
Segensfülle reichlich spenden
Für Staat und Stadt.
Niemals hör’ man aus ihm Wehe,
Allen drinn es wohlergehe!
Gottes Segen ruhe drauf!
Glück auf!“
Mit diesen Wünschen begrüßten die Bürger Staßfurts die feierliche, im Jahre 1852 erfolgte Eröffnung des Schachtes inmitten ihrer Vaterstadt, und drei Jahrzehnte hindurch spendete das Steinsalzbergwerk den erhofften Segen. Der reiche Gehalt seiner Lager an Kalisalzen gab bald Veranlassung zur Gründung großer chemischer Fabriken, durch welche Staßfurt gegenwärtig einen großen Theil der Welt mit concentrirten Kalisalzen versorgt. Erst in den letzten Jahren wurde die Bergmannsarbeit unerwarteter Weise zu einer Quelle tiefer Beunruhigung für die strebsamen Einwohner der weit und breit bekannten Fabrikstadt, die in dem fruchtbaren Bodethal dicht an der anhaltischen Grenze im preußischen Regierungsbezirk Magdeburg gelegen ist und gegenwärtig 15,000 Einwohner zählt.
Schon in grauer Vorzeit wurden hier Salzquellen in reicher Anzahl entdeckt, aus welchen bis in die neuere Zeit auf preußischem und anhaltischem Gebiete Soolsalz gewonnen wurde. Die preußische Saline war früher im Besitz einer adligen Pfännerschaft und wurde von dieser 1796 an den preußischen Staat verkauft. Dieser konnte aber, weil an verschiedenen Punkten der Gegend südlich vom Harze Steinsalz erbohrt war, sich mit der Verarbeitung der schwachen Soole nicht mehr begnügen, und ließ deshalb am 24. April 1839 auf dem Hofe der Staßfurter Saline nach Steinsalz bohren. In einer Tiefe von 256 Meter gelangte man im August des Jahres 1843 auf ein Steinsalzlager, in welchem die Bohrarbeit 325 Meter fortgesetzt wurde, ohne damit seine untere Grenze zu erreichen. Die Arbeiten zur Hebung des reichen Salzschatzes wurden nun fleißig fortgesetzt, sodaß am 31. Januar 1852 die Inangriffnahme des Förderschachtes erfolgen konnte. Auch der anhaltische Staat brachte in nächster Nähe Staßfurts einen Schacht zwecks Salzbergbaues nieder, dessen Grubenbaue von denen des preußischen Bergwerks zur Zeit in den oberen Sohlen nur durch eine stehengelassene Wand von 50 Meter Stärke getrennt sind.
In beiden Werken ist der Abbau in der Weise erfolgt, daß in gewissen Entfernungen Salzpfeiler stehen gelassen sind, welche die auf ihnen lagernde Last zu tragen haben, und zwar ist im preußischen Werke der Abbau in 7 über einander liegenden Etagen erfolgt. Jede Etage ist circa 8 Meter hoch, und von der über ihr liegenden durch ein Salzzwischenmittel von 5 Meter Stärke getrennt.
Auch in Leopoldshall, dem anhaltischen Schachte, ist Etagenbau getrieben. Von einem sonstigen Stützen des Hangenden, als durch die stehengelassenen Salzpfeiler, glaubte man wohl wegen der bedeutenden Tiefe der Schächte und angesichts dessen, daß sich über das Salzlager eine felsenfeste, viele Meter starke Anhydritdecke wölbt, absehen zu dürfen.
Vor etwa fünf Jahren aber merkte man zuerst in Leopoldshall, daß die Pfeiler einiger Etagen nachzugeben begannen: die Ausdehnung der untertrdischen Baue war wegen des starken Betriebes so groß geworden, daß die natürliche Spannung im Hangenden aufgehoben wurde, und so erfolgte, da die Salzlagen in schräger Richtung einfallen, ein Abgleiten der betreffenden Tragflächen und in Folge dessen ein Einstürzen der Pfeiler. Mehrere Etagen brachen nach und nach in einander zusammen, sodaß dieselben verlassen werden mußten. Diese kolossalen Zusammenbrüche wirkten natürlich bis zur Oberfläche, und fast täglich verspürte man Erschütterungen in Leopoldshall und dem benachbarten Staßfurt. Die Folge war, daß die anhaltische Regierung mehrere durch die fortwährenden Bewegungen unbewohnbar gewordenen Leopoldshaller Wohnhäuser ankaufen und abbrechen lassen mußte.
Die größte Aufregung in beiden Nachbarorten rief es hervor, als im vorigen Jahre im Südosten von Leopoldshall in unmittelbarer Nähe des dortigen Wasserwerkes ein Tagebruch mit einem Durchmesser von circa 20 Meter und einer Tiefe von etwa 18 Meter erfolgte (vergl. nebenstehende Abbildung). Später stellte sich heraus, daß hier ein Erdfall vorliegt, welcher auf das Zusammenbrechen einer Gypsschlotte zurückzuführen ist, der das Wasser durch die Grubenbaue entzogen war. Nach und nach jedoch, und zwar im Frühjahr 1883, waren die Erschütterungen in Staßfurt immer kräftiger geworden. Bedeutende Erdsenkungen bis zu 1/2 und 3/4 Meter fanden statt, namentlich in der Ritter- und Wallstraße. Hier sind darum auch die am schwersten beschädigten Häuser, welche zum Theil bereits geräumt sind, zu finden. Nach einer noch im Lothe stehenden Wand kann man in den am meisten gesunkenen Theilen dieser Straßen (z. B. der Ritterstraße) wohl vergeblich suchen; die Fenster und Thüren mehrerer Häuser sind zusammengedrückt, sodaß sie mit starken Holzpfosten ausgekleidet werden mußten, die Wände geborsten, sodaß man von der Straße aus in das Innere der Zimmer schauen kann etc. Auch neuerdings haben wieder einzelne Häuser auf polizeiliche Anordnung geräumt werden müssen, weil ihr Einsturz droht.
Die hinter der Wallstraße führende Stadtmauer ist durch Zimmerung gestützt worden. – Von hier aus kann man die Verheerungen an Gebäuden über den großen Oekonomiehof der Firma Bennecke, Hecker u. Comp. bis nach dem Sandplatze und den angrenzenden Straßen desselben, sowie über den Marktplatz weg verfolgen. Auch die auf diesem stehende St. Johanniskirche hat derart gelitten, daß sie bis auf Weiteres geschlossen worden ist. – Auf Seiten der Staßfurter Bergwerksverwaltung glaubte man Veranlassung zu haben, den Herd der im Staßfurter Gebiet nunmehr stärker fühlbaren Oberflächen-Erschütterungen in fortgesetzten Gebirgszerstörungen über dem zunächst liegenden Theile der Leopoldshaller Grube zu suchen, welcher in Folge der Pfeilerbrüche seit mehreren Jahren nicht mehr zugänglich war. Nach weiterem Verlaufe der Erschütterungen wurde die Gegend zwischen den beiden Grubenfeldern und der oberen Grenze der preußischen Grube als Ausgangspunkt der Erschütterungen erkannt.
Behufs objectiver Erörterung der in Betracht kommenden Verhältnisse wurde von den beiderseitigen Regierungen eine Commission von bergmännischen Fachmännern zusammenberufen. Dieselbe erkannte an, daß die betreffenden Erschütterungen in Berstungen des Anhydritlagers ihre unmittelbare Veranlassung haben, daß ferner zwischen den Berstungserscheinungen einerseits und den Senkungserscheinungen an der Oberfläche in dem Stadtgebiete Staßfurt, sowie den Druckerscheinungen im preußischen Salzwerke andererseits ein Zusammenhang besteht.
Der Eimvohnerschaft Staßfurts hatte sich begreiflicher Weise eine lebhafte Unruhe bezüglich der Erhaltung des Eigenthums bemächtigt, ja [535] besonders ängstlichen Gemüthern trat die Sorge für Leben und Gesundheit nahe. Um die Sorge wegen des Eigenthums zu zerstreuen, wurde von der Regierung die förmliche Erklärung erlassen, daß sie den Hauseigenthümern gegenüber für alle in Staßfurt auftretenden Bergschäden aufkommen werde.
In diesem Sinne wurden vom Fiscus zunächst Hausreparaturen vorgenommen bez. die von den Hauseigenthümern hierfür verlegten Beträge ersetzt, Miethsausfälle gedeckt u. dergl. Sodann wurde zu weitergreifenden Schadensregulirungen, als Ankauf unbenutzbar gewordener Gebäude, Ausgleichung dauernder geschäftlicher Nachtheile u. dergl. geschritten. Es ist auch zu erwarten, daß dem Versprechen gemäß nach und nach, wie es der Charalter der zum großen Theil noch nicht abgeschlossenen Beschädigungen allein gestattet, alle Beschädigten zu ihrem vollen Rechte kommen werden.
Zugleich wurden die bereits früher verfügten und begonnenen Arbeiten zur Ausfüllung der durch den Bergbau unterhalb der Stadt hergestellten Hohlräume mit dem durch die Verhältnisse bedingten Grade von Energie weiter geführt. Als Erfolg dieser Arbeiten ist hervorzuheben, daß die Gefahr weiterer Senkungen von irgend welcher Erheblichkeit für das ganze Centrum der Stadt bereits als beseitigt gelten kann und auch für deren übrigen – südlichen – Theil voraussichtlich bald beseitigt sein wird, sowie, daß Erschütterungen, welche früher fast täglich sich wiederholten, jetzt nur noch etwa vier- bis fünfmal im Monat vorkommen.
Wünschen wir, daß gegen die fleißigen Menschenhände, welche bei diesem Sicherungswerke beschäftigt sind, die unruhigen Berggeister thatsächlich nicht mehr aufkommen mögen und die rührige Industriestadt Staßfurt in Zukunft um so fester gegründet stehen möge auf dem Boden, dem sie ihren Weltruf verdankt!
Die herzogliche Bibliothek in Wolfenbüttel. (Mit Abbildung S. 528.) Dieses Bild festzuhalten erscheint gerade jetzt als Pflicht, denn bald wird das ehrwürdige Gebäude mit seinen reichen und großen Erinnerungen von der Erde verschwunden sein. Schon seit recht langer Zeit war der alte Holzbau so gebrechlich geworden, daß den unersetzlichen Schätzen der berühmten Bibliothek die ernstesten Gefahren drohten; nach langen Verhandlungen hat die brennende Frage, wie und wo die kostbare Büchersammlung unterzubringen sei, ihren Abschluß damit gefunden, daß die braunschweigische Regierung sich zu einem massiven Neubau, dicht neben dem alten Gebäude, entschlossen hat. Dieser Neubau, der in würdiger Gestalt allen Anforderungen an Sicherheit und Zweckmäßigkeit genügen wird, ist bereits rüstig gefördert worden, und in wenigen Jahren wird die ganze Bibliothek in den neuen, schönen Räumen geborgen sein.
Die Welt hat nur wenige Büchersammlungen aufzuweisen, welche an Werth und Bedeutung sich der Wolfenbüttler zur Seite stellen könnten; für die Zeit vom Anfang des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts steht sie unbestritten an erster Stelle; kaum irgend ein Flugblatt jener großen reformatorischen Jahre wird in Wolfenbüttel vergebens gesucht werden. Aber auch noch weit höher hinauf, ja bis in’s 8. Jahrhundert ist die Wolfenbütteler Bibliothek durch Handschriften, für die mittleren Zeiten durch Druckwerke vertreten, welche vom höchsten Werthe sind und zum Theil als einzige Exemplare hervorragender Geisteswerke dastehen.
Der Ruhm, diese literarischen Schätze gesammelt und erhalten zu haben, gehört vor allem dem Herzoge August dem Jüngern, der 1635 zur Regierung gelangte. Er wurde 1579 in Dannenberg geboren, und da er als jüngerer Prinz nicht darauf rechnen konnte, einmal den Thron zu besteigen, so wandte er die Geisteskräfte, die ihm in ungewöhnlich reichem Maße zugefallen waren, den Studien zu, und er betrieb sie nicht als fürstliche Spielerei, sondern in ernster, nie ermattender Thätigkeit. Er besuchte die Universitäten Rostock und Tübingen; seine ungemein fleißig ausgearbeiteten Collegienhefte sind noch jetzt vorhanden. Nach einer fast vierjährigen Studienzeit sah er auf längeren Reisen Italien, Frankreich und England und ließ sich nach seiner Rückkehr in Hitzacker nieder, einem Städtchen mit Schloß, das ihm sein Bruder überwiesen hatte. Hier, in seinem Ithaka, wie er sagte, lebte er volle dreißig Jahre in glücklicher Zurückgezogenheit, unterhielt einen ausgebreiteten gelehrten und politischen Briefwechsel, beschäftigte sich mit den Wissenschaften und schrieb selbst ein Buch über das Schachspiel, das mehr als ein Jahrhundert lang das Hauptwerk in diesem Fache war; sein umfangreiches Tagebuch über alle Reisen, die er gemacht, ist eine wichtige, bis jetzt noch unbenutzte zeitgeschichtliche Quelle.
Nach seines Bruders Tode bestieg er 1635, selber schon 55 Jahre alt, den Thron. Das Land Braunschweig-Wolfenbüttel war durch den Dreißigjährigen Krieg auf’s schlimmste verwüstet, die Hauptstadt Wolfenbüttel selber war bis 1643 noch von den Kaiserlichen besetzt. Sobald Herzog August die Regierung übernommen, zeigte sich der gelehrte Fürst auch als einen höchst gewandten, praktisch erfahrenen, alles überschauenden Regenten, dessen Fleiß und Pflichttreue in kleinen wie in großen Dingen geradezu an Friedrich den Großen erinnern. Er gab nach eigenen Entwürfen eine neue Kirchenordnung, er half dem ganz vernachlässigten Schulwesen auf und setzte dabei, als eine Grundbedingung für das Gedeihen der Schulen, eine hinreichende Besoldung der Lehrer fest. Ferner schuf er auf anderen Gebieten eine fast vollständig neue Ordnung, sorgte für die Sicherheit der Landstraßen und erfreute sich an Jagd und Ritterspiel. Sein Kleinod aber war, wie schon früher, so auch jetzt seine Büchersammlung. Bei seinem Einzuge in Wolfenbüttel fand er werthvolle ältere Bestände an Handschriften und gedruckten Büchern, die von den Herzögen Julius und Heinrich Julius, dem Rechtsgelehrten, gesammelt waren, bereits vor, und die älteren literarischen Schätze mit den eigenen, theilweis schon in Hitzacker gesammelten zusammenzustellen und übersichtlich in einem besonderen Gebäude zu ordnen, war jetzt eine Lieblingsbeschäftigung, welche jede Mußestunde des ohnehin stark in Anspruch genommenen Fürsten ausfüllte. Er selbst sah die Buchhändlerkataloge sorgfältig durch, kaufte die neuen Bücher und ließ sich keine Mühe verdrießen, seltenen Werken so lange nachzugehen, bis er ihrer habhaft wurde; er selbst stellte die Bücher auf, ja er verfaßte eigenhändig den Katalog, vier starke Bände im größten Folio, jeder mehr als tausend Seiten stark, „das Ganze ein Werk von staunenswerther Geduld, und wahrhaft ehrwürdig, wenn man bedenkt, daß es die Frucht der Mußestunden eines regierenden Fürsten ist, der darüber nie eine Regentenpflicht versäumt hat“ – wie ein späterer Bibliothekar rühmt.
Bei dem Tode des Herzogs enthielt die Bibliothek fast 120,000 Werke; in seinem Testamente sagte er: „Wir wollen auch Unserem Sohne und dessen Successoribus auf ihr Gewissen dieses alles befehlen und dahin zu sehen ermahnen, daß dieser unermeßliche Schatz des ganzen Landes, auch Zierde Unseres ganzen Hauses, nicht in Abgang gerathen, sondern durch Gottes gnädigen Beistand erhalten und von Zeiten zu Zeiten vermehret werde.“
Aber von den Nachfolgern des Herzogs hat keiner den Erwartungen des Gründers der Bibliothek entsprochen. Von Zeit zu Zeit sind ihr größere Zuwendungen gemacht worden, zu andern Zeiten wieder hat man sie gänzlich vernachlässigt, und deshalb sind für die letzten beiden Jahrhunderte in ihren Beständen große Lücken zu verzeichnen.
Ein besonderer Ruhm wurde der Bibliothek noch dadurch zu Theil, daß Lessing von 1770 bis 1781 die Stelle des Bibliothekars verwaltete. Es ist bekannt, wie wenig Freude er an diesem Amte fand; er hatte höhere Aufgaben zu erfüllen, als Bücher zu hüten. Mit dem alten Bibliothekgebäude wird die Stätte der leidensvollen letzten Jahre seines Lebens verschwinden; sein Wohnhaus, das nahe dabei steht, bleibt als Wohnung des jetzigen Oberbibliothekars noch erhalten. Es ist ein sehr einfaches, einstöckiges Gebäude mit zwei Flügeln; über der Eingangsthür hat man 1881 eine Gedenktafel angebracht. Dies Haus ist die Stätte, wo „Nathan der Weise“ entstanden ist; es ist ebenfalls alt und ziemlich
[536] baufällig, lange wird es nicht mehr stehen können. Wenn man es niedergerissen hat, wie das bei der Bibliothek jetzt bevorsteht, so wird kein äußeres Erinnerungszeichen an den größten Mann, der je zu den Bewohnern des braunschweigischen Landes gehörte, in Wolfenbüttel mehr vorhanden sein. – Ferd. Sonnenburg.
Verbesserte Hyacinthen-Gläser. Seit einiger Zeit hat die sogenannte Caraffencultur der Hyacinthen eine ungeahnte Verbreitung gefunden, und die farbenprächtigen Blüthen der orientalischen Pflanze bilden den willkommensten Schmuck für die Doppelfenster unserer Wohnungen in der blumenarmen Winterszeit.
Leichter als die meisten unserer Zimmerpflanzen läßt sich die Hyacinthe zu effectvollen Gruppen vereinigen, denn, nachdem sie einmal von dem Menschen in Pflege genommen worden, zeigte sie sich ungemein gefügig und lohnte seine Bemühungen durch eine seltene Fülle sonderbarster Spielarten. Als sie im Jahre 1596 von Gerarde aus dem Oriente nach England eingeführt wurde, waren nur vier Varietäten von ihr bekannt, aber die holländischen Gärtner wußten aus ihr bald einen förmlichen Proteus zu machen, sodaß gegen das Ende des 16. Jahrhunderts schon 2000 Sorten von Hyacinthen cultivirt wurden.
Die so allgemein beliebte Cultur derselben in Wassergläsern erfordert sehr wenig Mühe. Nachdem die Zwiebeln an dunklem und kühlem Orte Wurzeln getrieben haben, bringt man sie allmählich an’s Licht und läßt sie unter mäßiger Wärme ihre prachtvollen Blüthen treiben. Ob ein regelmäßiges Erneuern des Wassers das Gedeihen der Pflanze wesentlich fördert, wird von vielen Blumisten als zweifelhaft hingestellt. In der Regel empfahl man bis jetzt, das Wasser in dem Hyacinthen-Glase nicht zu wechseln, sondern die verdunsteten Mengen desselben durch Nachgießen zu ersetzen. Andere Gärtner waren aber anderer Meinung und behaupteten, daß die minder günstigen Resultate, die man bei Wasserwechsel erzielte, lediglich auf die Beschädigung der Wurzeln beim Herausnehmen der Pflanze zurückzuführen wären. Diesem Uebelstande wird nun durch die neuen, von J. C. Schmidt in Erfurt erfundenen Patent-Gläser in vollstem Maße abgeholfen. Der Theil „a“, welcher Zwiebel sammt Wurzeln enthält, wird herausgezogen und bei Seite gestellt, ohne daß man die Zwiebeln anzufassen und auszuheben braucht. Der Theil „b“ kann alsdann mit Leichtigkeit gereinigt und mit frischem Wasser gefüllt werden. Die neuen Caraffen werden von der genannten Firma zu verhältnißmäßig billigem Preise in weißer und blauer Farbe geliefert.
Schwere Arbeit. (Mit Illustration S. 525.) Rückt der Sommer heran, so kommt auch die Zeit des Reisens, und erlauben es die Umstände nicht, größere Touren zu machen, so werden kleinere unternommen. Bergige oder wenigstens hügelige Gegenden mit Wald und Wasser bilden ein beliebtes Endziel. Aber nicht für Jeden gestaltet sich eine solche Tour leicht und angenehm, und besonders der mit einem etwas mehr als blos „behäbigen“ Körper ausgerüstete Tourist pflegt des Oefteren die Mühseligkeiten der Reise zu unterschätzen, wie dies auch unsere Illustration darstellt. Wird aber Mancher ob der „schweren Arbeit“ des Bergsteigens verdrießlich, so ist dies bei dem auf unserem Bilde hinter der Gesellschaft Zurückgebliebenen nicht der Fall. Er hat sich in Ermangelung eines anderen Sitzes behaglich auf die aus dem Boden ragende Wurzel niedergelassen und horcht nun den „mitleidsvollen“ Worten seiner schönen Begleiterin, deren lächelndes Gesicht allerdings schwer erkennen läßt, ob ihre Worte auch ganz aufrichtig gemeint sind, oder ob sie nicht gar sich erlaubt, ein wenig ironisch von der wunderbaren Geschichte des Hebel’schen „geheilten Patienten“ zu plaudern, um dadurch ihrem Gegenüber eine gewisse Lehre – diejenige vom Nutzen des Bergsteigens gerade für den Corpulenten – in thunlichst liebenswürdiger Form nahe zu legen. Aber wie dem auch sei: ernster Grund zum Murren ist jetzt um so weniger vorhanden, als das Ziel der Wanderung dem Müden schon verheißungsvoll durch die Lichtung der Bäume entgegenschimmert.
Shakespeare als Wilddieb. (Mit Illustration S. 533.) Ueber die bewegte Scene unsrer heutigen Illustration, in welcher uns der größte Dichter Englands in der kritischen Lage als Wilddieb vor seinem Richter vorgeführt wird, berichtet die Ueberlieferung Folgendes: William Shakespeare soll in dem Parke eines bei Stratford ansässigen Edelmanns gewildert haben. Von den Wächtern ergriffen, wurde er vor den edlen Sir gebracht. In Darstellung der weiteren Vorgänge gehen die Fassungen, welche man der Anekdote gegeben hat – sie ist auch dichterisch verwerthet worden – aus einander. Nach der einen habe der junge Mann durch Fürsprache der Tochter des Sirs Verzeihung erlangt, nach der andern aber nicht; aus Furcht vor Strafe sei er aus Stratford entwichen und habe sich nach London begeben. Die nüchterne Forschung, welche mit dergleichen Geschichtchen wenig rücksichtsvoll umgeht, hat auch die Glaubwürdigkeit dieser Anekdote stark erschüttert. Einerseits ist wohl als sicher anzunehmen, daß der Dichter durch andere Gründe aus seinem Heimathsorte gedrängt worden sei: sein lebhafter Geist mußte einem größeren Schauplatze zustreben; das Zusammentreffen mit Londoner Schauspielern, vielleicht mit jenen, welche der Truppe Leicester’s angehörten und in den Jahren vor 1585 mehrmals auf dem Schlosse Kenilworth bei Stratford spielten, sowie die Pflicht, für Weib und Kinder zu sorgen, mögen dann hinzugekommen sein, dem jungen Dichter den Weg zu bestimmen. Ein englischer Shakespeare-Forscher hat sogar nachgewiesen, daß jener Park, worin der Poet gewildert haben soll, niemals vorhanden gewesen sei. Aber die Kunst kümmert sich wenig um die Ergebnisse der nüchternen Kritik – sie hat das schöne Vorrecht, auch das Nichtgewesene zu lebensvoller Wahrheit zu gestalten, und so hat denn auch Julius Schrader die Ueberlieferung verkörpert. Mögen wir auch an sie nicht glauben, seinem Bilde gegenüber zweifeln wir nicht, sondern fühlen die Wahrheit des Wortes:
„Zaubermärchen wunderbar,
Dichterkünste machen’s wahr.“
Allerlei Kurzweil.
Die dem links stehenden Quadrate eingedruckten Buchstaben sollen, zu vier Worten geordnet, in die leeren Felder des Quadrates rechts geschrieben werden. Die Worte bezeichnen:
- 1. eine größere Stadt Ungarns;
- 2. einen durch seine Fruchtbarkeit berühmten spanischen Dichter des 16. und 17. Jahrhunderts; auch einen österreichischen Mathematiker, berühmt durch Herausgabe seiner umfangreichen Logarithmentabellen;
- 3. eine Wasserstraße der Ostsee;
- 4. einen Staunens und Beschwichtigungsausdruď.
Verbindet man dann in diagonaler Richtung von links oben nach rechts unten und fortsetzend: von rechts oben nach links unten die Buchstaben zu einem Worte, so erfährt man das Resultat der Lösung.
Auflösung des Kryptonym’s in Nr. 31: Das Mädchen ist „Blindekuh“. Man bezeichnet die Buchstaben dieses Wortes der Reihe nach mit den Ziffern I–IX und bildet ein neues Wort, indem man der Ordnung der Ziffern folgt, wie sie im Kryptonym angegeben ist. Das neue Wort ist der Name des Mädchens und lautet: Brunhilde.
Auflösung der Dechiffrir-Aufgabe in Nr. 31: Statt der Vocale sind Zahlen gesetzt, statt der Consonanten diejenigen Buchstaben, welche im Alphabet unmittelbar darauf folgen. Die Lösung lautet also:
Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit –
Leicht bei einander wohnen die Gedanken –
Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen."
Auflösung der magischen Bordüre in Nr. 31. Man lese zuerst alle an den Schlingen der Schnur stehenden Buchstaben ab, wobei man links unten mit dem Buchstaben D beginnt und den Windungen der Schnur nachgeht; hierauf alle jene Buchstaben, welche an den Biegungen des zwischen der Schnur sich bogenartig hinziehenden Bandes stehen, mit dem Buchstaben B oben links beginnend und gleichfalls allen Biegungen folgend. Dadurch erhält man den Satz: „Das reichste Kleid birgt Herzeleid."
Kleiner Briefkasten.
J. L. in London S.W.
Die Redaction der „Cheß-Monthly" (18, Tavistock Street, Covent Garden, London W.C.) wird Ihnen gern die gewünschte Auskunft ertheilen und die einschlägige Literatur besorgen. Unser beschränkter Raum gestattet uns leider nicht, Ihre Anfrage in so ausführlicher Weise zu beantworten, wie es der Gegenstand verlangt.S. W. in P. Wie, Sie sind Kärntner und kennen nicht die von Herrmann und Pogatschnigg gesammelten Lieder Ihrer Heimath? Das wundert uns. Jede Buchhandlung wird Ihnen diese Deutschen Volkslieder aus Kärnten" (Salon-Ausgabe, Graz 1884) besorgen. So wie der Inhalt derselben ein sehr bedeutender ist, so ist auch die Ausstattung eine gute, und Sie können das Buch Ihrem Wunsche gemäß auch als Geschenk passend verwenden.
T. H. Die officielle Kriegserklärung Frankreichs erfolgte am 19. Juli 1870, Nachmittags 11/2 Uhr.
Cap der guten Hoffnung. Dank für die freundlichen Zeilen. Die Lösungen sind richtig.
J. A. K. in Cincinnati. 5. December 1825.
C. G. in S. Siebenzehn Fragen wünschen Sie von uns beantwortet? Wenn’s nur nicht etwas viel verlangt wäre!
Ludwig, Berlin: Nein, nicht zu empfehlen!
A. C. in Elbing. Beruht wohl auf Irrthum.
A. M. in H. Die „Bavaria“ ist erwähnt Jahrg. 1882, Nr. 40.
H. in S., A. 1. 8., H. H. in Bremen, W. M. in H., H. A. in St. Gallen, C. G. in G., M. W. in Hbg., R. Dg. in S., Leo A. in C., C. H. N. in Ch., Halfter, H. S. in Wien, F. K. Engl. und M. A. F. in Berlin:
Ungeeignet.
[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]