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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1884
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[505]

No. 31.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)
6.

Von der Begierde getrieben, der geheimnißvollen Unbekannten einen Schritt näher zu kommen, erschien Raban am andern Tage zur festgesetzten Stunde in dem Atelier Wolfgang Melber’s. Er fand in dem ersten Raum nur den kleinen älteren Kunstgenossen Wolfgang’s und ein wie eine Zofe aussehendes junges Mädchen, das wie wartend in seiner Nähe saß und mit ihm plauderte.

„Herr Melber,“ sagte der Kunstgenosse, „ist ausgegangen, wird aber sehr bald wieder hier sein – bitte, treten Sie nur hier ins andere Atelier ein! Sie werden darin eine Schülerin Herrn Melber’s beschäftigt finden, aber durchaus nicht stören – bitte, treten Sie ein! – in wenig Augenblicken ist Herr Melber da.“

Raban trat unter dem Vorhang, den der kleine Mann vor ihm aufhob, hinein in den hinteren Raum, dessen Mitte Melber’s Gruppe einnahm, – aber auf’s höchste betroffen blieb er stehen – sofort die „Schülerin“, die junge Dame ins Auge fassend, die seitwärts, nahe dem einzigen großen Fenster, vor einem Modellirstuhl saß und an einem großen Reliefbilde in Medaillonform arbeitete.

Sie hatte bei seinem Eintreten langsam den Kopf gewandt und ihm einen prüfenden Blick zugeworfen, dann sich ruhig ihrer Arbeit wieder zugekehrt, als ob sie eine Anrede nicht erwarte. Ihm aber hatte das flüchtige Erblicken des Profils genügt, das sich für einen kurzen Moment ihm gezeigt, um zu sehen, daß er sie selbst, die von Räthseln umgebene Gesuchte, die ärmlich aussehende Bekannte des stelzfüßigen Invaliden, die elegante Amazone, das Modell zu der Gruppe des Bildhauers vor sich habe.

Die plötzliche, so völlig unerwartete Begegnung ließ augenblicklich Raban’s Herz auf’s heftigste schlagen. Er stand eine Weile ohne den Muth, ohne die Worte zu einer Anrede zu finden. Dann stotterte er die Bitte hervor, welche sich wie von selbst auf seine Lippen drängte: die Störung, welche er verursache, zu entschuldigen.

„Sie sehen, daß ich mich nicht stören lasse,“ antwortete sie mit einer weichen wohlklingenden Stimme, und fuhr dabei ruhig in ihrer Arbeit fort – in der That kneteten ihre zierlichen, rosenroth durch den grauen Thon schimmernden Finger mit den Modellirhölzern weiter an den schwellenden Formen der zwei spielenden Kinder, welche sie auf ihrem Relief ausarbeitete.

„Dürfte ich aber auch auf Ihre Verzeihung rechnen, wenn ich eine Frage ausspräche, die mir sehr am Herzen liegt ...“

„Und die ich Ihnen beantworten kann?“ versetzte sie, jetzt ein wenig befremdet zu ihm aufschauend.

„Sie selbst am besten,“ entgegnete er lebhaft, „Sie tragen die Züge eines jungen Mädchens, das ich zwar seit vielen Jahren nicht sah, das ich nur gesehen habe, als es vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt war, und das doch ganz lebendig in meiner Erinnerung steht ...“

„O, das ist viel,“ antwortete sie mit einem ironischen Tone und leisem Aufzucken der Lippen, als ob sie einen Anflug von Mißtrauen über diese Art, ein Gespräch einzuleiten, verrathen wolle.

„Und doch ist es wahr,“ fuhr er eifrig fort; „das junge Mädchen hieß Marie von Tholenstein zu Arholt und ist ...“

„Ah,“ fiel sie ihm lachend in’s Wort, „dann beglückwünsche ich Sie zu Ihrem Talente, Aehnlichkeiten zu entdecken – es konnte Ihnen bei mir nicht schwer fallen, denn ich bin ja Marie Tholenstein.“

„Sie sind es – Sie sind es wirklich – o, wußt’ ich’s doch, nur Sie könnten es sein – nur Sie könnten ...“

Er hielt inne, er fühlte, daß er im Begriff stand, in seiner Lebhaftigkeit, in der Erregung des Augenblicks etwas zu sagen, was sie für unpassend und tactlos halten würde.

„Ein gutes Gedächtniß müssen Sie aber doch haben,“ fuhr sie fort, „wo sahen Sie mich denn, als ich ein Kind von zwölf Jahren war?“

„Ich sah Sie – ich bedauere, Sie an eine etwas lächerliche Scene, in der ich keine vortheilhafte Rolle spielte, erinnern zu müssen; entsinnen Sie sich einer Mühle, in der Nähe Ihres Gutes – der Gespielinnen, mit welchen Sie sich dort unter Obhut Ihrer Großmutter befanden – und eines verlegenen Knaben, der mit einem alten Sonnenschirm – oder war es ein Regenschirm? – beschämt, verspottet vor Ihnen stand ...“

Marie Tholenstein zog leise und wie sinnend eine kleine Falte zwischen ihren Brauen zusammen.

„An der Mühle – ja, ja, ich entsinne mich dessen – es waren Juliane Fellberg und Bertha Gernspach bei mir.“

„Zwei oder drei junge Dämchen waren bei Ihnen, mit denen Sie einen Spaziergang durch den Wald gemacht – aber Sie, nur Sie waren so engelgut, meinem tief verwundeten und blutenden Knabenehrgeiz zu Hülfe zu kommen.“

Sie unterbrach ihn, indem sie mit einem fröhlichen Lächeln sagte: „Und Sie – ach, ich weiß jetzt, Sie können nur Raban von Mureck sein?“

[506] „Der bin ich, und wir sind also Heimathgenossen.“

„In der That – die daheim sich so fremd sind, müssen hier, in der großen Stadt sich finden, um,“ setzte sie lächelnd hinzu, „so heitere Kindheit-Erinnerungen auszutauschen. Aber nehmen Sie doch Platz – Herr Melber wollte gleich zurück sein – Sie werden, wenn Sie hierher gekommen sind, um einen Blick auf seine Werke zu werfen, doch auch die Bekanntschaft des Künstlers machen wollen? Werden Sie längere Zeit in Wien bleiben? Und interessiren Sie sich für plastische Kunst?“

Sie hatte sich auf ihrem Stuhl gewendet, um das Gespräch mit dem Heimathgenossen fortzusetzen – Raban antwortete, sich einen Sessel herbeiziehend:

„Ich interessire mich freilich für die Kunst – Herrn Melber lernt’ ich schon gestern kennen – ich möchte ihm sogar,“ fuhr er leis erröthend fort, „etwas wie einen Auftrag geben . . .“

„Ah, das ist brav . . .“

„Aber . . . hat er Ihnen nichts davon gesagt?“ Raban sprach das mit einer wachsenden Verlegenheit.

„Mir gesagt? Nein. Weshalb sollte er?“

„Weil – nun, weil ich an seiner Gruppe hier großes Gefallen fand – aber, zu arm, um sie für mich ganz in Marmor ausführen zu lassen, ihn bat, mir wenigstens den Kopf der Hauptgestalt als Büste in Marmor auszuführen. Er nahm Anstand, dies zu versprechen, weil er damit zugleich eine Portraitbüste herstelle und nicht wisse, ob das Original in eine Nachbildung für einen Fremden einwillige. Das Original dieses Kopfes ist nun unverkennbar der Ihrige, Sie haben die Güte gehabt, ihm als Modell zu dienen, und da Melber mir Ihre Einwilligung zu erwirken versprach, so setzte ich voraus . . . kam eben deshalb heute auf seinen Wunsch hierher . . .“

„Ich weiß von dem Allen nichts,“ versetzte sie sehr ernst und nachdenklich, „also den Kopf der Gruppe wünschen Sie zu besitzen – und er wünscht gewiß sehr, einen solchen Auftrag ausführen zu dürfen . . . ich möchte freilich Anstand nehmen, es zu erlauben, wenn es sich wirklich um ein Portrait handelte; aber ich habe Melber bei seiner Arbeit nur, wie er’s eben wünschte, hier und da als Modell gedient; meinen Kopf hat er so idealisirt, daß ich glaube, ich thäte Unrecht, durch übertriebene Aengstlichkeit ihn um einen solchen lohnenden Auftrag zu bringen.“

„Und Sie geben also Ihre Einwilligung?“ rief Raban aus, „o wie glücklich Sie mich dadurch machen!“

„Sie scheinen wirklich ein Kunstenthusiast zu sein, Herr von Mureck!“ versetzte sie kühl und plötzlich ihre unterbrochene Arbeit wieder aufnehmend. „Reden wir jetzt von Anderem. Wann verließen Sie die Heimath?“

„Vor etwa drei Wochen . . .“

Und sind also noch ziemlich ein Neuling in der Gesellschaft – ich bin schon über Jahresfrist hier – gefesselt zunächst durch den leidenden Zustand einer Großtante, der Schwester meiner Großmutter. Die alte Dame hat das Stift in Prag, in welchem sie den größten Theil ihres Lebens zubrachte, verlassen, weil sie ein besonderes Vertrauen auf die Wiener Aerzte setzt – und will mich nun nicht wieder von sich und zurück zu der lieben Großmutter auf Arholt lassen, nach dem ich mich oft sehr lebhaft zurücksehne; die Großmutter ist auch sehr unglücklich darüber, aber was ist da zu machen? Die Großtante ist wirklich leidend und so bestimmt von ihrem baldigen Ende überzeugt . . .“

„Und unterdeß wird auch Wien Sie fesseln – die Kunstübung, von der ich Sie in Anspruch genommen sehe . . . und sicherlich auch die mannigfachsten Verbindungen, die sich bei einem so langen Aufenthalt anknüpfen . . .“

Raban sprach diese Worte wie tastend, wie eine scheue Frage – er dachte an die räthselhaften Situationen, in denen Marie Tholenstein vor ihm aufgetaucht war, obwohl jetzt ja Alles, was diese Räthselhaftigkeit Beängstigendes für ihn gehabt, von ihm genommen und geschwunden war. Es war nur noch das Gefühl des Glücks, sie endlich erreicht, in ihr wirklich die Bekannte seiner Jugend gefunden zu haben und nun so ruhig und ungestört in diesem stillen Raume, der wie ein der Welt entrücktes Reich für sich war, mit ihr reden zu können. O, wie er sie liebte, immer geliebt hatte – diese heimlichen Kunstwerkstätten!

„Es ist eigentlich beleidigend,“ gab sie ihm mit einem nachdenklichen Lächeln zur Antwort, „uns zu fragen, ob eine große Stadt, eine Weltstadt uns fesselt. Fesselt Sie Wien? Gefällt Ihnen Paris? Gefällen Sie sich in Rom? Mein Gott, wie die Menschen reden können! Weshalb nicht auch fragen: Interessirt Sie die Welt?“

„Ich habe Sie aber sicherlich nicht beleidigen wollen, Fräulein von Tholenstein, indem ich ein müßiges Wort hinwarf,“ fiel lebhaft Raban ein; „ich bin völlig überzeugt, daß Ihnen ein Schönheitsgefühl eigen ist, welches begierig all die tausend Hervorbringungen schaffender Phantasie, menschlicher Gestaltungskraft und die Schätze, welche eine solche Stadt davon aufgesammelt hat, in sich aufnimmt – sind Sie doch selbst, wie ich sehe, Künstlerin!“

„Künstlerin! Weil ich einen unbesieglichen Drang habe, mich in solchen Versuchen abzumühen? Während ich die Stunden, die sie mir rauben, so viel besser verwenden könnte,“ setzte sie mit einem Seufzer hinzu.

„Besser – aber wozu könnte man seine Zeit besser verwenden, als ein Talent, das uns die gütige Natur gab, auszubilden?“

„Um damit endlich – was zu erreichen? Im besten Falle was?“

„Etwas Schönes, Großes!“

„Darnach ringen tausend Begabtere, Stärkere, als wir armen Dilettanten. Und einige von ihnen erringen es ja auch, schaffen es, geben der Welt dessen so viel, wie sie bedarf – oder nicht bedarf, denn man sieht ja nicht, daß sie sich’s viel zu Herzen nimmt und besser dadurch wird.“

„Mag sein – dem Künstler kann es darauf, kann es auf die Welt so sehr nicht ankommen. Er denkt bei seinem Schaffen nicht an sie, sie hilft ihm nicht, sie versteht ihn nicht einmal, im Grunde haßt er sie und – geht seinem Ideale nach, dem Genius, der in ihm ist, gehorchend.“

„Nach Ihrer Vorstellung ist der Künstler also – ein großer Egoist? Sie mögen Recht haben! Es ist ein mächtiges Nachinnenleben in ihm, das ihn abschließt von der Welt und unzugänglich für deren Interessen macht, die von so ganz anderer Natur als seine Bestrebungen sind.“

„Gewiß, und Niemand kann ihm Vorwürfe über diesen natürlichen, gerechtfertigten Egoismus machen!“

„Wenn er aber sich selber Vorwürfe macht? Wenn er nun aber auf der andern Seite eine starke Empfindung hat, die sich in das Elend der Welt nicht zu finden weiß, die helfen möchte und zugreifen, beistehen, lindern, wo sie nur kann, wo nur das Elend an sie herantritt; die wie mit einem unruhigen Gewissen ihrem Kunstschaffen nachhängt, als ob sie die Stunden den Leidenden, denen, die sich nach ihrer Theilnahme und ihrer Hülfe sehnen, raube – wie dann?“

Raban schwieg auf diese Frage, die sie wie halbzerstreut durch die Arbeit, an welcher sie langsam fortfuhr, in einzelnen Sätzen aussprach. Es war ihm, als ob ein plötzlich aufflammendes Licht aus ihren Worten auf die Situationen falle, in welchen er Marie Tholenstein erblickt hatte.

In diesem Augenblicke wurde der Vorhang des Ateliers zurückgeschlagen, und Wolfgang Melber trat ein.

„Ah,“ sagte er, sich leicht vor Raban verbeugend, „ich sehe, die Herrschaften haben sich auch ohne mich verständigt, und es bedarf wohl meiner Vermittelung bei Fräulein von Tholenstein nicht mehr?“

„Deren bedarf es allerdings nicht mehr,“ versetzte Raban; „Fräulein von Tholenstein hat bereits die Güte gehabt, ihre Einwilligung auszusprechen, und mich dadurch sehr glücklich gemacht. Wenn Sie also jetzt die Arbeit für mich in Angriff nehmen wollen . . .“

„Dann mit Vergnügen,“ fiel Melber ein, mit einem eigenthümlichen Blicke in Marie Tholensteins Züge, den sich Raban nicht zu deuten wußte; lag doch in ihm etwas Schlaues, fast auf ein Einverständniß Deutendes.

Der Bildhauer sagte dann Einiges über die Art, wie er die Büste, welche er ausführen solle, abschließen könne, und wollte die Form wissen, die Raban für diese Basis vorziehen werde. Während dessen war die Zofe, welche Raban im vorderen Raume bei dem Kunstgenossen Wolfgang’s gesehen, eingetreten; sie sprach leise einige Worte mit Marie Tholenstein und schien diese zu mahnen, daß es Zeit sei, die Arbeit abzubrechen und heimzugehen; das Fräulein begann wenigstens, sich dazu mit ihrer Toilette zu [507] bereiten. Raban wandte sich noch einmal an sie – mit ein wenig beklommener Stimme sagte er:

„Sie haben mir mit so großer Güte die Rechte der Landsmannschaft zuerkannt – würde ich dieselbe Güte bei Ihrer Verwandten finden, wenn ich darauf hin mir erlaubte, ihr meinen Besuch abzustatten?“

„Daran zweifle ich nicht,“ entgegnete Marie Tholenstein lebhaft und wie erfreut. „Nur müßten Sie in den Abendstunden kommen, den größtem Theil des Tages bringt meine Tante im Bette zu. Ich will sie auf Ihren Besuch vorbereiten, sie wird gern mit Ihnen von der Heimath plaudern, die sie so lange nicht mehr sah. Herr Melber wird Ihnen beschreiben, wo wir wohnen.“

Raban hatte keinen Grund mehr, länger zu verweilen. Er empfahl sich, von Melber hinaus begleitet. Dieser gab ihm dabei die unferne Straße und die Nummer des Hauses an, in welchem die alte Stiftsdame wohnte.

Dann kehrte Melber in sein Atelier zurück, wo Marie Tholenstein eben noch mit dem Knöpfen ihrer Handschuhe beschäftigt war.

„Weshalb haben Sie mir von dem Verlangen dieses Herrn von Mureck nichts gesagt?“ fragte sie ihn mit einem Tone des Vorwurfs.

Melber lachte auf.

„Ich war nicht so dumm,“ entgegnete er mit einer eigenthümlichen Vertrautheit und völligem Sichgehenlassen in seinem Wesen ihr gegenüber. „Hätte ich’s Ihnen gesagt, so würden Sie geantwortet haben: Nein! ich kann nicht zugeben, daß ein fremder Mensch Etwas besitzt, was er den Leuten als ein Portrait von mir zeigen kann. Nun kommt mir aber der Auftrag gerade im rechten Augenblicke, just recht gelegen. Darum sagte ich mir: mag sie diesen jungen Herrn und Kunstliebhaber erst kennen lernen, und mag er dann selbst ihr sein Anliegen vorbringen; sie ist viel zu gutmüthig, ihm dann eine abschlägliche Antwort zu geben!“ –

Marie Tholenstein antwortete nichts. Nur ein Schatten von Mißmuth glitt über ihre Züge. Sie stand noch sie folgte jetzt mit einem Blicke, welcher eine ängstliche Spannung verrieth, seinen Bewegungen, während er sagte:

„Der Herr von Mureck ist ja wohl ein Landsmann von Ihnen – sagte er es nicht?“

„Er ist ein Landsmann – er stammt von einem Gute, das keine Stunde weit von dem meiner Großmutter entfernt liegt.“

„Ah – das muß Ihnen diesen jungen Herrn ja sehr interessant machen; Sie wenigstens schienen es ihm in hohem Grade zu sein, und zwar nicht blos Ihr Kopf in meiner Gruppe . . . nehmen Sie sich in Acht . . .“

„Vor wem?“ fragte sie mit zitternder Lippe und einem Tone, in dem etwas Gereiztes lag.

„Vor wem? Nun ja, Sie haben Recht. Er ist ein hübscher Mensch, ein Herr von Mureck – ein Baron vielleicht gar – dabei des Nachbars Kind . . .“

Sie wandte sich mit einer heftigen Bewegung ab.

„Ich wollte,“ sagte sie halblaut mit zorniger Stimme, „ich hätte Ihnen nie erlaubt, meinen Kopf zum Modell Ihrer Gruppe zu nehmen.“

„Weshalb nicht?“ fragte er spöttisch. „Ist er mir nicht gelungen? Bin ich ihm nicht gerecht geworden?“

„Adieu,“ gab sie nur zur Antwort – „ich muß gehen. Komm, Anna!“

Damit verließ sie, gefolgt von ihrer Jungfer, den Raum. Wolfgang Melber blickte ihr mit einem selbstzufriedenen, wie triumphirenden Lächeln nach – dann zog sich seine Stirn zusammen, und er sah wie in Gedanken verloren lange starr auf den Boden zu seinen Füßen.


7.

Raban begab sich in einer eigenthümlichen Stimmung heim – erfreut, wie auf Wolken getragen, völlig bezaubert von der Erscheinung, der er endlich sich hatte nähern dürfen, und glücklich, daß diese Erscheinung nun in dem vollen reinen Lichte vor ihm dastand, in dem es schon ein Bedürfniß seines Herzens war, sie zu sehen. Und dann auch wieder beklommen, fast bestürzt, daß sie nun wirklich, wie er beim ersten Erblicken geahnt, gewußt, Marie Tholenstein war – dieselbe Marie, über welche er eben die Enthüllungen seines Vaters erhalten, dieselbe, aus deren Lebenskreis er als junger Mensch so ängstlich war fern gehalten worden, dieselbe, deren dunkle unaufgeklärte Herkunft ihn ewig fern von ihr halten sollte.

Sollte! Aber auch mußte? Weshalb mußte? fragte er sich mit einem stürmischen Aufwallen. Gesetzt auch, Marie Tholenstein wäre nicht die richtige Erbin des Geschlechts, dessen Namen sie trug, sie hätte nicht den geringsten Anspruch auf diesen Namen den sie führte, nicht das geringste Recht auf alles Das, als dessen Erbin sie bezeichnet wurde – was ging es ihn, Raban von Mureck, weiter an? Er hatte sicherlich nicht sein Herz verloren an einen Namen und ein glänzendes Erbe; brauchte er es zurückzunehmen, wenn der Name und das Erbe genommen wurden? Mochte sie immerhin die Tochter des Graveurs sein – der Trieb nach einer Kunstübung in ihr schien ja außer seines Vaters Gründen auch dafür zu sprechen – was änderte das an dem bezaubernden Wesen ihres Selbst, das ihn nun einmal gefangen hielt und all sein Sinnen und Denken nicht mehr los ließ – er fühlte das, von heute an war er ein sich selbst entrückter Mann, von einer Gewalt erfaßt, die in ihrer Alles besiegenden Stärke so wenig Aehnlichkeit hatte mit seinen jugendlichen Gefühlen für das freundliche junge Geschöpf an jener Mühle, und mit seinem Geblendetsein durch die glänzende Erscheinung Leni Eibenheim’s.

Leni Eibenheim! Der Gedanke an sie war ihm schon zu einem ernüchternden, beklemmenden geworden. Er konnte, er wollte nicht täuschen und seufzte bei dem Nachsinnen darüber, wie wenig Anlage ihm die Natur zu der Diplomatie gegeben, deren er jetzt bedurfte, um allmählich und mit guter unverletzender Wendung sich aus dem Kreise der reizenden Leni zurückzuziehen!

Er seufzte bei diesem Nachsinnen darüber, aber er sann nicht lange darüber nach. Seine Gedanken waren bald wieder von der sie beherrschenden Strömung fortgerissen; er grübelte über das Verhältniß von Marie Tholenstein zu Wolfgang Melber nach – weshalb nahm sie ihren Kunstunterricht bei dem jungen Manne, da doch sicherlich die Ateliers älterer, berühmterer Künstler ihr dazu geeigneter hätten scheinen müssen? Weshalb erlaubte sie ihm ein auffallend ungebundenes Wesen, etwas merkwürdig Formloses im Verkehr mit ihr, ein eigenthümliches Sichgehenlassen in Gegenwart der vornehmen jungen Dame? Die Lehrereigenschaft konnte das bei einem so jungen Manne nicht mit sich bringen! Konnte es die Verwandtschaft, die freilich so nahe war, wenn Melber, wie nicht zu zweifeln, der Sohn des Graveurs oder der vorgebliche Sohn desselben war? Und diese Verwandtschaft mußte sie zusammengeführt haben – Marie Tholenstein in den Kreis dieser Leute, ob sie nun durch Enthüllungen der Tante, oder durch Eröffnungen, welche ihr von den Angehörigen Wolfgang’s gemacht worden, dahin geführt war. Das Eine nur blieb fraglich: wußte durch solche Enthüllungen und Eröffnungen, welche ihr von dem ehemaligen Schauspieler Melber am ehesten gemacht sein konnten, Marie um das Fragliche, Dunkle ihrer Herkunft? Lebte überhaupt jener Schauspieler noch, dem einst Melanie Tholenstein auf seinem Wanderleben gefolgt war?

Das letztere war leicht zu erfahren. Auch das andere aus der eigenen Beobachtung wahrzunehmen, konnte nicht schwer sein, wenn Raban Marie, wie er hoffen durfte, nun öfter sah. –

Für den Abend mußte er sich entschließen, im Salon der Frau von Eibenheim zu erscheinen. Er fand die gewöhnlichen Gäste dort und zu seiner Herzenserleichterung Leni von einem jungen Vetter, einem in Urlaub aus Ungarn gekommenen Officier in Anspruch genommen, der gar viel aus dem magyarischen Paradiese zu erzählen hatte und Erstaunlichkeiten zum Beweise der Landes- und Volksblüthe in Fülle vorzutragen wußte. Auch Graf Kostitz hörte ihm aufmerksam zu, mit einem ironischen Lächeln, wie auf ein geflügeltes Wort sinnend. Vielleicht fand er keines, sicher ist, daß er mit keiner Bemerkung in dem Redestrome des jungen Mannes Platz fand. Der Doctor Silbermann zeigte ein umwölktes Antlitz. Er mußte noch immer seinen aragonischen Löwenthalern nicht auf die Spnr gekommen sein – Raban wagte nicht, hier in der Gesellschaft ihn darnach zu fragen, da ja der Verlust strenges Geheimniß bleiben sollte.

(Fortsetzung folgt.)


[508]

Ein oberägyptischer Dorfschulze auf Reisen. Nach dem Oelgemälde von Ad. Schreyer.
Photogravure von Goupil u. Comp. (Bouffod, Baladon u. Comp.) in Paris.

[509] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[510]

Bilder aus Oberägypten.

Von Heinrich Brugsch.
I.

Die schönen Tage des sonnigen Aegyptens sind längst vorüber, und trauernd sitzt die Göttin des Nilthales, das jüngste Kind des Elends, an den Ufern des heiligen Stromes. Seit Jahrtausenden ein auserlesenes Opfer des politischen Wankelmuths seiner Beherrscher und von seinen einheimischen pharaonischen „Söhnen der Sonne“ ebensowohl als von äthiopischen, asiatischen, persischen, griechischen, römischen, arabischen und türkischen Machthabern und Eroberern ausgebeutet, ist das gottgesegnete Land heutzutage unter europäischer Verwaltung bis an den äußersten Rand des Abgrundes seines socialen und politischen Unglücks gedrängt. Die vielgepriesenen Wohlthaten, mit welchen Frengistan nie müde ward seinen ägyptischen Schützling im Laufe der letzten Jahrzehnte zu überschütten – gegen reichliche Baarzahlung aus dem vollen Säckel seines Lieblings – sind in das gerade Gegentheil umgeschlagen. Ohne Widerstand leisten zu können, hat Aegypten eine Hydra aufgezogen und genährt, die ihm den letzten Tropfen seines Herzblutes aussog. Eine internationale Conferenz ist im Begriff an den Ufern der Themse zu tagen, um einen neuen Modus der Verwaltung zu ersinnen und den früheren Anleihen eine neue von 160 Millionen Mark hinzuzufügen. Inzwischen dauert die Mißwirthschaft am Fuße der Pyramiden weiter fort, Handel und Wandel liegen gelähmt, Noth und Elend halten ihren Einzug in Stadt und Land, und die trübste Stimmung hat den Muth des Einzelnen wie der Masse gebrochen. Nur das Nahen eines fanatischen Glaubenshelden, des sudanesischen Machdi [1], erhält die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht und belebt die stillen Wünsche im Herzen der Bedrückten nach blutiger Rache gegen die Bedrücker.

Wenn in irgend einem Theile des Landes die allgemeine Unzufriedenheit in Folge der eingetretenen Noth ihren Höhepunkt erreicht hat, so ist es sicher Oberägypten, dem nach dieser Richtung hin der traurige Löwenantheil gebührt. In jener langen Rinne des Nilthales, welche sich im Süden von Kairo aus durch die Regionen der Kalk-, Sandstein- und Granitgebirge bis nach Assuan hin erstreckt, auf eine Länge von nahe 100 deutschen Meilen, ist der angeschwemmte Culturboden oder der „Rif“ mit wenigen Ausnahmen nur ein schmaler Streifen dunkler Erde. Zum Theil ungenügend bewässert und von wüsten Sandflächen und bis an den Fluß vorgerückten Felswänden unterbrochen, erfordert der Ackerboden außerdem eine harte und anstrengende Arbeit. Jahr aus und Jahr ein haben die oberägyptischen Fellachen vollauf zu thun, in der heißen Sonne des Tages an den einfachen Hebegestellen der Schadufs mit dem Lederriemen das Wasser aus dem Flusse zu schöpfen und durch künstlich angelegte Rinnsale nach den Feldern zu leiten. Das Hacken der thonartig festen schwarzen Erde ist ein mühseliges Geschäft und das Pflügen mit Rinder-, Büffel- und Kameelgespannen nur denen gestattet, welche noch im Besitz von Thieren dieser Gattung sind. Eine seit Jahren in Oberägypten herrschende Rinderpest hat den Bestand der bovinen Rasse ungemein gelichtet, und der beliebte Nachschub aus Dongola ist in Folge der sudanesischen Unruhen ausgeblieben. Das stete Herumwaten im feuchten Schlamme und das Säen und Ernten erfordern eine ebenso langwierige als gesundheitsgefährliche Arbeitsthätigkeit. Fängt die Saat an zu sprossen und geht die Feldfrucht ihrer Reise entgegen, so tritt eine neue Plage ein. Durch Knallen mit Peitschen, durch Schleudern von Steinen, Abschießen von Gewehren und durch sonstige Mittel sind Millionen diebischer Sperlinge fern zu halten, welche wie dunkle Wolken über die Felder dahinziehen, um das Ergebniß des menschlichen Fleißes zu vernichten. Und ist die Ernte glücklich eingeheimst, das heißt der Halm mit der Hand ausgerissen oder mit der Sichel geschnitten, so ist der Steuereintreiber nicht mehr fern und dem säumigen Zahler wird die landesübliche Bastonade zu Theil. Das sind keine Schattenbilder, wie sie eine erregte Phantasie oder der sogenannte Humanitätsschwindel auszumalen versteht, sondern getreue Photographien einer durchlebten Wirklichkeit. Oberägypten oder das Land Saïd liegt weitab von Kairo, das Klagen kostet Zeit und Geld, und Seine Excellenz, der gewaltige Herr Mudir oder Gouverneur der Provinz, behält am letzten Ende doch immer Recht.

Die Hütten, in welchen das arme geplagte Volk unter Palmen, Akazien und Sykomoren die nothwendige Ruhe nach des Tages Last und Arbeit findet, sind kaum noch menschenwürdige Wohnstätten zu nennen. Das kleine geflügelte Hausvieh lebt inmitten der Fellachenfamilie und geht vergnügt durch die Thüröffnung aus und ein. Das Mobiliar der Behausung, die aus Nilschlamm aufgebacken ist, entspricht der ganzen Anlage, denn es ist weniger als nur einfach und bescheiden. Eine geflochtene Matte, seltner ein alter, zerfetzter kleiner Teppich, ein paar Körbe, Kessel und Krüge, eine steinerne Handmühle und ein paar sonstige elende Geräthschaften für den häuslichen Bedarf stellen das ganze bewegliche Besitzthum eines besser situirten oberägyptischen Fellachen dar. Daß die Reinlichkeit unter solchen Verhältnissen keinen besonderen Gewinn davon trägt, liegt auf der Hand, und ich erinnere mich kaum eines Beispiels, jemals ein Stück Seife bei irgend einem Bauern bewundert zu haben. Den Kindern das Gesicht wenigstens mit Wasser zu reinigen, gilt als Verstoß gegen Landessitte und Brauch. Die häusliche Wäsche, ein so wichtiges Capitel in dem Wirthschaftsbuche unserer ehrsamen Hausfrauen, wird in der denkbar schnellsten Weise erledigt. Madame geht mit ihrem Anzuge Nr. 2, das heißt mit dem langen blauen Kattunhemde, an’s Ufer des Flusses, taucht es in das Wasser und schlägt das genäßte Zeugstück nach Art unserer Färber auf einem glatten Steine windelweich. Ist der Proceß beendigt, so wird das Gewand an der Sonne getrocknet, wobei die beiden ausgebreiteten Arme und Hände als Waschleine dienen. Das Glätten und Bügeln der Wäsche ist nicht einmal dem Namen nach gekannt.

Eines wenigstens dem Aeußeren nach anständigeren Wohnsitzes dürfen sich die oberägyptischen Tauben rühmen, vielleicht weil sie Geld einbringen und den Melonenfeldern durch ihre Leistungen nützlich werden. Vierseitige, thurmähnliche Bauten, die sich aus der Ferne wie altägyptische Pylone ausnehmen, erheben sich in stolzer Höhe über den niederen Fellachenhütten. Kleine, wie Schießscharten neben einander laufende Oeffnungen bilden die Zugänge des geräumigen, meist aus Backsteinen aufgeführten Taubenschlages in großem Stile. Der gewonnene Guano wird an griechische Händler (nass Rumi) verkauft oder zu eigenen Zwecken verwendet. Das beliebte Schießen der Tauben durch reisende Europäer ist deshalb für Fellachen kein angenehmer Anblick. Allein was hilft die Klage des armen Besitzers der Tauben? Eine gehörige Tracht Prügel wäre das Ende vom Klageliede.

Doch ein Genuß bleibt dem geplagten Manne und seiner getreuen Ehegenossin nie versagt: die jeweilige Ruhe an der Wand seines Hauses oder unter der breitästigen dickbelaubten Sykomore, in deren Schatten der Büffel mit verbundenen Augen das knarrende Wasserrad dreht. Diesem „Kef“, wie er es nennt, steht der Haupttröster in allen seinen Leiden treu zur Seite, der glimmende Tschibuk oder die kollernde Wasserpfeife, die er sich selbst mit Hülfe einer Cocosnuß und zweier Holzröhren zurechtzimmert. Bei solchem „Kef“ geht ihm die Pfeife nie aus, es müßte sich denn etwas ganz Außerordentliches ereignen, z. B. eine Sonnen- oder Mondfinsterniß. In diesem Falle versammeln sich die Männer und Weiber des Dorfes, heulen und schreien, daß sich Gott erbarm’, und schlagen mit Stöcken und Haken auf ihre Kessel und Pfannen, um durch den Höllenlärm den bösen Geist der Finsterniß zu bannen und der leidenden Sonne, respective dem Monde zu Hülfe zu kommen. Auch der Dame des Hauses ist die Pfeife eine unzertrennliche Lebensgefährtin. Die Länge des Rauchinstrumentes entspricht genau der socialen Lage der Rauchenden. Man muß nämlich wissen, daß nicht nur in Oberägypten, sondern im ganzen lieben Morgenlande das Maß der Pfeife im gleichen Verhältnisse mit der vornehmen Länge des Rauchenden steht. Je [511] angesehener der letztere ist, je länger ist die erstere und vice versa. Es ist daher sehr natürlich, daß der Fellach in berechtigter Selbstschätzung seiner socialen Stellung sich den allerkürzesten Pfeifenstiel construirt.

Der oberägyptische Fellach hat, nach den altägyptischen Wandgemälden zu urtheilen, genau die Farbe seiner Vorfahren. Von Norden nach Süden hin variirt dieselbe von einem hellen Roth zum tiefsten Braun, eine natürliche Folge seines Aufenthaltes im Freien unter den Strahlen der afrikanischen Sonne. Weiber und Kinder, soweit die lagernden Schmutzschichten die Grundfarbe der Haut zu erkennen gestatten, zeichnen sich durch einen helleren Teint mit olivenfarbiger Schattirung aus. Dichte Augenbrauen über den mandelförmigen schwarzen Augen, eine niedrige Stirn über der wohl proportionirten Nase, starke Backenknochen und ziemlich aufgeworfene Lippen sind die eigenthümlichen Merkmale der Gesichtsbildung, die aber bei Knaben und Mädchen bisweilen den Typus vollendetster Schönheit erreicht. Ihr kräftig gebauter Körper ist schlank und elastisch, und fettleibige Fellachen dürften gezählt werden.

Nur der Schech-el-belled oder Dorfschulze zeichnet sich unter seinen fellachischen Brüdern durch ein behäbigeres Aeußere vortheilhaft aus. Seine Nahrung ist eine vornehmere, wobei der mästende Reis eine Hauptrolle spielt. Seine amtlichen Beziehungen zum gestrengen und gefürchteten Mudir und den koptischen Schreibern des Divan sind zwar nicht immer die reinlichsten, haben ihm aber die Sehnsucht nach einer höheren Stufe des irdischen Daseins erweckt, und sein stattliches Haus mit der weißen Tünche darauf enthält so manchen Gegenstand, welcher geeignet ist, das böse Auge des neidischen Fellachen zu erwecken. Zieht der Schech in Begleitung seiner reisigen Diener über Land, so trägt ihn sein feuriges junges Roß, und im vollsten Waffenschmucke galoppirt er mit seinen Reitern über das Feld oder verfolgt den Weg auf dem hohen Damme am luftigen Ufer des Stromes. (Vergl. Illustration S. 508 und 509.) Seine Lieblingswörter, mit welchen er den halbnackten Fellachen an der Straße anzureden pflegt, sind „Kelb“ und „Chansir“, auf gut deutsch „Hund!“ und „Schwein!“ Verlegen lächelt der Fellach zu den wenig schmeichelhaften Worten und erwidert höchstens ein freundlicheres: „Malesch ja Schech“, „Laß es nur gut sein, o Schech!“

Im Kaffeehause des Dorfes oder am Strande „des Meeres“, wie der Aegypter seinen Nil bezeichnet, sitzen die männlichen Bewohner der Ansiedelung auf ihren Bänken aus Palmenstöcken. Ihre Unterhaltung betrifft vor Allem den wandelbaren Piaster. Es ist eine Landeseigenthümlichkeit, daß Geld und immer nur wieder Geld den Hauptstoff sämmtlicher Gespräche bildet. Die Größe der monetären Einheit, welche der Sprecher im Munde führt, steht wiederum mit der Länge der Pfeife in einem genauen Verhältnisse. Der Pascha spricht von „Beuteln“, der Europäer von „Guineen“, der Bürger von „Talleris“ und der Bauer von „Piastern“. Kommt der Schech mit seinem Gefolge angesprengt, so verstummt jedes Gespräch, und das Volk erhebt sich von seinem Sitze, verbeugt den Oberkörper nach altägyptischer Weise, und Jeder beeilt sich, dem Würdigen den Steigbügel zu halten und ihm bei seinem Herabsteigen behülflich zu sein.

Der kecke, fröhliche, fast übermüthige Sinn der jungen Fellachen macht im reiferen Alter einem stillen Ernste und einer gewissen Abgeschlossenheit Platz. Arbeit und Noth des Lebens haben den Mann gebeugt und seine angeborene Geistesfrische frühzeitig erstickt. Die Freude am Dasein ist ihm durch seine Peiniger verbittert, und der ewige Steuerdruck nebst Beischlag hat ihm gründlich die gute Laune verdorben. Seine religiöse Genugthuung findet er in dem Vollziehen der vorgeschriebenen äußeren Handlungen, um sich wenigstens die Hoffnung auf ein besseres Dasein im Paradiese zu sichern. Die Schulbildung unter den oberägyptischen Bauern ist gleich Null. Der Vorsänger und Schulmeister beschränkt seine scholastischen Themata auf das Auswendiglernen von Koranversen. Was darüber hinaus geht, ist vom Uebel. Lesen und Schreiben erhebt den Fellachen zu einer Person, die sich schon sehen lassen und eine längere Pfeife zulegen darf.

Wenn auch der Landbewohner im Saïd geldgierig ist und dem Bachschisch mit ungebührlichem Eifer nachjagt, so habe ich selten Gelegenheit gehabt, ihn als treulos, betrügerisch und schwindelhaft kennen zu lernen. Er ist mit wenigen Ausnahmen gutwillig, dienstbar und gehorsam, und nur die Aussicht auf Arbeit ohne Lohn macht ihn verstockt und widerspenstig.

In den Städten Oberägyptens, wie Benisuef, Minieh, Siut, Girgeh, Kenneh und Achmim, ist der unverfälschte Typus des Fellachen als erloschen zu betrachten. Der im Dienst der Regierung stehende handelnde und gewerbetreibende muhammedanische Araber und christliche Kopte liefert das Hauptcontingent der Bewohner. Die Kopten (ihre Zahl im ganzen Lande schwankt nach den verschiedenen Angaben darüber zwischen 150 bis 300 Tausend Seelen), die echten und rechten, das heißt ungemischten Nachkommen der alten Aegypter, haben die Vorzüge ihrer Abstammung körperlich und geistig durch eine nach den Verhältnissen des Landes angemessene feinere Nahrungs- und Lebensweise zu erhalten gewußt. Ein heller, olivengrün angehauchter Teint, im Gegensatz zu der gerötheten rissigrauhen Haut des Fellachen, und ein bis zur Fettleibigkeit wohlgepflegter Körper lassen beim ersten Blick den Unterschied zwischen den Kopten und den eingeborenen Landbewohnern erkennen. Zu allen Handwerken, Künsten und Wissenschaften gut angelegt und der Bebauung des Landes nur nothgedrungen zugethan, zeichnen sich die Kopten durch eine besondere Schärfe der Intelligenz, die sich im schlimmsten Falle bis zur unglaublichsten Schlauheit steigert, in allen geschäftlichen Angelegenheiten aus. Das Rechnen und Berechnen ist daher ihre Hauptstärke und ihre unentbehrliche Anwesenheit in allen mit dem Finanzwesen verbundenen Aemtern der ägyptischen Verwaltung deshalb leicht erklärlich.

Der koptische „Moallim“ oder „Gelehrte“, wie die „Geheimsecretäre“ im Staatsdienste von den Aegyptern betitelt zu werden pflegen, ist eine angesehene Person und sein Talent ebenso geschätzt als gefürchtet. Die Kopten neben den eingewanderten Arabern bilden somit das eigentliche Element des Bürgerstandes in Unter- wie in Oberägypten. Ein reiches Vermögen gestattet ihnen nach Landesweise in aller Gemächlichkeit zu leben und sich den Genüssen des Orientes und des Occidentes bis zum Luxus des Hausstandes hin im vollsten Umfange ihrer Wünsche hinzugeben. Für die Reisenden ist der Kopte in Oberägypten der eigentliche Typus des zuthulichen Städters. Die zahlreichen Consular-Agenturen, welche die europäischen Großmächte in den Hauptstädten der einzelnen Provinzen zum Nutzen und zum Schutze ihrer wandernden Staatsangehörigen unterhalten, sind koptischen Christen anvertraut, deren bürgerliche Stellung und Vermögen die genügendste Garantie für die ihnen bewilligte internationale Protection darbietet. Daß der Einzelne die europäische Schutzgenossenschaft in seinem persönlichen Interesse auszubeuten im Stande ist, darf bei den Charakteranlagen der koptischen Rasse nicht in Verwunderung setzen. Titel- und ordenssüchtig, wie die Consularagenten in Folge ihrer Stellung und ihres Reichthumes sind und sich darin vor allen übrigen Kindern Mizraïm’s auszeichnen, haben sie nur die kleine Genugthuug, sich mit dem europäischen langgedienten, biederen Nachtwächter auf einer Rangstufe zu befinden.

Von den Söhnen der Berge, welche ihre Zelte in den öden und traurigen Gebirgsthälern und auf den steinigen und sandigen Flächen der Wüste aufgeschlagen haben und von Zeit zu Zeit den oberägyptischen Dörfern ihre durchaus nicht beliebten Besuche abstatten, ist nicht viel zu sagen, da in ihren Adern libysches oder arabisches Blut rollt und sie nichts weniger als Aegypter sind, und es auch gar nicht sein wollen. Ihre vielgerühmte Kriegstüchtigkeit ist heutzutage höchstes ein poetisches Märchen. Raufereien unter sich in Begleitung eines heidenmäßigen Lärmes, durch welchen sie sich gegenseitig bange zu machen suchen, und Ueberfälle auf wehrlose Wanderer bilden die Capitel der Heldenthaten der ebenso schmutzigen als unedlen Beduinen. Die schlimmsten von ihnen sind diejenigen, welche auf dem Boden der libyschen Wüste in der Nähe der Oasengebiete ihr unstätes Leben führen, die sanftesten dagegen die in den Gebirgsthälern zwischen dem Nilufer und der Küste des Rothen Meeres bis südlich zum Breitegrad der Stadt Kenneh hinwandernden „Kinder des Berges“, welche den Karawanenverkehr vermitteln und eine Hauptquelle ihrer Einnahmen in der Kameelzucht finden. Die eigentlichen Ritter der Wüste sind die Nachkommen der ehemaligen Aethiopen, der alten Bewohner des Landes Kusch, die erbittertsten Gegner der Aegypter und – der Engländer.


[512]

Brausejahre.

Bilder aus Weimars Blüthezeit.0 Von A. v. d. Elbe.
(Fortsetzung.)


16.

Ist das ein Tag!“ rief Karl August, sich im abendlichen Waldesschatten auf moosigem Gründe dehnend. „Man möchte ihn immer weiter leben und dann nochmals von vorn anfangen! He, reich Mir die Feldflasche, Wedel, laß sie füllen und kreisen, denn Ihr werdet alle durstig sein.“

Und es war in der That ein Tag, wie man ihn nicht schöner denken konnte. Des Herzogs „zappelnde Frühlingsungeduld“ zu, befriedigen, war man mit einer Gesellschaft fröhlicher Jagdkumpane Tages zuvor aus Weimar aufgebrochen. Ueber Berka und Stadt Ilm ging’s zu Pferde nach Ilmenau, wo die Besichtigung der wieder in Angriff zu nehmenden Bergwerke Hauptanlaß des Kommens und der landesherrlichen Sorge war, da die arme Bevölkerung Verdienst brauchte.

Nach einem Abendtanz im Schießhause, wo sich die Mädchen und Burschen der Nachbarschaft versammelten, denen die Cavaliere in ihren Jagdkleidern sich fröhlich gesellten, hatte man die Nacht in Ilmenau zugebracht, um heute in aller Frühe die Hirschjagd zu beginnen. Jetzt lag eine ganze „Strecke“ der edlen Thiere unter den Bäumen. Ein junger Spießer ward eben ausgeweidet, er sollte von einem gewandten Jagdgehülfen am abseits lodernden Feuer für die Abendmahlzeit gebraten werden. Man befand sich zu fern von Menschenwohnungen, um ein Nachtquartier aufzusuchen; hatte es doch auch Reiz, die laue Frühlingsnacht im Freien zuzubringen. Das Bretterhaus auf dem nahen „Gickelhahn“ sollte dem Herzog als Nachtquartier dienen, für die andern Jäger waren Laubhütten unter den Bäumen aufgeschlagen.

Auch Goethe war am Morgen mit von Ilmenau hinausgezogen, ihn reizte das Jagdvergnügen aber nicht; die Anspannung, welche dasselbe erforderte, hinderte ihn, sich der Naturbetrachtung in seiner Weise hinzugeben, und nahm ihm die Sammlung, welche er draußen in Wald und Feld begehrte.

Der Machdi.

Mit der Skizzenmappe und dem Bergstock wanderte er, dem Stande der Sonne folgend, die waldigen Berge hinan. Zuvor war die Abrede getroffen, daß er sich gegen Abend in der Nähe des Gickelhahns, wo Hallali geblasen werden sollte, zum gemeinschaftlichen Abendessen wieder einfinden wolle. So hatte er einen schönen Tag nach seinem Sinn, einen Tag recht am Herzen der Natur, den er schlendernd, beobachtend, zeichnend zubringen wollte, vor sich, und tauchte tief aufathmend in wohligem Freiheitsgefühl in das Meer von Grün ein, das ihn wie mit duftigen Wogen umfing.

Das Zeichnen war ihm eine Herzenssache, eine Beschäftigung, auf die er immer wieder mit Vorliebe zurückgriff.

Hier stieg er auf elastischem Moosteppich, dort durch raschelnd dürres Winterlaub, über Steingeröll oder ausgefahrene Geleise der Holzfuhrleute und Köhler hinan. Der Rain war mit jungen Erdbeerblüthen bedeckt; dort schwankte noch die letzte Weiße Anemone auf zartem Stengel im Luftzuge; auf sonniger Waldwiese mischten sich wilde blaue Salbeidolden mit Klee und weißen Sternblumen. An feucht dämmerigen Stellen schossen die frischgrünen Düten der Maiglöckchen mit ihren duftigen Blüthen auf, und Brombeer- und Himbeerranken kletterten im Unterholz. Lautschallend pickte der Specht, der Kukuk rief, Käfer und Schmetterlinge schwirrten lustig umher.

Endlich hatte er die freie Höhe des Berges erreicht, zu dem er aufstieg. Er stand über den bewegten Wipfeln, die zu ihm heraufstrebten, und schaute tief in saftgrüne Waldweiden, wo scheue Rehe ästen. Andere Bergeshäupter im köstlich grünen Waldmantel standen um ihn her. In blauer, sonnendurchglühter Ferne fand sich ein Durchblick zur feldbebauten Fläche, in der er einen Wasserfaden verfolgen und einen Kirchthurm erkennen konnte. Begeistert flammte sein Blick über das großartige Stück friedvollen Naturlebens, das vor ihm ausgebreitet lag, und er begann umherzuspähen, wo er das Plätzchen finden könne, nach dem er sich für seinen Stift sehnte. Die schlichte Natur schien ihm nicht zu genügen. Ihm kaum bewußt, verlangte sein plastischer Trieb nach Staffage, nach Menschenspüren und menschlichem Wirken.

Da sah er rechts in der Ferne, wie eingetaucht in grüne Wipfel, das ragende Hirschgeweih einer Försterei und beschloß, seine Schritte dorthin zu lenken. Er dachte dabei an ein frisches Glas Milch und stieg abwärts der wohlgemerkten Stelle zu.

Nach viertelstündigem rüstigem Wandern lichtete sich der Wald, und die bräunlichen Holzwände der Försterei wurden zwischen den Stämmen sichtbar.

Die Lage des Hauses übertraf seine Erwartungen; es stand auf einer Bergwiese, von der aus nach der einen Seite hin sich ein freier Blick in’s Land darbot; zur andern Seite des schlichten Holzbaues erhob sich ein schönbewachsener Fels, von dem ein Wässerchen herabsickerte und an welchen sich ein Wald mit niederem Unterholz anschloß.

Er wählte sich im Gebüsch einen Platz, nahm seine Mappe auf die Kniee und begann das friedlich hübsche Bild zu zeichnen.

Da plötzlich vernahm er eine helle Kinderstimme, und aus dem Hause hervor lief ein kleines Ding im Hemdchen mit bloßen Füßen quer über die Wiese dem Walde zu. Gleich hinterher sprang die leichte Gestalt eines schlanken Mädchens; es holte den kleinen Flüchtling ein, neigte sich, redete zum Guten, hob das Kind auf den Arm und wandte sich dem Hause zu.

[513]

Sommermorgen.
Nach einem Oelgemälde von P. Bauer.

[514] Dem Zeichner fiel sein voriges Gelüst nach einem Glase Milch ein, er stand rasch auf und befand sich neben dem Mädchen, bevor es noch mit dem Kinde die Hausthür erreicht hatte. Als sich die beiden Blondköpfe nach ihm umwandten, ward er überrascht von der wunderbaren Schönheit des älteren. Er glaubte nie ein so frisches, idealschönes Angesicht gesehen zu haben. Aus großen blauen Augen schaute sie ihn fragend an.

Er sagte, daß er als Zeichner komme, drüben am Waldesrande sein Geräth habe und um eine Erquickung bitte. Sie hieß ihn sich auf die Bank setzen, sie wolle nur die kleine Schwester hineintragen, dann bringe sie ihm, was er wünsche.

Einige Minuten saß er allein auf der rohgezimmerten Bank, unter den duftenden Goldlackstöcken, die im Fensterbrette standen. Der Hund legte zutraulich die kalte Schnauze auf sein Knie und ließ sich den Kopf krauen.

Bald kam das Mädchen mit Brod und Schinken, sie hielt einen Krug in der Hand und eilte zum Stalle, um frische Milch zu holen; behende war sie auch damit zurück. Sie nahm die Kleine auf den Schooß, setzte sich zum Gaste, nöthigte ihn zuzugreifen und plauderte mit ihm und dem Kinde.

„Mein Lenchen rannte mir weg,“ sagte sie. „Gelt, Schatzel, wolltest dem Vater nach? Aber durch den wilden Wald, wo die großen Hirsche sind, kann klein Lenchen noch nicht laufen!“

„Ihr Vater ist hier der Förster?“ fragte Goethe, „er mußte wohl des Herzogs Treibjagd mitmachen, und so sind Sie allein geblieben?“

Das Mädchen bejahte; es erzählte von seinen Geschwistern, die alle schon auswärts wären, daß ihre Mutter vor einem Jahre gestorben sei und daß sie nun das Kleinste groß zu ziehen habe; dabei herzte sie das Kind, und man sah, es war ihr keine schwere Pflicht.

Goethe fand, daß er von hier auf den Wald, der vor ihm empor stieg, auf die Fernsicht zur Seite und ein Stück vom Felsen einen höchst malerischen Blick habe und seine Zeichnung viel bequemer auf dem Tische vor der Försterei anfertigen könne, als drüben unter den Bäumen, mit der Mappe auf den Knieen.

Als er diese Meinung aussprach, freute sich seine junge Wirthin sichtlich und rief: sie habe sich immer gewünscht, zu sehen, wie ein Bild gemacht werde.

Das Kind spielte, während er jetzt zeichnete, zu seinen Füßen mit dem Hunde, und Gretchen, das ältere Mädchen, kam und ging, sah dem Zeichner über die Schulter, staunte seine Geschicklichkeit an und plauderte dabei voll Natürlichkeit und Anmuth.

Goethe betrachtete mit echter Künstlerfreude ihre tadellose Schönheit; ihr mattblondes Haar hing in zwei dicken Zöpfen lang über den Rücken herunter, die weichen, regelmäßigen Züge konnten nicht lieblicher sein. Endlich bat er sie, sich ihm gegenüber zu setzen, er wolle sie zeichnen. Sie hatte nichts dagegen, sie müsse nur erst ihre Kuh füttern; darauf nahm sie ihren Strickstrumpf und setzte sich nach seiner Angabe.

Als sie dann des Weiteren hin und her redeten, erzählte sie ihm, daß sie siebenzehn Jahre alt, und – mit hellem Erröthen fügte sie hinzu, daß sie einem jungen Chirurgen unten in Ilmenau verlobt sei; sie könne aber den Vater noch nicht verlassen, und ihr Bräutigam habe auch noch keine sichere Brodstelle, deshalb dürfe an Heirath noch nicht gedacht werden.

„Ja,“ sagte sie überlegend, „wenn der Herzog den Johann späterhin fest anstellen wollte, könnte mein Vater – in ein paar Jahren vielleicht mit einer guten Magd oder einer Tante von uns fertig werden, allzu bald verlasse ich ihn und mein Lenchen aber nicht.“

Als sie so erzählte und sich dabei einmal zur Seite wandte, rief sie plötzlich: „Ach, der Hansel!“ und eilte in’s Haus.

Goethe war überrascht ihrem Blicke gefolgt; er sah einen Capitalhirsch, vorsichtig äugend, drüben aus dem Walde auf die Wiese treten. Das stolze Thier hob und senkte langsam den Kopf mit dem mächtigen Geweihe, das wie eine hohe, vielzackige Krone über der Stirn aufragte. Dann schritt es sicher und vornehm langsam, hier und da wieder Umschau haltend, unter den breitästigen Buchen hervor.

Gretchet trat mit einigen Kastanien in der Schürze aus dem Hause, rief dem Hunde ein „Kusch!“ zu und ging dem Ankömmling entgegen. Der Hirsch blieb mit stolz gehobenem Kopfe, bereit zu fliehen, aber noch vertrauend, auf seinem Flecke stehen.

Das Mädchen hielt die Schürze auf und rief das schöne Thier mit Schmeichelnamen. Es folgte langsam, äugend, dann aber ruhig aus der Schürze fressend, wobei seine Freundin ihm die Backe klopfte. Als die Kastanien verzehrt waren, kam sie zurück, während der Hirsch im Walde verschwand.

Mit Vergnügen hatte der Dichter den Vorfall beobachtet. Gretchen erzählte ihm, indem sie mit heiterem Lachen ihre schweren Zöpfe zurückwarf: ihr schöner Hansel komme schon seit langer Zeit fast täglich. Zuerst habe sie ihm sein Lieblingsfutter auf die Wiese geworfen, jetzt nehme er’s zutraulich aus ihren Händen. Sie habe nur eine große Angst, daß der Herzog einmal hier im Reviere jagen werde und daß dann der prächtige Gesell daran glauben müsse.

Während sie noch hin und her plauderten, kam der Förster nach Hause. Er berichtete von der beendeten Jagd, und Goethe sah jetzt, daß die Sonne niedrig stand.

Als Förster Slevoigt erfuhr, daß der Gast zu des Herzogs Gefolge gehöre, erbot er sich, ihm die kürzesten Fußpfade zu weisen, auf denen er von hier aus zum Gickelhahn gelangen könne, und meinte, daß er quer durch den Wald, bei rüstigem Zuschreiten, in einer Stunde dort sein werde.

Goethe brach auf und reichte mit herzlichem Danke Gretchen die Hand. Er wurde vom Vater eine Strecke Wegs begleitet und mit Jagdgeschichten unterhalten, auf die er nur zerstreut lauschte. Das schöne Mädchen und das Idyll dieses Tages erfüllten seine Gedanken!

Nachdem er sich von dem gefälligen Führer verabschiedet hatte und Ruhe fand, die empfangenen Eindrücke zu verarbeiten, festigte sich in ihm der Entschluß, die Försterei nie wieder aufzusuchen, auch den anderen Männern nichts von Gretchen Slevoigt zu sagen; sie war von einer zu wunderbaren Schönheit! Besonders wünschte er sie vor dem Herzoge zu hüten. Gretchen hatte schon ihren Weg gewählt; mochte sie still wie eine Wunderblume auf der grünen, von keinem fremden Fuße entweihten Waldwiese weiter blühen, bis ihr Geliebter sie schützend an sein Herz nahm! Leise sang er vor sich hin:

„Im Walde sah ich ein Blümlein stehn,
Wie Sterne leuchtend die Aeuglein schön,
Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein:
‚Soll ich zum Welken gebrochen sein?‘“

(Fortsetzung folgt.)

Die „Schwarze Hand“.

Vor wenigen Wochen haben in Jerez de la Frontera in Andalusien sieben Individuen mit ihrem Tode ein Verbrechen gebüßt, das am 4. December 1882 in der nächsten Nähe jenes berühmten Weinortes begangen worden war und das mit der berüchtigten socialistischen Gesellschaft der „Schwarzen Hand“ in Beziehung gebracht wurde. Dieser Zusammenhang ist zwar nicht mit absoluter Sicherheit erwiesen, man hat sich jedoch so daran gewöhnt, jenes furchtbare Verbrechen als eines der „Schwarzen Hand“ zu betrachten, daß desselben gar nicht mehr anders als im Verein mit dem Namen dieser mysteriösen Genossenschaft Erwähnung geschieht. So bin ich denn auch gezwungen, auf den Mord des Blanco de Benaocaz einzugehen, ehe ich über die „Schwarze Hand“, die Ursachen ihrer Existenz und ihre Organisation spreche, so weit sich überhaupt Bestimmtes darüber mittheilen läßt und so weit die Processe gegen die Urheber des bezeichneten Verbrechens Licht darüber verbreitet haben.

Bartolomé Gago Campos, genannt el Blanco de Benaocaz, ein junger Feldarbeiter, Anfang der Zwanziger, der bei den Gebrüdern Corbacho im Dienst stand und an einen derselben eine Forderung von etwa 265 Peseten (Francs) hatte, beabsichtigte, sich den 5. December 1882 aus der Gegend von Jerez fortzubegeben und anderswo Arbeit zu suchen. Seit dem 5. December war er denn auch verschwunden, ohne daß seine Eltern wußten, wohin er sich gewandt hatte. Endlich erhielten sie einen vom 8. Januar aus Barcelona datirten Brief, scheinbar von Blanco geschrieben, worin dieser mittheilte, daß er in seine [515] Heimath zurückkehren werde, sobald er sich ein kleines Vermögen erworben habe. Am 4. Februar 1883 entdeckte nun die Guardia Civil, auf Grund von vertraulichen Mittheilungen und Gerüchten, nach längerem Nachforschen in der Nähe von Jerez an abgelegener Stelle in geringer Tiefe unter dem Erdboden einen Leichnam, der sich dort mindestens 60 Tage befunden haben mußte und der die Spuren der Tödtung durch Flintenkugeln und Messerstiche aufwies. Die sofort angestellten Untersuchungen richteten sich gegen die Brüder Corbacho, und es stellte sich alsbald heraus, daß diese und 14 Genossen in der Nacht des 4. December 1882 den Blanco an der Stelle, wo man seinen Leichnam fand, ermordet, begraben und später auch den obigen Brief geschrieben hatten. Der gegen die Verbrecher angestrengte Proceß und die öffentlichen Gerichtsverhandlungen vom 5. bis 14. Juni 1883 ergaben folgendes Resultat.

Blanco de Benaocaz gehörte, wie die Angeklagten, einer geheimen Arbeitergenossenschaft an – die nun eben mit der früher bereits bekannt gewordenen „Schwarzen Hand“ identificirt wurde – und zwar der Section von Alcornocalejo, an deren Spitze Francisco Corbacho Lago als Präsident, Pedro Corbacho als Vicepräsident, Juan Ruiz y Ruiz als Secretär standen und der auch die andern Angeklagten als Mitglieder angehörten. Sei es, daß der Umstand, daß die Brüder Corbacho Blanco’s Schuldner waren, diesen unbequem war, sei es, daß Blanco durch eine Liebschaft mit einer Verwandten der Corbacho’s die Eifersucht derselben geweckt hatte, sei es, daß er sich gegen die Satzungen besagter geheimer Gesellschaft vergangen hatte, kurz – gegen den 4. December wurde in der Wohnung des Genossen Bartolomé Gago’s de los Santos, der „Decurial“ der Section war und als solcher die Geldbeiträge der ihm unterstellten 10 Mitglieder seiner Abtheilung einzucassiren hatte, eine Versammlung der Angeklagten abgehalten und in derselben von den Corbacho’s das Todesurtheil gegen Blanco beantragt. In Folge von Meinungsverschiedenheiten konnte dasselbe nicht zum Beschluß erhoben werden; am 4. December fand aber eine zweite Vereinigung im Hause von Ruiz y Ruiz statt, und das Ergebniß derselben war, daß die Jüngsten der Vereinigung das von dem Secretär ausgefertigte und vom Präsidenten unterzeichnete Todesurtheil noch an demselben Tage zu vollstrecken hätten. Dieser Urtheilsspruch wurde in der Oelmühle von Parrilla dem „Decurial“ Bartolomé Gago de los Santos übergeben, der für die Ausführung desselben einzustehen hatte.

Da sich Blanco gerade bei dem Decurial, seinem Vetter, befand, so ordnete dieser an, daß sein Bruder Manuel Gago de los Santos sich mit Blanco in ein nahe gelegenes Wirthshaus begeben und dort die Executoren erwarten sollte. Inzwischen berief Bartolomé die Mitglieder seiner Abtheilung, und las ihnen das ihm übersandte Todesurtheil vor, das allgemeine Billigung fand. Daraufhin wurden nun die Jüngsten der Versammlung zur Vollstreckung des Urtheilsspruchs erwählt und einige andere Genossen angewiesen, sich ebenfalls zur Hülfeleistung an dem genau bestimmten Orte der „Hinrichtung“ einzufinden. Alle diese Befehle und Dispositionen wurden auf das Genaueste ausgeführt, und Blanco de Benaocaz wurde denselben gemäß ermordet.

Dies ist in kurzen Zügen der Sachverhalt, wie ihn die Verhöre ergaben, und das daraufhin gefällte Urtheil des Gerichtshofes von Jerez lautete für sieben Angeklagte auf Tod, für die andern neun auf siebenzehn Jahre Kette und Verlust aller Bürgerrechte. Im Frühjahr dieses Jahres kam die Sache noch einmal zur Verhandlung und zwar vor dem Madrider Obertribunal, das bei 15 Individuen auf Tod, bei dem 16. Angeklagten auf schwere Kerkerstrafe erkannte. Hiergegen wurde noch einmal Berufung versucht, diese wurde jedoch abgelehnt, aber der Staatsanwalt that Angesichts dieser großen Zahl von Opfern der Gerechtigkeit sein Möglichstes, um dieselben der Milde des Ministeriums und des Königs anzuempfehlen, und das Endurtheil lautete denn nun auf Tod bei neun, auf schwere Kerkerstrafen bei den sieben andern Angeklagten. Einer der zum Tode Verurtheilten hatte sich jedoch im Kerker schon einige Wochen früher das Leben genommen, ein anderer zeigte Spuren von Geistesstörung, die Vollziehung der Strafe wurde daher bei ihm hinausgeschoben, bis die Gerichtsärzte ihr Urtheil abgeben würden, und die sieben andern wurden am 14. Juli von den drei ersten Scharfrichtern des Königreichs auf öffentlichem Platze und unter Anwesenheit großer Menschenmassen garrottirt. Die Regierung befürchtete, daß die Vollstreckung des Urtheils möglicher Weise Unruhen in der Arbeiterbevölkerung hervorrufen könnte, es waren daher für diesen Fall umfassende Vorkehrungen getroffen worden, die furchtbare Handlung verlief aber ohne größere Störungen.

Die Behörden hatten schon seit mehreren Jahren Kunde von geheimen socialistischen Arbeitervereinen erhalten, und eine ganze Reihe von Verbrechen mysteriösen Charakters, die Aehnlichkeit hatten mit denen der Fenier, waren dem Volkstribunal der „Schwarzen Hand“ zugeschrieben worden. Die tüchtigsten Beamten wurden angestellt, um diese furchtbare Institution zu studiren; bei den verschiedensten Gelegenheiten waren denn auch gravirende Documente aufgefunden worden, trotzdem blieben alle Versuche, ein vollständiges Bild dieses geheimnißvollen Arbeiterbundes zu gewinnen, vergebens. Dieser Proceß gegen die Mörder des Blanco de Benaocaz hat nun zwar mehr Licht über das „Volkstribunal“ verbreitet, trotzdem ist es nicht gelungen, die ganze Organisation zu durchschauen, und die in den Proceß Verwickelten haben theils standhaft jede Kenntniß der Existenz der „Schwarzen Hand“ geleugnet, theils ganz vage Mittheilungen gemacht und jede weitere Auskunft verweigert. Daher ist es gekommen, daß die Vorstellungen von der in allen Kreisen eine Zeit lang so sehr gefürchteten „Schwarzen Hand“ ganz unbestimmt geblieben sind, daß es heute noch Viele giebt, die an die Existenz dieses agrarischen Vehmgerichts nicht glauben, daß Andre die zahllosen Geheimbünde, die unter den Arbeitern Andalusiens bestehen und etwa 40,000 Individuen umfassen sollen, in ihrer Gesammtheit als die „Schwarze Hand“ bezeichnen, und das scheint uns nach Zusammenstellung alles vorhandenen Materials das Richtige zu sein. Als vor einigen Jahren in einer kleinen Ortschaft Andalusiens das Begräbniß eines Arbeiters stattfand, strömten zu demselben von allen Seiten große Massen von Arbeitern zusammen, und als man sie fragte, was das zu bedeuten habe, erklärten die Gefragten, der Todte sei ein Bruder ihres Bundes gewesen.

Die Existenz derartiger Arbeiterbündnisse läßt sich mindestens bis zum Jahre 1873 zurück nachweisen, und die Organisation derselben ist zum Theil eine so vollendete gewesen, daß man sie nur auf das Einwirken der ausländischen socialistischen und nihilistischen Elemente zurückführen kann.

Die Regierung that natürlich ihr Möglichstes, um mit diesen Geheimbünden aufzuräumen, und sie glaubte schon vor mehreren Jahren, daß ihr das gelungen sei. Da bewies das Verbrechen vom 4. December 1882, wie wenig es ihr geglückt sei, und wenn sie jetzt glaubt, die socialistische Bewegung durch den Monstreproceß völlig erstickt zu haben, so sieht sie seit einigen Tagen, daß auch diese Annahme durchaus falsch und illusorisch ist, denn nicht allein sind im vorigen Jahre und in den letzten Monaten wieder eine Reihe von Verbrechen höchst eigenartigen, geheimnißvollen Charakters vorgekommen, die der „Schwarzen Hand“ zugeschrieben wurden, sondern vor einigen Tagen wurde auch in Alhama bei Granada das aus zwölf Männern bestehende Präsidium eines localen Arbeiterverbandes von Alhama bei einer Sitzung überrascht, und die beschlagnahmten Siegel wiesen die Bezeichnung „Federacion“ auf, während aus einzelnen Documenten ersichtlich wurde, daß der Verband dieses kleinen Oertchens allein über zweihundert Mitglieder umschließe.

Ehe wir nun auf die Ursachen des Entstehens so vieler socialistischer und anarchistischer Vereinigungen in Andalusien eingehen, dürfte es interessant sein, einzelne der bei Gelegenheit des letzten großen Processes aufgefundenen Documente zur Kenntniß zu bringen.

Zunächst fanden sich im Besitz der Angeklagten Exemplare einer beträchtlichen Anzahl verschiedenartiger socialistischer und anarchistischer Zeitschriften und Flugblätter, die „Der Arbeiterfreund“, „Die Sünde Kain’s“ betitelt waren, sowie ein Kalender, welcher die von der französischen Revolution adoptirte Zeitrechnung nach Decaden und ferner alle für die Geschichte des Socialismus und Nihilismus bemerkenswerthen Daten und außerdem Aufsätze enthält, die in dem bekannten Geiste des Anarchismus abgefaßt sind.

Neben diesen mehr öffentlichen Druckschriften wurden eine Anzahl geheime Couponbücher, ferner sehr sauber gehaltene Cassenbücher u. dergl. m. gefunden; am interessantesten ist aber ein in Bleistift entworfenes, vielfach corrigirtes Schriftstück, das wohl zum Drucke bestimmt war und als Statuten-Entwurf betrachtet werden darf. Es heißt darin:

[516] „Nachdem die Internationale von den ‚Bürgern‘ als außerhalb des Gesetzes stehend erklärt worden ist, und die Fortschritte der socialen Revolution zur Züchtigung des Bürgerstandes und seiner Verbrechen unmöglich gemacht sind, in Anbetracht dessen, daß die Verbündeten keine Macht haben, ihre Strafen zu vollstrecken, bildet sich zu diesem Zwecke ein Ausschuß (eigentlich Kern, núcleo), der sich Volkstribunal nennt.

Jeder Ausschuß wird aus 10 Individuen bestehen. – Sein Hauptzweck wird sein, die Verbrechen der ‚Bürger‘ durch Feuer, Eisen, Gift und andere Mittel zu bestrafen. – Die Mitglieder werden am ersten jedes Monats Zusammenkünfte abhalten, und in ihnen werden sie Rechenschaft ablegen über die Mittel, die Repressalien auszuführen. – Sie werden Mittel erkunden, um Schaden zuzufügen, und diese dem Präsidenten vorlegen. Sie werden einen wöchentlichen Beitrag von fünf Centimos (vier Pfennig) zahlen. Alle günstigen Gelegenheiten, um Züchtigungen zu vollziehen, werden benutzt werden, aber man wird sich nicht weigern dürfen, im Nothfall das Leben auf das Spiel zu setzen. – Die Rache wird an den Personen oder am Besitzthum genommen werden. Um einen Verräther zu tödten, darf Niemand Rücksicht darauf nehmen, ob dies sein Vater, Sohn oder Bruder ist. – Der Ausschuß wird nicht eher aufgelöst werden, als bis die sociale Revolution vollzogen ist. – Alle werden bei dem Eintritt (in den Bund) ihre Namen ändern. – Die mit ihnen in Verbindung Stehenden müssen sie den Haß gegen die Reichen lehren.“ –

Ein anderes Document lautet:

„Die schwarze Hand. – Gesellschaft der Armen gegen ihre Tyrannen und Henker. – Europa, erstes Jahrhundert. – Die Reichen haben in ihren Klauen den Besitz der Armen. – Falsch sind die Vorstellungen bezüglich des Eigenthums und der Verzeihung von Beleidigungen. – Es empfiehlt sich der Gebrauch des Giftes, des Feuers und selbst der Verleumdung. – Die Gesellschaft ist eine geheime. – Wer etwas enthüllt, wird eine Strafe von zeitweiliger Ausschließung bis zu der des Todes erleiden. – Man erwirbt das Recht zum Eintritt durch irgend einen geleisteten Dienst. Es müssen die Genossen in Betracht ziehen, daß der Verband eine fürchterliche Kriegsmaschine ist, von der jedes Mitglied ein Stück bildet. – Wer gegen seine Verpflichtungen fehlt, wird vor Gericht gestellt und den Tod erleiden.“ –

Diese Documente beweisen zur Genüge, wie weit die Verrohung und Verirrung der Mitglieder einzelner socialistischer und anarchistischer Vereine andalusischer Arbeiter geht, und wie das Verbrechen in denselben sanctionirt ist; die Praxis bezeugt, daß die andalusischen Socialisten ihre Lehren auch wirklich durch die Thaten bekräftigen.

Woher, müssen wir uns nun fragen, kommt diese Erscheinung, daß der Nihilismus – denn dieser ist es, der den Geist vieler andalusischer Arbeiterbündnisse offenbar beherrscht – so viel Boden im Süden Spaniens gefunden hat? Liegt er der Natur und Anschauungsweise der Andalusier so nahe? Nicht näher als den Arbeitern anderer Districte und Länder, denn wenn auch die andalusische Bevölkerung sehr überwiegend von arabischen und berberischen Elementen durchsetzt ist, so ist doch weder diese Blutsmischung noch etwa der Einfluß der ursprünglichen mohammedanischen communistischen Verfassung für obige Erscheinung verantwortlich zu machen.

Wenn man ferner die „Schwarze Hand“ und den andalusischen Anarchismus mit dem leider so hoch entwickelten Bandolerismus, dem Banditenwesen, zusammengeworfen und beide identificirt hat, so ist dies grundfalsch. Sie haben nichts weiter mit einander gemein, als daß sie Kinder einer und derselben Mutter sind, nämlich des grenzenlosen Pauperismus, des unsäglichen Elends, in dem die niederen Stände Andalusiens leben – oder vielmehr auf das Kümmerlichste vegetiren. Und da haben wir denn die traurigen Gründe für den Socialismus, Nihilismus, Anarchismus der andalusischen Arbeiter, für jene furchtbaren Verirrungen des menschlichen Geistes, der in seiner Noth so weit geht, das furchtbarste Verbrechen als eine Gutthat zu sanctioniren, die Grundsätze des Humanismus mit Füßen zu treten und den Menschen zur wilden Bestie umzugestalten, die zur Erlangung der nothwendigsten Existenzmittel nichts mehr für unerlaubt hält.

Es würde zu weit führen, die Ursachen des Elends der andalusischen Arbeiter detaillirt mitzutheilen. Ich kann sie nur flüchtig andeuten, und jeder denkende Mensch wird im Stande sein, die Consequenzen aus den wenigen Mittheilungen zu ziehen.

Man muß in die Höhlen und Hütten der armen Andalusier hineingesehen haben – was ja selbstverständlich kein flüchtiger Tourist thut – um sich eine Vorstellung von der Furchtbarkeit des Elends zu machen, das dort besteht. Aber auch diese Arbeiter sind Menschen und zwar heißblütige, geistig und körperlich kräftig entwickelte, rege Menschen, auch sie haben menschliche Empfindungen, wollen leben, wollen sich verheirathen, wollen ihre Kinder erziehen. Dazu gehört für den unglaublich genügsamen Andalusier wenig, sehr wenig, und er ist der beste Mensch von der Welt, der lustigste, witzigste, wenn er dies Wenige hat. Aber er ist leidenschaftlich, sein Blut erhitzt sich leicht, und wenn er für sich und seine Familie nicht einmal das Nöthigste zur Existenz erhält – so erbittert ihn das und – wehe dem, der den Zorn des Andalusiers auf sich lenkt!

Es liegt in der Natur des verwahrlosten Landes, daß der Feldarbeiter – und andere Arbeiter giebt es in Andalusien kaum – nur während eines Drittels des Jahres oder vielleicht während der Hälfte desselben, etwas verdienen kann, die andere Zeit ist er beschäftigungslos. Und was verdient er überhaupt! In einem Monat etwa so viel wie ein deutscher oder englischer Fabrikarbeiter in einer halben Woche, an einem Tage, und von den wenigen Pfennigen soll er mit seiner Familie leben!

Dazu kommt die Erbärmlichkeit des spanischen Schulwesens. Auf dem Papier ist Alles sehr gut geordnet. Wenn aber die armen Dorfschullehrer Jahre lang auf ihre lächerlich kleinen Gehälter warten und ihr Dasein auf das kümmerlichste fristen müssen, da ist es kein Wunder, wenn Niemand Schullehrer sein mag, wenn die ungebildetsten Ignoranten, die selbst nicht lesen und schreiben können, Lehrer werden – durch Protection der Beamten, der Kaziken!

Gesetzt nun aber endlich den Fall, ein andalusischer Feldarbeiter versucht sich selbstständig zu machen, kauft auf Credit ein Stückchen Landes, so hat er an Zehnten, Abgaben, Auflagen und Steuern fast den ganzen Ertrag seiner mühseligen Arbeit zu zahlen.

So wirken alle Umstände zusammen, um den obendrein verdummten und fanatisirten andalusischen Arbeiter zum Banditen oder zum Anarchisten zu machen. Und wie sehr auch die Regierung sich bemüht, glauben zu machen, daß der Socialismus in Andalusien erstickt ist, muß vielmehr constatirt werden, daß er mit jedem Tage mehr um sich greift und zu einer immer drohenderen Gefahr wird. Nicht durch Processe, Verfolgungen und Hinrichtungen wird die Regierung diese Gefahr beschwören, sondern nur durch Verbreitung tüchtiger Bildung, durch Besserung des Looses der Arbeiter.

Madrid, im Juli 1884. Gustav Diercks. 


Sprüche.

Hoch oder platt,
Drög oder natt,
Beer oder Win,
Grof oder fin –
Awer echt mutt dat sin.




Verleumdung is as’t falsche Geld,
Dat schlank mit umlöppt in de Welt,
Wenn’t noch so leeg[2] un slecht is.

     Dar’s Mennigeen[3] – he mak[4] dat nicht –
He schu’t[5] Geweten un Gericht,
Doch gift he’t wieder, wenn he’t kriggt –
Un weet doch, dat’t ni echt is.  Klaus Groth.


  1. Wir bringen auf Seite 52 einen trefflichen nach einer englischen Vorlage ausgeführten Original-Holzschnitt, der als das beste Portrait des falschen Propheten angesehen wird. „Machdi“ und nicht „Mahdi“ ist nach Angabe der Orientalisten die richtige Schreibweise. Vergl. übrigens „Gartenlaube“ Nr. 10 und 11. Anmerk. der Red. 
  2. leeg schlecht, niedrig; leeg Water niedriges Wasser; en legen Kerl ein schlechter Mensch.
  3. Mennigeen Mancher.
  4. mak macht.
  5. schu’t scheut.

[517]

Das große Landungsmanöver bei Danzig.
Für die „Gartenlaube“ aufgenommen von Hans Petersen.

[518]

Die Flottenmanöver in der Danziger Bucht.

(Mit Illustrationen von Hans Petersen.)

Unsere Marine hat sich daran gewöhnt, allsommerlich für ihre Kriegsübungen die Danziger Bucht als ihr bevorzugtes Terrain zu wählen. Freilich mögen militärische Erwägungen in erster Reihe bestimmend hierfür sein; denn die malerische Strandgliederung der Bucht umschließt mit der frischen Nehrung ein ruhiges und gesichertes Seebecken, und ihre Küste selbst ist hervorragend zur Ausführung von Landungsmänövern geeignet, welche im Programme der Sommercampagne unserer Marine in letzter Zeit eine sehr bevorzugte Rolle spielen. Die alte Hansestadt Danzig aber faßt die alljährliche Wiederkehr der Flotte gern als selbstverständliche Forderung auf, denn an den Ufern der Weichsel wurzelt die gegenwärtige Größe unserer Seemacht am tiefsten, und nirgends sind die Sympathien für das vaterländische Seekriegswesen so große und aufrichtige, als bei den Bewohnern der altehrwürdigen Weichselstadt.

In größerer Stärke und zahlreicher an Masten denn je war die deutsche Flotte in diesem Jahre auf ihrem Ankerplatze erschienen. Die untenstehende Skizze zeigt die lange Front, in welcher die Flotte vor dem Seebade Zoppot ankerte. Wir sehen auf dem linken Flügel die Schulschiffe mit den Torpedobooten, die Mitte vom Prinzenschiffe „Hansa“ in der Begleitung der Corvette „Sophie“ eingenommen, und sodann nach dem rechten Flügel zu die formidablen Gruppen der beiden anderen Geschwaderdivisionen, die Panzerkanonenboote und Panzercorvetten, sich trotzig ausbreiten.

Der Chef der Admiralität hatte mit großer Suite im Curhause Wohnung genommen, während die Prinzen die Salons der „Hansa“ als dauernden Wohnsitz behielten. Alle Befehle wurden der Flotte von dem Marineminister von Caprivi durch eine Signalstation ertheilt, die am Strande vor dem Curhause etablirt war. Die Befehle der Signalstation richteten sich zumeist an das Flaggschiff des Panzergeschwaders, und von diesem wurden dieselben, sofern sie noch für andere Schiffe maßgebend waren, weiter signalisirt.

Von der ganzen Flotte nahm das größte Interesse des Publicums dauernd die Gruppe der Panzercorvetten in Anspruch; wenn die Schiffe zum Abend von den Uebungsfahrten auf ihren Ankerplatz zurückkehrten, waren diese gewaltigsten Panzer unserer Marine das beliebteste Ziel der zahllosen Besucher, die alltäglich in Schaaren vom Zoppoter Steg oder auf ganzen Flotten von Weichseldampfern aus der Stadt zum Besuche in See aufbrachen. Im tiefschwarzen Gewand, die muskulösen Glieder von einem gewaltigen Panzer im Mittelschiff bedeckt, ruhten die wehrhaften Fahrzeuge schwer und trotzig zwischen den anderen Schiffen, ohne daß sich aus dem massigen Rumpf spielend die pyramidale Takelung eines dreigetheilten Mastenbaues erhob und die schneeige Fülle einer reichen Segellage entfaltete, die selbst einem Kriegsschiffe etwas Anmuthiges und Zierliches zu leihen vermag. Nur wenig aus dem Wasser ragend, aber um den großen mit vier 26 Centimeter-Ringgeschützen schwer gerüsteten Mittelthurm und die vier gewaltigen Schlote ein Gewirr von Platten und Ketten als mächtigen Schutz häufend, glichen diese Corvetten mehr schwimmenden Citadellen, und in ihrem finsteren und starren Angesicht schien sich nur ein Sinn für Kampf und Vernichtung auszuprägen.

Eine Skizze unseres Specialzeichners stellt das Flaggschiff des Geschwaders, eines dieser vier mächtigen Schwesterschiffe, die Corvette „Baden“ dar, auf welcher der Chef des Geschwaders, Contre-Admiral Graf von Monts, die Flotte befehligte. Als Zeichen dieser besonderen Würde führte die „Baden“ im Top ihres Signalmastes die Flagge des Chefs. Aber auch die kleineren Fahrzeuge, wie die Brigg der Schiffsjungen, die Torpedoboote und die für den Kampf auf geringe Entfernung bestimmten, im Mars der Kriegsschiffe aufgestellten Revolvergeschütze (vergl. unsere Anfangsvignette) nahmen das allgemeine Interesse lebhaft in Anspruch.

Von dem Programm der Uebungen war besonders ein großes und breit angelegtes Landungsmanöver, für welches die Zoppot benachbarten Höhen von Steinberg und Arhöft nebst dem zwischen ihnen liegenden Strandthale mit dem Dörfchen Gdingen als Gefechtsterrain gewählt wurden, dazu geeignet, ganz Danzig und eine weite Umgebung in Alarm zu bringen.

Eine diesem Manöver zu Grunde gelegte Gefechtsidee hatte angenommen, daß Danzig von einer feindlichen Armee cernirt war und daß der Feind auch bereits den Hafen Neufahrwasser mit zwei Schiffen besetzt hielt. Bei Hela, auf der gegenüberliegenden Landspitze, war zur Observation von ihm ein Avisoschiff postirt worden. Um einen Transport von Ersatztruppen zu landen, welche einen Vorstoß gegen die Belagerungsarmee unternehmen sollten, war eine Flotte deutscher Schiffe gegen die Danziger Bucht vorgerückt. Diese Flotte war von dem postirten Avisoschiffe so rechtzeitig gemeldet worden, daß der Feind Zeit genug behalten hatte, eine Infanteriebrigade nebst einer Avantgarde nach dem drei Meilen unterhalb Danzig belegenen Strande von Gdingen zu dirigiren und diesen besetzt zu halten, als die Flotte in Staffelformation gegen die Küste herangedampft war und das Feuer auf 800 Meter Distance Morgens um neun Uhr eröffnete. Es war ein prächtiger Tag. Die Bucht prangte unter dem sonnigen Himmel wie ein lachendes Bild. Von den Höhen des Ufers verband sich das dunkle Grün der Waldungen mit dem goldenen Fruchtsegen der Saatfelder zum wohlthuendsten Contraste, und während die grünen Wogen in der blendenden Einfassung des Strandes flutheten, grüßten die weißen Façaden der Villen freundlich aus dem Blüthenflor herüber, der aus hundert Gärten zum Meere quoll.

Auf der Rhede von Zoppot.

Das Signal „Klar zum Gefecht“ war vom Flaggschiff gegeben und mit Trompete und Trommel zum Zeichen des Verständnisses auf allen Schiffen wiederholt worden. Die Verdecke hatten auf Momente ein Durcheinander von Regsamkeit gezeigt, aber eine waffenblitzende Gefechtsbereitschaft war daraus überall ebenso schnell entstanden. Die Geschütze waren ausgerannt, alle Waffen an Deck und die Munition in die Batterien gemannt. Ein Theil der Mannschaften hatte mit aufgestreiften Aermeln die Nummern an den Geschützen eingenommen, ein anderer wurde mit feldmarschmäßiger Ausrüstung auf Oberdeck zu den Expeditionscorps abgetheilt, welche sich in die Boote zur Landung einschiffen sollten. Die ganze Flotte war inzwischen im großen Halbkreise vor Anker gegangen und hatte die Kanonade auf den Strand nachdrücklich fortgesetzt. Es war gelungen, den Feind zur Retraite aus seinen Stellungen am Strande zu zwingen.

Am Maste des Flaggschiffes entfaltete sich zum Signal ein neues Flaggenspiel. Eine fieberhafte Thätigkeit begann sich von Neuem auf allen Schiffen zu regen. Unaufhörliche Signale mit Flaggen und Sirenen wechselten jetzt mit Commandos und Befehlen ab. Wie mit einem Zauberschlage entstand jedoch aus diesem abermaligen Durcheinander hurtigen [519] Hantirens Tausender von nervigen Arnlen aus der leicht bewegten Meeresstäche zu Seiten der verankerten Schiffsfront plötzlich eine geordnete lange Linie von Booten, die, nlit Besatzungen, Ge- schützen und Handwasten gefüllt, sich mit weitausgreifenden Ruder- schlügen ullter Deckung der uuaufhörlich feuerudell Schistsbatterien schnell dem Strallde näherte. Die Boote wnrden mit elnigen letzten krüstlcheil Rnderschlügen allf den Sand gerlldert, die Masten als Lanshrücken benützt, die Landungsgeschütze üder Plallkell an Land gemannt, Fangleinell wnrden ansgeschrrert rlnd all diese die Boote festgelegt.

Schiffsjungenbrigg.

Die Aufnahme unseres Zeichners, der in einer Gig der „Grille“ den Booten an Land gefolgt war, veranschaulicht diesen Moment des Gefechts. Die Bootsbesatzungen traten schiffsweise zusammen und ordneten sich schnell zum Gros und zur Avantgarde, während das Sanitätspersonal unter Leitung des Chefarztes einen Verbandsplatz etablirte, das Rothe Kreuz darüber hißte und Krankenträger dem Expeditionscorps nachsandte.

Der Feind hatte in Folge des schweren Artillerie-Angriffs der Flotte, mit welchem die Küste unausgesetzt unter Feuer behalten wurde, seine Stellungen am Ufer bereits gänzlich geräumt und sich bis auf das Dorf Gdingen hinter starke Deckungen zurückziehen müssen. Hier aber erwartete er nun den Angriff des Landungscorps, welches im Eilschritt unter brütender Sonne durch das sandige Terrain sich zum Sturm anschickte. Das sich nunmehr entwickelnde hartnäckige Gefecht entschied sich nach langem Hin- und Herschwanken zu Gunsten der Angreifer; Gdingen wurde nach einer einstündigen braven Vertheidigung von den Matrosen mit hallenden Hurrahs genommen. Die Landung der imaginären Truppen mit Transportschiffen, welche im Gefolge der Flotte zu denken waren, zum Zweck eines Vormarsches gegen Danzig, und der Unterstützung eines gleichzeitigen Ausfalls der Besatzung, konnte damit als möglich und somit der Erfolg des Manövers als ein vollständiger betrachtet werden. Das an den schönsten Effecten reiche Kriegsspiel hatte ein mächtiges Spalier von Neugierigen heran gezogen, und es war für die Zuschauer ein prachtvolles Bild, wie die Uniformen der Seesoldaten gemischt mit den Blaujacken der Matrosen die steilen Hänge des Ufers erklommen, wie die Bootsgeschütze, von den kräftigen, wettergebräunten Seeleuten selbst gezogen, trotz Dünen und aller Uferhöhen mit unwiderstehlichen Kräften im Sturmlauf gefördert wurden, und hinter den vorgehenden Cameraden die Krankenträger mit Tragbahren und ihrem Verbandzeuge ihres Amtes walteten. Mit dem Admiralitätschef hatten sich die Prinzen Wilhelm und Heinrich von der Flotte an Land ausschiffen lassen, und Prinz Wilhelm nahm zum Schluß noch eine Parade, welche die Capelle des Geschwaders begleitete, über das ganze circa 2000 Mann starke Landungscorps auf dem Gefechtsfelde ab.

Dieses Landungsmanöver der Flotte blieb der Höhepunkt der kriegerischen Unternehmungen auf der Bucht.

Das Flaggschiff „Baden“.

Aus dem Programm der Manöver dürfte indessen noch manche andere Nummer besonders zu erwähnen sein. So z. B. eine Race aller Boote der Flotte auf der Rhede von Zoppot. Ein von den Schiffen geschlossenes Rechteck war der Schauplatz, wo die im häufigen Kampfe mit den Elementen erhärteten Männer im belustigenden Spiele ihre erprobten Eigenschaften verwertheten. Leider schloß sich diesem beliebten „Wettpullen“ nicht jener originelle Mummenschanz an, in welchem unsere Matrosen so gern sich mit der freien, sonst nur einem Kinde eigenthümlichen Lust ergehen, wie er vor mehreren Jahren einmal im Geschwader äußerst gelungen der Bootsragatta unserer Blaujacken zur anziehendsten Staffage diente. Da hatten der Südsee ferne Inseln ihre Völker hergesandt und selbst eine Cohorte von Kanaken, die nur kanakisch sprachen und schwatzten, zeigte ihre Künste. Fritz Käpernick lief als Scheuerprahm den Dauerlauf, Nudelmüller tummelte sich mit einer Schaar Delphine herum, auf deren größtem Neptun gravitätisch mit seinem Dreizacke thronte, und selbst ein Kameel schwamm mit einem Wüstenreiter trotzig in den Fluthen der Ostsee. Ein solches buntes Spiel, in welchem sich immer noch ein großer Rest des Altromantischen im Seemannsleben zeigen kann, fehlte zwar als hübscher Rahmen dem diesjährigen Sport; dennoch aber wurde allerseits die Race als ein gelungenes Fest der Flotte gefeiert. Leider blieb die Trauer um den Tod des holländischen Thronfolgers für die Prinzen ein Hinderungsgrund, sich an den Festllchkeiten zu betheiligen, welche das Seebad Zoppot zu Ehren der Flotte beabsichtigt hatte. So wurde am Lande nichts aus den vielen schönen Plänen, in welchen sich besonders die Damenwelt die Glanzpunkte der Flottenmanöver gedacht hatte, und so schwanden denn schließlich auch die Aussichten dafür, daß unter der Flagge Sr. Majestät das Achterdeck des Geschwaderflaggschiffs zu verlockenden Walzerklängen ein Kranz anmuthig zu schauender Menschenblumen schmücken würde. Dies blieb vielleicht der größte Kummer, denn trotz der stetigen Treibhaustemperatur soll das Sesam schöner Träume nach diesem Ziele das schöne Geschlecht von Zoppot schon wochenlang vorher in Alarm gehalten haben.

Schwimmende Scheibe.

Die letzten Tage der Manöver übten noch mit den Schießübungen eine große Anziehungskraft aus. Dieselben wurden gegen schwimmende Scheiben, wie unsere Skizze dies zeigt, von den Schiffen vorgenommen. Die Scheiben schwammen auf Holzflößen, trugen die Bemalung von Stückpforten und wurden zum Theil von Dampfbarkassen an langen Trossen durch die See an den Schiffen vorübergeschleppt.

Bis zur Beendigung der Uebungen blieb die Rhede vor Zoppot der ständige Ankerplatz der ganzen Flotte. Hatte sich dann das nächtliche Dunkel auf das Meer herabgelassen und deuteten von ferne nur noch die ausgesteckten Nachtlichter die ruhenden Seeriesen an, so geschah es fast täglich, daß die See wie zum Abschiede von dem noch stark besetzten Badestrand sich mit dem Widerschein der Lichtwellen belebte, welche aus den elektrischen Apparaten der Flotte über den Wasserspiegel mit den überraschendsten Effecten flutheten und die Schiffe selbst aus dem Dunkel wie in einer

glänzenden Illumination hervortreten ließen.
Franz Siewert.     
[520]

Blätter und Blüthen.


Französische Vorschläge zum Ausgleich. Wir haben in Nr. 9 unseres Blattes unter „Blätter und Blüthen“ auf einen Ausbruch „französischen Deutschenhasses“ hingewiesen, der in Nizza und Algier spielte und die Deutschen als Ausspionirer und Räuber der französischen Industrie schilderte. Da unter der Verfolgungswuth, welche durch die dortige Presse aufgestachelt wurde, sogar die deutschen Badegäste in Nizza und Mentone zu leiden hatten, so gaben wir unseren Landsleuten den Rath, statt der französischen die italienischen Riviera-Badeorte zu wählen, wo sie dieselben Naturvorzüge in Frieden genießen könnten, während in Frankreich jetzt der einzelne Deutsche so gut wie vogelfrei sei.

Gegen diese Notiz legt ein in Berlin lebender Correspondent der Pariser Zeitung „L’Eclaireur“ eine Lanze gegen die „Gartenlaube“ ein. Er ertheilt derselben zwar das Lob, daß ihr Inhalt, unähnlich dem französischer „Revues“, von den Eltern auch Söhnen und Töchtern zu lesen gegeben werden könne; aber gründlicher Franzosenfresserei zeiht er sie wegen ihres haßvollen Angriffs auf die genannten französischen Bäder.

Natürlich hat auch in diesem Falle wieder das Karnikel angefangen. Es liegt mehr als Kindlichkeit in dieser französischen Vertheidigungsweise. Nicht daß die Blätter in Nizza und Algier in so über alle Maßen roher Weise gegen die Deutschen auftraten, wird gerügt: nein, die Ursache des ganzen Lärms besteht darin, daß die „Gartenlaube“ jene französischen Artikel abgedruckt hat. Hätte sie, wie der Correspondent von sich behauptet, dieselben ignorirt, so würden sie sicherlich unbeachtet wieder vergessen worden sein. Das heißt also: „Laßt die Franzosen gegen Euch schreiben und treiben, was sie wollen, – kümmert Euch nur nichts darum, dann schadet es Euch auch nichts.“

Das ist der erste Vorschlag zu einem friedlichen Ausgleich zwischen uns und den Franzosen. Noch weiter geht aber der zweite. Daß die Deutschen an dem französischen Haß ganz allein selbst die Schuld tragen, liegt auf der Hand. Die Milliarden, versichert der französische Correspondent, würde man uns gern verzeihen, aber nie könne uns verziehen werden, daß die unglücklichen Provinzen Elsaß und Lothringen der thörichten Eitelkeit der Deutschen geopfert werden mußten. So lange die Deutschen unfähig seien, zur Einsicht dieses politischen Mißgriffs zu gelangen, müßten sie sich auch den französischen Haß gefallen lassen. Also: heraus mit den sogenannten Reichslanden, dann sind sofort die Franzosen uns wieder gut.

Bis zum 14. Juli dieses Jahres konnte man fast, bei den freundlichen Beziehungen der Regierungen Deutschlands und Frankreichs, auf die allmähliche Einkehr ruhigerer Ueberlegung auch im Volke hoffen. Mit dem empörenden Skandal, den man mit der Nationalfeier in Paris verband, ist diese Hoffnung geschwunden, und es bedarf entschiedenerer Besserungsbeweise, um das mit vollem Rechte tief aufgeregte Volksgefühl der Deutschen zu beruhigen. Der Berliner L’Eclaireur-Correspondent sucht unsere Behauptung von der Unsicherheit der Deutschen in Frankreich damit zu widerlegen, daß er die Tausende aufzählt, welche in Paris und vielen anderen Industrie- und Handelsstädten Frankreichs leben und sich bereichern.

Wohl! Gegen die Deutschen in Massen geschieht selten ein Angriff. Wie ergeht es aber dem Einzelnen, der in einer französischen Masse als Deutscher erkannt wird? Es ist eine französische Stimme, welche (im „Intransigeant“) sagt: „Wir können uns nicht genug gegen den stupiden Chauvinismus einer Handvoll Besessener erheben, welche Frankreich zu retten glauben, indem sie Fensterscheiben zerbrechen und Fahnen zerreißen, Bierstuben erstürmen und Schlachten in den Straßen gewinnen, wo sie Hundert gegen Einen stehen!“ – Das ist die Schmach, die, gegen eine Nation allein gerichtet, auch die äußerste Geduld derselben endlich brechen kann. Der eine Deutsche, Dr. Wurzer, wurde bei der Statue von Straßburg am Concordienplatz von der ganzen Meute angegriffen, – und von den Fahnen aller Nationen am „Hôtel Continental“ wurden nur die deutschen geschändet.

Welches entwürdigende Schauspiel für eine Nation, daß ein Haufe, der unmöglich nur aus Gassenjungen bestanden haben kann, eine Unthat gegen ein anderes Land begeht, vor dessen Regierung die Häupter der Republik dafür Abbitte thun müssen!

Wären wir weniger werth, als wir uns mit Recht fühlen, so könnte diese Thatsache uns als genügende „Revanche“ für die Unbill gelten. Wir aber sehen in diesem Vorgang nur etwas so Niederdrückendes und Beklagenswerthes, daß wir es selbst an einem Feinde nicht mehr als einmal erleben möchten. Fr. Hfm.     


Sommermorgen. (Mit Illustration S. 513.) Sommerzeit, schöne Zeit! Doppelt schön aber ist so ein Sommermorgen. Früh, wenn eben die höchsten Wipfel der Bäume am Horizonte von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne verklärt werden, dann gilt es, hinauszueilen aus den dumpfen Räumen des Hauses in die frische Natur, in den Wald und in die thaugetränkten Felder. Tausend Kinder der lieblichen Flora blühen und duften, fleißige Bienen ziehen sammelnd und summend von Kelch zu Kelch, und ein leiser Morgenwind umfächelt Gräser, Blumen und Getreide. Die Menschenbrust hebt sich freier und athmet in durstigen Zügen die balsamische Luft, das Auge ruht fröhlich auf all dem Leben und Weben ringsumher, und die Arbeit geht noch einmal so gut von statten, als in späteren Stunden, wenn die Sonne steigt und der blinkende Thau vor ihren sengenden Strahlen verschwindet.

Völlig hingenommen von all den Reizen der umgebenden Natur ist auch das junge, schöne Menschenkind, das von dem Feldsteige her sich dem Bache nähert, in dessen silberklaren Wellen der schmale Steg sich deutlich widerspiegelt. Kein Fröhliches Lied tönt von den Lippen des Mädchens, aber aus ihren Augen leuchtet ein warmes Empfinden, und ihre ganze Haltung deutet auf ein freudiges Lauschen und Träumen. Sie selbst steht noch im Morgen ihres Lebens, und dieser ist so heiter wie der Sommermorgen. Möge auf beide ein glücklicher Tag und Abend folgen!


Ein Standbild für Carl Maria von Weber. Am 18. December 1886 werden es hundert Jahre, daß Carl Maria von Weber, der große Componist des „Freischütz“ und „Oberon“, der „Preciosa“ und „Euryanthe“, in Eutin geboren ward. Das Andenken des volksthümlichsten unter den deutschen Componisten beabsichtigt man an dem bevorstehenden Gedenktage durch die Errichtung eines Standbildes in seiner Vaterstadt Eutin zu ehren. Dieser Plan wird sicher den allgemeinsten Anklang finden, und wir theilen unsern Lesern mit, daß sich zur Verwirklichung desselben ein Comité gebildet hat, welches schon jetzt Beiträge in Empfang nimmt und an dessen Spitze der Klosterprobst Freiherr von Liliencron in Schleswig steht.



Allerlei Kurzweil.

Kryptonym.

Was sie ist, ihr Alle wißt,
Sinnt nun, wie ihr Name ist.


Dechiffrir-Aufgabe.

4oh 3tu e34 y4mu
1oe e5t h4i3so 3tu
y43u –

m43din c43 43o5-
oe4s y2io4o e34
h4e5ol4o –

e2di i5su 3u s51u4
tu2t4o t3di e34
t5di4o
. –


Magische Bordüre. Von S. Atanas.


Auflösung des Scherz-Räthsels für Küchenkundige in Nr. 29: 0 Aspic.


Auflösung des Bilder-Räthsels in Nr. 29: 0 Gefallen aneinander bezeigen.


Auflösung des Scherz-Räthsels für Theaterkundige in Nr. 29: 0 Desdemona.



Kleiner Briefkasten.

F. G. in Nürnberg. Wir sind gewohnt, von den Verehrern der Inquisition und des Großinquisitors Peter Arbues angefeindet und je nach Umständen mit Koth beworfen zu werden. Also läßt uns auch der Zorn des uns gütigst eingesandten ultramontanen Blättchens kalt. Wir können demselben die Ehre einer Antwort, wie Sie wünschen, unmöglich angedeihen lassen.

V. K. in W. Die fragliche Schmetterlingsauction fand am 20. und 21. März d. J. in London statt. Die öffentlich versteigerte Sammlung bestand nur aus Schmetterlingen, die in England heimisch sind, und zeichnete sich namentlich durch eine reichhaltige Vertretung der seltensten Varietäten und Naturspiele aus. Der Gesammtertrag der Auction soll 20,000 Mark ergeben haben. Einzelne Exemplare wurden mit 300 Mark bezahlt.

R. M. in G. und A. C. in Mainz.0 Schwindel.

H. R. Krim.0 Uns ist eine solche Maschinenbauanstalt nicht bekannt.

E. H. in Chicago: Vergl. „Die Gartenlaube“ Jahrg. 1883, S. 55.

D. in Crefeld: Besten Dank, wenn auch für uns nicht geeignet.



[Inhaltsverzeichnis dieses Heftes, hier nicht übernommen.]



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart.0 Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.