Die Gartenlaube (1884)/Heft 29
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No. 29. | 1884. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Heinrich Melber, Graveur,“ lautete die Karte an der
Thür der zornigen Alten. Melber – der Name kam
Raban nicht ganz fremd vor. Wo nur hatte er ihn
früher gehört – ach ja, während er die vier Treppen
jetzt wieder niederstieg, besann er sich – sein Vater
hatte ihm den Namen genannt – aber nicht Heinrich, sondern
Wolfgang Melber war der Name eines Bildhauers, den er hatte
besuchen sollen.
Raban hatte bisher nicht daran gedacht, den Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Die Ateliers der Bildhauer waren nicht leicht zu finden, viele lagen weit hinaus, hinter dem Belvedere. Jetzt, wo ihn die Hoffnung erfüllte, zwischen „Heinrich Melber, Graveur“ und „Wolfgang Melber, Bildhauer“ einen Verbindungsfaden zu finden, der ihn seinem Geheimniß näher bringen konnte, beschloß er, gleich am folgenden Morgen die Kunstwerkstätte des Bildhauers aufzusuchen.
Das große dickleibige Adreßbuch zeigte ihm die Wohnung desselben weit ab von der Währingerstraße, weit ab im dritten Bezirk, hinter dem Stadtpark, in der Landstraße. Nur mit Hülfe eines Fiakers fand Raban sie am folgenden Tage, in der Vormittagsstunde.
Als er dort eingetreten war, sah er in einem großen staubigen Vorraum ein Paar Arbeiter mit dem Aushauen eines ziemlich schablonenhaft entworfenen Grabdenkmals beschäftigt – die Kunst schien hier nach Brod zu gehen und statt der Götter-Ideale, die nicht gewünscht wurden, Gestalten zu schaffen, die man bestellte und bezahlte. In dem zweiten Raum, in den man ihn wies, fand Raban zwei Männer, einen größeren, hübschen, braungelockten Menschen, der an einer noch sehr ungefügen Thonmasse, aus der sich ein Faun schien gestalten zu sollen, herumknetete, und einen kleineren, älteren, der ein großes Medaillon, ein männliches Portrait in Relief, überarbeitete. Jener empfing Raban als Wolfgang Melber und hörte die Worte, womit er sich als Fremder einführte, der sich in den Kunstateliers umsehen zu dürfen wünsche, mit einer gewissen verlegenen Zerstreutheit an, mit unsteten Blicken Raban fixirend.
„Uns wird selten die Ehre zu Theil – meinem Freunde Rosbacher und mir – Fremde hier in unserer Werkstatt zu sehen,“ sagte er, „wir haben zusammen das Atelier – es giebt eben nicht viel darin zu schauen – aber, bitte, sehen Sie sich die Gypse an – unsereins bringt’s selten weiter als zu Gypsen – und wenn Sie das interessiren kann, die Skizzen hier auf den Börten.“
Damit deutete er, wie unruhig bewegt sich hin- und herwendend, auf die ausgestellten Sachen, Raban’s Kunsturtheil war kein sehr ausgebildetes; er hatte jedoch bald die Empfindung, daß in den in Gyps ausgegossenen Gestalten, welche der junge Künstler geschaffen, sich eine große und reiche, aber gewaltsam nach dem Ungewöhnlichen, Frappirenden, Absonderlichen ringende Phantasie zeigte, welche sich dabei oft über die Grenzen der Plastik hinaus verirrte und vortrefflich mit der flüchtigen und oberflächlichen Behandlung des Einzelnen vertrug. Die Skizzen, zahlreiche in Thon gebrannte Figuren und Figürchen, welche ziemlich bestäubt sich auf Holzborten an den Wänden drängten, waren deshalb das Interessantere, was Raban sah; hier traten die Fehler der Zeichnung, das Disharmonische in dem Zusammenspiel der Linien weniger hervor, der Reichthum der schaffenden Phantasie des Künstlers an Motiven und Ideen aber desto vortheilhafter.
Als tactvoller Atelierbesucher hütete sich Raban, andere als vortheilhafte Eindrücke laut werden zu lassen – Wolfgang Melber nahm diese Aeußerungen wie mit einer gewissen Ironie auf, wie eine gewisse Verachtung für sein eigenes Schaffen verrathend, die Raban nicht gerade überraschte – in übertriebener Bescheidenheit das Eigne gering zu schätzen, war ihm als allgemeiner Charakterzug der Wiener aufgefallen. Aber Wolfgang Melber in seiner zerstreuten unsteten Weise schien etwas Spöttisches in die Antworten zu legen, welche er dem Laien auf dessen Bemerkungen gab – es war ein Durchklingen einer gewissen sich überhebenden Selbstgefälligkeit dabei, die von der an den Tag gelegten Bescheidenheit wunderlich abstach.
„Ich denke, Sie haben an dem Zeug nun genug,“ sagte er, „es ist ja Alles nur so improvisirt, wie man sich’s durch den Kopf gehen läßt und so, wie man’s schaut, festhalten möchte – es später gründlich zu verarbeiten und auszutragen – wozu soll das dienen; bestellt wird’s bei einem jungen namenlosen Menschen doch nicht, bis zum Marmor bringt der’s nicht!“
„Es ist ein Unglück für den Bildhauer,“ entgegnete Raban, „daß er zur Ausgestaltung seiner Schöpfungen des Marmors bedarf, zu welchem sich doch nur wenige sehr wohlhabende Menschen aufschwingen können – es müßte ein wohlfeilerer Stoff als Marmor und Bronze zur Wiedergabe plastischer Werke gefunden werden.“
„Freilich – es thäte Noth, so etwas zu erfinden,“ versetzte Wolfgang Melber, indem er einen großen grünen Vorhang lüftete und Raban in einen dadurch abgeschlossenen letzten Raum einzutreten einlud.
[474] „Es ist da noch,“ sagte er dabei, „wenn Sie nicht genug haben und es Sie interessirt, eine Gruppe in Arbeit, etwas Größeres; das meiste noch flüchtig angelegt.“
Raban war in einen etwas wohnlicher und gemüthlicher ausschauenden Raum eingetreten; die Wände waren mit einigen gewirkten Teppichen, alten Majoliken, hohen Palmenzweigen, die sich aus blauen Japanvasen erhoben, geschmückt; den Fußboden bedeckte ein Teppich; umher standen ein Paar Modellirstühle, auf denen Büsten und Reliefmedaillons aufgestellt waren, und in der Mitte des Raumes erhob sich eine in Thon modellirte Gruppe, eine weibliche Gestalt, die einen sich an sie schmiegenden Knaben mit der Rechten an sich drückte, während die Linke im Begriff war, sich ihm wie segnend auf das von gekräuselten Locken umwallte Haupt zu legen.
Das den Blick leis senkende Haupt dieser Gestalt war von dem Künstler vollständig fertig gestellt, durchgearbeitet und vollendet, während manche übrige Theile der Gruppe noch sehr im Entstehen waren.
Raban aber starrte im höchsten Grade betroffen dieses Haupt an. Träumte er denn – oder ließ eine Art von Zauber ihn überall – nur sie erblicken? Es war aber nicht anders; es war dieses milde lächelnde, engelhafte Haupt der Gestalt, die schützend und segnend den armen Knaben an sich zog, kein anderes als das des jungen Mädchens, dessen Erscheinung ihn so erfüllte und beschäftigte. Es war ihr Haupt in jedem Zuge – nichts geändert, nichts idealisirt – der Künstler hatte – so schien es Raban – nur die Natur zu copiren gebraucht; zu idealisiren war da nichts gewesen; nur das auf dem Hinterkopf zusammen genommene und in einen Knoten geschlungene Haar, das faltig von den Schultern niederfallende Gewand war nach den Bedürfnissen des Künstlers angeordnet.
Raban athmete tief auf, in den Anblick versunken. Dann wandte er sich nach einer langen Pause plötzlich rasch an Wolfgang Melber. Das Herz schlug ihm hoch auf in der freudigen Bewegung darüber, daß er nun endlich seinem Ziele nahe gekommen, auf die Spur dieser bisher unfaßbaren Erscheinung. Doch hatte er das Gefühl, daß er diesem Künstler gegenüber einer gewissen Diplomatie bedürfe; daß er besser thue, nicht direct nach dem Original dieses holdseligen Frauenkopfes zu fragen; es war sicherlich eine Schwester, eine nächste Verwandte, die dem jungen Manne als Modell gedient – das ließ sich ja jetzt, da Raban seine Unbekannte in der Wohnung eines Heinrich Melber hatte verschwinden sehen, ziemlich sicher annehmen. Vielleicht war Heinrich Melber beider Vater, ein Graveur – es paßte zu der gewöhnlichen Erscheinung der Unbekannten, die nun freilich nicht das Mädchen aus den Knabentagen Raban’s sein konnte . . .
„Sie müssen,“ sagte er, „zu dieser Charitas, die ich von einer rührenden Schönheit finde, lange nach einem ganz genügenden Modell gesucht haben! Der Kopf ist Ihnen so wunderbar gelungen.“
„Gesucht habe ich nicht gerade nach einem Modell für diesen Kopf. Er bot sich mir dar – und gerade dadurch bin ich auf den Gedanken gekommen, eine solche Gruppe, die sonst nicht just in mein Fach schlägt, zu versuchen.“
„Er bot sich Ihnen ungesucht dar – in einer Nahestehenden, einer Schwester vielleicht?“ rief Raban lebhaft, wie nun schon seiner Suche sicher, aus.
„Einer Schwester?“ versetzte Wolfgang Melber mit einem Tone von Verwunderung und Spott. „Nein, einer Schwester nicht! Einer Schwester nicht!“ wiederholte er mit einem ganz eigenthümlichen Nachdrucke.
„Aber wo begegnete Ihnen denn ein Gesicht von einem so merkwürdig für Ihre Gestalt passenden Ausdrucke? Ich möchte wissen . . .“
„Was Sie doch nicht interessiren kann!“
„Was mich interessirt,“ entgegnete Raban so stürmisch, daß er sofort die Nothwendigkeit erkannte, auf möglichst gute Art sein Verlangen nach einer Auskunft über die geheimnißvolle Erscheinung, vor deren Thonbild er stand, zu motiviren – „was mich interessirt, ist ein psychologisches Problem; wie kommt ein Wesen, dessen Züge und geistiger Ausdruck von einem so rührenden Gepräge sind, wie dieser Kopf es trägt, dazu, einem Künstler als Modell zu dienen?“
„Zunächst doch wohl,“ versetzte mit einem wie schadenfrohen Lächeln über Raban’s nicht zu verkennende Betroffenheit der junge Bildhauer – „zunächst doch wohl dadurch, daß sie sich ganz merkwürdig gut dazu eignet, zu solch einem Modelle!“
„Nun ja freilich – aber ich meine, wie kommt sie dazu, das zu überwinden, was es dem weiblichen Gefühl doch peinlich machen muß . . .“
„Peinlich? Weshalb? Weshalb soll ein Frauenzimmer es peinlich finden, wenn ein Künstler seine Schönheit bewundert und – nachbildet? Andrea del Sarto und Rubens haben freilich ihre Frauen gehabt, aber Raphael, der weniger glücklich war, wird sich zu seinen Madonnen auch die Modelle haben suchen müssen und wird sie gefunden haben – in Maria de Bibbiena zum Beispiel, ohne daß diese es peinlich fand.“
Raban sah, er kam auf diese Weise Dem, was er ergründen wollte, nicht näher. Ungeduldig fragte er jetzt direct:
„Und Ihr Modell – wer ist es? dürfen Sie mir nicht den Namen einer Person sagen, die mich in so hohem Grade interessirt?“
„Den Namen?“ versetzte der Bildhauer gedehnt und Raban verschmitzt anlächelnd. Es lag in seinem Tone etwas, als ob er eine große Naivetät belehre, als er hinzusetzte: „Unsere Modelle verrathen wir nicht.“
„Auch nicht Dem, der kein Kunstgenosse, kein Concurrent ist?“
„Er könnte immer ein Kritiker, oder ein Freund von Kunstgenossen sein.“
„Was ich nicht bin, weder das Eine noch das Andere.“
Wolfgang Melber blieb bei seinem überlegenen verschmitzten Lächeln.
„Jedes Gewerbe hat seine Heimlichkeiten,“ versetzte er achselzuckend und während der ganzen Unterhaltung in seiner unruhigen Beweglichkeit bleibend und sich hin- und herbewegend.
Raban aber blieb immer fester in seinem Vorsatze, den Schlüssel zu seinem Räthsel, das offenbar hier zu ergründen war, auch zu finden. Die seltsame Verschlossenheit des jungen Bildhauers, von der er nicht wußte, ob sie sich auf wirkliche gute und ausreichende Gründe stütze oder nur aus der Schadenfreude an Raban’s Enttäuschung herfließe, machte ihn nur noch hartnäckiger, noch leidenschaftlicher.
„Wohl denn,“ sagte er, „so will ich in Ihre ‚Heimlichkeiten‘, so wenig nöthig und motivirt sie mir scheinen, weiter nicht eindringen. Aber weil ich nun einmal ein lebhaftes Interesse für den Kopf Ihrer Gruppe gefaßt habe, weil er mich bewegt und rührt, will ich Ihnen einen Auftrag geben, falls Sie Zeit und Lust haben, ihn anzunehmen und bald auszuführen.“
„Die Auftraggeber drängen sich in meinem Atelier nicht gerade so, um mir das unmöglich zu machen,“ versetzte der Bildhauer jetzt offenbar erfreut und mit ruhigerem Blicke auf Raban.
„Nun wohl, führen Sie mir den Kopf in Marmor aus – als Büste – mit einer Schulterdraperie, wie sie Ihnen dazu passend erscheint.“
Der Bildhauer wendete jetzt plötzlich wieder den Blick unstet zur Seite; er sah bald seine Gruppe, bald die Wand jenseits, bald wieder Raban an.
„Nun – wollen Sie?“
„Den Kopf als Büste?“ versetzte Wolfgang Melber nachdenklich – „das gäbe eine Portraitbüste – die ich für Sie ausführen soll?“
„Den Preis hätten Sie selbst zu bestimmen . . .“
„Nun ja – ich glaube schon, daß Sie den Preis – etwa sechshundert Gulden – mehr oder weniger – nicht beanstanden würden . . .“
„Aber Sie nehmen Anstand – weshalb?“
„Weil ich denn doch nicht sicher bin, ob das Modell, wenn es auch zu einer allegorischen Gruppe seinen Kopf hergeliehen, mir damit das Recht gegeben hat, eine Portraitbüste für – einen fremden jungen Herrn daraus zu machen!“
„Sie sind stark in der Erfindung von Schwierigkeiten, Herr Melber,“ sagte Raban geärgert, und doch mit dem Gefühl, daß der Künstler etwas berührt habe, das er als gegründet werde anerkennen müssen.
„Meinen Sie?“ antwortete Wolfgang Melber mit einem ironische Tone. „Doch wohl nicht mehr als nöthig.“
„Und Sie lehnen also ab . . .“
„Ich werde mich hüten, einen solchen Auftrag abzulehnen,“ fiel der Bildhauer ein. „Aber ich kann ihn auch nicht annehmen, bevor ich die Einwilligung des Modells dazu erhalten habe.“
[475] „Wollen Sie sie erwirken?“
„Ich will es versuchen. Geben Sie mir, bitte, Ihre Karte. Den Bescheid werde ich Ihnen morgen um diese Stunde bringen.“
„Ich werde deshalb hier vorkommen,“ entgegnete Raban, ihm seine Karte gebend – „um diese Stunde also?“
„Wenn Sie sich herbemühen wollen, desto besser!“ entgegnete Wolfgang Melber. „Ja – haben Sie die Güte, zu kommen!“
Raban warf noch einen Blick auf die Gruppe und empfahl sich dann, von dem Bildhauer zum Ausgang geleitet.
Er ging, tiefbewegt von dem merkwürdigen Zufalle, der ihn gerade in diese Kunstwerkstätte geführt hatte, und nunnmehr fest entschlossen, den Faden, den er erfaßt, nicht wieder fallen zu lassen. Erhielt er am folgenden Tage einen abschlägigen Bescheid, so sollte auch das ihn nicht niederschlagen. Er gab diesem Wolfgang Melber dann einen andern Auftrag, der ihm erlaubte, den Künstler öfter zu besuchen, ihm näher zu kommen, sein Vertrauen zu gewinnen. – Raban war ganz bereit, die Bekanntschaft eines Mannes zu pflegen, der ihm persönlich doch einen mehr abstoßenden, als anziehenden Eindruck gemacht hatte, und zwar den Eindruck von einem innerlich unharmonischen Charakter, von einer jener Künstlernaturen, die als Gabe bei ihrer Geburt ein großes Talent erhalten haben, aber in ihrem Charakter nicht den Boden besitzen, auf welchem es wachsen und gedeihen könnte, kurz, bei denen das Talent wie ein schönes edles Roß ist, das einem armen Manne geschenkt wird. Der Himmel theilt eben sehr oft in solcher Weise die Rosenstämme großer Begabung an Menschen aus, deren übrige Eigenschaften einem wilden Gestrüpp gleichen, unter dem die Rosenstämme nicht zu einem blühenden Leben kommen können, sondern verkrüppeln und verdorren. Raban hatte zu wenig Welterfahrung, um sich nach einer einmaligen Begegnung sagen zu können, daß er einem solchen Charakter hier begegnet sei. Er hatte nur einen unangenehmen Eindruck von der Persönlichkeit erhalten, die so wenig von der Seelenruhe eines mit idealen Dingen beschäftigten Künstlers an den Tag legte. Freilich dachte er augenblicklich weniger daran, als an die Weise, wie der Künstler sich bedenklich gezeigt, seinen Auftrag anzunehmen – es sprach das wenigstens einen Respect vor dem Modelle des Bildhauers aus, der etwas in hohem Grade Wohlthuendes für Raban hatte. –
Raban wünschte sich Glück dazu, daß er am Abend nicht im Eibenheim’schen Salon zu erscheinen brauchte; die Herrschaften folgten der Einladung zu einem Feste in einer befreundeten Familie – er konnte also Dem, was ihn vollauf beschäftigte, mit dem beglückender Gefühle dauernder Ungestörtheit nachhängen. Und doch sollte er nicht ungestört bleiben. Als er in seinen Hotelzimmer seine Kerzen entzündet hatte, überbrachte man ihm einen gewichtigen Brief – die so sehnlich erwartete Antwort seines Vaters.
Ueberrascht sah er, daß sein Vater, der sich sonst nicht gern ausführlich in Schriftlichem erging, eine ganze Anzahl von Blättern ausgefüllt hatte. Dieselben enthielten im Anfange des Briefes die Nachrichten aus der Heimath, welche Raban interessiren konnten, mit gewissenhafter Vollständigkeit, von dem Stande und Fortgang der Arbeiten zur Bestellung des Sommerkorns bis zum glücklichen Verlaufe der Staupe bei Inno, dem hoffnungsvollen jüngsten Mitgliede der Jagdmeute. Und alsdann hieß es weiter:. „Ich muß Dir nun die Frage beantworten, welche Dein letzter Brief mit einer gewissen Dringlichkeit, scheint es, enthält, obwohl ich aus Deinen Aeußerungen nicht ersehe, wodurch Du auf dieses Thema gebracht bist. Ich muß deshalb voraussetzen, daß Du, obwohl Du mir keine Andeutung darüber machst, den Bildhauer Wolfgang Melber aufgesucht hast, wie ich Dich ja darum bat, und daß dieser Herr bei Dir hat Aeußerungen fallen lassen, welche Dir für die Tholenstein’schen Familienverhältnisse ein Interesse einflößten.
Ich kann und darf Dir heute über diese Verhältnisse Alles sagen, was ich darüber weiß – natürlich im allerstrengsten Vertrauen, und ich bin froh, daß ich heute mit völligster Seelenruhe Dir den Grund sagen darf, weshalb ich in der Zeit, wo Du heranwuchsest, den Verkehr mit Arholt völlig abbrach und vermied. Der Grund, lieber Raban, war eine Sorge um Dich!“
„Um mich?“ sagte sich mit wachsender Spannung Raban – „um mich? Wie ist das möglich?“ Er las weiter.
„Ich hatte einst, in den Jahren, wo Deine arme, frühgeschiedene Mutter noch lebte, einen, wenn nicht sehr lebhaften, doch fortgesetzten Verkehr mit Denen auf Arholt. Die Familie bestand aus der verwittweten alten Dame, welche noch darauf lebt und die damals eine rüstige Frau in den besten Jahren war, ihrem erwachsenen Sohne Martin Tholenstein und einer Tochter Melanie, welche ich jedoch nur wenig gesehen habe, weil sie nur selten auf kurze Zeit bei ihrer Mutter auf Arholt erschien – sie hielt sich das ganze Jahr hindurch bei einer Tante, einer Stiftsdame, in Prag auf, auf deren Stelle im Stifte sie eine Aufnahme-Anwartschaft erhalten hatte, und die dagegen zur Bedingung gemacht, daß sie bei ihr dort lebe.
Der Mensch denkt und Gott lenkt – die Tholenstein waren sicherlich sehr erfreut gewesen, als durch der Tante Stiftsdame Verbindungen es erreicht worden, daß für des jungen Mädchens Zukunft so gut gesorgt sei, falls sie sich nicht verheirathen würde, was doch auch, da sie hübsch, liebenswürdig und von lebhaftem Temperament war, da sie ferner sich in den besten Kreisen bewegte, auch sehr möglich, ja wahrscheinlich erschien. Und doch, wie bitter hatten sie diese Fürsorge für die Zukunft zu beklagen, als sie sich nicht allein völlig überflüssig zeigte, sondern an den Aufenthalt des jungen Mädchens zu Prag, der dadurch veranlaßt wurde, sich die tragischsten Folgen knüpften.
Unnütz zeigte sich die Fürsorge für Melanie Tholenstein zunächst dadurch, daß ihr älterer Bruder Martin zu einem völligen Originale wurde, zu einem ‚Sterngucker‘, wie ihn die Leute nannten, obwohl Niemand in der Welt weniger zu den Sternen, den ewigen Lebenssternen, die ein vernünftiger Mensch in’s Auge zu fassen sucht, um sich von ihnen leiten zu lassen, aufblickte, als er. Dagegen vertiefte er sich mit wunderbarer Selbstgefälligkeit in allerlei kleinlichen Betrieb, wie ihn stupide Menschen lieben, spaltete Haare und hörte das Gras wachsen, stellte Untersuchungen über singende Mäuse an und trug im Frühlinge den Blüthenstaub von Birnbäumen auf Quittenstauden, um neue Obstarten zu schaffen. Ueber diese wissenschaftlichen Bestrebungen hielt er sehr gelehrte Vorträge den Bauern in der Schenke und war sehr stolz darauf, daß er unter diesen Leuten, die ihn verlachten, ‚das Niveau des culturellen Standpunktes‘ erhöhe. Was er zunächst dabei erhöhte, waren nur seine Lebensgeister; denn Martin Tholenstein trank mit den Bauern ihren Branntwein, und zuweilen, wenn die Sonntagnachmittagsgesellschaft aus der Kegelbahn sehr zahlreich und angeregt gewesen, bedeckend zu viel davon.
Frau von Tholenstein, seine Mutter, schüttete damals mir oft ihr kummervolles Herz aus über die seltsame Wendung, welche der Charakter ihres Sohnes, des Erben ihrer Güter und des Stammhalters der Familie nehme, der sich mehr und mehr in seinen Neigungen gehen ließ, sein Aeußeres vernachlässigte und nichts davon hören wollte, daß die Zeit für ihn gekommen, sich standesgemäß zu verheirathen. Ich that das Meinige, um sie zu beruhigen und zugleich auf Martin zu wirken und diesem die Einsicht beizubringen, wie gegründet die Vorstellungen seiner Mutter seien. Es ließ sich mit Martin Tholenstein ziemlich rund heraus und deutlich reden, ohne daß er es übel genommen und nachgetragen hätte; aber Alles, was ich erreichte, war die Entdeckung, daß es verhängnißvoll und gefährlich werden könne, Martin Tholenstein zu sehr zu einer Heirath zu ermuthigen. Martin Tholenstein hatte offenbar, wie ich aus der Wendung, die er seinen Antworten gab, schließen mußte, nun doch einige Sternguckerei getrieben – bis zur Entdeckung von zwei hübschen Augensternen im Gesichte einer Dorfschönheit, und er war am Ende im Stande, wenn man ihn wild machte, eine dralle Großmagd als Frau in das Schloß seiner Väter einzuführen.
So also war Martin Tholenstein der designirte Erbe und Stammhalter der Tholenstein zu Arholt. Leider sollte seiner bekümmerten Mutter noch größeren Gram, als er, die Tochter Melanie, die in Prag im Stifte lebte, bereiten. Was dort Alles vorgegangen, weiß ich Dir nicht genau anzugeben; ich erfuhr nur das, was Frau von Tholenstein mir etwa zwei Jahre später, nachdem sie ein Paar Mal eine plötzliche Reise nach Prag gemacht, anvertraute, und auch von diesem habe ich Manches in der langen Zeit aus dem Gedächtniß verloren. Das aber, was Frau [476] von Tholenstein mir mittheilte und wobei sie einen Freundesdienst von mir in Anspruch nahm, ist das Folgende:
Melanie Tholenstein hatte von der Natur eine schöne Stimme erhalten, zu deren Ausbildung sie den Unterricht einer bewährten Gesanglehrerin genoß, die unfern von dem Stift der Tante wohnte und in deren Wohnung sich Melanie zum Empfang des Unterrichts hinüberzubegeben pflegte. Leider wurde sie dadurch in nähere Beziehungen zu der Familie der Lehrerin gezogen, welche aus einem Mann, der sich mit Graveur- und Ciselirarbeiten beschäftigte, und dessen jüngerem Bruder bestand, einem Komödianten, der ehemals Officier gewesen war, dann den Dienst wohl nicht aus ganz klaren und durchsichtigen Gründen hatte verlassen müssen und nun auf einem Theater zweiten Ranges den Helden spielte. Von diesem Menschen, der Melber hieß …“
Der Name Melber ließ Raban wieder seine Lectüre für einen Augenblick unterbrechen – er war auf nichts weniger gefaßt, als auf diesen zu stoßen, der eine seltsame Verwickelung anzukündigen schien . . .
König Salomon und der Sperling.
Einst stand der König Salomon
Am Fenster früh um Sechse schon
Und sah mit Stolz und Herzensfreude
Auf seines Tempels Prachtgebäude,
Erst kürzlich unter Dach gebracht.
Nun lag es da im Sonnenschein
Hell wie ein großer Edelstein.
Da nahm des Königs Auge wahr
Das zwitschernd flog und liebesfroh
Sein Nestlein flocht aus Heu und Stroh.
Und da der Weise, wie bekannt,
Die Vogelsprache gut verstand,
Zu seiner Hausfrau so begann:
„Was meinst du,“ sprach der Meister Spatz
Und blähte seinen Busenlatz,
„Wenn ich gebrauchend meine Stärke
Ein Tritt von mir – Geliebte, glaube –
Und dieser Tempel liegt im Staube.“
„Du Prahlhans!“ lachte Salomon
Und rief den Spatz vor seinen Thron
Von meinem Tempel so gering,
Daß du zu stürzen dich getraut,
Was tausend Hände aufgebaut?“
„Verzeiht mir,“ sprach der Spatz dagegen,
Auf daß, die mich zum Herrn gewann,
Respect bekommt vor ihrem Mann.“
Da lachte König Salomon
Und neigte sich von seinem Thron
So unrecht hast du eben nicht.
Was doch ein grundgelehrter Mann
Von einem Sperling lernen kann!“
Er sprach’s und ging mit festem Schritt
Rudolf Baumbach.
Verkaufte Landsleute.
Es ist eine bekannte Thatsache, daß der Deutsche sich vor allen andern Nationalitäten durch seine Auswanderungssucht auszeichnet. Keine fremde Nation ist in England und im Besonderen in London so stark vertreten, wie die deutsche. Aehnlich ist das Verhältniß in Amerika. Geradezu aber überfluthet werden die niederländischen Werbedepôts durch deutsche Auswanderer, welche sich, durch Noth oder Abenteuergelüste verleitet, für 200 Gulden der holländischen Regierung auf sechs Jahre verkaufen, um bald darauf im „Zwischendeck“ eines Passagierdampfers verladen und als „Soldaten“ nach Niederländisch-Indien übergeführt zu werden. Zu Grunde gegangene Existenzen aus allen Ständen, vom Grafen bis zum bankerott gewordenen Kaufmann und weggejagten Unterofficier herab, geben sich in Harderwijk ein unbeabsichtigtes Rendez-vous, um jenseits des Oceans auf einer der indischen Sunda-Inseln, Java, Borneo, Sumatra etc., von Neuem das Glück zu versuchen, welches ihnen auf heimathlichem Boden nicht lächeln wollte.
Wer das achtzehnte Lebensjahr erreicht, das sechsunddreißigste nicht überschritten, unverheirathet, mindestens 1,55 Meter groß, körperlich diensttauglich ist und die erforderlichen Legitimationen besitzt, wird mit offenen Armen aufgenommen, denn die holländische Regierung braucht für Indien mehr Soldaten, als sie durch die Werbung bekommen kann. Von der Annahme sind nur Deserteure und wegen politischer Verbrechen Ausgewanderte ausgeschlossen, ferner bestimmungsmäßig auch mit Zuchthaus bestrafte Personen. Jeder Geworbene wird als Gemeiner bei der Infanterie eingestellt. Jedoch kann dem Wunsch nach Versetzung zu einer andern Truppengattung bei denen entsprochen werden, welche authentisch nachweisen können, bereits bei derselben gedient zu haben. Die früher in einer fremden Armee eingenommene Stellung und bekleidete Charge wird aber in keiner Weise berücksichtigt. Vor Ablauf des auf sechs Jahre berechneten Engagements kann der Geworbene seine Freiheit nur durch Loskaufen erlangen, das heißt: er muß der holländischen Regierung das empfangene Handgeld von 200 Gulden und alle sonstigen verursachten Kosten (Transportkosten nach Indien, Verpflegungskosten etc.) zurückerstatten.
Ganz Harderwijk lebt von der Werbung. Der ausgewanderte Deutsche wohnt dort bis zu seiner definitiven Annahme bei einem sogenannten Werberwirth, d. h. einem Restaurateur und Hausbesitzer, dessen einziges Geschäft darin besteht, Deutsche und Holländer für die Werbung zu ködern und bei ihrer Ankunft in Harderwijk in Logis und Kost zu nehmen. In die Tasche dieses Biedermanns fließen in vielen Fällen jene 200 Gulden Handgeld, denn die meisten Auswanderer haben bei ihrer Anmeldung auf dem Werbedepôt nicht alle geforderten Legitimationen zur Hand. In der Regel fehlt der von der heimathlichen Regierung auszustellende Auswanderungs-Consens oder das amtliche polizeiliche Führungsattest, ohne deren Beibringung die Annahme nie erfolgen kann. Ehe diese Papiere nun aus der Heimath beschafft werden, vergehen oft Wochen und Monate. So wird in der Regel jener „silberne Köder“ bei dem Werberwirth verwohnt, verzehrt und hauptsächlich vertrunken. Selbst gänzlich mittellosen Leuten wird mit Vergnügen Credit gewährt, sogar baares Geld geliehen, wenn nur die geringste Aussicht vorhanden ist, daß doch schließlich ihre Annahme und somit die Auszahlung des Handgeldes erfolgt.
Wenn die geforderten Legitimationen auf ordnungsmäßigem Wege nicht zu beschaffen sind, so werden sie gefälscht, oder wie man es in Harderwijk nennt, „fabricirt“. In Lüttich soll früher eine Art „Fabrik“ für solche Atteste bestanden haben. Auch in Harderwijk selbst ist seiner Zeit ein solcher Attestfabrikant entdeckt und aufgehoben worden, aber das Geschäft wird natürlich mit sorgfältigster Discretion weiter betrieben.
Begeben wir uns auf eine kleine Inspectionsreise durch die Casernen des Werbedepôts. Dort summen alle erdenklichen Sprachen an unser Ohr: der Deutsche unterhält sich mit seinem Landsmann in der Muttersprache, der Belgier spricht ein schlechtes
[477][478] Französisch, der von Sumatra nach sechsjähriger Dienstzeit zurückgekehrte Unterofficier renommirt mit „malaisch“ oder „javanisch“, und die Commandos oder Instructionen erschallen holländisch. Die Uniform erscheint hier nicht mehr als ein Schmuck; dazu ist sie zu einfach und zu geschmacklos: dunkelblau, fast ohne jegliches Abzeichen. Nur bei den Artilleristen, resp. Cavalleristen, gewahren wir einen rothen Streifen an dem hohen, recht geschmacklosen Käppi, der uns an Uniform erinnert, während die Infanterie-Kleidung zu einem kritischen Vergleich mit den Sträflings-Anzügen des heimathlichen Deutschlands herausfordert.
Auf dem Casernenhofe exercirt ein Trupp Infanterie. „O, wie kläglich!“ rufen wir, durch preußische Straffheit und Schnelligkeit Verwöhnte, bei dem ersten „Gewehrgriff“. Nur Einer scheint in der gesammten Truppe preußisch zu „greifen“. Als wir uns nach dieser auffälligen Ausnahme erkundigen, erfahren wir, daß sie durch einen früheren preußischen Unterofficier repräsentirt wird, und haben selbstredend nun keinen Grund mehr, uns weiter zu wundern. An einer andern Seite des Casernenhofes gewahren wir eine Doppelreihe Colonialsoldaten, im Arbeitsanzug aus dunkelblauer Leinewand, mit „Kartoffelschälen“ beschäftigt.
Die meisten Deutschen – besonders frühere Unterofficiere und Officiere – kommen mit großen Illusionen nach Holland; ein mehrtägiger Aufenthalt in Harderwijk aber dünkt ihnen wie ein eiskaltes, plötzlich auf sie niederrauschendes Sturzbad – so ernüchtert werden sie durch die nackte Wirklichkeit, welche ihre Augen schauen! Selbst vorzügliche Atteste über ihre frühere militärische Thätigkeit haben auch nicht die geringste Bevorzugung vor anderen Geworbenen im Gefolge, denen das Soldatenhandwerk gänzlich neu ist. Freilich zeigt sich bald im Dienste die vorzügliche Schulung und große Ueberlegenheit des früheren deutschen Officiers oder Unterofficiers, und so wird er naturgemäß bald der Liebling seiner Vorgesetzten. Aber den ersten Grad des Avancements kann er doch erst erklimmen, wenn er der holländischen Sprache mit Zunge und Schrift leidlich mächtig geworden und den Commißdienst in seinen Grundzügen erfaßt hat.
So vergehen eine Reihe von Monaten, ehe der frühere Officier zum „Corporal“ (d. i. nach deutschen Begriffen zum „Gefreiten“) befördert wird. Vor Ablauf eines Jahres ist an eine Beförderung zum Sergeanten (Unterofficier) gar nicht zu denken, und ob die Beförderung zum Officier überhaupt je erfolgt, ist sehr fraglich. Vor Ablauf von vier Jahren kann sie bestimmungsmäßig nicht eintreten und auch dann erst nach Absolvirung der erforderlichen Examina. Viele frühere deutsche Officiere, die in der Hoffnung, wieder den Officiersgrad zu erlangen, in der Colonialarmee Dienste nahmen, sind aus Indien, nach Ablauf von sechs Jahren, als Unterofficiere, ruinirt an Körper und Geist, enttäuscht und gebrochen zurückgekehrt. Viele haben Europa nicht wieder gesehen, indem sie dem Fieber oder der Dysenterie zum Opfer fielen oder im Gefecht von den Eingebornen niedergemetzelt wurden.
Möchte darum jeder Deutsche, ehe er den Entschluß faßt, sich den Niederlanden als „Colonialsoldat“ zu verkaufen, stets erst sorgsam erwägen, ob diesem Schritt sich nicht ein anderer vorziehen läßt, der ihm die Gestaltung einer würdigeren Zukunft ermöglicht. Möchte Jeder, dem seine Ehre und sein guter Ruf noch am Herzen liegt, vor diesem Schritt zurückschrecken, der ihn in unbeschreiblich demüthigende Lagen bringt, und nur ausnahmsweise zum Ziel führt.
In der Regel werden von gewissenlosen Agenten die Verhältnisse in der niederländischen Colonialarmee allzu günstig und verlockend geschildert. Mancher Unglückliche läßt sich zum Auswandern verleiten, erfährt aber erst an Ort und Stelle, welchen Mühsalen und Gefahren für Leib und Leben er entgegen geht. Ist er erst in Harderwijk angelangt und nicht im Besitz von genügenden Mitteln, dann sorgt der biedere Werberwirth dafür, daß er der blauen Uniform nicht entgeht, und so wird Mancher zum Colonialsoldaten, der viel lieber auf heimathlichen Boden zurückgekehrt wäre, wenn seine pecuniären Verhältnisse ihm die Freiheit dieses Entschlusses nur gestattet hätten.
Zahlreiche Anfragen, die aus Deutschland an das Harderwijker Werbedepôt fast täglich gerichtet werden, beweisen, daß die Zustände der Colonialarmee bei uns gänzlich unbekannt sind, und über die Art der Aufnahme in derselben häufig gänzlich irrige Ansichten herrschen, deren Richtigstellung zum Nutzen unserer bethörten Landsleute sicher die allgemeinste Verbreitung verdient. L.
Aerzte und Publicum.
Der gute alte Spruch „Krankheiten verhüten ist besser, als curiren“ ist heut zu Tage so sehr in aller Munde, daß er nicht selten sogar mit einer Art mitleidiger Mißachtung gegen diejenigen angewendet wird, die sich damit beschäftigen, Kranke zu curiren. Was brauchen wir noch Aerzte, wenn die Hygiene alle Krankheitsursachen erkennen und aus der Welt schaffen oder wenigstens vermeiden lehrt, und wenn wir außerdem von vielen Aerzten hören, daß die meisten Krankheiten bei richtigem Verhalten von selbst zur Heilung kommen? Was aber zu diesem Zwecke nöthig ist, das lernen wir mit leichter Mühe von einem populären Schriftsteller, der uns sagt, wie wir die gewöhnlichen Krankheiten erkennen und behandeln können, und giebt es einmal etwas Besonderes, so wenden wir uns lieber gleich an einen Sonderarzt, einen sogenannten Specialisten, der doch besser wissen und können muß, was in solchem Falle gut ist, als ein gewöhnlicher Arzt, der sich beständig mit allen möglichen äußeren und inneren Krankheiten, Verletzungen etc. etc. zu befassen hat.
Jeder dieser Sätze enthält eine Unrichtigkeit oder ein falsches Urtheil, und wenn es uns gelingt, bei unsern Lesern einiges davon richtig zu stellen, so mag manche Krankheit dadurch verhütet, sicher aber vielen Kranken Ungemach erspart werden.
Erstens ist nämlich die Hygiene noch lange nicht so weit, alle Krankheitsursachen zu kennen, sondern dies ist erst für eine ganz kleine Anzahl der Fall; mit der Erkenntniß der Ursachen der Krankheiten ist aber noch keineswegs die Kunst erfunden, sie unschädlich zu machen oder zu vermeiden, ganz abgesehen davon, daß Thorheit und Leichtsinn in der großen Mehrzahl der Menschen stark genug sind, um sie trotz solcher Erkenntniß die Gefahr der Krankheit laufen zu lassen, wenn mit ihrer Verhütung Unbequemlichkeiten oder Entbehrungen, sei es auch nur wirklicher oder eingebildeter Genüsse, verbunden sind. Wir brauchen nur Tabak und Wein, Unmäßigkeit, Unregelmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit im Essen und Trinken und andern leiblichen Genüssen einerseits, unvermeidliche Erkältungen und Anstrengungen andererseits zu nennen, um Beispiele und Beweise für diese Behauptungen nahe zu legen, während andererseits Diphtherie, Schwindsucht und so viele andere Krankheiten auch mit aller Sorgfalt nicht immer zu verhüten sind. Zu diesem Bekämpfen und Vermeiden der Krankheitsursachen genügt eine oberflächliche Kenntniß hygienischer Grundsätze selbst in den Fällen nicht, wo es sich nur um Entwickelung und Stärkung der Widerstandskraft des Organismus gegen schädliche Einflüsse handelt, z. B. um Abhärtung als Schutz gegen Erkältungen, um die Bestimmung zweckmäßiger Ernährungsweise, um Leibesübungen oder Schonung der Körper- und Geisteskräfte. Bei ähnlichen Anlässen ist oft eine sehr genaue Beurtheilung des in Frage kommenden Menschen, seiner verwandtschaftlichen Beziehungen in Betreff von Erblichkeit und Anlagen, seiner Lebensverhältnisse und Lebensgewohnheiten etc. nöthig, um den richtigen Weg und das richtige Maß in den Verhütungsmaßregeln zu treffen. Sehen wir doch schon, daß bei der anscheinend so einfachen Abhärtung gegen Erkältungen bei verschiedenen Naturen ganz verschiedene Mittel und Wege benutzt werden müssen, wenn nicht, wie das so häufig vorkommt, Mißgriffe geschehen und Schaden statt Nutzen gestiftet werden soll.
Wir werden also schon hierbei, nämlich bei der Erziehung zur Gesundheit und zur Vermeidung von Krankheiten, der Hülfe von Aerzten nicht entbehren können. Noch viel wünschenswerther ist dies aber bei wirklichen Krankheiten, und zwar nicht blos bei [479] solchen, die mit starkem Fieber, großen Schmerzen oder anderen heftigen Erscheinungen eintreten, sondern auch, und gerade erst recht bei solchen, die sich mehr schleichend, mit allgemeinen Befindensstörungen, wie Appetitmangel und schlechter Verdauung, Mattigkeit oder Aufgeregtheit, bleicher oder übermäßig rother Gesichtsfarbe, mit Athembeschwerden, Herzklopfen, mit unerquicklichem Schlaf, ängstlichen Träumen oder Schlaflosigkeit einfinden. Hinter solchen oft gering geachteten Erscheinungen verbergen sich nicht selten die ersten Anfänge sehr ernster Krankheiten. Ihre frühzeitige Erkennung stellt die höchsten Anforderungen an die Beobachtungsgabe, den Scharfsinn und die Erfahrung des Arztes, damit sie entweder in ihrem ersten Beginn beseitigt, oder wenigstens durch angemessenes Verhalten, Regelung der Lebensweise etc. zu einem gelinderen und weniger gefährliche Verlaufe gebracht werden. Oft ist hierbei nichts weiter nöthig, als die Vermeidung von Schädlichkeiten und dem jedesmaligen Zustande angemessenes Verhalten in Bezug auf Ruhe oder Bewegung, Enthaltsamkeit, Pflege u. dergl. m., aber es ist offenbar, daß auch zur sicheren Bestimmung solcher Maßregeln nur derjenige befähigt ist, der die betreffende Persönlichkeit ebenso wie die etwa zu erwartende Krankheit genau kennt.
So ist es z. B. bei der Ernährung und gesammten Körperpflege der Kinder, bei oft noch gutem Befinden derselben, der Gesundheitszustand der Mutter, des Vaters, der Geschwister oder anderer Verwandten, der den aufmerksamen Arzt zu nützlichen, die Gesundheit sichernden und Krankheit verhütenden Rathschlägen veranlaßt, deren Nichtbeachtung schlimme Folgen nach sich ziehen kann. Oder wir haben es mit körperlicher oder geistiger Ermattung in den Schuljahren, bei Vorbereitung zum Examen, oder bei anstrengenden Berufsarbeiten u. dergl. m. zu thun, wo durch rechtzeitige Regelung der Lebensweise schwere und oft langwierige Leiden zu verhüten sind. Das ist indessen keineswegs so leicht und einfach, wie es bei oberflächlichen Kenntnissen und nach manchen populären Darstellungen erscheinen mag. Denn wenn in vielen Fällen nur Ruhe und Pflege, deren Art und Weise aber auch sehr verschieden nöthig sein kann, in andern Fällen dagegen Zerstreuung, Beschäftigung, Anspornung der Körper- und Geisteskräfte, bald warmes, bald kühles Verhalten, bald warme, bald kalte Bäder, Abwaschungen, Milch- oder Brunnencuren in vielfachen Modificationen das richtige Mittel abgeben, kann in sehr vielen anderen Fällen durch das gleiche Verfahren unersetzlicher Schaden angerichtet werden. Und zwar ist letzteres besonders dann der Fall, wenn solche Störungen des Befindens, die noch nicht als Krankheit angesehen werden, in Wirklichkeit den Anfang einer schweren Krankheit bilden. Letzteres kann freilich auch ein geschickter Arzt nicht immer auf den ersten Anblick erkennen und voraussagen; aber er weiß wenigstens die Mittel und Wege, wie man möglichst rasch zu richtiger Einsicht kommt, und weiß außerdem, was vielleicht noch wichtiger ist, zu verhüten, daß etwas Verkehrtes geschieht.
Auch in letztgenannter Richtung wird von Nichtärzten häufig gefehlt. Die Beunruhigung vor einer hereinbrechenden Krankheit, der Drang zu helfen und die Angst, etwas zu versäumen, sind oft so groß, daß nicht selten das Allerunzweckmäßigste geschieht. Am gefährlichsten hat sich dies, meinen eigenen Erfahrungen nach, in Cholera-Epidemien gezeigt, wo Jedermann einen beginnenden Durchfall, der als Vorbote oder Anfang der gefürchteten Krankheit angesehen wird, so rasch wie möglich zu stopfen suchte und deshalb vielfach sogenannte Choleratropfen oder ähnlich wirkende Mittel anwendete, die in den Familien vorräthig gehalten wurden; gelang es dann wirklich, die Entleerungen aufzuhalten, so folgte in der Regel eine sehr böse Form der Krankheit, weil das Choleragift, als dessen Träger wir durch Robert Koch’s unsterbliches Verdienst jetzt den Cholerapilz oder Kommabacillus kennen gelernt haben, in dem stockenden Darminhalte den besten Raum und Boden für eine riesige Vermehrung findet.
Hier wie bei vielen anderen mit gährungsartigen Zersetzungen (und Pilzbildungen) im Darminhalt beginnenden Krankheiten, z. B. auch bei den aus Ueberladung oder verdorbener Nahrung (auch Milch bei Kindern!) hervorgehenden Krankheiten, ferner beim Unterleibstyphus, der Ruhr u. dergl. m., ist es gerade von größter Wichtigkeit, daß die schädlichen Stoffe so rasch und so vollständig wie möglich entfernt werden. Geschieht das von selbst, so darf man es nicht hindern, vielmehr eher durch reichliches Wassertrinken etc. befördern; geschieht es nicht von selbst, so muß man der Natur zu Hülfe kommen, – aber bei Leibe nicht durch irgend ein beliebiges Abführmittel, weil jede Reizung des Darms die Gefahr vergrößert, sondern man soll dem Arzte überlassen, je nach der Art der Krankheit und nach der Natur des Kranken die passenden Mittel auszuwählen, die nicht zu viel und nicht zu wenig wirken dürfen und womöglich das Krankheitsgift zugleich unschädlich machen, vielleicht den betreffenden Pitz tödten. So können Ruhr und Typhus ebenso wohl durch stuhlanhaltende Mittel, als auch durch reizende Abführmittel, z. B. durch die Schweizerpillen und ähnliche Hausmittel, viel schlimmer gemacht werden, als wenn man die Kranken sich selbst überlassen hätte. Bei der Cholera habe ich selbst in drei großen Epidemien diejenige, die durch solche Mittel den Beginn der Krankheit verhindern oder abschneiden wollten, fast ausnahmslos sterben sehen, während rechtzeitig eingeleitete und richtige Behandlung die große Mehrzahl zu retten vermochte.
Aus diesen Erfahrungen, die leicht durch viele andere bei verschiedenen Krankheiten vermehrt werden könnten, folgt als erste und wichtigste Regel, daß der Nichtarzt sich hüten soll, durch falsch angewendete Mittel zu schaden, – als zweite Regel, daß man so früh wie möglich den Arzt rufen soll, der gar oft im Stande ist, eine beginnende Krankheit im Keim zu ersticken oder doch einen milderen Verlauf derselben zu sichern.
Nur zwei andere Beispiele mögen zeigen, daß diese beiden Regeln nicht blos für solche rasch verlaufende Krankheiten gelten.
Ein Schulmädchen in den Jahren des rascheren Wachsthums der Wirbelsäule, also etwa vom zwölften bis fünfzehnten Lebensjahre, fängt an, sich schlecht zu halten; am Schreibtisch und bei Handarbeiten sitzt sie krumm, statt der Brust wölbt sich der Rücken, eine Schulter steht etwas höher, ein Schulterblatt, wohl auch eine Hüfte tritt etwas hervor. Durch Ermahnungen, sich gerade zu halten, wird wenig genützt, denn entweder fehlen die Kräfte, um ihnen dauernd zu gehorchen, oder der arbeitende Kopf vergißt, die Rückenmuskeln in gehöriger Spannung zu halten. Jetzt wird ein festes Corset verlangt, um dem Körper Haltung zu geben, oder es wird auch wohl von irgend einem Bandagisten ein Geradehalter bezogen. Das hilft aber nicht, denn die Schultern entweichen nach oben, der Leib neigt sich nach einer Seite, die Stützen und Schnürapparate stützen und hindern nicht dort, wo sie sollen, sondern machen die Biegungen und Drehungen mit, oder hindern wohl gar die Rippen in ihrem gesetzmäßigen Wachsthum. Nach einiger Zeit ist die Schiefheit nicht mehr zu verkennen und es hat sich wohl noch gar eine enge, flache und schmale Brust dazu ausgebildet. Nun endlich wird, was sogleich hätte geschehen sollen, der Arzt gefragt, der dann nur feststellen kann, daß Rückenwirbel und Rippen bereits Formveränderungen erlitten haben, die vielleicht nur theilweise rückgängig gemacht, vielleicht auch nur in weiterem Fortschreiten aufgehalten werden können, wenn zu diesem Zweck eine langwierige und kostspielige Cur unternommen wird, die sich nur ausnahmsweise im Elternhause durchführen läßt. Und wie gut hätte das ganze Leiden, das nicht blos als Schönheitsfehler, sondern als Hinderniß kräftiger Körperentwickelung, besonders der Brust mit Herz und Lungen, so viel körperliche und seelische Leiden im Gefolge hat, verhütet werden können, wenn es gleich im Entstehen zweckmäßig bekämpft worden wäre!
Oder es handelt sich um die Anfänge einer Geisteskrankheit. Wir bemerken bei einem unserer Angehörige, vielleicht in Folge von großen Anstrengungen, Gemüthsbewegungen, Krankheiten, oder auch ohne daß dergleichen vorangegangen wäre, Aenderungen in seinem psychischen Verhalten, die mit seinem sonstigen Wesen nicht in Einklang stehen und auch durch die Ereignisse des äußeren und inneren Lebens nicht oder doch nicht hinlänglich begründet sind. Diese Aenderungen können rasch ober langsam, stark oder schwach auftreten, andauern oder mit ganz gesunden Zeiten abwechseln, und sind sehr mannigfaltig. Der Betreffende kann niedergeschlagen oder ausgelassen, ängstlich oder übermüthig, gleichgültig oder durch Geringes erregbar, unbeweglich oder unruhig sein, mit Selbstvorwürfen sich plagen oder sich überheben, traurig die Einsamkeit suchen und weinen, oder heiter und launig sein; er kann über Schmerzen und Beschwerden klagen, oder sich wohl fühlen, wie nie zuvor. Dabei kann er (oder sie) zwischendurch theilnehmend und liebevoll sein, seine Geschäfte gut besorgen etc., [480] ja zuweilen zeigt er sich ganz besonders thätig, muthig und unternehmungslustig.
Der aufmerksame Beobachter merkt wohl, daß etwas nicht in Ordnung sei, denkt aber, wenn er nicht Sachverständiger ist, noch lange nicht an Geisteskrankheit. Und doch ist eine solche, wenn nicht schon wirklich vorhanden, sicher im Anzuge. Die Störungen können zeitweilig oder dauernd vorübergehen, oder sie steigern sich ganz allmählich oder urplötzlich. Gut, wenn man dies bemerkt und einen sachverständigen Arzt zu Rathe zieht; schlimm, wenn man plötzlich durch einen heftigen Ausbruch, eine Gewaltthätigkeit gegen Andere oder gegen ihn selbst überrascht wird. Die Erscheinungen sind so mannigfaltig, daß wir sie unmöglich hier eingehend schildern können; wer sich darüber unterrichten will, findet Näheres, vorzüglich klar und überzeugend beschrieben, in einer kleinen Schrift von Director Koch „Psychiatrische Winke für Laien“ (Stuttgart, Verlag von Paul Neff, 1880).
Sucht man den Kranken, denn um einen solchen handelt es sich, von seinen verkehrten Ideen zu überzeugen, so mag dies zeitweilig, oder auch uur scheinbar gelingen: der krankhafte Zustand entwickelt sich trotzdem weiter und wird immer zwingender. Oder man sucht ihn durch Zerstreuungen, Gesellschaften, Theater, Reisen abzulenken und auf andere Ideen, zu anderen Anschauungen zu bringen; aber durch die neuen, vielfältigen Eindrücke wird das geschwächte Geistesorgan nur noch mehr angegriffen. Unvorsichtige Curversuche, besonders in Bädern oder Wasserheilanstalten, können das Uebel rasch zu den höchsten Graden steigern und auch die Aussichten einer endlich eingeleiteten richtigen Behandlung wesentlich trüben. Wird dagegen die Krankheit früh genug erkannt und auf geeignete Weise behandelt, was, wenn es zu Hause nicht vollkommen sicher möglich ist, alsbald in einer Heilanstalt für Nerven- oder Gemüthskranke geschehen muß, so ist in vielen, vielleicht in den meisten Fällen völlige Wiederherstellung möglich. Auch hier kommt es darauf an, sachverständigen ärztlichen Rath einzuholen und zu befolgen, bevor es zu solchen Veränderungen im Gehirn, dem Organ des Geistes, gekommen ist, die einer Ausgleichung nicht mehr fähig sind.
In alten Zeiten, ja selbst noch vor zwanzig und dreißig Jahren, legte man auch in Laienkreisen mit Recht großes Gewicht darauf, daß der Arzt „die Natur des Kranken kenne“, und gab deshalb viel auf den Hausarzt, der als Freund der Familie das ganze Personal, besonders die Kinder, in allen Eigenthümlichkeiten genau kennen und demgemäß auch Abweichungen von der vollen Gesundheit alsbald richtig beurtheilen konnte. Die großen Hülfsmittel der Untersuchung und die genauere Kenntniß der krankhaftell Vorgänge, womit die neuere Zeit die Aerzte ausgerüstet hat, konnten nur scheinbar jene persönliche Bekanntschaft ersetzen, da einmal die meisten Krankheiten in ihren ersten Anfängen noch nicht so sichere Zeichen geben, daß sie ohne weitere Beobachtung gleich zu erkennen sind, da ferner jene besseren Untersuchungsmethoden doch auch den Hausärzten, sofern sie mit der Wissenschaft fortschreiten, zu Gebote stehen und zu Gute kommen, und da endlich der Arzt nicht Krankheiten an sich, sondern vielmehr kranke Menschen zu behandeln oder zu curiren hat, wobei gerade persönliche und individuelle Eigenthümlichkeiten und Verschiedenheiten von der allergrößten Bedeutung sind.
Das „Curiren“. des Arztes beschränkt sich, wie die Verdeutschung dieses lateinischen Ausdrucks mit „sorgen“ oder „Sorge tragen“ klar macht, nicht auf das Verordnen von Mitteln gegen bestimmte Krankheiten, wie so manche Homöopathen in ganz unwissenschaftlicher und praktisch ungerechtfertigter Weise neben ein Verzeichniß von Krankheitserscheinungen die angeblich dagegen helfenden Arzneimittel setzen, sondern es verlangt, daß der Kranke durch die Bedrohung, Gefährdung oder Störung seines Wohlseins und Lebens zur Gesundheit hindurchgeführt werde, wozu neben den heilenden auch lindernde Mittel, die gesammte Pflege des Kranken, leibliche und psychische Einflüsse, die Sorge für volle Genesung und so viel wie möglich auch der Schutz vor den Folgen der Störung, die Wiederherstellung der Kräfte und die Verhütung der Weiterentwickelung und der Weiterverbreitung des Leidens auf andere Menschen gehört. Alle diese Aufgaben liegen dem Arzte auch dann ob, wenn ihm Heilmittel gegen die Krankheit selbst nicht zu Gebote stehen und wenn das Leben unbedingt nicht zu retten sein sollte. Daß aber alles Dies, zu der Tröstung, Beruhignng und Beschützung der betroffenen Familie, von einem befreundeten Hausarzte besser erkannt und besorgt werden kann, als von einem gelegentlich befragten oder zur Hülfe gerufenen, wenn auch noch so berühmten und ausgezeichneten Specialisten, bedarf wohl keines Beweises.
Der Specialist kann trotzdem neben dem Hausarzte sehr nützlich und sogar nothwendig sein. Der Specialist bedarf aber, da er bei der heutigen Ausbildung der medicinischen Wissenschaft und Kunst nur mit Einsetzung seiner ganzen Kraft etwas Besonderes in seinem Fache erreichen und leisten kann, in der Beurtheilung des gesammten Zustandes, der persönlichen Eigenthümlichkeiten und Verhältnisse sehr vieler Kranker des hausärztlichen Beirathes, während auch der Hausarzt in vielen Erkrankungen, deren Heilung eine specielle Ausbildung im Untersuchen und in technischer Fertigkeit nöthig macht, der specialistischen Hülfe und Ergänzung nicht entrathen kann. Zu beurtheilen, wann dies wünschenswerth ist, wird man einem gewissenhaften Hausarzte, der doch gerade durch seine persönlichen Beziehungen gleich sehr von Theilnahme und dem Gefühle der Verantwortlichkeit durchdrungen sein muß, sehr wohl überlassen können.
Das achte deutsche Bundesschießen in Leipzig.
In den Tagen vom 19. bis 27. Juli wird in Leipzig das achte deutsche Bundesschießen abgehalten und die ehrwürdige, an geschichtlichen Erinnerungen so reiche Stadt wird Tausende von lieben Gästen aus dem Reich und den stamm- und sprachverwandten Landen beherbergen. Das gastliche Leipzig, das in früheren Jahrhunderten und noch bis in das zweite Jahrzehnt des unsrigen, von den Meßfreunden und Meßfremden abgesehen, fast nur ungeladene und unwillkommene Gäste in Schaaren Einzug in seinen Thoren halten sah, das wie irgend eine Stadt unter der Drangsal dieser unholden Gäste, feindlicher Heeresmassen, gelitten hat, es ist längst eine Stätte des Friedens geworden, und freudig begrüßt es, wie vor einundzwanzig Jahren die deutschen Turner und Veteranen von 1813, so in diesem Jahre die deutschen Schützen.
Sind sie, die jetzt in Leipzig traulich zusammentreffen, doch insgesammt von deutschem Blute, von deutscher Gesinnung. Und woher sie auch immer kommen, aus Nord und Süd, aus Ost und West des großen deutschen Vaterlandes, aus Oesterreich und der Schweiz, aus den Niederlanden, selbst von jenseits des Oceans: sie alle sind einig in dem stolzen Gefühl, der gemeinsamen Mutter Germania Kinder zu sein, die kein Bruderhaß mehr trennt und die voll Vertrauen zu dem Throne emporblicken, auf welchem nach jahrzehntelangem Interregnum wieder ein deutscher Kaiser waltet, Wilhelm der Hohenzoller, der Siegreiche und Friedensfürst zugleich. Da darf schon die gut deutsche Stadt Leipzig sich in ihr schönstes Festgewand werfen, so liebe Gäste mit offenen Armen als freundliche Wirthin zu empfangen, und die Vorbereitungen, welche sie zur Aufnahme der Schützenbrüder aus allen Gauen Deutschlands und über seine Grenzen hinaus, so weit die deutsche Zunge klingt, getroffen hat, sind, denke ich, der Wirthin wie der Gäste gleich würdig. Leipzig hat in der That aufgeboten, was in seinen Kräften stand, um hinter den sieben Feststädten, in denen bisher deutsche Bundesschießen abgehalten worden sind, nicht hintanzustehen, sondern, wenn möglich, noch mehr zu bieten, als jene.
Ganz besonders zu statten kommt der Stadt Leipzig dabei, daß, südöstlich von der Stadt – rechts vom Waldesgrün umsäumt, zur Linken von der Pleiße umströmt – ihr ein Festplatz zur Verfügung gestellt wurde, wie er für einen derartigen Zweck kaum günstiger gedacht werden kann, und die Festhalle, die hier im Bilde wiedergegeben wird, ist an sich schon geräumig genug, um den Schützen auch gegen eine etwaige Unbill der Witterung zum Unterschlupf zu dienen. Ein stilvoller Gabentempel, vortreffliche Schießstände schließen sich an. Volksbelustigungen der mannigfachsten Art sind in Aussicht genommen, um den Schützen das Fest so genußreich und kurzweilig wie möglich zu machen.
Die Stadt Leipzig hat aber auch allen Grund, gerade die deutschen Schützen mit allen Ehren zu empfangen. Es mag ja manche geben, welche das ganze Schützenwesen für eine veraltete Einrichtung halten, und diese würden mit ihrer absprechenden Behauptung auch im Rechte sein, wenn die Schützengesellschaften sich dem Geiste der Neuzeit, der mit allem Alten, ihm Widerstrebenden gewaltig und rücksichtslos aufräumt, nicht angeschmiegt hätten. Daß sie dies thaten, dazu fähig waren, das zeugt aber doch für die unversiechliche Lebenskraft, welche dem Schützenwesen, einer der ehrwürdigsten Institutionen, die wir von unseren Vorfahren noch aus den Zeiten des Mittelalters überkommen und in die Neuzeit glücklich herübergerettet haben, innewohnt. Haben doch gerade die deutschen Schützen in jenen Tagen, als Alles auf einen Umschwung der Verhältnisse hindrängte, als Deutschlands großer Kanzler eben begann, am Unterbau des neuen deutschen Reiches zu zimmern, sich kräftig aufgerafft und sich zusammengethan zu einem großen deutschen Schützenbunde, der eine Verbrüderung aller deutschen Schützen, eine Vervollkommnung der Schießfähigkeit derselben und eine Hebung der Wehrkraft unseres Volkes erstrebt.
So können auch sie einmal, wenn je dem deutschen Reiche, das ja ein Reich des Friedens sein will, ein äußerer Feind wieder erstünde und Deutschlands Söhne zur Vertheidigung des Vaterlands die Waffen in die Hand zu nehmen gezwungen sein sollten, unserem Vaterlande noch gute Dienste thun, und wenn auch das Reich in seinem Heere einen starken Schutz und Schirm besitzt, so ist es doch immer gut, wenn auch die Aelteren, welche ihrer Heerespflicht längst genügt, sich im Waffenhandwerk üben und die Kunst, sicher ihr Ziel zu treffen, nicht verlernen. Bedarf das Vaterland dieser Kräfte nicht, reicht seine junge dienstpflichtige Mannschaft aus, jedem feindlichen Anprall Trutz zu bieten, um so besser! Ist es doch auch der Zweck unseres deutschen Heeres, nur für den Nothfall gerüstet zu sein und durch seine Kampfbereitschaft das Eintreten eines solchen Nothfalls nach besten Kräften zu verhindern. Darum scheint es mir auch keine bloße Spielerei, nicht ein bloßer Drang zum Vergnügen zu sein, was unsere Schützen antreibt, Büchse oder Armbrust zu handhaben; ein sicherer Blick, eine sichere Hand ist viel werth, und es gilt das ja nicht nur für den Krieg, sondern auch für die Tage des Friedens.
Ja, vergessen wollen und dürfen wir keinen Augenblick, daß, wenn irgendwo, so hier im heitern Spiel auch ein tiefer Sinn liegt. Und um dies recht zu verstehen, um recht zu erkennen, daß das Schützenwesen, unbeschadet des Wechsels der Zeiten, auch jetzt noch eine höhere Bedeutung hat oder doch im Falle der Gefahr haben kann, ist es gut, wenn [482] wir uns vergegenwärtigen, daß eben dies Schützenwesen die starken Wurzeln seiner Kraft in unserem Volksthume, im deutschen Bürgerthume hat, als der letzte Rest jener allgemeinen Waffenfähigkeit, wie sie im Mittelalter den Bewohnern der Städte zustand und wie sie diesen gegen die damaligen Uebergriffe von Seiten des Adels und auch so mancher Fürsten unentbehrlich war. Was den Rittern auf ihren Burgen Schwert und Speer, das war dem schlichten Bürgersmann in jenen Zeiten bis zur Einführung der Schußwaffen vor Allem seine Armbrust; diese stets geschickt zu handhaben, mußte der auf seine Selbstständigkeit bedachte Bürger sich ebenso angelegen sein lassen, wie der Ritter die Handhabung von Schwert und Speer. Und was den Rittern ihr Turnier war, ein Wettkampf um den Preis, wer es im Waffenhandwerke am weitesten gebracht, das war den Bürgern des Mittelalters und noch der folgenden Jahrhunderte ihr Freischießen, an dessen Stelle jetzt als größeres Fest, als Verbrüderungsfest aller deutschen Schützen die deutschen Bundesschießen getreten sind. Als dann der Gebrauch des Schießpulvers immer allgemeiner wurde, da schritten auch die alten Schützengilden wacker mit dem Zeitgeiste fort, und neben der Armbrust, von der sich manche nicht trennen mochten, fand auch bei den Schützen mehr und mehr die Büchse Eingang. Gerade zu jener Zeit, als sich diese Umwandelung mit Erfolg vollzog, stand das deutsche Schützenwesen auf seinem Höhepunkte, und wie jetzt die deutschen Bundesschießen den Betheiligten als Preiskämpfe und Verbrüderungsfeste zugleich dienen, so damals die deutschen Freischießen, welche irgend eine Stadt veranstaltete und zu denen befreundete Fürsten, Adelige und Städte geladen wurden; nur daß natürlich die Betheiligung an solchen Festen von auswärts damals noch keine so große war wie jetzt.
Trotzdem liefert unter Anderem die von Johann Fischart erzählte Geschichte von dem Topfe mit warmem Hirsebrei, den die Züricher in rascher Fahrt mit zum Straßburger Freischießen brachten, schon einen Beweis, wie auch die Bewohner ferner liegender Städte sich gern zu solchem Freischießen einstellten, und wenn jene Geschichte andeuten soll, daß die Züricher auch in der Stunde der Gefahr so rasch hülfsbereit in Straßburg sein könnten, so hielten ja die Schützen dieser Städte, hielten die Städte selber, wenn Noth an den Mann ging, treu zusammen. Daß sie dies aber im Kriege thun konnten, dazu trugen eben jene alten Freischießen, wie sie unter diesem Namen in der Schweiz noch jetzt fortbestehen, redlich das Ihrige bei, und bei diesen Festen ward manches Schutz- und Trutzbündniß zur Abwehr gemeinsamer Gefahr geschlossen, vor Allem aber lernten die Bürger der verschiedenen Städte bei solchen festlichen, fröhlichen Gelegenheiten einander kennen und werthschätzen.
Kein Wunder daher, daß diese Freischießen weit und breit sich großer Beliebtheit erfreuten, und es war ein besonders glücklicher Gedanke, daß das Festcomité zum diesmaligen Bundesschießen beschlossen hat, dem Festzuge, welcher am 20. Juli, von dem Herold der Stadt Leipzig geführt (vergl. unsere Anfangsvignette), sich durch die Straßen von Leipzig nach dem Schießplatze bewegen soll, zwischen die verschiedenen Schützenabtheilungen eine Anzahl historischer Gruppen einzureihen. Die interessanteste von ihnen wird jedenfalls die von L. Frenzel hier im Bilde vorgeführte sein, welche einen Zug der Schützen zu solch einem Freischießen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts darstellt. An der Spitze dieser Zuggruppe marschiren vier Trompeter, denen der Stadtvogt folgt. Hieran reihen sich eine Anzahl Stadtknechte, hinter denen zwei Pfeifer, lustige Weisen aufspielend, einherschreiten; dann kommt der Kranzherr, eine bei solchen Freischießen unentbehrliche Persönlichkeit, hierauf Kinder mit Fahnen, ein Trommler und ein Pfeifer; den Mittelpunkt dieser Gruppe bildet die „Trage“ mit Preisgeschirr aller Art, umgeben von vier Pritschmeistern, in jener Zeit den Lustigmachern, Festdichtern, beziehungsweise Verherrlichern und auch Preisrichtern zugleich, sowie von je zwei Zielern und Canzlisten, denen sich die Rathsherren der betreffenden Stadt und unter Vorantritt von Pfeifer und Trommler der Schützenhauptmann, der Fahnenträger und die ganze alte Schützengilde mit den fremden Schützengästen anschließen, – ein jedenfalls ebenso farbenreiches wie naturgetreues Conterfei des Schützenwesens in der sogenannten guten alten Zeit, da eine Schützengilde selbst noch eine politische Macht war und Fürsten und Adel dieser Macht oft genug Rechnung tragen mußten.
Diese ehemalige politische Bedeutung der Schützengilden, sie ist freilich dahin, dank der veränderten Kriegsführung und den Schranken, welche zum Wohle des großen Ganzen der bürgerlichen Freiheit ebenso wie der des Adels und der vormaligen absoluten Gewalt der Fürsten in Deutschland mit der Zeit gezogen wurden, gezogen werden mußten. Nun, unsere jetzigen deutschen Schützen werden den Verlust der Macht, welche ihre Vorfahren besaßen, leicht verschmerzen in dem stolzen und erhebenden Bewußtsein, daß sie es verstanden, mit der Zeit gleichen Schritt zu halten, und sich begnügten, aus den glanzvollen Tagen des alten Schützenwesens nur das zu retten und zu bewahren, was zu retten war. Als dienendes Glied des großen Ganzen ist auch das deutsche Schützenthum der Jetztzeit von hoher, nationaler Bedeutung, und so dürfen die deutschen Schützen wie ihre Vorfahren von sich sagen, daß auch sie sich bisher auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe ihrer Zeit gehalten haben. Und solange unsere Schützengesellschaften rüstig mit dem vorwärtsdrängenden Geiste der Neuzeit fortschreiten und vor allem das deutsche Banner hochhalten, ist auch das Schützenwesen im Reich keine veraltete Einrichtung, und so wird Germania, welche, wie dies das beistehende Schlußbild zeigt, von Friedensboten umgeben, auf hochragendem Throne mit im Festzug erscheint, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Zahl derjenigen holden Frauengestalten sich mehren sehen, welche als Darstellerinnen der bisherigen Bundesfeststädte traulich zu ihren Füßen sitzen.Karl Siegen.
Brausejahre.
(Fortsetzung.)
Abends war ein kleiner auserlesener Kreis bei der Herzogin Anna Amalie versammelt. Goethe wollte den von Lavater so warm empfohlenen Schweizer Christoph Kaufmann einführen, Lavater hatte diesen jungen Mann „Gottes Spürhund“ genannt und hinzugefügt: er sei ein Mensch, der nach seiner äußeren Ausrüstung und den Gesetzen der Physiognomik zu Folge Alles könne!
Der Herzog, Frau von Stein, Luise von Göchhausen, Wieland und Hildebrand von Einsiedel waren bereits zugegen. Man saß um einen Tisch, auf dem einige Wachskerzen brannten und verschiedene Bücher und Silhouetten umher lagen. Die Damen schürzten Filet oder strickten; Luise leitete daneben die einfache Bewirthung mit Wein, Brod und Fleisch, Kuchen, Aepfeln und Nüssen. Sie hatte soeben, bevor Goethe kam, noch erregt von ihrer Begegnung am Nachmittage beim Oheim, von der Abneigung gesprochen, die man in gewissen Kreisen gegen den Dichter hege. Die kleine gescheidte Person war keine milde Natur; sie lebte vielfach im Kampfe, und es fiel ihr nicht ein, die zu schonen, welche ihr feindlich gegenüber standen.
Der Herzog lachte laut auf. „Es ist der Neid,“ sagte er spöttisch, „der ekle Brodneid, der sich allerorten breit macht. Ob ich einen neuen Ankömmling in meinen Hundezwinger lasse oder meinen Schranzen einen Besseren vorziehe, es giebt das gleiche Gekläff; aber den Herrn fallen sie Beide nicht an. Sie zausen sich nur unter einander, und Der, über den sie jetzt herstürzen, ist den schäbigen Kerls gewachsen, das glaubt mir!“
Wieland, der in seiner schönen Wärme für Goethe jeglichen Angriff auf den Freund als persönliche Beleidigung nahm, nannte den Hofmarschall den schiefsten, allerschwächsten und der Natur mißlungensten Menschen, den es je gegeben.
„Nur immer radical vorwärts, mein tapferer Oberonsänger!“ lachte die Herzogin zufrieden. „Sie wissen, daß auch mir der Graf zuwider ist, denn er legte es darauf an, mir meinen Sohn zu entfremden.“
Ein warmer Blick mütterlicher Liebe traf den neben ihr sitzenden Karl August. Dieser ergriff ihre volle weiße Hand und küßte sie herzlich, dann sagte er:
„Das wird weder dem Görtz noch sonst Jemandem gelingen. Uebrigens ist der Hofmarschall mir doch mit einer gewissen Treue attachirt, wie so eine Art Hausspitz.“
Wieland schnitt ein Gesicht, sagte aber nichts, da in diesem Augenblicke Doctor Goethe mit seinem Gaste angemeldet wurde.
Aller Blicke, Aller Herzen öffneten sich ihm und flogen ihm entgegen!
„Da bringe ich den Empfohlenen,“ sagte er, seinen Begleiter dem Herzoge und der Herzogin vorstellend.
Es war der Unbekannte, welcher in Leipzig Corona aufgesucht hatte.
Christoph Kaufmann, anscheinend in den Zwanzigern, war ein blühender, kräftiger Mensch in Schweizertracht.
Herzog und Herzogin begrüßten freundlich die Gäste, man machte ihnen Platz am Tische, und sie setzten sich zu den Uebrigen.
Der Herzog begann den Ankömmling über Lavater zu fragen, und Kaufmann pries ihn in begeisterten Worten.
„Sie haben bei ihm die Grundsätze der Physiognomik studirt?“ fragte der Herzog.
„Er hat sie an mir studirt. Nach einer Normal- oder Idealform bilden sich alle Gesetze. Er hat dieselbe in mir verkörpert gefunden. Ich bin das ‚Urphänomen‘ und ausersehen, Jahrhunderte zu überdauern.“
Man sah sich erstaunt an. Die Göchhausen bot dem „Urphänomen“ mit Lachen ein Glas Wein.
„Ich danke Dir, Lichtkernchen,“ sagte er ernsthaft, „ich genieße nur Urstoffe, Wasser oder Milch.“
Kaufmann entwickelte seine Theorie vom menschlichen Lichtkernchen. Er schilderte, wie das körperliche Häusel von innen eingehe und zuletzt als dünner Beleg ein Feuerrad umfange. Wie aus diesem sich Fühlfäden nach rückwärts ausstreckten zu den lichtstarken Genossen der Vergangenheit, um mit denselben zu verkehren.
„Alle Wetter, das wäre!“ rief der Herzog halb spöttisch, halb neugierig angeregt. „Sind Sie denn solch ein Feuerrad mit glacéledernem Ueberzuge, das mit anderen, äußerlich zu Grunde gegangenen starken Lichtleibern wieder in Verbindung treten kann? Oder zu Deutsch: bilden Sie sich ein, mit Verstorbenen communiciren zu können?“
Feierlich neigte der Fremde den schönen Kopf zur Bejahung.
„Ich hoffe,“ sagte er schwärmerisch bewegt, „bald so weit himmlisch umgebildet zu sein. Schon ein Jahrhundert arbeite ich daran.“
„Ein Jahrhundert!“ rief der Herzog staunend, „wie alt halten Sie sich denn?“
„Ich stand mit einem früheren Menschenalter in Verbindung und bin bestimmt, in einem späteren fortzuwirken!“
Alle sahen sich fragend, lächelnd, ungläubig an. Der Wundermann fuhr fort:
„Als Gottes Spürhund ziehe ich durch die Lande und suche reine, kindliche Menschen, die ich wittere mit meiner ihnen verwandten Kraft – durchsichtig wie Glas seid Ihr alle meinem Auge! – Den Reinen muß ich helfen, ihren Lichtkern in die Schwingungen des Feuerrades zu bringen und sie hierauf dem Meister zuführen.“
„Also verschiedene Grade giebt es in Ihrer seltsamen Wissenschaft?“
„Ja, verschiedene. Willst Du, o Fürst, den ersten Meister aller Zeiten in diesem Wissen kennen lernen?“
„Lavater?“ fragte die Herzogin gespannt und nahm diese Frage von aller Lippen.
„Nicht er! Er kann nur ahnend fühlen, wo ein Sturmbrand des Lichts im erdklebigen Stoff gefangen weilt. Nein, ein Höherer, ein ungebundenes Feuerrad geistigen Wirkens, vom aschirdnen Stoff knapp umschlossen, das alle Dimensionen durch glüht, er ist’s, den ich meine!“
„Und wer wäre das?“ fragte der Herzog gespannt.
„Meine Lippen dürfen seinen Namen nicht nennen! Frage das schönste Weib, welches Dir während dieses Jahres Rundgang begegnet – sie trägt als Stempel seiner Herrschaft eine schwarze Sammetschleife vor dem Busen – diese ist auserkoren zwischen Dir und ihm zu vermitteln.“
Des jungen Fürsten Augen blitzten.
„Der lichtreiche Unbekannte scheint nicht so gleichgültig gegen hübsche, erdklebige Schalen zu sein, wie man solchem Ueberwinder derselben zutrauen sollte!“ rief er scharf mit lautem Auflachen. „Ich gestehe, daß vorläufig solche ‚Schalen‘ mir sehr wohl gefallen, mögen sie nun von innen heraus, in Ihrem Sinne, mein Prophet, dünn oder dick sein.“
„Du täuschest Dich selbst,“ erwiderte Kaufmann. „Kannst Du ein Auge schön finden, aus dem Dir keine verständnißreiche Seele als Lichstern entgegen strahlt? Denk die schönste Form von innen verdunkelt, geistig umnachtet, und Dich schaudert, ihrer Reize froh zu werden.“
Der Herzog verstummte sinnend; es lag Wahres in dieser Behauptung des Fremden.
Hildebrand Einsiedel knüpfte eine Frage nach der schönen Leibeignen des Lichtfürsten an, bei der Goethe verständnißvoll vor sich hinlächelte. Kaufmann aber brach auf, ungezwungen wie bisher nur nach seinem Belieben handelnd, und überhörte weitere Anreden. Er sagte, er dürfe einem einzelnen Thun nicht mehr Zeit und Kraft gönnen; wichtige Arbeiten warteten ihrer Erledigung.
„Nun, Sie werden doch heute Abend nicht viel mehr thun, wir haben halbzehn Uhr,“ sagte die Herzogin mit einem Blick auf ihre Rococopendule.
„Ich schlafe nie, hohe Frau,“ entgegnete der wunderliche Mann. „Wer dem Lichtkern zum Wachsthum verhelfen will, darf der grobfaserigen Masse keine Herrschaft einräumen.“
„Entsetzlich!“ rief Amalie und schlug staunend die Hände zusammen. „Sie schlafen nicht, Sie Aermster, da müssen Sie ja krank werden.“
[484] „Ich bin nie krank, ja ich vermag jeden Kranken zu heilen, der Vertrauen zu mir faßt.“
Er verbeugte sich und verließ mit würdigen Schritten das Gemach. Man athmete auf, als der Druck seiner wunderlichen Persönlichkeit aufhörte.
„Da hat uns Lavater einen närrischen Kauz gesandt!“ rief der Herzog. „Aber interessant ist solcher Gesell doch; ich werde mich näher in seine Theorien einweihen lassen.“
„Man weiß nicht, ob’s der Mühe werth ist,“ sagte Goethe.
„Allerdings, Ungereimtheiten hat er vorgebracht,“ lachte Luise von Göchhausen, „die hundert Elephanten nicht wegschleppen können!“
„Alles in Allem,“ sagte Wieland, „ist man hungrig geworden auf etwas Natürliches, Lustiges, Irdischhandgreifliches.“
Das war nach der ungesunden Aufregung das einzig richtige Gefühl.
Der Herzog Karl August hatte sehr bald erkannt, daß sein genialer Freund nur mittels eines ernsten Lebensberufes dauernd in Weimar und an seine Person zu fesseln sei. Mochte Goethe noch so wild mit ihm darauf los wüthen, wenn es galt im Ballsaal, auf dem Eise, oder zu Pferde der vollen Jugendlust genug zu thun, niemals machte er ein Hehl daraus, daß er Besseres brauche, daß er nicht ohne geregelte Beschäftigung leben könne. Aber auch in dem jungen Herzoge lag ein fester Grund edler Pflichttreue. Ihm würde kein Freund genügt haben, welcher seine volle Befriedigung aus der Dinge Oberfläche geschöpft hätte, und so begriff er auch des Andern Bedürfen.
Längst sann er also darüber nach, was er zu bieten habe, wie er Goethe’s Stellung in Weimar festigen und durch einen Beruf ausfüllen könne. Er wußte, daß er mit der Anstellung dieses vielbeneideten und vielgescholtenen Fremdlings einen Sturm im Kreise seiner Beamtenwelt heraufbeschwöre; aber er war Mannes genug, seinen Willen durchzusetzen.
Seit zweiundzwanzig Jahren war der Minister von Fritsch der gewissenhafte Leiter der Regierung; dieser, der von Goethe nichts als eine flotte, geniale Außenseite kannte und seine Zuhörerschaft im Conseil stets gemißbilligt hatte, widersetzte sich auf das Ernstlichste seiner Anstellung im Staatsdienste. Ja er bat, wenn dieselbe stattfinden solle, um seinen Abschied.
Der Herzog erklärte aber, daß sein Beschluß, den Doctor Goethe in sein Geheimes Conseil einzuführen, feststehe, und bat, daß sein Minister sich mit dieser Maßregel aussöhne. Nachdem auch die Herzogin Anna Amalie, welcher Fritsch während ihrer Regentschaft treu zur Seite gestanden, sich bittend an ihn wandte, gab der alte Staatsmann nach, und Goethe’s feierliche Einführung in’s Conseil als Legationsrath wurde zur Thatsache.
So war dem Herzoge nun der Besitz des Freundes gesichert.
Goethe, dieser menschenkundige, umfassende Geist, wußte sich auch bald durch sachlich ernste Ruhe, durch respectvolle Unterordnung unter die erfahrenen älteren Beamten, eine gute Stellung im Conseil zu verschaffen und die praktischen Fragen und Sorgen der Regierung kennen zu lernen.
So wie diese Angelegenheit geordnet war, sann der Herzog darauf, des Freundes äußeres Behagen noch fester zu begründen,
[485] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
als bisher. Die beschränkte Wohnung in der Belvedere-Allee konnte auf die Dauer nicht genügen.
Bertuch’s Gartenhaus am Stern hatte Goethen einst besonders wohl gefallen; an einem Wege gelegen, der nicht weit vom Thor sich an den Wiesen der Ilm hinzog, mit einem freundlichen Blick auf die Stadt, einem baumreichen, aufsteigenden Garten war es ein gar freundlicher Sommersitz. Diesen Garten tauschte der Herzog für den Freund ein, und beglückt ging Goethe daran, sich mit Philipp das neue Heim einzurichten.
Es war im Mai, die Bäume grünten und blühten, die Wiesen an der Ilm schimmerten, mit zahllosen gelben Blumensternen besäet, in satter Smaragdfarbe; der Fluß schien klarer und munterer als bisher an den Baumwurzeln des Ufers dahin zu rauschen, der Himmel wölbte sich in dem tiefen Blau eines köstlichen Frühlingstages, die Vögel jubilirten in den Zweigen, und Spaziergänger zogen in Schaaren aus dem Stadtthor und den Weg an Goethe’s Gartenhause vorüber. Eine schlanke, vornehme Frauengestalt mit einem kleinen Knaben an der Hand war unter ihnen. Goethe hatte sie von seinem Altan aus bemerkt, er eilte hinunter und kam ihr freudestrahlend an seinem Gartenpförtchen entgegen; die schlanke Frau folgte seiner Einladung und trat mit dem Kinde bei ihm ein. Er nahm den Kleinen auf den Arm, herzte ihn und erzählte, daß in seinem Garten prächtige Blumen für den lieben Jungen gewachsen seien, die er alle pflücken dürfe. Der kleine Fritz von Stein lachte hell auf vor Vergnügen und zappelte, um zur Erde zu kommen, damit er hinaus auf die Terrassen unter die blühenden Bäume laufen könne.
Hinter dem hellgetünchten kleinen Hause befand sich ein gegen Staub und unberufene Gaffer wohlgeschütztes Plätzchen. Knospendes Jelängerjelieber rankte an der Hauswand hinauf, eine Bank und ein Tisch standen daran; vor sich hatte man den schattigen und doch sonnig durchleuchteten Garten. Freundliche Lichter hüpften unter den bewegten Zweigen über Blumen und Moos, und unter ihnen das jauchzende Kind in seinem Sammeleifer, die Händchen voll grüner Herrlichkeiten.
Die beiden Menschen am Hause, die sich so wohl verstanden, hatten noch wenig gesprochen, sie schwelgten in der wonnigen Natur und in dem Glücke des Zusammenseins.
„Ich fühlte eine heiße Sehnsucht nach Dir, und da sah ich Dich kommen, es war eine schöne Erfüllung!“ sagte Goethe mit tiefem Gefühle.
„Der gestrige Abend bei Baron Reinbabens lag mir schwer im Sinn,“ entgegnete Charlotte von Stein, ihre weiche Gemüthsstimmung bemeisternd. „Ich wollte einmal ruhig mit Ihnen unsere, Ihre Lage erwägen, deshalb kam ich heute.“
„Ich habe auch die Nacht durch manches Knäulchen Gedankenzwirn auf- und abgewickelt.“
„Ich dachte mir’s. Sie wissen, daß ich Sie schätze, Sie lieb habe wie einen jüngeren Bruder, oder älteren Sohn! – Aber warum dies große, warme Gefühl, das in meinem Herzen erstanden ist, da es eben am Zuschließen war, in irgend eine irdisch übliche Form gießen? – Genug, daß mich Ihr Wohl wie etwas Eignes interessirt; daß ich sogar ohne Bedenken, wenn wir allein sind, Formen, übliche Trennungszeichen menschlicher Beziehungen als überflüssige Schranken zwischen zwei Seelen, die [486] so tief verbunden sind, fallen lasse; daß ich Dir das schwesterliche Du gebe, und es mit süßer Freude von Dir annehme. Dies Alles, mein Wolfgang, mein Freund, gehört aber nicht vor den Richterstuhl der tadelsüchtigen, ewig mißverstehenden Menge, die ja für unsere tiefe Sympathie kein Organ hat, die Alles, was uns reinigt und begeistert, mit dem Maß unwürdiger Koketterie oder Liebelei mißt und danach abthut. Also, thörichter, unvorsichtiger Liebling! Sei auf Deiner Hut vor dieser spitzzüngigen großen Welt und hüte Deine glühenden Dichterworte vor Denen, die sie nur mit Spott aufnehmen.“
Sie hatte warm und mit Anmuth gesprochen; er hielt schon lange ihre linke Hand zwischen seinen beiden Händen gefangen; während sie, in der Rechten einen blühenden Fliederzweig schwingend, mit graziösem Tändeln ihre Worte begleitete, sah er ihr glücklich lächelnd in das feine, bewegte Antlitz. Sie fuhr nach einer kleinen Pause fort:
„Die Herzogin Luise, bedrückt von ihres Gatten sichtlicher Kälte gegen sie; Dir anfänglich mit Wohlwollen entgegenkommend, hat jetzt den Einflüsterungen des Grafen Görtz Gehör geschenkt, sie hält Dich für ihren Rivalen, für den Verführer ihres Gatten, der ihr sein Herz entfremdet, und sieht Dich mit eifersüchtigem Uebelwollen an.“
„Mich? Der ich sie so herzlich verehre?“ rief Goethe erstaunt.
„Ja, es ist so. Wie unwillkommen Du den Beamten im Conseil warst, ist Dir kein Geheimniß geblieben. Der Boden ist also unsicher und glatt unter Deinen Füßen und Vorsicht, wohlüberlegtes Auftreten ein Gebot der Klugheit. Diese Vermummungen, diese geistreichen, improvisirten Scherze, wie gestern Abend, sind in solchem Kreise nicht erlaubt.“
„Erlaubt ist, was gefällt!“ lachte er.
„Erlaubt ist, was sich schickt,“ entgegnete sie bestimmt.
Auch er ward jetzt ernster.
„Sollen wir denn immer und überall entsagen und uns beschränken?“ rief er unmuthig. „Der Herzog hat mich an sein Geschäft gebunden; aus der Liebschaft ist eine Ehe geworden! Ich habe hier zu Wieland, Knebel, Einsiedel und Anderen eine gute, reine Stellung. Mein Freund Herder wird noch herkommen, so bin ich gedeckt und biete allen Hofschranzen die Spitze. Ich will und bedarf kaum mehr, wenn Du mich nicht los läßt, Geliebteste, denn die Sicherheit meines Verhältnisses zu den einmal Erwählten, mir Gegebenen kann ich nicht entbehren.“
„Du darfst und wirst nie an mir zweifeln,“ sagte sie innig. „Was ein treuer Mensch dem Andern sein kann, bin ich Dir immerdar! Laß mich Dir eine Stütze sein, geliebter Freund! Verstehe meine Ruhe, wenn wir zusammen unter Menschen sind; ich darf ja nicht zeigen, wie hoch ich Dich halte!“
Er küßte ihre Hand wiederholt und dankte ihr mit flammenden Liebesworten. Eine frische Männerstimme rief jetzt seinen Namen, er sprang auf und eilte dem Herzoge entgegen.
„Ah!“ lachte Karl August schelmisch, „gewiß ein ästhetisches Conseil, das ich störe? Bitte um Verzeihung, bin aber verteufelt gern mit von der Partie und sehe nicht ein, warum ich mich an diesem goldenen Frühlingstage ennuyiren soll.“
Er setzte sich zu den Beiden, die ihn artig begrüßten.
Das Gespräch wandte sich bald auf Christoph Kaufmann. Goethe erzählte, daß Kaufmann bei einem Manne, den er seinen Herrn und Meister nenne, in Kassel sei, daß er aber mit dem Gedanken umgehe, noch einmal nach Weimar zurück zu kehren.
„Und wie heißt der Mann, bei dem dieser wunderliche Gast sich aufhält?“
„Graf von Saint Germain; er ist ein berüchtigter französischer Abenteurer. Landgraf Friedrich von Hessen, der den Mäcenas spielt und die üppige französische Wirthschaft führt, zieht solche Geister an. Uebrigens giebt es auch Leute genug, die auf des Grafen Wunderthaten und übernatürliche Künste schwören.“
„Ich möchte auch nicht Alles ablehnen, was nicht klar vor mir liegt,“ sagte der Herzog mit sinnendem Ausdruck, „und jenes ofterwähnten Meisters Bekanntschaft würde mich höchlich ergötzen. Görtz soll an den Hofmarschall von Bischofshausen in Kassel schreiben und wegen jenes Grafen Saint Germain, den Du als Protector Kaufmann’s nanntest, anfragen.“
„Das wird dem sehr gelegen kommen,“ sagte Goethe trocken.
Frau von Stein sah ihn befremdet an, dann ftagte sie:
„Sie scheinen einen Wunsch oder gar die Absicht jenes Wundermannes vorauszusetzen, hierher zu kommen? Wie verstehe ich den Argwohn des Dichters diesen phantastischen Leuten gegenüber? Hat Ihr Prophet Lavater nicht unter Kaufmann’s Silhouette geschrieben: ‚Er kann, was er will!‘ Hat er ihn nicht für einen außergewöhnlich begabten Menschen erklärt?“
„Allerdings hat er das!“ rief Goethe auflachend, „als Beweis, daß auch Propheten irren können.“
„Nun, streiten wir nicht,“ sagte der Herzog besänftigend. „Ich für meinen Theil lasse diese curiösen Adamssöhne noch nicht fallen; wir wollen auch nicht übersehen, daß sich in unserer Zeit Mancherlei für sie regt. Man rüttelt von allen Seiten an Pforten, die in dunkle Tiefen der Natur führen, und vielleicht wird sich hier oder da ein lichter Spalt aufthun. Mit einem jener Absonderlichen in nähere Berührung zu treten, könnte mich baß gaudiren!“
„Nur in der Kunst keine Dunkelheiten und dem Leben abgewandte Spitzfindigkeiten!“ rief Goethe erregt. „Mein Bestreben, meine unablenkbare Richtung ist: dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; wer das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen sucht, verirrt sich vom Ziel abwärts. Und sonach ist mir alles dämmerig Unnatürliche verdächtig.“
„Wenn man sich seltsame Käuze in der Nähe ansieht, ist man ihnen und ihrer ganzen Richtung ja nicht mit Haut und Haaren verfallen!“ lachte der Herzog; damit stand er auf und fragte, ob Frau von Stein ihn mit dem Freunde zurück begleiten werde?
Die kleine Gesellschaft schlug, unter fortgesetztem Geplauder, den Weg zur Stadt ein. Es begegneten ihnen öfter ehrerbietig grüßende Spaziergänger, die, obwohl die Sonne schon im Sinken war, doch noch auszogen, den schönen Abend im Freien zu genießen.
“Da kommen ein paar bekannte Damen,“ sagte Frau von Stein zu den lebhaft redenden Männern. „Es ist Auguste Kalb mit der kleinen Laßberg, die so lange krank war.“
„Klein nennen Sie die?“ flüsterte der Herzog, „sie ist ja eine schlanke Elfe und viel größer als das dicke Gustchen.“
Man trat den jungen Mädchen entgegen, und Frau von Stein fragte nach Christels Gesundheit. Mit niedergeschlagenen Augen stammelte diese, daß es ihr wohl gehe.
Der Herzog neckte Auguste mit den „Flammenküssen“ der scheidenden Sonne, die, „ihren Lilienteint umwerbend, Unheil anrichten würden“.
Gustchens warme bräunliche Haut färbte sich höher bei diesem leicht erkennbaren Spott, und sie wehrte sich in lebhafter Weise.
Goethe vermied es seit jenem Redoutenabend, ihr Artigkeiten zu erzeigen, er wandte sich also zu der eben Genesenen und sagte ihr einige theilnehmende Worte. Hohe Gluth wechselte mit Todtenblässe auf den feinen Zügen des bebenden Mädchens, und sie vermochte sichtlich kein Wort der Erwiderung hervor zu bringen. Unter ihren beinah geschlossenen Wimpern quollen Thränen hervor, und gleich darauf mußte Frau von Stein die Schwankende in ihren Armen auffangen.
Die Herren erschraken, man sprach davon, sie nach Goethe’s Hause zu tragen, eine Sänfte zu holen und dergleichen mehr. Bald aber richtete sich Christel mit großer Selbstbeherrschung auf, versicherte, indem ihre Farbe wiederkehrte, ihr sei Wohl, und verabschiedete sich hastig von der Gesellschaft, indem sie den Arm ihrer Begleiterin nahm.
Die beiden Männer sahen sich erstaunt und kopfschüttelnd an, und Goethe sagte:
„Welch seltsamer Windzug der Freundschaft führt diese beiden Seelen zu einander? Wie kommt’s, daß gerade die sich ihre Gefühle geben? Gustchen eine derbe und bis auf den Grund hohle Natur, und daneben diese fest geschlossene Knospe, diese Sensitive, die bei jeder Berührung erzitternd in sich selbst zurück schreckt, süßleidender Sentimentalität hingegeben. Nur die leeren Häuser stehen offen und die reichen sind geschlossen!“
[487]
Das Leipziger Rosenthal. (Illustrationen S. 484 und 485.) Zu den Sehenswürdigkeiten seiner Stadt zählt der Leipziger einen großen Waldpark, genannt, „das Rosenthal“.
Den Bewohnern der Gebirgsländer, ja selbst schon denen, welche sich des Besitzes von bescheidenen Hügeln und Thälern erfreuen, fällt es schwer, sich die weiten ebenen Strecken des deutschen Nordens anders als erschreckend langweilig und trostlos vorzustellen. Und wo die liebe Mutter Natur bei der Vertheilung ihrer Gaben gar zu eilig vorüberlief und den Menschen die Freude vergällte, durch Arbeiten seines Geistes und seiner Hand den sichtlichen Mangel zu verdecken, da hat der glücklichere Gebirgler auch Recht. Anders aber ist’s da, wo die Natur selbst den Ausgleich bot und der Mensch wacker nachhalf.
Der Schmuck der Ebene sind die drei W: Wald, Wiese und Wasser. Was der geschickte Landschaftsgärtner aus einer Ebene herzustellen vermag, wo ihm diese drei Naturschätze zur Verfügung stehen, ist in mancher Gegend, die man einst als des heiligen römischen Reichs Streusandbüchse bedauerte und belächelte, längst offenbar geworden und erregt die Bewunderung der stolzesten Hochgebirgsmenschen. Und wenn die Großartigkeit von Berg und Fels und Schlucht durch Nichts in der Ebene ersetzt werden kann, so vermag sie doch durch die Pracht ihrer Wälder, die klaren und ruhigen Spiegel ihrer Flüsse und Seen und die, den schmucksten Thälern gleich, die Wälder durchziehenden Wiesenflächen an Lieblichkeit und Anmuth sehr Hohes zu leisten und dem Auge darzubieten. Auch der weite, unbeschränkte Himmelsdom ist ein Vorzug der Ebene; gewährt er doch den besonderen Reiz, daß die Wolken uns oft die herrlichsten Hochgebirgsbilder an dem Horizont des Abendhimmels vorzaubern.
Ein Werk dieser glücklichen Landschaftsgärtnerei ist auch das Leipziger Rosenthal, und es hat, wie Alles, was der Mensch in seinen Besitz genommen, auch seine Geschichte. Schon im Jahre 1318 wird das „Rosinthal“ genannt; es bestand aus Aeckern, Gehölz und einer „langen Wiese“, die zu dem Dorfe Pfaffendorf gehörten, das längst untergegangen ist und an welches nur noch ein Oekonomiegut erinnert und der Name einer Straße Leipzigs.
In den Besitz der Stadt kam das Rosenthal erst im Jahre 1663. Schon damals war es ein Lieblingsaufenthalt der Leipziger, denn alte Schriften erzählen uns, „daß in diesem Forste zur Sommerszeit manche Spazierfahrt Ergötzlichkeit halber angestellt wurde, weil selbiger der Stadt sehr nahe läge und man durch ihn bis Gohlis meistentheils im Schatten gehen, oder auch nach Gelegenheit auf dem Wasser fahren könnte.“
Der Park von heute ist ein Werk des 18. Jahrhunderts. Die erste Anregung dazu gab König August der Starke, auf dessen Andeutung Wege durch das Gehölz angelegt und durch Abholzungen nach verschiedenen Richtungen Fernsichten erzielt wurden. Die Vollendung des großen Waldparks kam in die beste Hand: der Schöpfer der Leipziger Promenaden, Bürgermeister und Kriegsrath Müller, vollendete sie. Auch an einem Curiosum mangelt es unserem Lustpark nicht. Im Jahre 1749 erbaute, natürlich mit obrigkeitlicher Erlaubniß, ein alter Sonderling, der Mathematikus und Arzt Dr. Friedrich August Sandel, auf der großen Wiese des Rosenthales sich einen hölzernen Thurm, in welchem derselbe astronomische Studien trieb. In einen langen grauen Rock gekleidet, brachte er die Nächte dort zu und wurde allmählich zu einer so unheimlichen Erscheinung, daß er namentlich in den Köpfen der Fischer, denen er wohl bei ihrer Arbeit in der Elster und Pleiße im Leben manchen Schabernack gespielt, noch lange nach seinem Tode als graues Gespenst umging. Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, seitdem der alte Sandel nicht mehr spukt.
Eine andere „wunderbare Erscheinung im Leipziger Rosenthal“ – den Tod des berüchtigten Schrepfer – haben wir unseren Lesern im Jahrgang 1874, S. 662 erzählt.
Unternehmen wir nun, Dotzauer’s Illustrationen in der Hand, einen Spaziergang zu den Stellen des Rosenthals, die wir in denselben vor uns haben! Wir beginnen zur Linken und verfolgen die Bilderreihe nach rechts hin.
Das erste Bild führt uns bei Mondenschein an das Ufer der Elster, welche die linke (westliche) Seite des Rosenthals begrenzt; nach Nordosten und Norden wird es von der Pleiße umschlossen.
Im nächsten Bilde begrüßen wir „Leipzigs gottesfürchtigen Dichter in seinem Lieblingshain“. (Vergl. „Gartenlaube“ 1865, S. 171.) Der alte Gellert steht vor uns, sowie er einst täglich im Rosenthal zu lustwandeln pflegte, für diesen Fall jedoch vom Meister Hermann Knauer im Festgewand dargestellt, wie sich dies nicht anders geziemte. Auf einem hohen Postament von Rochlitzer Porphyr erhebt sich das weiße Marmorstandbild und gewährt mit dem frischen grünen Hintergrund einen wohlthuenden Anblick. Bekanntlich hatte der alte Gellert damals allein die Erlaubniß, im Rosenthal spazieren reiten zu dürfen; Knauer hat jedoch für sein Denkmal von dieser Auszeichnung des Dichters keinen Gebrauch machen können.
Hier erwähnen wir gleich ein zweites Denkmal, welches auf unserer Illustration keinen Raum gefunden: dasjenige Karl Friedrich Zöllner’s, des Liedercomponisten und Gesangvereinsgründers, der, am 17. März 1800 geboren, am 25. September 1860 gestorben ist, und dem zu Ehren seit 1861 der größte Verein von Leipziger Liedertafeln sich „Zöllnerbund“ nennt.
Das dritte Bild der obersten Reihe stellt eine Partie von dem hinteren (sogenannten „wilden“) Rosenthale dar. Auf der Ruhebank unter einer alten Eiche ist der Blick nach Wahren und Möckern hin frei, der berühmten Schlachtfeldstätte, auf welcher am 16. October 1813 Blücher mit den Preußen über die Franzosen unter Marmont siegte.
Im vierten Bilde wandeln wir auf dem dammartigen Hauptwege nach Gohlis. Das Mittelbild stellt die schon genannte „große Wiese“ dar, die von einem Weiher belebt und von dem Kranze des Eichenwaldes umgeben ist, in welchem die Lustwege sich hinziehen. Im Hintergrund sehen wir die Eingangspforte zum Park und den Thurm der St. Matthäi-Kirche. Einen überraschenderen Anblick gewährt vom Eingangsthore selbst diese Wiese mit dem prächtigen Waldhintergrund. – Das sechste Bild zeigt uns eine der Waldlichtungen, und das achte (wieder links unten) eine andere mit dem Durchblick bis zum Gohliser Schlosse. Hier mag Friedrich Schiller, während er (1785) in dem bescheidenen Häuschen in Gohlis wohnte, wohl oft, mit seinem „Don Carlos“ in Kopf und Herzen, geweilt haben.
Im ersten der unteren drei Mittelbildchen führt ein Dammweg von der Leipziger Waldstraße zur Restauration „Moritzburg“. Unter der alten Eiche im Rundbildchen ist ein ernster Ruheplatz für Alle, welchen ein Kämpfer in unserem „letzten Krieg um den Rhein“ – im Siegerheimzug fehlte. Der Blick von hier ruht auf der Friedenseiche, welche „Ihren in den Siegeskämpfen 1870–1871 gefallenen Söhnen die Stadt Leipzig“ hier gepflanzt hat. (Vergl. „Gartenlaube“ 1871, S. 741.) Neben diesem Bildchen hat der schönste Baum der großen Wiese, eine alte frische Eiche, Platz gefunden. Im letzten Bild tritt uns eine Partie des „wilden Rosenthals“ vor Augen. Zeichnete sich dasselbe durch einen besonderen Reichthum an wilden Rosen aus, so gäbe dies eine Erklärung für den Namen „Rosenthal“, dessen Ursprung aber jetzt in seinem Dunkel verharrt. – Die gesellschaftlichen Anziehungspunkte dieses Waldparks sind „Bonorand’s Kaffeehaus“, das „Schweizerhäuschen Kintschy’s“ und neuerdings auch „Ernst Pinkert’s Zoologischer Garten“, der mit dem Rosenthal nunmehr in Zusammenhang gebracht ist. Diese drei Vergnügungs- und Unterhaltungsanstalten werden, wie bisher allen anderen Festgästen Leipzigs, so auch den „Schützengästen“ nicht unbekannt bleiben. Fr. Hfm.
Der erste Gang in den Kindergarten. (Illustration S. 477.) Ein erster Gang ist für keinen Menschen gleichgültig, in welchem Alter derselbe ihn auch ausführen muß, und jeder erste Gang behält seine Aehnlichkeit mit dem ersten Schrittchen des Kindes: zagend wird es gewagt, und gelingt es, welcher Jubel!
Wer erinnert sich nicht seines ersten Ganges in die Schule? Da muß Allen Muth eingeredet werden, denn die Scheu vor dem Neuen, Ungewöhnlichen, die Angst, zum ersten Male nicht im Schutze der Mutter, sondern, aus dem Elternhause fortgeführt, zwischen anderen fremden Kindern und vor einem fremden Mann und in einem fremden Raum zu sein, – dieses Gefühl der Bangigkeit ist in allen Kinderherzen das gleiche.
In die Kleinkinderschulen und in die Kindergärten kommen die Kinder noch im Alter größerer Unbefangenheit, wie dies auf unserem Bilde auch der Künstler betont hat. Der Knabe zur äußersten Rechten schaut ziemlich keck um sich, das Mädchen zu den Füßen des alten Mannes auf der Linken des Bildes, offenbar des Großvaters, hält harmlos ihre Puppe und zeigt ihrem Gegenüber den geschenkt erhaltenen Ball oder Apfel, ja, der vor dem Fenster stehenden freundlichen Schwester küßt sogar eine der kleinen künftigen Schülerinnen schon ganz vertraulich die Hand! Freilich fehlt es auch an einigen recht zaghaften Gestalten nicht, die jedoch in der Minderzahl sind.
Die Kleinkinderschulen verdanken bekanntlich ihre Entstehung der Sorge für die armen Kleinen, deren Eltern den ganzen Tag der Arbeit nachgehen und ihre Kinder sich selbst überlassen müssen. Das rief in Holland die „Spielschulen“ in’s Leben, die, von Pestalozzi empfohlen und von Oberlin und der Fürstin Pauline von Lippe-Detmold sowie von Robert Owen in England weiter ausgebildet, rasch in Deutschland weite Verbreitung fanden. Ihrer nahmen sich auch die Diaconissinnen in der evangelischen und die weiblichen Orden in der katholischen Kirche an, und beide leisteten auf diesem Gebiete viel Segenbringendes, namentlich, da sie ihre Thätigkeit nicht auf die Städte beschränkten, sondern auch auf ländliche Bezirke ausdehnten. Erst später traten mit ihnen auch die Fröbel’schen Kindergärten in Verbindung.
Leicht entbehrlich. An der Hoftafel Kaiser Joseph’s II. war einst die Rede von einer bevorstehenden Gesandtschaft an den Sultan, die dem Beherrscher der Gläubigen eine nothwendige, aber bedeutungslose Mission zu überbringen hatte; der Kaiser äußerte bei dieser Gelegenheit, daß es ihm schwer falle, den passenden Gesandten für diesen Zweck zu erlesen.
„Warum schicken Euer Majestät nicht den Marquis L* nach Constantinopel?“ meinte ein junger, angehender Diplomat vorlaut; „das ist doch ein geistreicher Cavalier, der den Sultan unterhalten wird.“
„Lieber Graf,“ meinte Joseph lächelnd, „die geistreichen Leute brauche ich selber nothwendig, da ihrer leider so wenig vorhanden; aber wißt Ihr, lieber Freund, – da ich Euch hier weit eher entbehren kann, als den Marquis, so mögt Ihr die Botschaft an den Großherrn in Gottes Namen übernehmen.“ H. H.
„Die Kunst Geld zu machen“ lautet der Titel eines Artikels, der im Jahrgang 1883, Nr. 50 und 51 unseres Blattes erschien und in dem ein von dem berühmten Reclamenmacher P. T. Barnum verfaßtes gleichnamiges Büchlein besprochen wurde. Es dürfte viele unserer Leser interessiren, daß unser Mitarbeiter Leopold Katscher diese „nützlichen Winke und beherzigenswerthen Rathschläge“ Barnum’s in’s Deutsche übertragen hat. Die Broschüre ist im Verlage von Elwin Staude in Berlin erschienen.
[488] Ein Meistersänger und sein Sangesmeister. Am Opernhimmel ist in der Person des Tenoristen Emil Götze in Köln ein Stern ersten Ranges aufgegangen. Als derselbe im vorigen Jahre zum ersten Male als „Lohengrin“ auftrat, da verehrten ihm seine Kölner Freunde eine silberne Rüstung, und als er vor Kurzem den „Propheten“ sang, da statteten sie ihn mit einem Costüm aus, das Tausende von Mark gekostet hatte. Wohl selten hat aber auch die Natur einen Sänger so reich begabt wie diesen. Groß und kräftig gebaut, voll Jugendfrische und Anmuth, sicher und gewandt und ohne die leidigen Künstlercapricen tritt er auf der Bühne wie im gewöhnlichen Leben dem Publicum entgegen und nimmt schon durch seine äußere Erscheinung aller Herzen für sich ein. Und nun ist dieser Glückliche im Besitze einer wunderbaren Tenorstimme, die in ihrem Wohllaut, ihrer Fülle und Reinheit das Gemüth in seinen tiefsten Tiefen bewegt.
Götze ist ein Leipziger Kind, er wurde 1856 geboren. Frühzeitig entwickelte sich sein musikalisches Talent, und schon im achten Jahre wirkte er mit als Sänger bei den Aufführungen des berühmten Riedel’schen Vereins. Er widmete sich dem Kaufmannsstande und war bald der Liebling größerer und kleinerer Musikgesellschaften; aber Niemand fiel es ein, ihn auf den wahren Werth seiner Stimme aufmerksam zu machen. Da, zur rechten Stunde, lernte ihn bei einem Besuche in Leipzig Professor Scharfe kennen. Dieser, königlich sächsischer Professor der Musik und erster Gesanglehrer am Conservatorium in Dresden, erkannte sofort die Bedeutung einer solchen Stimme und machte die Direction des Dresdener Hoftheaters darauf aufmerksam. In Folge hiervon wurde nun Götze nach Dresden berufen und Scharfe mit seiner künstlerischen Ausbildung beauftragt. Jetzt war er in der besten Schule, denn Scharfe ist einer der vorzüglichsten Gesangspädagogen Deutschlands, der schon manchen trefflichen Künstler herangebildet hat.
Professor Scharfe war, bevor er sich der Musik widmete, Taubstummenlehrer, und diesem Umstande verdankt er, so seltsam dies auch klingt, zum guten Theile seine hervorragende Bedeutung als Gesangslehrer, denn er erwarb sich dadurch eine gründliche Kenntniß aller bei der Stimmbildung in Frage kommenden Factoren. In seinem großen bereits in fünfter Auflage erschienenen Werke „Methodische Darstellung der Entwickelung der Stimme von den Elementen bis zur künstlerischen Vollendung“ (Dresden, L. Hoffarth) begründet er seine Schule, deren Vorzüge besonders in einer deutlichen, edeln Textaussprache und einem vollständigen Beherrschen des gesammten Stimmmaterials bestehen. An Emil Götze fand nun Scharfe einen ebenso begabten wie fleißigen Schüler, der bereits nach zwei Jahren eifrigen Studiums bei seinem Meister und am Conservatorium in den Verband des Dresdener Hoftheaters aufgenommen wurde und sich gleich beim ersten Auftreten die volle Gunst des Publicums erwarb. Wo er später auch auftrat, er gewann im Sturm die Herzen. So in den berühmten Leipziger Gewandhausconcerten und als gefeierter Oratoriensänger, so namentlich auch jetzt und im vorigen Jahre in Berlin, wo er von dem Publicum mit dem größten Beifall belohnt wurde. Von Bedeutung für des jungen Sängers Zukunft waren die im Jahre 1881 von dem Impressario Julius Hofmann veranstalteten Opern-Vorstellungen im Carola-Theater zu Leipzig. Nicht nur, daß er sich hier die volle Sympathie seiner Vaterstadt errang, er schloß sich hier auch bleibend an Hofmann an, und als dieser die Direction des Kölner Stadttheaters übernahm, da folgte er ihm an den Rhein, und wie man ihn dort feiert, ist bereits Eingangs dieser Zeilen berichtet worden. Reich begabt, gebildet durch einen trefflichen Meister und geleitet von einem günstigen Geschick hat dies Kind des Glückes den Lorbeer, nach dem Andere so mühsam ringen müssen, wie im Fluge erhascht.
Papierstatistik. Wohl ironisch hat man unserm Jahrhundert, welches sonst „das eiserne“ genannt wird, auch den Beinamen des „papiernen“ gegeben. Aber diese Benennung hat ihre gewisse Berechtigung, denn der Verbrauch dieser leichten Waare ist in der That überraschend groß. Nach einer uns vorliegenden Statistik existiren in der Welt 3985 Papierfabriken, die jährlich 952 Millionen Kilogramm Papier herstellen. Die Zeitschriften allein verbrauchen davon gegen 300 Millionen Kilogramm. Auf die einzelnen Länder vertheilt sich der Verbrauch des Papiers ziemlich ungleich; denn wie unser Gewährsmann berechnet, consumiren jährlich: ein Engländer 111/2 Pfund, ein Amerikaner 101/4 Pfund, ein Deutscher 8 Pfund, ein Franzose 71/2 Pfund, je ein Italiener und Oesterreicher 31/2 Pfund, ein Mexicaner 2 Pfund, ein Spanier 11/2 Pfund und ein Russe 1 Pfund Papier.
Auflösung der Schach-Aufgabe Nr. 6 in Nr. 27:
Weiß: | Schwarz: |
1. S b 2 – c 4 | b 7 : T c 6 |
2. D b 1 – d 1 † | beliebig |
3. D d 1 – d 4 resp. d 6 † | beliebig |
4. S setzt matt. |
Varianten. a) 1. ..., K : T; 2. D e 4 : †, K d 7; 3. D b 7 : † etc. oder: 2. ..., K b 5; 3) S d 6 † etc. –
b) 1. ..., S f 2; 2. T b 6!, S d 3; 3. D b 3 : etc. oder: 2. ..., e 3; 3. S e 3 : † etc. –
c) 1. ..., b 5; 2. T d 6 †, K : S; 3. T d 4 † etc. –
d) 1. ..., a 4; 2. T d 6 †, K : S; 3. D c 1 † etc. Die allgemeine Drohung ist: 2. T b 6 etc.
Auflösung des magischen Tableaus: „Der Hund und die Wespen“ in Nr. 27. Man numerirt die Kreise und zwar von außen nach innen mit 1–5. Die Nummer des Kreises, in welcher die Wespe mit ihrem Buchstaben sich befindet, zeigt dann die Reihenfolge an, in der die Buchstaben zum Worte verbunden werden müssen. Der so gebildete Satz heißt: „Viel Feind, viel Ehr.“
Auflösung des Rösselsprungs in Nr. 27:
„Was ich vom Kunstwerk will? Daß es schön und sich selber genug sei.
In dem Einen Gesetz wohnen die übrigen all.“
Emanuel Geibel. Geboren in Lübeck den 18. October 1815,
gestorben in Lübeck den 6. April 1884.
Inhalt: