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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 52.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


An unsere Leser.


Einunddreißig Jahre sind verflossen, seit die „Gartenlaube“ zum ersten Male erschien, und in dieser Zeit hat sie sich über ganz Deutschland, und weit über dessen Grenzen hinaus, in alle Theile der Welt, wo nur immer Deutsche wohnen, verbreitet. Ueberallhin den deutschen Gedanken tragend, die Liebe zur Heimath pflegend, Erhebung und Erheiterung den weitesten Volkskreisen bietend, hat sie in ihrer Weise auch an der Einigung des Vaterlandes redlich und erfolgreich mitgearbeitet und ist im besten Sinne des Worts ein Deutsches Volks- und Familienblatt geworden.

In dieser Eigenschaft ist die „Gartenlaube“ von keinem anderen deutschen Blatte je erreicht, geschweige denn übertroffen worden. Dies beweist ihre jetzige wirkliche Auflage von 224,000 Exemplaren, beweist ein Stamm von Lesern, welcher in unwandelbarer Treue zu seiner „Gartenlaube“ steht und welchen in so imposanter Anzahl kein zweites belletristisches Blatt des In- und Auslandes aufzuweisen hat.

Diesen Stamm alter, treuer Abonnenten zu erhalten, soll unsere vornehmste Aufgabe sein. Wir werden an den Grundlagen des bewährten Programms festhalten und in dem Rahmen desselben die neuen Aufgaben zu lösen suchen, welche die Zeit unabweisbar mit sich bringt.

Die „Gartenlaube“ wird fernerhin ein deutsches Blatt bleiben und auf dem Boden der gewonnenen Einheit bestrebt sein, das Band nationaler Zusammengehörigkeit zwischen Nord und Süd, Ost und West fester zu schlingen, dabei aber namentlich die Interessen aller Bruderstämme kräftig wahrnehmen, die jenseits der Reichsgrenzen um ihr Deutschthum kämpfen.

Sie wird ein Volksblatt bleiben und alle Fragen beleuchten, die das Wohl des Bürgerstandes betreffen, alle Einrichtungen zu fördern suchen, die das Loos der arbeitenden Classen verbessern können; sie wird ein warmes Herz und ein offenes Ohr haben für Alle, die da hart ringen im Kampfe um’s Dasein.

Sie wird ein Familienblatt bleiben und Allen im Hause: der Frau wie dem Manne, den Söhnen wie den Töchtern, schöne Erzählungen und nützliche Belehrungen bringen und so den häuslichen Herd schmücken und das tägliche Leben veredeln helfen.

Dabei soll ein guter Bilderschmuck das Auge erfreuen, denn mit frischen Kräften wird eben daran gearbeitet, die „Gartenlaube“ mit den Werken unserer besten Meister zu bereichern und zu verschönern.

*  *   *

Die beliebtesten Erzähler und Erzählerinnen, die bedeutendsten populären Schriftsteller auf den verschiedensten Gebieten des Wissens haben sich mit Freuden bereit erklärt, in dem eben beginnenden neuen Jahrgang für fesselnde Unterhaltung und anregende Belehrung zu sorgen. Die gefeiertsten Künstler haben der „Gartenlaube“ ihr Talent zur Verfügung gestellt. Wir müssen aus Mangel an Raum darauf verzichten, die stattliche Reihe glänzender Namen hier einzeln aufzuführen, und uns darauf beschränken, die in der nächsten Zeit zur Veröffentlichung gelangenden Beiträge mitzutheilen.

An Novellen und Romanen nennen wir:

Ein armes Mädchen.   Die Frau mit den Karfunkelsteinen.   Die Erbin von Arholt.
Von W. Heimburg.   Von E. Marlitt.     Von Levin Schücking.
Dschapei.   Ditta’s Zopf.
Eine Hochlandsgeschichte   Eine Dorfgeschichte aus den Abruzzen
von Ludwig Ganghofer.   von Rosenthal-Bonin.

An unterhaltenden und belehrenden Artikeln nennen wir:

Die irrende Justiz und ihre Sühne. Von Fr. Helbig.Die Arbeitsmaschinen der Zukunft. Mittheilungen über die Fortschritte der Elektrotechnik von Dr. A. Bernstein.Die Skrophulose, eine sociale Krankheit. Von Dr. L. Fürst.Die Kindheit eines Riesen. Historie. Von Johannes Scherr.Die einzige im letzten großen Feldzuge verloren gegangene Fahne. Erinnerungen eines Augenzeugen. – Heißblütige Pflanzen. Von Carus Sterne.Reitochsen in Westafrika. Von Dr. M. Buchner.Auf dem Wendelstein. Von Karl Stieler.Maibaumsetzen in Steiermark. Von P. K. Rosegger.Thiercharaktere. Von K. und A. Müller.Der neue Anwalt der deutschen Genossenschaften.Die Sitze im Eisenbahnwagen. Von Otto Knille.Die deutsche Colonialfrage etc.

[838] Ferner werden wir bestrebt sein, die Rubrik kurzer Belehrungen und Mittheilungen möglichst mannigfaltig zu gestalten. Wir werden den Frauen praktische Winke für Küche und Haus ertheilen, auf Nützliches für den Hausgarten aufmerksam machen, allen Arbeitslustigen Quellen des Nebenerwerbs nachzuweisen suchen und auch nicht vergessen, durch Mittheilung hübscher Räthsel, Charaden, häuslicher Beschäftigungen und Spiele für Unterhaltung und Erheiterung im Familienkreise zu sorgen. Endlich soll ein Briefkasten auf Anfragen unserer Abonnenten, wo immer möglich, Rath und Auskunft ertheilen.

*  *   *

In diesem Sinne wollen wir unseres wichtigen Amtes walten, dem guten Alten Neues in zweckmäßigen Verbesserungen und ansprechenden Verschönerungen hinzufügend. Die altgewohnten Räume sollen dadurch ihren traulichen Charakter nicht verlieren und sein Lieblingsplätzchen soll auch für die Folge Jeder in der „Gartenlaube“ finden.

Möchten wir recht bald aus den Zustimmungen alter und neuer Freunde die freudige Gewißheit schöpfen können, daß wir uns in unserer Hoffnung nicht getäuscht haben, daß als der einzige Beweggrund all’ unserer Bemühungen der Wunsch erkannt werde:

Die „Gartenlaube“, würdig ihrer großen Vergangenheit und des Einflusses, welchen sie Jahrzehnte lang auf die Herzen des Deutschen Volkes geübt, hochzuhalten als das

erste Volks- und Familienblatt Deutschlands.

Leipzig, im December 1883. Die Redaction und Verlagshandlung der „Gartenlaube“. 


manicula Die „Gartenlaube“ kann auch künftig sowohl in wöchentlichen Nummern, als in Heften oder Halbheften bezogen werden und bleibt trotz der bedeutend schöneren Ausstattung der seitherige ungewöhnlich billige Preis bestehen.




Glockenstimmen.

Eine Bürgergeschichte aus dem 17. Jahrhundert.
Von Stefanie Keyser.
(Schluß.)

Geduld pflegt sich gemeiniglich erst bei denjenigen Menschen einzustellen, deren Kraft gebrochen ist, und die nun aus der Noth noch eine Tugend machen. Dazu war Johanne von zu starker, fester Beschaffenheit. Das von Trinen empfohlene Mittel sollte und mußte helfen. Erst hoffte sie auf Fabian Sebastian, da fängt der Baum zu saften an. Nun würde doch die alte Weide ihre Schuldigkeit thun, färbten doch ihre Zweige sich schon röthlich. Als das nicht half, baute sie auf den Frühling. Endlich lugten die Schneeglöckchen aus der Erde, die grünen Blüthenhüllen wie Käpplein über die weißen Köpfchen gezogen. Dann grünte der Kranz von Linden um die rothen Ziegeldächer der Stadt der Aaren, daß man verstand, warum Luther sie einer Schüssel gesottner Krebse, mit Petersilie verziert, verglichen hatte.

Aber Johannens Herzspanne wollte nicht weichen. Da gedachte sie einmal nachzusehen, ob die Liebe noch nicht in die Weide verwachsen wolle. Sie wand sich durch die Himbeerbüsche, welche die feuchte Ecke am Brunnenhaus abschlossen, und spähte nach dem verspündeten Angedenken. Aber ein Schreck durchzuckte sie. Die angebohrte Stelle des alten Weidenbaumes war zerbröckelt im Laufe des Winters, der Pflock rollte seitwärts, und Läppchen und Locke waren verschwunden. Wie gelähmt stand sie und schaute auf den zerstörten Zauber. Da war es freilich kein Wunder, daß ihr Herzeleid nicht verging.

Es war so friedlich und still um sie. Nur leise und kühl, wie eine milde Hand, strich der Wind über ihre glühenden Wangen. Aus den säuselnden Weidenzweigen drang das süße Lied eines kleinen Vogels. Johanne blickte auf. Da droben saß ein Hänfling, und dort hing auch das Nest, dem er zusang. Aber was schimmerte da blau aus dem zierlichen Bau? Sie spähte todterschrocken hin. Ihre scharfen Augen erkannten das Läppchen. Die Hänflinge hatten es zu Nest getragen, und nun schaute die Hänflingin stolz darüber hinaus, wie Frauen über die Teppiche, die sie zur Zierrath bei Festen vor die Fenster hängen.

Johannens erster Gedanke war, nach einer Stange zu springen und ihr Eigenthum wieder zu erlangen. Aber dann hätte sie das Nest zerstören, das genügsame, glückliche Pärlein heimathlos machen müssen. Und hatten sie nicht richtig prophezeit? Vielleicht hielt Hermann in diesem Jahre Hochzeit? Mochten die Hänflinge geruhig weiter hinter dem blauen Angedenken wohnen.

„Mir soll einmal nicht geholfen werden,“ sprach sie trostlos und ging heim.

Der milde Abend hatte die Menschen herausgelockt. Ueberall saßen sie vor ihren Hausthüren, statteten sich gegenseitig Besuch allda ab und plauderten und lachten mit einander. Auch vor der Papiermühle hatte Frau Henningin mit dem Vormund und der Muhme auf der Bank Platz genommen und erholte sich von des Tages Last und Arbeit. Es gab jetzunder viel zu schaffen; denn in der Kürze wurde Zacharias erwartet, um Vorbereitungen für seinen zukünftigen Haushalt zu treffen. Die hochgeachtete Marzibilla hatte eingewilligt, im Herbst gen Arnstadt zu ziehen und allda mit Zacharias in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Vor ihrem Vater, der sie in die Ehe gab, mußte Zacharias doch als großer Bürger bestehen können.

Es war dunkel geworden. Die Kinder, welche auf dem Liebfrauenkirchhof zwischen versunkenen Grabsteinen Verstecken gespielt hatten, kamen müde herbei. Benjaminlein stieg auf Johannens Schooß. Man hörte die helle Schloßthurmglocke die neunte Stunde schlagen.

„Heut haben sie auf der Neidecke den Filzreif von der silbernen Glocke genommen, die unser Bellicosus dort aufgehängt hat,“ meinte Bastian. „Für gewöhnlich ist er darum gelegt, auf daß unsere kleinen Kinder nicht aufwachen. Hermann hat es uns erzählt. Gelt, Hanne?“

Die Muhme wickelte die Daumen um einander. „Wärme ja nicht das Gedächtniß an den Kukuk auf, den Ihr in Eurem Nest groß gezogen habt. Der schlaue Bursch ist sein Schusterpech los geworden, inmaßen er die Glockengießerin freit; an der Hanne aber ist es hängen geblieben.“

Johanne antwortete nicht. Ihr Muth war so gänzlich darnieder geschlagen, daß sie wehrlos Kränkungen über sich ergehen ließ. Die Muhme schüttelte den Kopf.

Die Unterhaltung wollte auch gar nicht in Gang kommen. „Es ist anjetzo recht still in der Welt geworden,“ seufzte sie. „Sonst ging kein Tag vorüber, an dem nicht in der Flur ein Mensch von einer giftigen Kugel erschossen gefunden oder eine Jungfer beleidigt wurde. Und nun ereignet sich nichts mehr, was des Erlebens werth wäre.“

Da schlug plötzlich auf dem Glockenthurm eine Glocke in eiligen Schlägen an und erfüllte die Luft mit wirrem Geläut.

„Das ist Sturm!“ sprach der Rathsbrunnenmeister. „Ist die Kriegsfurie wieder los? Oder ist ein Feuer aufgegangen?“

„Ihr habt es beschrieen, Muhme,“ jammerte die Frau Henningin. „Nun haben wir das Unglück.“

„Am Erfurter Thor brennt es,“ rief die Schmidtin, nach Norden zeigend, wo den Himmel ein feuriges Roth überzog. „Gevatter Brunnenmeister, eilt, daß Ihr in Euer Haus kommt.“

Der Gevatter schaute sich ruhig um. „Mein Platz ist als Rathsbrunnenmeister auf dem Markte. Und wer ein Amt hat, der warte desselben.“ Damit schritt er von dannen.

Die Muhme folgte mit Frau Henningin nach. Nur Johanne [839] blieb. Sie rief die Geschwister zusammen und ging gelassen in das Haus. Tiefes Herzeleid macht gegen äußere Sorgen und Schrecknisse unempfindlich.

Auf dem Markte wogte eine dunkle Menschenmenge durch einander, nur von der ausgehängten Rathhauslaterne beleuchtet. Noch wußte Niemand, wo das Feuer aufgegangen war, aber Alle bereiteten sich zu seiner Bekämpfung vor. Die Schaarwächter schritten heran, die eisernen Pickelhauben auf den Köpfen, die Spieße über die Schultern gelegt. Die Zimmerleute und Maurer nahten eilig im Schurzfell mit Axt und Spitzhammer. Rathsknechte liefen nach den Feuerleitern im Leiterhäuschen, die Frauen ergriffen die Feuereimer, welche in langen Reihen im Rathhausflur hingen. Pferde trabten heran und wurden an die Wasserkufen gespannt, die um die mächtigen Brunnenbecken standen.

Und das Brausen der Menschen übertönend, wimmerte die Glocke in immer wilderen Schlägen. Da erschallte die Stimme des Bürgermeisters:

„Die Stadt wird nicht bedräut; fern von uns wüthet die Feuersbrunst. Droben vor dem Steigerwalde loht und qualmt es.“

Beruhigt schickten die Bürger sich an, heim zu gehen, als eine neue Hiobsbotschaft anlangte. Die Läuter hatten allzu eifrig ihrem Amte abgelegen und die Glocke war zersprungen. Daraus erwuchs eine große Ausgabe für die Stadtcasse. Im Groll hierüber fanden die Weiber ihren Muth wieder. Die Arme in die Seite gestemmt, traten sie, drohend mit den Pfauenschweifen nickend und ihre Meinung sagend, zusammen.

Allen voran zeterte die Muhme Schmidtin: „Daß Gott erbarm! Das ist ein sauberer Rath, der solche Himmelsstürmer zu Läutern bestellt hat! Und wer muß den Schaden tragen? Die Bürger, welche doch nichts für die Unfürsichtigkeit des Bürgermeisters können. Ihr braucht mich nicht anzustoßen, Frau Henningin. Eine Bürgers- und Meistersfrau läßt sich das Maul nicht zubinden.“

„Ei, seid doch ruhig, liebe Frau Nachbarin,“ begütigte der Rathskämmerer. „Es ist ja nur die Maria Magdalena, welche sprang. Und es ist an ihr nichts Erkleckliches verloren, da sie doch nur dazwischen quäkete wie ein altersschwaches Weib.“

„Eines alten Weibes Stimme ist auch nicht zu verachten,“ entgegnete zornig die Schmidtin; „denn obgleich der Herr sie also eingerichtet hat, daß sie quäket und zittert, so redet sie doch oft weiser und verständiger, als mancher Mann in Amt und Würden.“

Da trat der Rathsbrunnenmeister hinzu. „Liebe Nachbarinnen und Gevatterinnen, geht nur geruhig nach Haus. Es wird Alles auch ohne Euch genugsam erwogen und festgestellet werden. Und will ich doch verhoffen, daß unsere gute Stadt nicht zu arm sei, um ihre Glocke umgießen zu lassen, wenn selbiger etwas Menschliches begegnet.“

„Zu arm? Gott bewahre,“ lautete die Antwort. „Arnstadt ist wohl vermögend, also viele Glocken gießen zu lassen, wie ihm beliebt.“

Man zog stolz beruhigt ab.

In der Papiermühle rüstete die Familie sich zur Nachtruhe. Frau Henningin schaute wehmüthig nach dem Glockenthurm hinauf.

„So hat die alte Maria Magdalena ausgeklungen. Sie hat bei meiner Confirmation, Hochzeit, bei allen Taufen und Begräbnissen unserer Sippe geläutet. Auch diese Stimme werde ich nicht wieder hören.“

„Sie wird schöner wieder auferstehen,“ sprach Johanne. „Eine zersprungene Glocke läßt sich umgießen, ein zerbrochenes und zermürbtes Menschenherz nicht. Und wie viel Lärm wird um eine solche gemacht, und nach dem armen Herzen fragt Niemand.“




Droben am Steiger war es heißer hergegangen. Als die Feierabendstunde von den Dörfern nah und fern läutete, stellten auch die Holzhauer der Möhring’schen Gießhütte im Walde ihre Arbeit ein und rüsteten sich zur Heimkehr nach Erfurt. Nur hier und da waren noch Scheite aufzuschichten, noch ein paar Züge mit der Säge zu thun. Hermann Zimmermann schritt von einer Gruppe zur andern, ordnete an, was noch geschehen mußte, und schrieb die aufgebauten Klafter auf.

„Verzieht noch, bis Alle die Arbeit vollendet haben,“ befahl er. „Vereinzelt Euch nicht im Walde. Es scheint mir nicht ganz geheuer im Steiger zu sein. Es sollen unheimliche Gesellen sich hier und da gezeigt haben, und ich vernahm auch ferne Schüsse.“

Ein alter Holzhauer nickte bedeutungsvoll. „Ich habe im Rasen drunten an der Heerstraße einen frisch eingeschnittenen Gaunerzinken gefunden. Die Spitze des Pfeiles wies nach dem Steigerwalde. Da mögen die Heckenbrüder sich sammeln.“

Hermann schritt nach dem Waldhause hinüber, wo Eberhard seiner harrte. Er war ein schöner Mann geworden, der in den hohen Stiefeln, dem Schurzfell und mit der blinkenden Axt über der Schulter wie ein Bild kraftvoller Jugend erschien. Aber er schaute mit schwermüthigem Blicke um sich und schritt sonder Freude durch den Wald, ohne der Himmelschlüsseln zu achten, die aus dem Moospfühl emporblühten, ohne zu hören, was die Amseln und Drosseln von den mit jungem Laub bedeckten Birken und Buchen daherpfiffen.

Auch der Vetter, der auf der Bank neben der Thür des Holzhauses saß, sah unwirrsch aus. Er hatte Morcheln gefunden und schnitzte kleine hölzerne Spießchen, an denen die Schleckerbißlein gebraten werden sollten. Aber so zart auch die Schwämme erschienen, sie lockten kein Lächeln auf die feinschmeckenden Lippen des Obergesellen.

„Ich sage Dir, so geht es nicht weiter,“ sprach er finster. „Der Schlot mit seiner Zahnlücke ist noch immer nicht ausgeflickt. Aber sie“ – er deutete mit dem Daumen hinter sich – „will sich durchaus ein plümerantenes Kleid kaufen. Der liebe Gott weiß, was das für ein Ungethüm sein mag; denn da das ganze Weibsvolk jetzo darauf versessen ist, kann es nur etwas Verdrehtes sein. Da wird wieder das schöne Geld wie Rauch hinaus fliegen mit dem Versprechen, nimmermehr wieder zu kommen. Es ist eine klamme Zeit. Arbeit giebt es nicht viel; denn die Menschen mühen sich um das tägliche Brod. Da können sie nicht an ihre spolirten Kirchen denken. Das Geld ist rar, Auslagen müssen wir bei jeglichem Guß machen und den dürftigen Gemeinden Zeit zur Zahlung lassen. Dazu bimmelt das Steuerglöcklein unaufhörlich: Bringt Geld! bringt Geld! um die letzten Kriegscontributionen zu bezahlen. Ich habe sogar meinen Sparpfennig in die Gießhalle gesteckt. Und mein Tobak ist auch zu Ende,“ schloß er ärgerlich.

„Wir sind nicht die Einzigen, welche mit dem Elend ringen,“ tröstete Hermann. „Das ganze deutsche Volk ist unser Leidenscumpan. Was sollte aus unserem Vaterland werden, so Alle entmuthigt die Hände sinken ließen? Jetzo ist der Friede gekommen. Seht, wie viele Aecker sind wohl bestellt, und der gütige Gott verheißt reichen Erntesegen. Dann werden auch die Menschen dem himmlischen Vater danken wollen und die Kirchen, denen der grimme Kriegsbelial die Glocken entrissen hat, wieder mit solchen zieren. Ist es nicht ein schönes Tagewerk, dafür Sorge zu tragen, daß die ernste Stimme aus den Lüften allenthalben wieder der Menschheit zurufen kann: Nun ruhet aus vom Arbeiten und Sammeln irdischer Schätze und gedenket eurer besseren Heimath. Darum wollen wir nicht verzagen. Ein tüchtiger Mann überwindet ein widriges Geschick.“

Eberhard war gerührt, und da wurde er allezeit grob.

„Sind wir etwa tüchtige Männer?“ polterte er. „Pantoffelhelden sind wir, arbeiten nur, auf daß sie“ – sein Daumen fuhr über die Schulter – „die schönen Thaler durch ihre runden Finger fallen läßt wie durch ein Sieb. Gleich einer Glocke versenkt sie sich in einen Sumpf und klagt dann noch aus der Tiefe über das, was sie sich selbst angethan hat.“

Hermann hatte in die Ferne gelauscht, aus der ein schriller Pfiff tönte. Jetzt wandte er sich wieder dem Vetter zu. „Ihr thut ihr Unrecht; sie ist eine gute Frau.“

„Das ist wenig genug. Sie hat ein Herz so weich als ein Butterweck,“ schalt Eberhard.

Hermann’s Lippen zuckten. „Nein, es ist viel, schier möchte ich sagen Alles bei einem Weibe.“

Eberhard fuhr auf. „Thue mir die einzige Liebe und sei nicht so weichlich. Ich kann es nicht ersehen, wenn die Meisterin Dich so hätschelt, anäugelt und vollstopft. Es ekelt mich an. O, ich wäre schon längst fortgegangen, wenn die Glocken mir nicht so an’s Herz gewachsen wären. Die Weiber bedürfen eines starken Herrn, der ihren Thorheiten die Pässe verlegt. Denke daran: Manneshand oben.“

„Hätte Euer Gemüth sich todtwund gerieben an einem Kieselstein, Ihr würdet andere Meinung hegen von einem milden Frauenherzen,“ antwortete Hermann. „Aber Ihr habt Recht, sie bedürfte eines starken Herrn, und es will mich bedünken, als harre sie nur auf die feste Hand, unter welche sie sich zu beugen hat.“

[840] „Weißt Du etwa eine solche?“ fragte lauernd der Obergesell, und die Falte zwischen den dunklen Brauen wurde noch tiefer. „Laß Dich warnen, das Ehekreuz auf den Rücken zu nehmen und in den Wehestand zu treten. Es muß doch etwas an dem Elend sein; denn kein Stand auf der Welt hat so viele jämmerliche Namen bekommen als der heilige Ehestand.“

„Schämt Euch, Vetter!“ sprach Hermann ernst.

Es war dunkel geworden. Die Leute hatten sich versammelt und harrten des Befehls zum Aufbruch. Aber Hermann stand und spähte in die Weite. In Walthersleben huben plötzlich die Hunde ein wüthendes Gebell an. Dann tönte ein lauter Ruf durch die Nacht, wildes Schreien, dumpfe Schläge, wie gegen Thüren und Thore, und plötzlich krachten Schüsse.

„Das ist ein Ueberfall von Raubgesindel in Walthersleben,“ rief Hermann, seine Axt fassend. „Rasch folgt mir, daß wir zu Hülfe kommen.“

Die Holzhauer eilten ihm nach. Der Vetter zog das lange Messer und schloß sich der wehrhaften Schaar an. In großer Geschwinde trabten sie über frisch gepflügte Aecker und Wiesenraine hinüber, wo der Umriß des Kirchthurmes sich schwarz vom Himmel abzeichnete. Aengstliche Glockenschläge sandte er in die Nacht hinaus. Und jetzt stieg eine rothe Flamme mitten im Dorfe auf.

„Sie haben den Bauern den rothen Hahn auf das Dach gesetzt,“ riefen Hermann’s Leute und verdoppelten ihre Schritte.

Wirres Geschrei, Gebrüll, Gewimmer tönte ihnen entgegen, dazwischen das lustige Soldatenlied:

„Laßt uns uns’ren Tag genießen,
Gott weiß, wo wir morgen sein.“

Nun waren sie am Eingang. Die aufsteigende Flamme verbreitete Tageshelle. In der Dorfgasse kämpften die Bauern, mit Dreschflegel, Sense und Mistgabel bewaffnet, gegen das Raubgesindel: wilde bärtige Gesellen, aus deren verwitterter, zersetzter Kleidung die ehemaligen Kriegsknechte zu erkennen waren. Schiebochsen, wie die Pikeniere genannt wurden, rannten mit ihren Spießen an; zerlumpte Musketiere, denen von ihrer Bewaffnung nichts geblieben war als die Gabel, darauf die Muskete beim Feuern gelegt wurde, schlugen mit den metallenen Hörnern derselben drein; Arkebusiere, jetzo stolz zu Fuß, wie sonst hoch zu Roß, feuerten mit ihren Handrohren dazwischen. Die Bauern wehrten sich vereinzelt und mußten weichen.

Da drangen mit lautem Halloh die Erfurter in das Getümmel. Ihre Aexte und Beile fielen in wuchtigen Schlägen auf die verlotterten Martissöhne nieder, daß diese zu weichen begannen. Hermann sammelte mit lautem Zuruf seine Leute und folgte ihnen auf dem Fuße nach.

Unter der Tanzlinde hatte der Hauptmann der Bande sein Quartier aufgeschlagen. Karren und Lastthiere hielten hier, und die Schnapphähne schleppten heran, was sie zusammen geraubt hatten. Es war ein gräulicher Kerl, aus dessen wüstem Gesicht eine rothe Nase, groß wie eine Gurke, leuchtete. Stiefel, weit wie Bottiche, mit ellenlangen Sporen, schlotterten um seine Beine, ein riesiger Schlapphut war über das einzige Auge gedrückt, ein zweihändiges Schwert klirrte an seiner Seite und sein Gurt war mit Dolchen und Radpistolen gespickt. In den Ohren trug er große Silberringe, und um den Hals in vielen Windungen eine goldene Kette.

„Potz Blut! Schlagt Alles entzwei!“ scharmuzierte er. „Töpfe und Pfannen – das Fleisch mundet am besten am Spieß gebraten. Her mit dem Schnapsfäßchen! Gebt dem Schänkwirth dafür den Schwedentrunk! Der ist viel stärker als jeder Wein der Welt. Will der Bauer nicht sagen, wo er sein Geld versteckt hat, so schraubt seine Daumen statt des Steines auf die Pistole. Sperrt und ziert Euch nicht, ihr Dirnen!“ rief er ein paar Mädchen zu, die gebunden herbeigeschleppt wurden. „Ihr werdet brave Soldatenweiber, fahrt auf dem Wagen und eßt Brod, das Ihr nicht gebaut habt. Wenn’s wieder los geht, seid Ihr bald mit obenan. Die mit dem gelben Zopf behalte ich für mich.“

Um diese Bestie in Menschengestalt sammelten sich die Mausköpfe. Aber die mannhafte Erfurter Schaar focht das gar nicht an. Die Bauern hatten sich zu ihnen gesellt, und hauend und stechend drangen sie auf die Räuber ein. Mit wuchtigen Hieben bahnte Hermann sich den Weg zum Hauptmann.

„Daß Dich Gottes Element schände!“ kollerte das Scheusal. „Willst Du den Soldaten, der für Euch Stubenhocker sich hat todt schlagen lassen, hindern, sein Brod zu nehmen, das Ihr ihm weigert, so soll Dich der Donner sechs Klaftern tief in die Erde schlagen!“

Er richtete seinen Fäustling auf Hermann. Der Schuß fiel. In demselben Augenblicke aber sauste die Axt herab und zerbrach den Schädel des Hauptmanns, daß Blut und Hirn weit herum spritzte.

Ein Jubelruf der Erfurter antwortete auf Hermann’s That, und sein Häuflein, von den Bauern verstärkt, räumte mit den Räubern auf. Quartier wurde nicht gegeben. Das bis auf’s Blut gequälte Landvolk vertilgte das Ungeziefer. Noch eine kurze blutige Arbeit, dann verhallte der letzte Angstschrei, verstummte das letzte Todesröcheln. Der allergewaltigste Rumormeister Tod hatte die wilden Gesellen zahm gemacht.

Die Gemeinde und ihre nachbarlichen Beschützer eilten der Brandstätte zu. Hermann stand schon wieder auf dem Giebel eines lichterloh brennenden Hauses und schlug das qualmende Gebälk nieder.

Als der Morgen graute, war auch die Feuersgefahr getilgt, und nun berief der Schulze die Gemeinde auf den Platz unter der Linde. Einen Pfarrer gab es im Dörflein dermalen nicht. Der letzte war im Krieg umgekommen, ein neuer noch nicht eingesetzt. Aber der Schulmeister kletterte vom Glockenthurm herab, wo er gestürmt hatte. Die Weiber schlichen aus ihren Verstecken, aus dem Gehege, aus Gruben und Winkeln hervor. Die sieghaften Bauern traten in einen Ring. Es waren im Unglück hart gewordene Gestalten, mit finstern Gesichtern, wie aus bräunlichem Holz geschnitzt, mit Fäusten wie Eichenwurzeln.

Wegen der Leichen wurde nicht viel Federlesen gemacht. Wenn dazumal über jeden Erschlagenen ein Protokoll hätte aufgenommen werden sollen, so hätte die Menschheit in lauter Scribenten sich verwandeln müssen. Der Schulze ließ die Todten auflesen und befahl, sie draußen im Feld einzuscharren. Dann wurde die Beute herzu geschafft: Pferde, Wagen, Kleider, Waffen. Es sah aus wie auf einem Krempelmarkt. Da waren Armbänder aus Elenklauen; das entströmende Blut ihrer Träger zeigte, daß sie ihren Zweck, das Blut zu stillen, nicht zu erfüllen vermocht hatten; Medaillen, die als Amulette gegen Hieb und Schuß getragen worden waren, hatten nicht vor dem Dreschflegel geschützt; der Tod findet immer eine Lücke, auch in der festesten Verschanzung; auch Beutel mit Geld, Säcke, in denen geraubte Hühner, Speck und Würste staken.

Beim Schein der noch brennenden Schutthaufen suchten die geplünderten Leute ihr Eigenthum heraus, berieth der Schulze mit den Aeltesten, wie die Geschädigten zu befriedigen seien. Die Abgebrannten erhielten zusammengehämmerte Silbergeräthe; konnten leicht Abendmahlskelche gewesen sein, man fragte nicht darnach: „Noth kennt kein Gebot.“ Den Leuten aus der Gießhütte wurde mit Geld gelohnt. Auch dem Vetter wurde der gewünschte Antheil: ein großer Beutel voll Tobak. Hatte er doch grimmig um sich gestochen wie eine giftige Hornisse. Ein Ringlein mit dunklem Stein bat er sich noch aus.

„Der Achat schützt vor Liebestrunkenheit, ich will ihn einer vielwerthen Frau schenken,“ flüsterte er dem Schulzen zu, der einwilligend nickte.

Hermann saß auf einem verkohlten Pflug. Er war halb ohnmächtig. Die Kugel des Hauptmanns hatte ihn gestreift und das Blut rieselte an der Wange hernieder. Die gerettete Bauerndirne mit dem gelben Zopf band ihm ihr Tüchlein um die Wunde. Da trat der Schulze mit den Bauern zu ihm heran.

„Nehmt unsren Dank, wackrer Gesell,“ sprach er, „und diese güldne Kette von dem Räuberhauptmann als Beute-Antheil. Ihr habt sie redlich verdient, denn ohne Euer kräftiges Dreinschlagen möchte es itzo übel um uns bestellt sein.“

Hermann wollte sie abwehren, aber der Schulze bestand auf seinem Willen. „Es muß wieder Ordnung werden im deutschen Land und Jeder dazu thun, daß Gerechtigkeit geübt wird. Sie haben es in Erfurt nicht der Mühe werth gehalten, eine halbe Karthaune auf der Cyriaxburg zu lösen, da sie unser Feuerzeichen sahen, und auch aus dem sächsischen Amt unten sind uns auf unser Stürmen die Landreiter nicht zu Hülfe gekommen. Nun, wer nicht mit thatet, auch nicht mit rathet. Ihr aber nehmt den wohlverdienten Lohn, den Euch die ganze Gemeinde zubilligt.“

Hermann schaute schier bestürzt auf das Geschmeide, eine güldne Kette, an der allerhand kostbare Münzen hingen. Aber plötzlich blieb sein Blick starr an einem Goldstück haften. Er hob es zum Auge, seine Hand begann zu zittern.

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Reineke auf der Treibjagd. Originalzeichnung von L. Beckmann.

[842] „Hilf du heilige Dreifaltigkeit!“ las er mit stockendem Athem, und da, wo die Jahreszahl stehen sollte, war ein Eckchen herausgeschlagen. Der Glücksducaten des armen Häusleins, das man das Sterbekleid benamst hatte, kehrte zu dem armen Sohn desselben zurück, und wie es sich für ihn geziemte, zog er das Glück am güldnen Bande nach und legte es in die brave tapfere Hand.

Sein Vetter stand neben ihm und konnte seine Erschütterung nicht deuten. „Graut Dir vor dem Kleinod des Merodebruders?“ fragte er.

Hermann schüttelte das Haupt. „Wenn wir Alles von uns thun wollten, was mit Thränen getränkt wurde, es bliebe wahrlich wenig übrig. An uns ist’s, den Unsegen in Segen zu verkehren.“

„Welchen Segen Du gewißlich der Gießhütte zu Gute kommen lassen wirst,“ sagte Eberhard und lugte ihn mißtrauisch an. „Nun kannst Du sie leicht in die Hände bekommen, ohne daß Du Dich in ein fremdes Nest setzest.“

Hermann sah auf. „Das soll auch geschehen,“ sprach er.




Der Wind wehte über die Weizenstoppeln, die Hopfengärten standen verödet, das gelbe Laub der Linden trieb in den Lustgärten um Arnstadt. Die Schwalben hatten längst ihre Reise angetreten. Mit flüchtigem Pfeifen strichen schon die Meisen durch das fallende Laub der Weide und des Grafgünther-Birnbaumes im Brunnengärtchen.

Auch Johanne war mit Auszug und Abschied beschäftigt; denn die Jungfer Marzibilla war im Anzug und Zacharias ihr entgegen gereist. In den nächsten Tagen wollte die Mutter in die Wasserstube übersiedeln. Johanne schaffte früh und spät, um den Haushalt wohlbeschickt der Schwäherin übergeben zu können. Obgleich der Abend nahte, stand sie noch in der Küche. Ueber dem Herdfeuer schwebte ein blanker Kessel, und der darin wallende Honig verbreitete einen süßen Duft, während sie ihn mit dem Feimlöffel abschäumte. Die kleinen Blumengeister, deren vergängliche Hüllen längst verblüht und verweht waren, hielten in der heißen Fluth eine flüchtige traumhafte Auferstehung, und die Erinnerungen des jungen Mädchens erhoben sich mit ihnen.

„Eitel Lindenblüthe,“ flüsterte sie für sich. „Also duftete es auf dem Maienfest, da ich zum letzten Mal dort tanzte. Die Finken und Grasmücken schmetterten in den Zweigen, der Zinkenist und der Fiedler spielten auf, die Sonne funkelte durch die blühenden Zweige. Jegliche sprang mit ihrem Liebsten auf dem Anger. Nur ich schloß mein Herz fest zu, ließ den armen Hermann einsam unter den finstren Ulmen stehen und achtete seiner traurigen Augen nicht. Nun zünden sie Alle die Flammen des eignen Herdes an, die damals mit mir tanzten. Bärbchen hat sich ihr Herzgespiel durch Geduld und Nachsicht erstritten. Und Hermann ist des Harrens überdrüssig worden, und hat sich eine Gesponsin erkieset. Nur ich bin einsam geblieben, und meine Jugendfreude ist zerstiebt wie die Lindenblüthe, darin der köstliche Honig wuchs.“

Sie ergriff ein Körbchen, das angefüllt war mit kleinen blau bedufteten Schlehen, und während sie dieselben wie Perlen in den siedenden Honig streute, begleitete sie ihr Thun weiter mit leisen Worten: „Ein harter Reif hat die Früchte schon getroffen und wohl vorbereitet; denn nicht die liebe Sonne, sondern der harte Frost vermag sie zu zeitigen. Also ergeht es auch einem herben Gemüth. Nicht die milde Liebe, sondern Trübsal und Leiden vermögen es mürbe zu machen und für ein holderes Dasein zu reifen – zu spät.“

„Hanne, sprich lieber mit uns als mit dem schwarzen Topf,“ ertönte Benjamin’s feine Stimme, und der Kleine kletterte an Christel’s Hand mühsam über die hohe Schwelle in die Küche.

„Wart, Du darfst den Kessel auslecken,“ versprach sie, goß die eingesottnen Früchte in eine Steinbüchse und stellte sie zum Abkühlen auf das Topfbret. Den Kessel aber setzte sie auf die Erde und gab dem Kleinen sein Löffelchen. Während er die Tröpfchen zusammen schabte und sich einen gelben Bart auf die Rosenwänglein malte, hielt Christel einen Korb voll grüner Zweige und bleicher Herbstblumen ihrer Schwester unter die Augen.

„Ich habe zusammen geschnitten, was noch im Garten grünte und blühte. In der Schule wird der Kranz gewunden, den unsre Glocke morgen beim Aufziehen tragen soll. Sieh, auch ein verspätetes Rosenknöspchen ist dabei. Ein Streifchen Roth leuchtet heraus.“

Eine Thräne trat in Johannens Auge. Solch ein Knöspchen hatte er ihr an dem Tage gegeben, der sie für immer trennte, und sie hatte ihn dafür gescholten.

„Ach Hanne,“ plauderte Christel, während sie Buxbaum, Minze und weiße Astern zierlich in dem Korbe ordnete, „wie ich mich auf das Fest morgen freue! So was ist noch nicht dagewesen. Sechs Bürgersöhne sind abgesandt, jeglicher mit zwei Pferden, und sind dazu die schönsten ausgesucht, und das stattlichste Geschirr ist aufgelegt worden. Der Herr Bürgermeister hat schon Nachricht, daß der liebe Gott die derowegen in allen Kirchen gethanen Fürbitten erhört hat, und das Werk wohl gerathen ist. Auch soll die Frau Glockengießerin sich also billig gezeigt haben, daß die Rathsmannen darob sehr zufrieden sind. – Hast Du auch gehört, was der Rathsbrunnenmeister erzählte? Er ist mit den andern Rathsmannen in Erfurt gewesen wegen des Glockengusses. Da die Meisterin ihre drei Kreuze unter die Geschrift gesetzt hat, ist sie sehr lustig gewesen und hat gemeint: ‚Will’s Gott, sind’s die letzten, die ich zeichne. Das nächste Mal unterschreibt eine geschicktere Hand.‘ Und draußen auf dem Hof hat unser Hermann befohlen wie ein Kriegsoberster, aber der Arnstädter Rathsmannen gar nicht geachtet. Mich nimmt es baß Wunder, daß er so stolz geworden ist. Freilich! Er freit die Frau Glockengießerin, wie sie sagen.“

Sie lugte Johannen bedenklich an. Doch diese starrte regungslos in die verglimmenden Kohlen.

„Die Glocke kommt!“ schrie Bastian in die Küche.

„Die Glocke kommt!“ wiederholte Christel und rannte mit ihm davon.

Benjaminlein aber kam herbei, faßte Johannen an Hand und Schürze und zog sie hinaus. Schon sammelten sich die Menschen um die Liebfrauenkirche, und von fernher tönte der Lärm der heranwälzenden Volkswelle, welche die ankommende Glocke begleitete. Die Kirchenpforte wurde aufgethan, die Tragen, Balken und Hebel wurden gebracht, die nöthig waren, um die Glocke in das Innere der Kirche zu schaffen, von wo aus sie am andern Tage in den Thurm empor gezogen werden sollte. Aus allen Häusern eilten die Insassen herbei; der Platz füllte sich an. Die Letzte hinter der Menschenmauer erwartete Johanne den Zug.

Endlich bog das erste Paar der ziehenden Pferde auf den Kirchplatz ein, und die andern folgten langsam nach. Sie waren alle geschmückt mit grünen Zweigen und die Bürgersöhne, welche sie leiteten, in kostbarem Putz. Gemachsam rollte der Wagen mit der wie helles Gold glänzenden Glocke in den Kreis, welchen die Menschenmenge gebildet hatte. Ein lautes: „Ah!“ ertönte, und Alt und Jung drängte herbei, um den neuen Ankömmling recht genau zu beschauen. Da gewahrte man zierliche Schrift auf der Glocke, und von allen Seiten rief es: „Seht da, welch ein Verslein schmückt unsere Glocke? Legt es uns aus, Herr Küster.“

Der Küster als Schriftkundiger trat herzu und las mit lauter Stimme:

„Von altem Metall bin ich,
Gut und recht wohl mich
Gießen that in Erfurt Hermann Zimmermann
Nun Gott zu Lob ich klingen kann.“

„Hermann Zimmermann?“ murmelte es ringsum. „Das ist ein Arnstädter Name.“

Da arbeitete sich der Rathskämmerer durch die Menschen in den Kreis hinein und rief mit vor Bewegung bebender Stimme: „Mitbürger, unsere Stadt hat Freude und Ehre erlebt an ihrem Kinde. Ja, der Hermann Zimmermann ist ein tüchtiger Glockengießer geworden, und das ist sein Meisterstück, so er für seine liebe Vaterstadt gegossen hat. Prüfet selbst, ob solches wohl gerathen ist.“

Eine Stille des Erstaunens hatte bislang auf Allen gelegen. Nun brach der Jubel los. „Hermann Zimmermann hoch! Allezeit Arnstadt hoch!“ brauste es durch die Luft.

Johanne stand starr und still.

Da gleißte die Glocke wie eitel Gold im Abendsonnenschein. Ihr Wort war wahr geworden. Schöner war sie auferstanden, und der Name des armen Hiob stand für alle Zeiten auf der Glocke, die Arnstadt zum Gottesdienst rief. Nun war es eine Ehre, mit diesem Namen zusammen genannt zu werden.

Jetzt kam mit glühenden Wangen Christel geflogen. „Er ist da, ich habe ihn gesehen, wie er mit dem Herrn Bürgermeister [843] vom Rathhaus herabschritt und alle die Rathmannen mit ihm. Ach, und wie stattlich und schön sah er aus! Ein feines braunes Wams mit so großen blauen Röslein besetzt hatte er an und einen stattlichen aufgeschlagenen Hut in der Hand; denn auf den Kopf brachte er ihn nicht, so viel mußte er grüßen und danken.“

„Hanne, Hanne,“ schrie von weitem athemlos Bastian, „unser Hermann ist da.“

Jetzt theilte sich die Menge, und die Väter der Stadt erschienen, in ihrer Mitte der Glockengießer. Die Hüte flogen ab vor den Rathmannen. Aber nur einen Augenblick wurde es ehrerbietig still; dann stürzte Alt und Jung, Männer und Frauen auf Hermann Zimmermann zu. Um ihn willkommen zu heißen. Johanne wurde gänzlich zurückgedrängt.

Da war er nun, den sie sonst als ihr Eigenthum betrachtet hatte; aber jeder Andere stand ihm näher als sie. Alle die Menschen, die ihn sonst verachtet hatten, drückten ihm nun die Hände, und er schüttelte sie allen. Dann wandte er sich und traf seine Anordnungen für das Abladen der Glocke.

Mit zitternden Knieen ging sie in das Haus. Aus dem Giebelstüblein lugte sie verstohlen hinab. Christel hatte Recht gehabt: er war viel tausendmal schöner geworden. Und würdig und ehrenhaft erschien sein Gebahren. Aber herüber schaute er nicht, und das Herz erstarrte ihr zuletzt zu Stein in der Brust. Und dazu ertönte die Stimme der Frau Henningin: „Hanne, hast Du auch die Hammelkeule schon mit Salbei gespickt, damit wir morgen nicht zu viel zu schaffen haben? Bastian, wo ist das Bier auf? Wenn nur die Bürger ein Einsehen haben und bei der großen Fremdeneinkehr gute Gebräude aufthun und nicht gedenken, die säuerlichen Biere loszuwerden.“

Da nahte ein Mann in langem blauem Mantel, einen mächtigen Hut auf dem Kopfe, trat auf den freien Platz vor der Mühle und schrie nach allen Himmelsrichtungen hin: „Weizenbier ist aufgethan beim Herrn Nicolaus Fischer im großen Christophel.“

„Was, Bierrufer?“ fragte Frau Henningin aus dem Fenster, „der Herr Fischer hat selbst Bier auf?“

„Ja,“ nickte der wichtige Mann, „sein bestes Gebräude hat er aufgethan und gesagt: ,für den morgenden Ehrentag unserer Stadt ist nichts zu gut.’“

Johanne traute ihren Ohren nicht. Auch der Nikel maßte sich an, ihm nahe zu stehen, Freundschaft zu erweisen. Sie allein blieb ausgeschlossen. Und jetzt kam die Muhme Schmidtin athemlos an, wie immer mit Hausschlüssel und Laternchen.

„Daß Gott erbarm! Hat man eine solche Historie je erlebt? Aus dem lumpigen Buben ist ein fürnehmer Glockengießer geworden. Ich sagte es immer: Denkt an mich! aus dem wird noch einmal Etwas! Aber Herr Henning – Gott hab ihn selig! – trug seine spitze Nase zu hoch. Gott verzeih mir die Sünde! Und die Hanne hat ihr Glück verscherzt. Das kommt davon, wenn man immer oben hinaus will.“

„Er wird es uns doch nicht nachtragen?“ klagte Frau Henningin. „Was sollte die Stadt dazu sagen, so er uns nicht beehrte?“

Johanne sah von Einer zur Andern. Und um solchen Geredes willen, dieser armen wandelbaren Menschen wegen hatte sie das brave Herz gekränkt und von sich gestoßen! Die Muhme schlug vor ihrem Blick heimlich ein Kreuz.

Dann fuhr sie fort, auf das Herz der Frau Henningin Sorge zu bürden. „Wenn nur Seine Hochehrwürden morgen nichts versteht bei der Weihe! Sonst bekommt der Teufel Macht über die Glocke und wirft sie beim ersten Läuten zum Thurmfenster hinaus in den nächsten Tümpfel. Dann läutet sie in der Christnacht um zwölf Uhr, und wer sie hört, stirbt in demselben Jahr. Daß Gott erbarm! Wenn sie der Teufel in den Jungfernbrunnen stürzte, und es auch noch hinter Euch spukte, dieweil es schon neben Euch nicht geheuer ist.“

Und so verschien der Tag, und eine sternenhelle Herbstnacht sank herab.

Da kam noch einmal Hermann mit dem älteren Glockengießer, der ihn begleitete, auf den Friedhof und ermahnte die Wachen an der großen Winde und sah nach, ob auch Kirchenpforte und Thurmthür wohl verwahrt seien. Dann sah Hannchen ihn langsam mit dem Anderen von dannen gehen. Nur noch die im Dämmerschein wunderlich wie ein gespenstisches Ungethüm sich gestaltende Winde zeigte sich ihren Augen. Von ihr hing morgen Hermann’s Leben mit ab.

Dem Brauche gemäß mußte der Glockengießer, auf der Glocke stehend, mit himmelan fahren, als einzige Stütze die schwankende Glocke, als einzigen Halt das Glockenseil, als einzigen Beistand seinen Mannesmuth und ein festes Gottvertrauen. Die Geschicklichkeit und die Kenntniß seines Faches allein machten nicht den Meister; er mußte auch ein Mann sein und der Gefahr kühn in das Auge zu sehen vermögen.

Drunten klingelte die Hausthür und die Muhme wandelte eilig den beiden Glockengießern nach. Sie holte sie noch am Weißebach ein. Die Männer wollten sich wohl verkühlen nach der Plage des Tages. Doch also war es nicht beschlossen im Rathe der Muhme.

„Wünsche einen gesegneten Abend! Wer hätte das gedacht? Welche Ehre erlebt die Stadt an Euch, Meister Hermann!“

Hermann gab ihr stumm die Hand. Der Andere aber schwenkte seinen Hut und sprach: „Wie befindet Sie sich, werthe Frau Schmidtin?“

Diese verstauchte sich tief. „Ist mir doch die neue Titulatur im Leibe hinunter gefahren! Das hätte ich nicht gedacht von einem Manne, der nur aus Bittscht gebürtig ist; aber die Welt stehet auf dem Kopf. Danke der gütigen Nachfrage: wohlauf. Und Gesundheit ist immer das Beste. Aber in der Papiermühle sieht es übler aus. Die Mannsleute sind todt, der Aelteste wirft die andere Brut aus dem Nest und setzt sich hinein, die Kinder sind Rangen, die Frau ist schwach wie ein Lappen aus ihrer Lumpenkammer, und die Hanne wird eine alte Jungfer.“

„Die schöne Hanne eine alte Jungfer?“ fragte Eberhard und schaute den jungen Meister mit langem Blick an. Der aber stand mit abgewandtem Gesicht.

„Was sonst?“ lachte die Muhme höhnisch. „Hat sie gehört, als ich ihr sagte: die Freier schüttelt man nicht von den Bäumen? Was hat Fischer’s Nicolaus sich für Mühe gegeben! Was habe ich mit ihrer Mutter auf sie hineingepredigt! Gott bewahre! Bis zum Herrn Superintendenten ist sie gestürmt, worauf dieser der Frau Henningin in der nächsten Beichtrede den Kopf gewaschen hat. Wie viele Andere sind noch abgezogen. Jeglicher mit seinem wohlgeflochtnen Korb, und ich habe von all meiner Mühsal nur Unmutherei gehabt, weiter nichts. Nun geschieht ihr recht für ihre überzwerche Sprödigkeit, daß sie sitzen bleibt. Euch aber, Meister Zimmermann, wünsche ich Glück und Segen zu dem Ehebund mit der Frau Gießerin.“

Eberhard schlug eine wilde Lache auf, daß die Enten, die am Weißebach schliefen, quakend emporfuhren. Selbst die Muhme erschrak.

„Daß Gott erbarm! Ihr brüllt wie ein Wehrwolf. Daran merkt man doch noch, daß Ihr aus Bittscht gebürtig seid. Wünsche den edelgebornen Meistern wohl zu ruhen.“

Sie verstauchte sich, und die Männer gingen nach ihrer Herberge.




In voller Pracht stieg der andere Tag herauf. Zu allen Thoren strömten Landleute herein, welche die Feierlichkeit mit genießen wollten. Auf dem Pfeiferstuhl am Rathhaus blies der Stadtzinkenist am frühen Morgen einen Choral und dann ein lustig Stücklein, und mit wichtiger Miene erzählten sich die frisch gewaschenen und geputzten Kinder, daß zu mehrerer Erlustigung der Rath das große Uhrwerk angelassen habe und Punkt zwölf Uhr das Wappenthier der Stadt, der Adler, der über der Rathhausuhr thronte, sein schwarz-goldenes Gefieder schütteln werde. Die wackeren Bürgers- und Meistersfrauen aber nahmen ihre wohlgerathenen Bretzeln und Kuchen im Backhaus in Empfang und vertrauten dem Ofen dafür den Festbraten an; denn heute wollte keine zu Hause bleiben, sondern jegliche das Aufziehen der Glocke mit ansehen und von der Festpredigt sich auferbauen lassen. Lange bevor zur Kirche geläutet wurde, strömten schon die Andächtigen hinein. Endlich riefen die ehernen Stimmen zum Hause des Herrn. Die drei Glocken schlugen fröhlich an. Noch fehlte eine Mittelstimme. Es klang wie eine Frage: kommst du endlich wieder, dich zu uns zu gesellen?

Die beiden Glockengießer schieden am Kirchenportal mit einem Händedruck. Eberhard nahm seinen Platz an der großen Winde ein. Hermann schritt durch die Pforte. Die Orgel stimmte den Choral an, der Gottesdienst begann. Die Kirche war zum Erdrücken gefüllt. In den Frauenstühlen reihten sich [844] die goldbordirten Kirchenmäntel, die gesteiften Bürgerhauben an einander. Von den Emporen schauten in vierfachen Reihen die runden, vollwangigen Gesichter der Männer herab. Um die Orgel hatte die Schuljugend sich geschaart, die Kolben aufgerieben, die Stumpfnäschen sauber geputzt und half mit hellen Stimmen dem Cantor den Kirchengesang leiten. In den Gängen drängte sich zusammen, was keinen Kirchenstuhl sein Eigenthum nennen durfte: die arme Tagelöhnerin im schwarzen Sergemantel, die Bäuerin in Tuchmieder und bebänderter Mütze.

Der Currendeschüler, der berufen war, das silberne Rauchfaß durch die Kirche zu schwenken, konnte nur um den Altar herum seinen Dienst verrichten. Die Kirchenväter, welche an langen Stangen den rothsammetnen silbergestickten Klingelbeutel herumtrugen, den Pfennig für den Gotteskasten zu heischen, mußten abstehen von ihrem Unternehmen.

In dem braunen Stuhl des einen Seitenschiffes schmiegte Johanne sich scheu an einen grauen Steinpfeiler. Manches Herz hatte wohl dort schon in banger Sorge geklopft, manches Auge war angstvoll zu der hohen Wölbung empor geflogen. In schwererer Pein kein Herz, kein Auge als das ihre. In der Mitte zwischen den Pfeilern, die den Glockenthurm trugen, erschaute sie die Glocke, von einem mächtigen Kranz umschlungen. Die Decke der Kirche war geöffnet, und die starken Seile, an denen die Glocke empor schweben sollte, liefen von der schwindelnden Höhe herab. Sie sah, daß alle Kirchgänger von der Stätte zurück drängten; an dieser Stelle allein war Platz gelassen in der Kirche.

Nur der junge Meister stand dort. Einmal ordnete er noch etwas an den Seilen, einmal noch flog sein Blick hinauf in die Thurmeshöhe, die er in wenigen Minuten durchmessen sollte. Dann sang er ruhig aus dem großen schwarzen Gesangbuch mit der Gemeinde.

Jetzt schwieg die Orgel. Die Priester in schwarzen Ornaten umgaben die Glocke. Der Superintendent erhob die Hände und flehte den Herrn an, daß er das Werk gelingen lassen möge. Dann segnete er die Glocke ein und bei jedem Segensspruche neigte sich die Versammlung; tief beugten sich die Häupter bei dem Zeichen des Kreuzes. Nun sang die Gemeinde einen letzten Vers. Unter den Klängen desselben bestieg Seine Hochehrwürden die Kanzel, um dort das Aufziehen der Glocke abzuwarten.

Das letzte Wort war gesungen. Die Orgel verstummte. Aller Augen wandten sich auf den jungen Meister. Einen Schritt war er vorgetreten; dann bedeckte er das Gesicht mit dem Hut, den er in den gefalteten Händen hielt. Er sprach ein letztes Vaterunser. Das war so Brauch bei jedem ernsten Beginnen. Lautlose Stille lagerte über der Versammlung. Sein leises Amen! tönte bis in den fernsten Winkel.

Jetzt schwang er sich auf die Glocke und gab das Zeichen zum Aufziehen. Die Winde begann zu knarren und zu ächzen, die Seile spannten sich an und langsam erhob sich die Glocke von der Erde. Leise schwebte sie himmelan.

Wie glänzte sie so goldig unter dem frischen grünen Kranze, der im Brunnengarten gepflückt war! Wie ruhig stand der junge Meister auf der schmalen Krone! Die rechte Hand nur hielt das Seil, an dem sein Leben hing, die linke hatte er mit dem Hute kühnlich in die Seite gestemmt. Höher und höher schwebte sie. Der Kreis unten wich angstvoll weiter zurück. Wenn sie stürzte, wollte Niemand mit zerschmettert sein.

Von Zeit zu Zeit tönte ein Commandowort von der Winde – sonst Todtenstille überall.

Die Hände krampfhaft um das Gesangbuch des Großvaters gefaltet, aus dem Hermann so oft vorgelesen hatte, saß Johanne. Ihre Augen hingen an dem Glockengießer. Das bunte Licht der Fenster wob einen Glorienschein um sein Haupt. Die Glocke schwankte leise; aber unbewegt stand er. Mit ruhigem Lächeln und festem Blicke in die Tiefe fuhr er empor. Warum schlug ihr nur das Herz so angstvoll um ihn? Für ihn war es ja die Fahrt auf dem glückhaftigen Schiffe zu Ehre und Wohlhabenheit, dieweil sie einsam dahinwelkte.

Da fiel sein Blick hoch von der Wölbung herab auf sie, in ihre düster starrenden Augen – und plötzlich – es rann ihr eiskalt durch die Adern – schien es, als male sich Bewegung in seinen Mienen. Hielt die Hand nicht mehr fest am Seile? Wollte die Glocke sich drehen? Erblaßte er nicht? Und ohne der wohlanständigen Nachbarin in der vollbürtigen Goldhaube zu achten, ohne daran zu denken, daß ihr Gebühren in der lutherischen Kirche auffällig war, stürzte sie auf den alten durch manchen Kniefall verwischten Grabstein nieder, und ihre Seele schrie zu Gott: „Halte Deine Hand gnädig über ihn, daß er sein Werk vollbringt, und ich will nimmer klagen.“

Auch der Superintendent hatte die Hände gefaltet und betete halblaut. Stoßweise flog ein leises, leises Flüstern über die Versammlung, wie wenn das Laub in der schwülen Luft vor dem Gewitter in sich selbst erbebt.

Jetzt verschwanden Glocke und Meister in der Wölbung des Thurmes. Und wieder lagerte sich Stille über die Gemeinde. Nur die Winde knarrte, die Seile ächzten, und Commandoworte schallten herauf und herab. – Und in heißem Flehen wand Johanne die Hände. „Halte Deine Hand über ihn und gieb ihm all das Glück, das Du mir nimmst.“

Minuten auf Minuten verstrichen in athemloser Spannung.

Da – plötzlich – tönte ein heller Glockenschlag vom Thurme. Noch einer folgte und ein dritter. Das waren die drei Schläge, mit denen der Meister sie einweihte zum Dienste des Herrn.

Das Werk war glücklich vollbracht. Der strenge Schicksalslenker hatte ihr Gelübde angenommen, ihr Gebet erhört. Brausend setzte die Orgel ein, Pauken und Posaunen dröhnten dazwischen; dankerfüllt stimmte die Gemeinde ein: Herr Gott, Dich loben wir! Auch sie wollte ein Dankgebet sprechen. Aber es kamen ihr nur die Worte in den Sinn: Dein Wille geschehe! Das arme Weib, seine Mutter, hatte Recht gehabt: Das war das einzige Gebet, das den armen Erdenwürmern zukam. Sie hörte nicht auf die Predigt; sie sah nicht, wie die Gemeinde eine Gasse bildete, um den Glockengießer noch einmal anzuschauen; sie schlich in ihr Giebelstüblein. Nun hatte sie nichts mehr zu fürchten und zu hoffen.

Da rauschte es noch einmal draußen auf. Er war es; er kam mit dem Herrn Bürgermeister aus der Kirche. Nun ging’s

VENITE AD ME QVI LABORATIS EGO REFICIAM VOS

HVLDRICVS ZVINGLIVS
ANNO AETATIS 44
B.

Nach einem alten Kupferstich von Rene Boqvin. (Vergl. S. 850.)

[845] zum Rathsschmause. Doch nein: er blieb stehen. Die Rathmannen gingen grüßend und lächelnd von dannen. Er wandte sich und schritt mit dem andern Glockengießer auf die Papiermühle zu. Sein dankbares Herz führte ihn an die alte Heimstätte, daß sie Zeuge seines Glückes sei. So blieb ihr auch das nicht erspart. Sie mußte ihm Heil und Segen wünschen, dieweil ihr das Herz brach. Sie hatte ja um nichts Anderes gefleht; sie wollte den Leidenskelch austrinken.

Drunten wurden Stimmen laut. Dann ging die Stubenthür. Es kam etwas die Treppe heraufgepoltert. Christel stürzte herein. Athemlos und feierlich zu gleicher Zeit stammelte sie den Befehl der Mutter, in die Stube hinab zu kommen. Zaghaft folgte Johanne.

Drunten waren Alle feierlich an den Wänden aufgestellt. Der Vormund neben dem Vetter Hermann’s hatte eine väterlich würdige Miene aufgesetzt; die Frau Henningin hatte geweint, und die Muhme Schmidtin stand ihr zur Seite mit leiser Rede und ermunterndem Ellenbogenstoße; die jüngeren Geschwister schauten gespannt aus dem Winkel hinter dem Ofen.

Und in der Mitte der Stube stand Hermann. Bei seinem Anblicke stockte Johannens Schritt. Ihre Füße trugen sie nicht weiter. Sie blieb stehen mit gesenkten Wimpern, ergeben gefalteten Händen, und jäh wechselten Röthe und Blässe auf ihrem lieblichen Gesichtchen. Eben hub die neue Glocke ihr Probegeläut an, und begleitet von ihren Klängen begann Hermann mit fester Stimme seine Anrede:

„Liebe Jungfer Johanne Henningin! Es ist Euch unverborgen, welche herzinnige Liebe ich je und allewege zu Euch gehegt; aber nur der liebe Gott weiß, welch schweres Herzeleid ich getragen habe, da ich vermeinte, Euer Herz sei so hart wie die Kieselsteine in der Gera. Diesen Glauben hat am verschienenen Tage Eure liebwerthe Frau Muhme – deren Rede Gott segnen wolle! – gar sehr erschüttert. Als ich nun vorhin zwischen Himmel und Erde hing, hab’ ich wahrgenommen, daß Ihr auf Eure Kniee stürztet in Angst um mich und zu unsrem Vater im Himmel riefet für mich, ob auch die Nachbarinnen und Gefreunde die Köpfe schüttelten und sich anstießen. Diese Anzeichen auf einen Ort gestellt, haben mir kund und zu wissen gethan, daß auch in Eurem Herzen ein Fünklein Liebe für mich verborgen ist, wie das Feuer im Kiesling schläft. Dieweil es mir nun unter Gottes gnädigem Beistand gelungen ist, aus einem armen Hiob ein Meister Glockengießer zu werden, habe ich in Ehren und Züchten, wie sich gebühret, bei Eurer liebwerthen Frau Mutter um Euch geworben, und mit ihrem Verlaub frage ich Euch, ob Ihr sothanen –“

Weiter kam er nicht. Johanne hatte aufgeschaut – einen Blick tauschten Beide – da breitete Hermann die Arme aus, und mit plötzlich gebrochener Stimme rief er: „Ach, liebste Hanne!“

Sie aber flog ihm an die Brust. Fest schlang sie beide Arme um seinen Nacken, und die Augen schließend, legte sie ihr schönes Haupt an sein treues Herz, als ginge sie damit für alle Zeit zur Ruhe. Tiefe Stille waltete in der Stube. Nur die hallende Stimme der Maria Magdalena rief fort und fort über die Stadt hinaus, „daß Gott zu Lob sie klingen kann“.

Endlich besann sich die Muhme Schmidtin auf das Schickliche und löste den Bann der Rührung mit einem wohlgesetzten Glückwunsche auf. Und der stattliche Meister Eberhard erklärte der Henning’schen Sippe, wie Gott noch Alles so wohl gemacht hatte. „Ja,“ schloß er, „da die männliche That meines Vetters das Gesindlein zu Boden warf, der Glücksducaten sich wieder bei ihm einstellte, ebneten sich alle Wege. Er trat als Cumpan in das Geschäft und that mir und der Meisterin eine bewegliche Fürstellung, nach welcher ich dieselbe freite. Nur der Glocken wegen; denn um ihre Kochkunst ist es übel bestellt, und mit Buffbohnen soll sie mir nicht wieder kommen. Die Gießhütte von Möhring’s selig Wittwe aber wollen wir in ihren Ehren wohl erhalten.“

„Das ist eine auserlesen feine Historie!“ rief die Schmidtin. „Die Stadt wird sich baß verwundern, so ich sie ihr verkündige. Aber hiebevor muß ich Dir sagen, Hanne: Du machst Alles nach Deinem Kopf, niemalen wie es Stylum ist. Eine Jungfer muß sich zureden lassen, Bedenkzeit erbitten, nimmermehr einem Manne sich an den Hals werfen.“

„Und,“ stimmte Eberhard ein, „ein Mann darf nicht weichherzig sein. Hermann, woher soll der Respect kommen, wenn Du jede Fürstellung, die Du Deiner Frau machst, damit beschließest, daß Du die Arme ausbreitest und rufest: Liebste Hanne! – Bedenke! Mannshand muß oben bleiben.“

Das junge Paar vernahm nichts. Sie sahen sich in die Augen und flüsterten sich zu. Und Johanne hatte dabei die Hände gefaltet wie Kinder, die Abbitte thun für schweres Vergehen. Da ließen die Andern ab von ihnen. Hatte doch Doctor Luther selbst gesagt: „Man soll Brautleute nicht vexiren, wenn sie auch nimmer müde werden, mit einander heimlich zu reden. Sie haben Briefe über alle Rechte und Gewohnheit.“




Schnee- und Eisflora.

Ein Bericht von Carus Sterne.


Unter dem obigen Titel hat Professor Wittrock in Nordenskjöld’s „Studien und Untersuchungen aus seinen Reisen im höchsten Norden“, die vor Kurzem (Stockholm 1883) erschienen sind, eine eingehende Arbeit über die Pflanzen niederster Art veröffentlicht, die ihren gesammten Lebensgang auf der Oberfläche von Schnee und Eis vollenden und der eintönig weißen oder schmutzig-grauen Oberfläche des ewigen Schnees der Polar- und Alpenregionen zu Zeiten einen warmen, rosen- bis scharlachrothen Schimmer oder lebhaft grüne und braune Tönungen ertheilen, sodaß es aussieht, als ob auch diese erstarrten Zonen dann ihren Frühling und ihre Blüthezeit durchlebten. Im Nachfolgenden wollen wir einen kurzen Abriß der neueren Untersuchungen auf diesem Gebiete geben, uns indessen nicht an den Inhalt des obigen Werkes allein binden, sondern auch die älteren Quellen und die neuesten Berichte Nordenskjöld’s von seiner letzten Reise nach Grönland (Sommer 1883) dabei zu Rathe ziehen.

Die neueren Forschungen haben ergeben, daß die Schnee- und Eisflora bedeutend reicher ist, als man vordem glaubte. Man sprach früher eigentlich nur von dem rothen Schnee, welchem Agardh den poetischen Namen der „Schneeblüthe“ beigelegt hatte, und allenfalls noch von dem „grünen Schnee“, den schon der Botaniker Unger untersucht hatte und von welchem Dr. Kjellmann Proben aus Spitzbergen und Dr. Berlin neuerdings Proben von Grönland mitgebracht hat. Eine genauere Untersuchung hat in dem „grünen Schnee“ ungefähr ein Dutzend verschiedener Pflanzenarten nachgewiesen, und zwar nicht blos solche der niedersten Art, sondern auch Moose, freilich nur in ihrem den grünen Fadenalgen ähnlichen Keimzustande, wobei sie obendrein eine viel dürftigere Entwickelung zeigten, als wenn sie auf wärmerer Unterlage wachsen. Die Flora des lockeren Schnees ist überhaupt reicher als die des starren Eises, denn auf dem ersteren wurden bereits gegen vierzig verschiedene Pflanzenarten beobachtet, und ihre Zahl dürfte sich durch die neueste Expedition noch bedeutend vermehren, während auf der Oberfläche des Eises erst zehn verschiedene Pflanzen beobachtet worden sind.

Unter diesen abgehärteten Sonnenkindern muß man aber die echten Schnee- und Eispflanzen, die in weiter Verbreitung ausschließlich auf Schnee und Eis vorkommen, von solchen Pflanzen unterscheiden, die nur gelegentlich auf dem Schnee keimen, wenn ihre feinen Sporen, die bei diesen niederen Pflanzen die Stelle der Samen vertreten, vom Winde herbeigeführt werden, wobei sie zum Theil auf dem Körper der eigentlichen Urbewohner des Schnees schmarotzen oder doch nur in ihrer Gesellschaft auftreten. Die echten Schnee- und Eispflanzen gehören alle zu jenen einzelligen mikroskopischen Algen der niedersten Art, die sich in ungeschlechtlicher Weise durch Theilung vermehren, gewöhnlich in Colonien vorkommen und sich dadurch auszeichnen, daß sie selten die rein grüne, von Chlorophyll abhängige Farbe der anderen Pflanzen, sondern statt dessen rothe, braune, spahngrüne und andere Farben zeigen, weshalb man sie auch als Farbalgen (Phycochromaceen) bezeichnet hat.

[846] Von der häufigsten und bedeutsamsten unter allen, der Alge des rothen Schnees, hat man auch wohl vermuthet, daß sie nur den niederen Zustand einer höheren Alge vorstelle, die im ewigen Schnee niemals zu einer höheren Entwickelung gelange, was um so merkwürdiger wäre, als ihre lebhaft rothen Kügelchen von 1/150 Linie Durchmesser vielleicht alle andern Pflanzen der Erde an Individuenzahl übertreffen, da sie meilenweite Schneestrecken in solcher Massenhaftigkeit bedecken, daß derselbe zuweilen bis zu einer Tiefe von mehreren Fußen blutroth gefärbt erscheint, während bereits auf einer Fläche von einer Quadratlinie hunderttausend Individuen Platz haben. Der rothe Schnee hat seit seinem ersten genaueren Bekanntwerden die Phantasie der Gelehrten lebhaft beschäftigt. Es kann wohl nicht bezweifelt werden, daß er schon in früheren Zeiten beobachtet worden ist, und wenn Properz von den Rosenwangen eines jungen Mädchens sagt, sie glänzten:

„Wie wenn Mäotierschnee mit Mennige kämpft vom Iberus,“

so möchte man hinter dem seltsamen Vergleiche eine Beobachtung rothen Schnees als Veranlassung vermuthen. In Schnurrer’s „Chronik der Seuchen“ und ähnlichen Sammlungen auffallender Naturereignisse wird öfter von blutrothem Schnee berichtet, doch weiß man in solchen Fällen natürlich nicht, ob die Färbung von rothen Algen oder von rothem, eisenhaltigem Meteorstaub hergerührt hat. Um echten „rothen Schnee“ in unserem Sinne handelte es sich indessen offenbar bei den Beobachtungen von de Saussure auf seinen Alpenreisen. Derselbe hatte ihn seit dem Jahre 1760 zu verschiedenen Malen wahrgenommen, am schönsten 1778 auf dem St. Bernhard, hatte aber gemeint, es müsse ein vom Winde hergewehter rother Blütenstaub sein, wie der gelbe, welcher den Schwefelregen erzeugt, obwohl er keine Pflanze kannte, die einen derartigen rothen Blütenstaub besitzt. Die Erkenntniß, daß der rothe Schnee der Polarländer und Gebirge seine Färbung einem lebendigen Wesen verdankt, datirt erst von der berühmten Polarexpedition von Roß und Parry (1818), bei welcher Capitain Roß an der grönländischen Küste die 600 Fuß über dem Meere belegenen „Scharlachklippen“ (crimson cliffs) entdeckte, welche die Wände der Baffins-Bai im brennendsten Roth erglänzen ließen, stellenweise eine Tiefe von drei Metern und in der Nähe vom Cap York eine Ausdehnung von acht Seemeilen erreichten.

Franz Bauer, der den rothen Schnee zuerst mit dem Mikroskope untersuchte und die organischen rothen Kügelchen darin erkannte, meinte, es handle sich um die gestielten Knöpfchen eines Brandpilzes, den er den Schnee-Brandpilz (Uredo nivalis) taufte, eine recht unglückliche Idee, da die Brandpilze, wie alle Pilze, nur auf einer organischen Unterlage leben können. In demselben Jahre wie Roß (1818) beobachtete der berühmte Alpenforscher E. von Charpentier den rothen Schnee wiederum in den Schweizer Alpen und stellte zuerst die Vermuthung auf, welche einen langen Nachhall haben sollte, daß es sich um einen aus der Luft herabfallenden und darum über so weite Schneeflächen verbreiteten Meteor-Organismus handeln müsse.

Hooker erkannte zuerst die Algennatur des neu entdeckten Organismus, den er jenen rothen Schleimalgen (Palmella- und Tremella-Arten) verglich, die zuweilen als blutrothe Schleimmassen im Wasser und auf feuchter Unterlage auftreten. Wrangel wollte dann (1823), weil die Kügelchen ohne organische Unterlage erscheinen, eine Flechte daraus machen, die er Lepraria kermesina nannte, und meinte, die Luftelektricität erzeuge wohl die Keime derselben, wie er denn gesehen haben wollte, daß ein vom Blitze gespaltener Felsen sich an den Spaltflächen über und über mit solchem rothen Staube bedeckt habe.

Es kam die Zeit der naturphilosophischen Phantastereien, und Nees von Esenbeck wurde mit Ramond völlig darüber einig, daß die rothen Kügelchen nichts anderes seien, als ein „im oxydirten Schnee organisch gewordenes rothes Glimmerpulver“; der starre Fels habe bei seiner Verwitterung „den Trost empfangen, dem Tode abzusterben“ und lebendig zu werden. Erst Agardh machte diesen Träumereien ein Ende, indem er die Algennatur als zweifellos erwies und der neuen Alge außer dem poetischen Namen der Schneeblüthe den wissenschaftlichen Namen des carmoisinfarbenen Schnee-Urkorns (Protococcus kermesina nivalis) beilegte. Ehrenberg beobachtete 1838 die Entwickelung desselben, indem er aus den Schweizer Alpen herrührende Proben auf Schnee aussäete und sie zu kettenartig verbundenen, erst grünen, dann rothwerdenden Kügelchen sich entwickeln sah; er legte ihr den Namen des Schneekügelchens (Sphaerella nivalis) bei, den sie noch heute führt.

Indessen waren die Irrfahrten des rothen Schnees noch nicht zu Ende. Nachdem Unger und Kützing im Anfang der vierziger Jahre beobachtet hatten, daß die jungen Keimsporen der meisten Algen sich lebhaft im Wasser hin- und herbewegen, und dabei das Aussehen von Infusorien zeigen, begann man lebhaft von der Verwandlung der Algen in niedere Thiere zu träumen und den rothen Schnee zu den Thieren zu rechnen, da Wrangel, Voigt und Meyen auch bei ihm solche Bewegungen wahrgenommen zu haben glaubten. Nach und nach erkannte man aber, daß die freie Ortsbewegung durchaus kein den Thieren allein zukommendes Merkmal darstellt und daß die Keimsporen der niederen Pflanzen, obwohl sie sich eine Zeitlang im Wasser frei umherbewegen, wobei sie wie echte Infusorien vielfach mit schwingenden Wimpern versehen sind, dabei doch immer Pflanzen bleiben und niemals zu einem Thiere auswachsen. Seitdem ist die Pflanzennatur der Schneeblüthe nicht mehr angezweifelt worden.

Die rothe Schnee-Alge, welche man auf den Alpen, Karpathen, Pyrenäen und auch auf den Gipfeln der nordamerikanischen Gebirge bis nach Californien herab beobachtet hat, ist doch kein so abgesagter Feind der Wärme, als es nach ihrem eisigen Aufenthalt scheinen könnte. Sie erscheint ebenso wie am Pol, im ewigen Schnee unserer Gebirge thatsächlich nur im Sommer, erst als leichter, rosenrother Anflug, besonders häufig am Monte Rosa, dann mit wachsender Farbentiefe namentlich in den Fußstapfen der Menschen, und verwandelt sich bald in eine schwärzliche Masse, die aber nicht blos absterbende Substanz darstellt, sondern zum Theil aus den fester eingekapselten „ruhenden Sporen“ besteht, in welche das Leben dieser mikroskopischen Organismen sich zurückzieht, um in solcher Gestalt zu überwintern. In der Form „ruhender Sporen“ können die niederen Organismen den stärksten Temperaturwechsel ertragen. Man hat manche derselben einer trockenen Hitze bis zu 100° ausgesetzt, und sie nachher doch noch keimfähig gefunden, man hat sie ebenso längere Zeit hindurch einer weit über –100° hinausgehenden Kälte, überhaupt den höchsten Kältegraden ausgesetzt, die man künstlich erzeugen konnte, ohne ihre Lebenskraft dadurch zu zerstören. Die lebende Materie kann also in dieser Einkapselung vorübergehend äußere Temperaturunterschiede von mehr als zweihundert Graden ohne Schaden überstehen, und darin liegt das Geheimniß der schweren Vernichtbarkeit aller jener organischen Keime, welche wir als die Erreger der Gährung, Fäulniß und so vieler Krankheiten erkannt haben. Auch die in letzterer Beziehung so viel genannten Bakterien wurden auf der einen Nordenskjöld’schen Expedition im ewigen Eise lebend angetroffen.

Auch die Zeit scheint spurlos an diesem eingekapselten Leben vorüberzugehen. Finden die Sporen längere Zeit hindurch keine günstige Gelegenheit zur Entwickelung, so sterben sie darum doch nicht ab, und so hat man die getrockneten Ueberreste des rothen Schnees, die von verschiedenen Polarexpeditionen mitgebracht worden waren, noch nach Jahren zur neuen Entwickelung bringen können. Wir dürfen uns also in keiner Weise darüber wundern, daß jene ruhenden Sporen des rothen Schnees ohne Schaden die halbjährige Nacht des Polarwinters überdauern, und vielleicht im Winter, mit neuem Schnee bedeckt, jahrelang im Schlafe liegen, bis einmal die über ihnen liegende Schneedecke in einem warmen Sommer wieder wegschmilzt und die vergrabenen Lebenskeime wieder an der Oberfläche gedeihen.

Denn eine etwas über den Nullpunkt hinausgehende Wärme verlangt auch unsere Schnee-Alge zu ihrer gedeihlichen Entwickelung, und erst wenn die Sonne im Sommer so hoch über den Horizont emporgestiegen ist, daß ihre Strahlen hinreichen, den Schnee an der Oberfläche zu schmelzen, entwickelt sie sich lebhafter. Die Temperatur des Schmelzwassers steigt dann auf mehrere Grade über Null, und diese Temperatur reicht hin, um den bescheidenen Wärmeansprüchen dieser niederen Organismen zu genügen. In dem ununterbrochenen Lichte des Polarsommers kann sie sich dann auf dem schmelzenden Schnee in einer Ueppigkeit entwickeln, daß sie zuletzt weite Flächen bedeckt und in einer kaum abzuschätzenden Individuenzahl auftritt. Obwohl die Sonne selbst im Hochsommer nicht gerade hoch am Horizonte emporsteigt, erzeugt sie doch in Folge der Klarheit und Trockenheit der Luft jener hohen Breiten um die Mittagsstunde eine beträchtliche Wärme, und [847] Nordenskjöld beobachtete an einem Julimittag dicht über dem Schnee eine Lufttemperatur von 25 bis 30° C. Es ist eine ähnliche, durch Reinheit und Trockenheit der Luft beförderte starke Besonnung, die auch in unseren Hochalpen jene der Polarflora so ähnliche und vielfach identische Pflanzenwelt im Verlauf weniger Monate zum Entfalten, Blühen und Fruchttragen befähigt.

Man muß nun aber nicht denken, daß die rothe Alge im reinen Schnee vegetire. Dies wäre schon nach den Ergebnissen der chemischen Analyse, die in ihrem Körper zahlreiche Mineralstoffe nachweist, unmöglich. Besonders scheint das äußere Häutchen, welches die Schleimkügelchen umhüllt, eine beträchtliche Menge Kieselsäure zu enthalten, aber auch Kalk, Eisen und sonstige dem Pflanzenkörper eigene Mineralstoffe fehlen in der Asche des rothen Schnees nicht. In der That zeigt sich die Oberfläche des Schnees und Eises, sobald sie eine längere Zeit gelegen hat, stets mit einer dünnen Schicht unorganischen Staubes bedeckt, welcher der Schnee-Alge ihren Bedarf an mineralischen Bestandtheilen zuführt. Ueber diesen Staub hat Nordenskjöld auf seinen früheren, wie besonders auf seiner letzten Expedition (Sommer 1883) eine Menge eingehender Untersuchungen angestellt, über die wir hier mit einigen Worten berichten müssen.

Man hatte früher wohl gedacht, daß es sich um Schlammmassen handle, die von den benachbarten, aus dem Schnee und Eis hervorragenden Bergen herabgeschwemmt und durch die Rinnsale an der Oberfläche des Schnees und Eises verbreitet sein könnten, allein Nordenskjöld fand diesen Staub in gleicher Menge auf dem grönländischen Binnenlandeise, wo meilenweit keine Berge in der Nähe sind, und auf Eisbuckeln, welche die umliegende Eisfläche und selbst die nächsten Berge überragten. Auf der letzten Expedition ersuchte er seine Begleiter, während ihrer langen Binneneiswanderungen sorgfältig auf kleine Steine zu achten, aber es wurden nicht einmal Stückchen von Stecknadelkopfgröße angetroffen, währen die Menge dieses im trockenen Zustande grauen, im feuchten Zustande schwärzlichen Staubes so groß war, daß sie manche Strecken millimeterdick bedeckte, und für den Quadratkilometer auf mehrere hundert Tonnen geschätzt werden mußte.

Es konnte demnach kein Zweifel sein, daß dieser Schlamm durchweg aus der Luft niedergeschlagen sein muß und sich auf dem Binnenlandeise dadurch in so beträchtlicher Masse ansammelt, daß durch das Abschmelzen des Winterschnees im Sommer das Material vieler solcher Staubfälle vereinigt wird. Nordenskjöld macht es indessen sehr wahrscheinlich, daß es sich hierbei nicht ausschließlich um einen von den Luftströmungen herbeigeführten irdischen Staub handeln kann, sondern daß dieser Staub eine beträchtliche Menge metallischer Bestandtheile enthält, die sich mit dem Magnet ausziehen lassen und wahrscheinlich, wie die metallischen Meteorsteine, vorwiegend aus Eisen, Nickel und Kobalt bestehen.

Wir haben von diesem im Weltraume verbreiteten metallischen Staub schon neulich in unserem Sonnenartikel (Jahrgang 1882, Seite 847) erzählt; natürlich läßt sich derselbe nirgends besser beobachten und sammeln, als auf weiten Schnee- und Eisfeldern. Da er somit etwas von unserem gewöhnlichen, erdreicheren Staube Verschiedenes darstellt, so hat ihn Nordenskjöld Kryokonit (das heißt Eisstaub) getauft. Dieser Staub giebt nun einer Anzahl von Schnee- und Eispflanzen die erforderliche mineralische Unterlage.

Früher hatte man die Alge des rothen Schnees für die einzige Bewohnerin der eiskalten Decke der Polarländer gehalten, aber bei der ersten Nordenskjöld’schen Expedition nach Grönland (1870) wurde von dem botanischen Begleiter Nordenskjöld’s, dem Dr. Berggren, eine zweite, in großen Mengen vorkommende Alge von braunrother Färbung entdeckt, die der Wissenschaft neu war und Nordenskjöld’s Krummfaden (Ancylonema Nordenskjöldii) getauft wurde. Es ist ein der Schneeblüthe nahe verwandtes Pflänzchen, welches aber die Eigenthümlichkeit zeigt, niemals auf Schnee vorzukommen, sondern im Gemisch mit dem eben beschriebenen Kryokonit weite Eisfelder zu bedecken und denselben eine purpurbraune Färbung zu ertheilen, die wesentlich zur Belebung der starren Landschaft beiträgt. Es ist dies unter der bisher bekannten Schnee- und Eisflora die einzige dem Eise ausschließlich angehörige Pflanze.

Außer an der Eisoberfläche fand sich die rothbraune Alge mit Kryokonit gemengt auch vielfach auf dem Boden senkrechter, ein bis zwei Fuß tiefer Löcher von drei bis vier Fuß Durchmesser, die an manchen Stellen in solcher Massenhaftigkeit und so dicht an einander grenzend vorkamen, daß zwischen ihnen kaum eine Stelle für ein Mittagsschläfchen zu finden war. Eine genauere Untersuchung ergab, daß die in so großen Massen vorkommende braunrothe Alge offenbar die Hauptursache dieser Löcherbildungen war, indem sie das Abschmelzen des Eises an den Stellen, wo sich ihre Colonien ausbreiteten, begünstigte.

Mit ihrem dunkelbraunen Körper verschluckt sie mehr Sonnenstrahlen, als der graugefärbte Staub oder gar das farblose Eis, deshalb sinken ihre Kolonien in immer tiefere Höhlungen ein, bis die Strahlen der niedrigstehenden Sonne sie nicht mehr erreichen können. Der erste Regen spült dann von allen Seiten auch den Oberflächenschlamm in diese Löcher hinein, deren Boden stets mit einer dicken Algen- und Schlammschicht bedeckt ist. So spielen diese mikrostopischen Algen auf den steinlosen Eisfeldern Grönlands eine ähnliche Rolle, wie kleine Steine auf unseren Gletschern. Durch die Löcher, die sie erzeugen, geben sie der wärmeren Sommerluft eine vermehrte Angriffsfläche auf die Eisdecke und beschleunigen so das Abschmelzen derselben beträchtlich. Vielleicht, meint Nordenskjöld, haben wir es zu einem guten Theile diesen mikroskopischen Wesen zu danken, daß die Eiswüsten, welche in einer früheren Epoche (der Eiszeit) Europa und Amerika auf weite Entfernungen vom Pole bedeckten, überhaupt wieder weggeschmolzen sind und jetzt schattigen Wäldern und wellenschlagenden Roggenfeldern Platz machen. Es ist dies ein bemerkenswerthes Beispiel von der Macht des Kleinen in der Natur, um so interessanter, als sich hier die Sonne in den kleinen dunkelgefärbten Organismen selbst das Werkzeug erzeugt, um das Eis anzubohren. Uebrigens bildeten diese tiefen und gedrängten Löcher für die Binneneis-Expedition, welche Nordenskjöld im letzten Sommer unternahm, ein ernsthaftes Hinderniß. Die mit Wasser gefüllten Löcher erhalten des Nachts eine dünne Eisdecke, welche sogleich durchbricht, wenn der Wanderer, der sie leicht übersieht, den Fuß darauf setzt. Wohl mehr als hundertmal brachen die Theilnehmer der achttägigen Expedition in solche Löcher ein, und es ist ein wahres Wunder, daß sich Keiner von ihnen dabei den Fuß gebrochen hat, was viele Meilen von der Küste ein verhängnißvolles Unglück gewesen wäre.

Die Zahl der bekannten Schnee- und Eispflanzen dürfte bei dieser Expedition, von welcher der botanische Begleiter Dr. Berlin zahlreiche Proben mitbrachte, noch beträchtlich vermehrt werden. Zum Schlusse müssen wir noch erwähnen, daß die mikroskopischen Pflanzen vielfach auch Thiere, denen sie zur Nahrung dienen, in diese unwirthlichen Regionen gelockt haben. Eine kleine schwarze Springschwanzart, der nach dem berühmten Gletscherforscher Eduard Desor Desoria glacialis getaufte Gletscherfloh, lebt hauptsächlich von dem rothen Schnee mit seinen Ueberresten, und ebenso finden sich in den arktischen Ländern mehrere Arten winziger Thiere, welche die rothen und grünen Algen verzehren, die den Polarschnee färben. Diese Thiere scheinen mit den Algen die Eigenthümlichkeit zu theilen, sich während des langen Winters einzukapseln und ebenso wie diese auch im getrockneten Zustande lange fortzuleben. Als Professor Wittrock im Winter 1880 auf 1881 die Sporen des rothen Schnees aus einem vor längerer Zeit gesammelten Materiale von Neuem zum Keimen brachte, lebten in dem Wasser auch eine Anzahl farbloser Würmchen auf, durch deren durchsichtige Körperbekleidung der rothe Mageninhalt hindurchschimmerte. So kann nicht einmal der starre Pol sich der Allverbreitung des Lebens erwehren, und wenn jene kosmologischen Propheten Recht haben, die da verkünden, daß die Oberfläche der gesammten Erde dereinst mit Schnee und Eis bedeckt sein werde, so dürften diese kleinen Thiere sich noch lange beim Schmause der rothen, grünen und braunen Schnee- und Eisalgen wohl sein lassen, um als letzte Ueberlebende der allgemeinen Erstarrung zu spotten, ja um vielleicht den Grundstock einer neuen Lebensentwickelung zu bilden, falls irgend welche kosmische Ursache eine Neuerwärmung herbeiführen sollte.

[848]

In der Dampfwäscherei.

„Waschmaschine!“ Schon das eine Wort genügt, um den weiten Kreis meiner Leserinnen in zwei feindliche Lager zu spalten. Die meisten Frauen sind gegen dieselbe ebenso eingenommen, wie ihre älteren Schwestern noch vor Kurzem gegen die Nähmaschine wetteiferten, und sie weisen mit Entrüstung die Zumuthung zurück, daß sie die Hauswäsche, das Werk ihrer zarten Hände, den eisernen Armen und Griffen eines mit Dampf gespeisten Ungethüms anvertrauen sollen. Leider ist ihr Vorurtheil zum großen Theil nicht unbegründet, denn unberufene Erfinder haben seit vielen Jahrzehnten die Welt mit einer nicht geringen Anzahl von Maschinen beglückt, die in der That in dem Zerstören der Wäsche Erstaunliches leisten. Aber dieses Vorurtheil ist heute nicht mehr berechtigt, denn die Erfindungskraft des Menschen hat auch auf diesem Gebiete endlich alle Schwierigkeit besiegt und Waschmaschinen hergestellt, die den Anforderungen der sorgsamsten Hausfrau genügen. Die Zeit ist wirklich eingetreten, in welcher der Ingenieur der Waschfrau Concurrenz bereitet und das eintönige Hämmern der Kolben und Walzen das gemüthliche Plaudern aus der Waschküche verdrängt. Man mag über diese Umwälzung denken, wie man will, sie hat einmal ihren Anfang genommen, sie hat in vielen Städten festen Fuß gefaßt, und sie wird weiter um sich greifen, denn Niemand wird gegen die Zeitströmung ankämpfen können, welche auf allen Gebieten die Arbeit der menschlichen Hand durch Maschinenarbeit ersetzt.

Noch vor zehn Jahren sagte mir eine resolute Waschfrau: „Wissen Sie, mein Herr, die Waschmaschinen sind gut für Lumpen, aber taugen nichts für feine Herrenwäsche.“ Damals hatte die Waschfrau nicht Unrecht, denn in der That beschränkte sich die Anwendung der Waschmaschine lange Zeit nur auf das Reinigen der Lumpen in Papierfabriken. Was würde aber die Frau heute sagen, wenn ich ihr mittheilte, daß eine einzige Waschmaschinenfabrik, die von Oscar Schimmel u. Comp. in Chemnitz bis heute in 11 Garnisonen, in 5 Garnisonlazarethen, in 13 Kranken- und Siechenhäusern, in 10 Irrenanstalten und in 4 Strafanstalten Dampfwäschereien eingerichtet und außerdem eine nicht unbedeutende Anzahl von Privatdampfwaschanstalten in den verschiedensten Städten eingeführt hat, worunter in erster Linie die des Kaisers in Potsdam sich befindet. Das sind Thatsachen und Erfolge, mit denen man rechnen muß.

Desinfectionsapparat von Oscar Schimmel u. Comp. in Chemnitz.

Doch ich will nicht vorgreifen und meine Leserin lieber selbst urtheilen lassen. Sie möge mir aufmerksam durch eine derartige Dampfwaschanstalt folgen und dabei von Zeit zu Zeit die beigegebene Abbildung der Dampfwaschanstalt der Charité, des weltberühmten Berliner Krankenhauses, genauer ansehen.

Das Etablissement, welchem unser heutiger Besuch gilt, ist nach dem Systeme Oscar Schimmel u. Comp. in Chemnitz eingerichtet, und ich habe dieses System darum zur Unterlage meines Artikels gewählt, weil die genannte Fabrik auf diesem Gebiete zuerst bahnbrechend vorgegangen ist und sich des besten Rufes nicht nur in Deutschland, sondern weit über unsere Grenzen hinaus erfreut, dasselbe auch keine Nachahmung ist, sondern auf Verwirklichung eigener Ideen beruht.

Da liegt ein Bündel unreiner Wäsche vor uns, treten wir mit ihm die Wanderung durch die Waschanstalt an, sie wird nicht lange dauern, denn es wird ja hier mit Dampf gearbeitet.

Auf der ersten Station ist etwas Besonderes nicht zu sehen. Wir machen vor einem großen Bottiche Halt, in welchen je nach Bedarf kaltes oder warmes Wasser eingelassen werden kann. In ihm wird die Wäsche eingeweicht, und dazu ist keine Maschinenarbeit nöthig, das besorgen, wie bei uns zu Hause, Frauenhände.

Doch schon auf der zweiten Etappe stehen wir vor der wirklichen Waschmaschine. Ihre Wirkung ist leicht zu erklären. Unbekümmert um das complicirte Räderwerk, welches wir an ihrem oberen Theile bemerken (vergl. Abbildung Nr. 4), öffnen wir den untersten Kasten und schauen in das Innere hinein. Hier hängen in der Mitte eines kupfernen Bottichs vier messingerne Walkhämmer herunter, die um ihre Aufhängungsachse, je zwei nach rück- und vorwärts, bewegt werden können. Zu beiden Seiten dieser Hämmer befindet sich ein freier Raum, in welchen je zwölf Kilo Wäsche eingelegt werden. Am oberen Theil dieser Waschräume liegt ein Einlaufrohr für kaltes und heißes Wasser, während am Boden ein feingelöchertes Rohr zur Dampfeinströmung dient.

In diese Waschräume wird nun die Wäsche hineingethan, sowie die nöthige Menge aufgelöster Seife und Soda zugegossen und darauf das erforderliche Wasser eingelassen; zum Schluß läßt man den Dampf einströmen, um das Ganze während des Waschprocesses heiß oder kochend zu erhalten, je nach Erforderniß. Schon bei Beginn des Einlegens der Wäsche wird die Maschine in Thätigkeit gesetzt, durch das Hin- und Hergehen der Messinghämmer wird der Waschknäul gedrückt und in rollende Bewegung versetzt, das heißt gewalkt. Alle Flächen, welche die Wäsche berührt, sind von Metall und spiegelglatt; der Gang der Hämmer ist ein gezwungener, sicherer und arbeitet in sanftester Weise, sodaß die Wäsche gar nicht angegriffen werden kann.

Und die Wäsche ist schon rein? So schnell geht das freilich nicht. Fettflecke und Streifen sind noch zum Theil an ihr geblieben, und um diese wegzubringen, muß der Maschine die Frauenhand nachhelfen. Jedes Stück wird jetzt von Wäscherinnen genau nachgesehen, welche die fleckigen Stellen tüchtig einseifen. Diese Arbeit muß jedoch im Interesse des Wäsche-Inhabers nur mit der Hand besorgt werden, und in den uns bekannten Anstalten wird die Waschfrau, welche eine Bürste in die Anstalt bringt, mit einer Mark Strafe belegt.

Unser Bündel revidirter und nachgeseifter Wäsche wandert jetzt in einen Bottich, in welchem sich kochendes Wasser befindet, und hier wird die Wäsche gekocht. Selbstverständlich nimmt man für jede Partie frisches Wasser; an heißem Dampf fehlt es ja nie in einer Dampfwaschanstalt.

Jetzt wird die Wäsche in zwei Sorten gesondert, diejenige, welche in stark unreinem Zustande in die Anstalt gelangte, wandert noch einmal in die Waschmaschine, wo sie nunmehr ohne Seifenzuguß, da sie schon, wie erwähnt, mit der Hand angeseift wurde, nochmals gewaschen wird.

Doch folgen wir unserem reinen Bündel. Wir treten jetzt vor einen hölzernen Bottich, in dessen Mitte inselartig eine dicke Wand emporragt; zwischen dieser und der einen Bottichwand befindet sich ein Flügelrad, welches das Wasser in stromartige, kreisende Bewegung bringt. In diesem Bottich wird unsere gewaschene Wäsche geschüttet, sie schwimmt im Strom und wird bei jedem Durchgang von dem Flügelrade energisch getaucht, wodurch das Reinspülen erfolgt. Doch wir haben lange genug mit dem nassen Elemente zu schaffen gehabt und möchten nun gern sammt unserm Bündel Wäsche in’s Trockene gelangen.

Das Trocknen besorgt wiederum eine Maschine, die Centrifugaltrockenmaschine. Sehen wir uns nur den runden Apparat, in welchen das Waschmädchen die nasse Wäsche hineinlegt (vergl. Abbildung

[849]

In der Dampfwaschanstalt der Berliner Charité.
1. Anstaltsgebäude. 2. Trockenmaschine. 3. Centrifugal-Trockenmaschine. 4. Waschhalle.
5. Sortiren der Wäsche. 6. Rollen der Wäsche.

[850] Nr. 3), genauer an. In seiner Mitte steht ein rundes Gefäß, dessen Wand siebartig durchlöchert ist, in dieses kommt die Wäsche, durch einen Griff wird die Achse des Gefäßes mit der Maschinenkraft in Verbindung gebracht, und nun dreht sich das Gefäß mit einer Geschwindigkeit von 1000 Umdrehungen in der Minute. Die Wäsche wird hierdurch fest an die Wand gedrückt, und das nasse Element rieselt an den Wänden zum Abflußrohr herab. In kaum zwei Minuten ist unser Bündel „ausgerungen“ und zwar in einer so sanften Weise, daß das gewöhnliche Ausringen mit der Hand dagegen ein Act roher Gewaltthätigkeit genannt werden muß. – Meine Begleiterin sieht das Wunder erstaunt an, aber Geschwindigkeit ist bekanntlich keine Hexerei.

Sie fragt: „Jetzt werden wir wohl den Trockenboden besuchen?“ Aber sie irrt sich. Auch das Fertigtrocknen der Wäsche geschieht durch eine Maschine. Da stehen wir schon vor dem länglichen Kasten, an welchem ein Mädchen soeben eine Stange befestigt (vergl. Abbildung Nr. 2). An den Wänden desselben bewegen sich in sehr langsamem, schneckenartigem Tempo zwei Paar Ketten, in welche in abgemessenen Zwischenräumen Stäbe eingesetzt werden. Ueber diese wird nun unser Bündel Wäsche gehängt und rückt langsam in den Kasten hinein. In etwa vierzig Minuten ist er an der entgegengesetzten Oeffnung der Maschine angelangt und zwar in vollständig trockenem Zustande, denn dieser Apparat wird durch Rippen-Rohre geheizt und durch besondere Vorrichtung gründlich gelüftet.

Das Rollen und Plätten geschieht in der bekannten Weise.

Wie wir gesehen haben, ist durch diese Dampfwäscherei die Handarbeit keineswegs entbehrlich gemacht worden, und Frauenhände sind auch hier zum Nachseifen, Stärken, Auflegen, Plätten etc. durchaus nöthig. Aber mit Hülfe dieser Maschinen können diese Hände in kürzester Zeit den größten Anforderungen genügen. Giebt es doch Waschanstalten, die täglich achtzig bis hundert Centner Wäsche waschen. Aber alle diese Anstalten haben leider noch gegen Vorurtheile zu kämpfen, die durchaus unbegründet sind und die wir gern zerstreuen möchten.

Bietet schon das Schimmel’sche Verfahren an und für sich eine große Garantie gegen Verbreitung ansteckender Krankheiten durch unreine Wäsche, so kann diese Sicherheit noch bedeutend erhöht werden durch einen Desinfectionsapparat, welchen diese Fabrik in neuester Zeit hergestellt hat. Vielfache Untersuchungen des Reichsgesundheitsamtes haben nämlich erwiesen, daß das sicherste Desinfectionsmittel eine Temperatur von 106° C. bildet, und auf diesem Princip beruht auch die Wirksamkeit unseres auf Seite 848 abgebildeten Apparates. Derselbe ist aus starkem Eisenblech mit doppelten Wandungen gebaut, die mit einem schlechten Wärmeleiter (Holzasche, Sägespähne u. dergl. m.) ausgefüllt sind. Die Handhabung des Apparates erklärt uns die Abbildung. Die zu desinficirenden Kleidungsstücke werden in einem Gestelle, welches auf Rädern ruht, aufgehängt und dann mit diesem Wagen in das Innere des Apparates hineingeschoben. Darnach wird die Doppelthür dampfdicht verschlossen, und nun erfolgt die Dampfeinströmung in die Rippenheizrohre am Boden des Apparates. Ist die Temperatur auf ziemlich 100° C. gestiegen, so läßt man directen trockenen Dampf einströmen, und dieser trägt seine höhere Temperatur bis in die feinsten Poren der betreffenden Gegenstände, sodaß dieselben durch und durch auf 110° C. erwärmt werden, wodurch die Zerstörung der etwa vorhandenen Krankheitskeime eintritt. Nach dreißig Minuten stellt man die Dampfeinströmung ab und öffnet die Luftklappen, durch welche vermittelst eines Rohres die entstandene schlechte Luft nach dem nächsten Schornstein entweicht.

Alles dies sind Apparate, deren Aufstellung eine nicht geringe Capitalanlage erfordert, und die somit den wenig bemittelten Frauen der Arbeiterclasse besondere Vortheile nicht bieten können. Für die Waschfrauen kann sogar diese Concurrenz mit der Zeit gewissermaßen gefährlich werden, denn selbst wenn sie in den Dampfwaschanstalten Arbeit finden, sinken sie doch von der freieren Stellung, die sie jetzt einnehmen, zu der abhängigeren und unsichereren Lage einer Fabrikarbeiterin hinab. Dagegen entsteht ein bequemes Mittel für die jetzt bestehenden kleineren Wasch- und Plättanstalten, wenn dieselben gemeinschaftlich Waschanstalten dieses Systems errichten und nur das Plätten der Wäsche, sowie das Holen und Wiederabliefern derselben fortsetzen, wie dies auch schon von Haushaltungen vielfach gehandhabt wird, zumal in diesen Waschanstalten jeder Wäscheposten der einzelnen Familien eine Behandlung für sich erfährt. Die deutschen Frauenvereine sollten daher diese Frage näher erörtern und namentlich darauf hinwirken, daß Dampfwäschereien rechtzeitig in den Besitz von Frauenvereinen gelangen, daß durch Vereinsthätigkeit das kleine Capital sich auf diesem Gebiete festsetze, bevor das große Capital dasselbe vollständig beherrscht hat. Eine vernünftige Selbsthülfe kann hier ungemein nutzbringend wirken.

Unsere Frauenbewegung hat ja die Selbsthülfe auf ihre Fahne geschrieben, und ihre Führerinnen werden sicher für die Lage ihrer ärmeren Schwestern stets ein warmes Herz haben. St. v. J.     




Zwingli der Reformator.

Wenn das deutsche Volk seinen Doctor Martin Luther nicht vergessen hat, wenn es bei der letzten Säcularfeier seines Geburtstages auf’s Neue inne geworden ist, wie viele lebenskräftige Anregungen, die von diesem seinem größten Sohn ausgehen, noch in die Gegenwart hineinreichen, so wird die stammverwandte Schweiz gewiß auch mit hoher Begeisterung das Andenken ihres Reformators Zwingli erneuern und es sich lebendig vergegenwärtigen, was dieser Name für die ganze nationale Entwickelung der Eidgenossenschaft zu bedeuten hat. Für die Schweizer ist Zwingli Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Bein. „Er war der Bürger eines republikanischen Gemeinwesens, in welchem ganz anders als auf demjenigen Boden, auf welchem Luther stand, auch die Forderungen politischer Mitthätigkeit an jeden Einzelnen herantraten, in welchem er selbst von Jugend auf weit reichere politische Erfahrungen als Luther gemacht hatte, in welchem auch eine zugleich politische und kirchliche Reform weit leichter als auf jenem Boden sich vollzog.“ (Jul. Köstlin.)

Uns Deutschen aber steht Zwingli nicht nur etwa deswegen nahe, weil er in die kirchliche Reformbewegung, wie sie zu seiner Zeit durch verschiedene oberdeutsche Städte und Länder ging, hier mehr mittelbar, dort mehr unmittelbar eingriff, oder weil das, was wir bei uns im Unterschied vom Lutherthum als „reformirt“ bezeichnen, mit an seinen Namen sich knüpft; sondern wir ehren in ihm mit der ganzen gebildeten Welt, soweit sie sich der Reformation nicht verschlossen hat, einen der Vorkämpfer für die Freiheit des Gedankens.

Ulrich (Huldreich) Zwingli wurde am 1. Januar 1484 in Wildhaus geboren, einem Alpendorf zwischen dem Säntis und den Churfirsten im Bezirk der Quellbäche der Thur, wo man, am Westende, noch heute die altersgraue Holzhütte zeigt, in welcher seine Wiege gestanden. Sein Vater war ein wohlhabender Bauer, auch Ammann der Gemeinde; seine Mutter hieß Margaretha geborene Meili, ihr Bruder stand von 1510 bis 1523 als Abt dem Kloster Fischingen im Thurgau vor. Die Kindheitsjahre verlebte der Knabe in ungetrübtem Frohsinne inmitten der großartigen Gebirgswelt und im trauten Schooße einer geordneten, kinderreichen Familie. Gar freudvoll vergingen die langen Winterabende, wenn der Vater die Großthaten der Ahnen erzählte, wie sie gegen verschiedene Machthaber sich die Freiheit errungen und behauptet, und die Großmutter mit biblischen Geschichten und Legenden die Herzen der Kinder erregte. Mit neun Jahren kam Ulrich nach Wesen am Wallenstätter See, wo sein Oheim (seines Vaters Bruder) Decan war, unter dessen Aufsicht er auch die dortige Schule besuchte. Zwei Jahre später schickten Oheim und Vater ihn nach Basel, im Jahre 1497 nach Bern zu dem weitgereisten, sprach- und geschichtskundigen Heinrich Wölflin. Als die dortigen Dominikaner den begabten Jüngling wegen seiner schönen Singstimme dauernd für ihren Orden zu gewinnen suchten, ging er 1499 auf die Wiener Hochschule, die damals einen neuen Aufschwung genommen hatte, und hier studirte er im Kreise strebsamer Altersgenossen aus der Schweiz und aus Schwaben zwei Jahre lang Philosophie.

Die Jahre 1502 bis 1506 brachte er wieder in Basel zu; hier wurde der bereits in reformatorischem Geiste wirkende Thomas Wyttenbach sein Lehrer und Führer in der Theologie, in welcher [851] derselbe bereits an die Stelle der veralteten Scholastik die heilige Schrift gesetzt hatte; zugleich wirkte Ulrich hier als Lehrer an einer Lateinschule. Er war erst zweiundzwanzig Jahre alt, als die Gemeinde von Glarus ihn zu ihrem Pfarrer wählte.

Der „Kilchherr von Glarus“ versah seine Stelle zehn Jahre lang mit dem vollem Bewußtsein von der schweren Verantwortlichkeit seines Pfarramtes als praktischer Seelsorger, ohne übrigens hinter den nächstliegenden Aufgaben seines Berufes und dem eifrig fortgesetzten Studium des Neuen Testaments die alten Classiker und die „Reformatoren vor der Reformation“ Petrus Waldus, Wiklef, Hus, sowie den geisteskühnen italienischen Philosophen Picus von Mirandula (1463 bis 1494) hintanzusetzen. Angeblich als wissenschaftliches Stipendium, in Wahrheit um ihn an den römischen Stuhl zu fesseln, setzte ihm damals der Papst auf Antrag seines Legaten ein Jahrgehalt von fünfzig Gulden aus, wegen dessen der Reformator, der später so mannhaft wider die fremdländischen Pensionen auftrat, in alter und neuer Zeit viel angefochten worden ist, das ihm übrigens nach seiner eigenen Darstellung aufgedrängt wurde und dem er im Jahre 1517, noch entschiedener im Jahre 1520 absagte.

Daß Zwingli noch im Jahre 1512 ein treuer Sohn der römischen Kirche und wenigstens in allen praktischen Fragen ein ergebener Anhänger des Papstes war, bethätigte er bei Gelegenheit des „Pavierzugs“, den er selbst beschrieben hat und den er als Feldpriester seines Landesbanners mitmachte. Damals vertrieben 20,000 Eidgenossen, welche Bischof Schinner für den Papst Julius II. gewonnen hatte, in wenigen Wochen die Franzosen aus der Lombardei, wofür sie den Ehrentitel „Vertheidiger der Freiheit der christlichen Kirche“ erhielten. Ruhmvoll, aber weniger glücklich, fiel der gleichfalls in päpstlichem Solde von den Eidgenossen gegen Franz I. unternommene Feldzug des Jahres 1515 aus, der mit der furchtbaren Niederlage von Marsignano (13./14. September) und dem „ewigen Frieden mit Frankreich“ (1516) endigte. Zwingli hatte auch diesen blutigen Tag mitgemacht. Er kehrte mit reifen Lebenserfahrungen von seinen Kriegsfahrten zurück, und fortan verurtheilte Niemand strenger als er den kriegerischen Söldnerdienst seiner Landsleute, das „Reislaufen“.

Doch bald konnte er sich in Glarus, wo die französische Partei die Oberhand gewonnen hatte, nicht länger halten und übernahm mit Freuden die untergeordnete Pfarrhelferstelle in dem weltberühmten Wallfahrtsort Maria-Einsiedeln. Abt war damals Conrad von Rechberg, Pfleger aber Diebold von Geroldeck, ein Mann, der, freien Geist mit der Liebe zu den Wissenschaften verbindend, Zwingli’s Werth sofort erkannte und es ihm möglich machte, dieses schweizerische Delphi in seine Wartburg zu verwandeln. Er bekam Mittel und Muße, seine biblischen Studien fortzusetzen und die griechische Sprache zu erlernen. Vom Neuen Testament schrieb er sich die Briefe des Paulus in der Grundsprache ab und lernte sie auswendig, kurz er sammelte hier die Waffen für seine späteren Kämpfe. Dazu hatte er auch nirgends bessere Gelegenheit, wie hier, den crassen Aberglauben der mittelalterlichen Kirche an der Quelle zu studiren. Oeffentlich begnügte er sich damit, einfach biblisch zu predigen, und auch sein rückhaltloses Auftreten gegen den die Schweiz bereisenden Ablaßkrämer Samson (Herbst 1518) hat bei Weitem nicht die Bedeutung, wie der fast gleichzeitige Kampf Luthers gegen Tetzel, schon deswegen nicht, weil Samson in der Schweiz nicht die mächtigen Gönner besaß, wie Tetzel in Deutschland.

Erst mit der Uebernahme des Pfarramts am Großmünster in Zürich, in das er an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, am 1. Januar 1519 eintrat, beginnt sein eigentliches reformatorisches Wirken.

Dem Zwecke dieser Zeilen entsprechend deuten wir den Gang dieses reformatorischen Wirkens nur in den allgemeinsten Grundzügen an. Luther’s mehr gelegentlichem und räumlich zersplittertem, urkräftigem, aber oft auch stürmischem Eingreifen in die religiösen Zeit- und Streitfragen gegenüber erscheint Zwingli’s reformatorische Wirksamkeit wie ein wohldurchdachter, auf das innigste Zusammenwirken von Kirchenwesen und Staatsgewalt begründeter Feldzugsplan.

So erklärte er gleich beim Antritt seines Züricher Pfarramtes rundweg und öffentlich, daß es von jetzt an gelte, das Evangelium von Christo „ohne Menschentand“ zu verkündigen und das Neue Testament vom ersten Capitel des Matthäus an durchzupredigen, und da er dies ohne Wanken durchführte, so erfocht er mit dem Schwert des Geistes der Sache der Reformation binnen wenigen Jahren in Zürich einen vollständigen Sieg. Marksteine in diesem Kampfe sind die drei großen Religionsgespräche von 1523 und 1524, welche in Folge des Eingreifens der weltlichen Obrigkeit unmittelbar praktische Folgen hatten und nach einander Fastengebote, Messe, Heiligenbilder-Verehrung und die erzwungene Ehelosigkeit der Geistlichen für das Züricher Gebiet und darüber hinaus beseitigten. In der Frage der gewaltsamen Entfernung aller Werke der bildenden Kunst aus den Gotteshäusern nahm Zwingli theoretisch eine vermittelnde Stellung ein; praktisch wurde er freilich von den Stürmern und Drängern überholt.

Im Jahre 1524 – also wiederum fast gleichzeitig mit Luther – trat Zwingli in die Ehe mit Anna geborene Reinhard, der Wittwe eines Meyer von Knonau. Er hinterließ einen gleichnamigen Sohn, der eine gelehrte Laufbahn einschlug.

Von dieser Zeit an werden Zwingli’s kirchenpolitische Pläne immer weittragender. Bern, nebst einigen anderen Schweizerstädten, wurde zwar von ihm noch für die Reformation entschieden gewonnen; aber die Verbindung der Schweizer mit den evangelischen Fürsten und Städten Deutschlands, die der Landgraf Philipp von Hessen so gern vermittelt hätte, scheiterte an der schroff ablehnenden Haltung Luther’s bei Gelegenheit des zur Beilegung des Abendmahlstreites berufenen Marburger Religionsgesprächs (1529). Der Widerspruch gegen den kühnen und gewaltigen geistlichen Dictator fand in Zürich und Bern festen Boden, während für die dem alten Glauben treu gebliebenen Eidgenossen die „fünf Orte“ Luzern, Zug, Uri, Schwyz und Unterwalden einen festen Mittelpunkt bildeten. Zwischen ihnen und Zürich entbrannte ein Bruderkrieg.

Wohl riefen die Züricher Sturmglocken die Streiter zusammen, aber Befehle und Gerüchte liefen beängstigend durch einander, und als die Stunde des Aufgebots schlug, war erst ein geringer Theil der Mannschaft zum Abmarsch bereit. Mit diesem Häuflein zog Ulrich Zwingli nun zum dritten Male als Feldprediger über den Berg nach Kappel. Todesgedanken begleiteten ihn diesmal auf dem Wege. Es war der 10. October 1531. Als sie auf das Schlachtfeld kamen, befand ein schwacher Vortrab der Ihrigen sich schon im Feuer, fünfhundert Mann stark standen sie achttausend Feinden gegenüber. Die Züricher kämpften um das Leben, aber von den Tapferen sah keiner die Sonne untergehen. Umringt und niedergeschmettert bedeckten sie den Boden. Mitten unter ihnen lag auch Ulrich Zwingli, zum Tode verwundet, die Hände auf der Brust gekreuzt. Katholische Soldaten sahen ihn so und riefen ihm zu: „Willst Du beichten und zur heiligen Jungfrau beten?“ Zwingli schüttelte das Haupt und empfing den Todesstoß. Am zweiten Tage darnach schleppten sie den Leichnam zum Scheiterhaufen und streuten die „verfluchte“ Asche des Ketzers in alle Winde. Sein Herz aber, verkündet die Sage, sei unversehrt zwischen den Feuerscheinen gefunden worden.

So endete der Schweizer Reformator, dessen Name für alle Zeiten würdig neben dem des deutschen Martin Luther in der Weltgeschichte glänzt. Nicht mit Unrecht hat der alte Meister, nach dessen Kupferstich unser Bildniß (auf Seite 844) entworfen worden, in lateinischer Sprache den Bibelspruch auf Zwingli bezogen: „Kommt zu mir, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken.“

Wenn auch Ulrich Zwingli in manchen Stücken, wie als Sprachmeister, als theologischer Schriftsteller, als Dichter, auch was weitgreifende Popularität anlangt, hinter Luther zurücksteht, so ragt er doch als urkräftiger Geist empor, und manche Züge seines Wesens, vor Allem die Unbefangenheit, mit der er, auch wenn er Luthern als Gegner gegenübertritt, die Größe des deutschen Reformators voll und ganz würdigt, gewinnen ihm mit unserer Verehrung auch unsere Liebe.

Und gerade weil er, wie er selbst betont, ganz von sich aus auf seine reformatorischen Gedanken gekommen ist und dieselben durchgeführt hat, wird sein Charakterbild die wesentlichste Ergänzung zum Verständniß der großen Reformationszeit bleiben.
Paul Lang.     
[852]

Die Photographie in der alpinen Hochregion.

„Der Photograph im Hochgebirge“, dessen Mühen und Leistungen den Gegenstand meiner heutigen Betrachtung bilden, dürfte den wenigsten Lesern der „Gartenlaube“ bekannt sein, und so halte ich es für meine Pflicht, zunächst seine Stellung in der großartigen Alpenwelt näher zu bezeichnen.

Eine komische, in den „Fliegenden“ und anderen Blättern ständige Figur ist der Photograph unter dem schwarzen Tuch mit den drei hölzernen Füßen vorn und seinen zwei höchst eigenen hinten. Er erinnert an die Vierfüßler in einer Maskerade, die man mittelst zweier Zweifüßler künstlich darzustellen sucht, oder an eines der abenteuerlichen Thiere aus der Apokalypse. Der besagte Fünffüßler ist in der Ebene und auf den Höhen bis etwa 2400 Meter häufig anzutreffen. Zeigt aber das Barometer auf 3000 oder sogar auf 4000 Meter über dem Meeresspiegel, so wird er nur durch wenige Exemplare vertreten.

Gewöhnlich ist er von Mitternacht bis 6 Uhr Abends thätig, denn der alpine Photograph und der Gemsjäger haben das gemein, daß sie beide lange vor Morgengrauen auf dem Weg sein müssen, um bald nach Sonnenaufgang die Jagd beginnen zu können. Ein Repräsentant unserer Species muß sich unter glühendem Sonnenbrand auf Firn und Fels, zwischen Gletscherschründen, neben drohenden Lawinen, bei Sturm, Nebel und Schneegestöber weidlich herumplacken, um Matterhorn, Monte Rosa, Jungfrau, Wetterhorn einfach in’s Schiebkästchen zu stecken und im Bild mit den allerkleinsten Details nach Hause zu bringen. Deswegen ist auch für ihn ein leichter Anflug von künstlerischem oder ästhetischem Instinct unerläßlich.

Vor Allem aber gehört zu diesem Handwerke, welches, beiläufig gesagt, nicht nur keinen goldenen Boden hat, sondern eher einem Danaidenfaß gleicht, eine große Dosis Geduld und Zeit, denn oft begegnen wir dem hochalpinen Photographen nicht nur in komischen, sondern in heroisch-komischen Situationen. Es kann vorkommen, daß der unglückliche Zweifüßler dazu gezwungen wird, unter dem Dreifüßler durchzukriechen, um seine Manipulationen zu einem gedeihlichen Ende zu bringen, weil er zwischen Höhe und Absturz an einer einzigen Stelle hat Posto fassen können.

Ein Unwetter droht. Rasch muß abgeprotzt werden, um den aufsteigenden Nebeln zuvor zu kommen. Ist der Standpunkt nur einigermaßen günstig, so darf man nicht lange wählerisch sein. Vom Führer geht das Commando auf den Photographen über. Manipulationen, welche schon auf normalem Terrain große Vorsicht erheischen, müssen jetzt so schnell und so kaltblütig wie möglich erledigt werden unter Strafe des Mißlingens. Der Schnee ist weich, und es ist zu befürchten, daß der Apparat während der Belichtung einsinkt. Die Führer stampfen denselben daher unter ihren wuchtigen Sohlen zusammen, und um gar keine Vorsichtsmaßregel zu vernachlässigen, wird noch das Stativ unten mit Holzscheiben versehen. Die Horizontale gewahrt und Achtung! Denn der Wind spielt dem Rahmen mit dem schwarzen Tuche etwas zu stark mit.

Die gefährlichste Stelle, an welcher ich jemals den photographischen Apparat aufpflanzte, war die Spitze des Wetterhornes, welches ich kühn genug war, zu meinem allerersten Debut zu wählen. Eine Firnscheide von etwa acht Meter Länge und ein bis eineinhalb Meter Breite, gegen Norden mit kurzer, halbgewölbter Böschung, in’s Innere gegen die große Scheidegg abfallend, südlich die Firnwand von 56°, über welche man sich zur Höhe heraufarbeitet, so war das wonnige Plätzchen beschaffen, auf welchem ich mich mit drei Führern und Zubehör nothgedrungen in einer Front niederließ, um meine ersten Sporen zu verdienen.

Allein ich zog den Kürzeren, denn aller praktischen Erfahrung bar, traf ich keine Vorsichtsmaßregeln gegen das langsame Einsinken des Stativs, welches sich rittlings auf zwei steilen Firnhängen befand. Damals dauerte die Belichtung noch vier bis zehn Minuten.

In verflossener Saison mußte ich bei starkem Winde und wogendem Nebel die Berglihütte, Clubhütte ersten und höchsten Ranges auf der großen Landstraße zwischen Grindelwald (Bern) und Eggischhorn (Wallis), von einer acht Tage zuvor gefallenen kolossalen Eis- und Schneelawine aus in’s Objectiv nehmen. Das Terrain war ebenso unbotmäßig wie das Wetter, und doch brachte ich ein unter diesen Umständen befriedigend ausgefallenes Cliché zu Stande. Bei der Hütte angelangt, hatte ich auf drei Seiten die steilsten Felsabstürze, übrigens nicht unschwer zu begehen, und über mir die Felsklippen des Bergli, Summa summarum kaum drei Schritte Distanz, um die Hütte aufzunehmen. Ich ließ mich an’s Seil binden, das Seil an die Hütte und postirte einen Führer, um mich vor jetztlichem „Fehltritt“ zu bewahren.

Deu Clichés merkt man freilich die drei Schritte Distanz an. Mit Conserven, Suppen, Thee, Eiern, Milch etc. reichlich versehen, brachten wir eine sehr comfortable Nacht in diesem niedlichen, wie ein Adlernest an den Felsen angeklebten Boudoir zu; Schneefall, Nebel, Wetterleuchten und Lawinendonner erinnerten mich über Nacht an die Wolfsschlucht im „Freischütz“.

Die Sectionen des Schweizerischen Alpenclubs im Canton Bern sorgen redlich dafür, daß die unter ihrer Obhut befindlichen Schirmhütten möglichst gut eingerichtet werden. So besitzt die eben erwähnte Berglihütte nicht nur ein hübsches Fremdenbuch, sondern auch, in der nämlichen Blechschachtel verwahrt, gute Schreibfedern und ein mit wirklich flüssiger Tinte garnirtes Tintenfaß. Ich kann es mir nun nicht versagen, die Widmung hier anzuführen, welche der mit unerschöpflicher poetischer Ader begabte Bergpfarrer von Grindelwald, Herr G. Strasser, auf die erste Seite des „Fremdenbuches“ gesetzt hat:

„Herren und Führer und wär’s eine Dame,
Schlüpfet nur unter; ich berge euch gut.
Kochet euch Labung und strecket die Glieder;
Seht, wie behaglich im Strohe man ruht.

Kommt ihr von unten her, kommt ihr von oben,
Ist euch gelungen die Fahrt oder nicht,
Wandergenossen von allen Nationen,
Alle empfange ich herzlich und schlicht.

Wollt ihr der ‚Jungfrau‘, dem ‚Mönche‘ zu Leibe
Oder hinüber nur über den Paß –
Einerlei! Werdet hier rüstig aus müde,
Heiter aus mürrisch und trocken aus naß.

Aber dieweil ihr hier sicher geborgen,
Denket ihr Freunde, wie früher es war:
Keine Clubhütten! Nothdürftig gesichert
Unter den Felsen vor Nacht und Gefahr.

Rechnung! Da braucht ihr mir keine zu zahlen;
Rechnet mit Gott, und ich wünsche euch Glück.
Eines doch muß ich vor Allem verlangen:
Lasset mich hübsch in der Ordnung zurück!“

Ich komme nun zu den wenigen Repräsentanten unserer Species.

Es ist nicht Jedermanns Sache, ein derartiges Steckenpferd zu halten und manchmal Wochen lang warten zu müssen, um es nur während einiger schöner, lang ersehnter Tage tüchtig zu reiten. Deswegen können auch Photographen von Fach, wie in früheren Jahren Bisson in Paris und jetzt noch B. Johannes in Partenkirchen, Braun in Dornach etc., nur ausnahmsweise Erfolge in der Hochregion erringen, haben aber dennoch manche schöne und interessante aufzuweisen.

Auch von französischen Alpenclubbisten wurde und wird der photographische Apparat in den Wildnissen der Dauphiné-Alpen und sogar hoch oben an den berüchtigten Felswänden der Meije aufgepflanzt. Es existiren interessante Privatcollectionen, allein meines Wissens wenigstens sind die Dimensionen dieser Aufnahmen, meistentheils 7 X 11 Centimeter, zu klein, um prägnante Bilder zu geben.

Der Virtuos par excellence, dessen photographische Bergsymphonien ich am besten beurtheilen kann, da ich einen für uns Beide sehr ersprießlichen Tauschhandel mit ihm treibe, ist unbedingt Herr Vittorio Sella in Biella (Piemont). Im kräftigsten Alter stehend, reitet er „unser“ Steckenpferd mit italienischem Feuer, das er mit piemontesischer Zähigkeit und mit einem, ich möchte sagen, schwärmerischen Fanatismus verbindet. Sein gestählter Körper, der es ihm erlaubt, sich sogar im Januar bei 16 bis 20 Grad unter Null den größten Strapazen in der Hochregion ungestraft auszusetzen, sowie nicht unerhebliche finanzielle Mittel, denn er bedient sich der neuesten und kostspieligsten Apparate, haben Resultate zu Stande gebracht, deren Erreichung ich noch vor wenigen Jahren als unmöglich betrachtet hätte. Nicht zufrieden, ein vollständiges Panorama in Blättern von 20 zu [853] 24 Centimeter von der Spitze des Matterhorns (4482 Meter) hergestellt[WS 1] zu haben, welches in Zürich im Pavillon des Schweizerischen Alpenclubs ausgestellt war, hat er sich noch während der diesjährigen Saison bei Zermatt und in der Montblancgruppe herumgeschlagen und circa 50 Clichés von der Größe von 30 zu 40 Centimeter, beinahe ohne Ausnahme eigentliche Cabinetsstücke von meistentheils über 4000 Meter hochgelegenen Landschaften zu Stande gebracht, welche seine früheren, schon bedeutenden Leistungen womöglich noch in den Schatten stellen. Seine Sammlung besteht nunmehr aus etwa 160 Aufnahmen.

Einige Blätter von Herrn Donkin, Mitglied des Englischen Alpenclubs, sind ebenfalls in Zürich vom Schweizerischen Alpenclub ausgestellt worden. Unter denselben sind hauptsächlich drei auf der Spitze des Schreckhorns (4080 Meter) aufgenommene Ansichten von unübertrefflicher Feinheit hervorzuheben; ferner Originale und Vergrößerungen von ebenso malerischer wie ausgezeichneter Ausführung und prägnanter Wirkung aus schwer zugänglichen alpinen Regionen. Seine Sammlung umfaßt etwa 170 Ansichten, deren Dimensionen ungefähr 11 zu 17 Centimeter betragen.

Aufstieg zur Mönchshütte.   Die Spitze des Mönchs.
Nach photographischen Aufnahmen von J. Beck.

Was nun meine Wenigkeit betrifft, so wurde ihr vom Englischen Alpenclub im „Alpine Journal“, Februar 1883, das Zeugniß eines Pionniers der hochalpinen Photographie ertheilt.

Meine Kataloge umfassen 672 Clichés[1], worunter sich ebenfalls manche Cabinetsstücke befinden. Nichtsdestoweniger werde ich in Zukunft etwas bremsen und mich mit Gelegenheitsaufnahmen begnügen, denn mein Material respective Apparat und Objectiv stehen nicht mehr auf der Höhe von Kunst und Wissenschaft und verhalten sich zu dem Sella’schen Geschützparke wie ein alter Achtundvierzigpfünder zu den modernen Hunderttonnengeschützen.

 J. Beck,
 Mitglied des Schweizerischen Alpenclubs, Section Bern.




Blätter und Blüthen.

Noch einmal General Wolffersdorff, der Bedränger Altenas. In Blätter und Blüthen der Nr. 42 hat die „Gartenlaube“ das äußerst gewaltthätige Verfahren geschildert, das sich General Wolffersdorff (so ist die richtige Schreibung des Namens) zur Zeit Friedrich’s des Großen gegen das Städtlein Altena zu Schulden kommen ließ, wofür er vom König einen scharfen Verweis erhielt. Nur „in Erwägung seiner sonstigen Meriten“ belegte Friedrich II. den General nicht nach Gebühr mit einer härteren Strafe. Nachdem die Leser der „Gartenlaube“ den alten Haudegen von einer üblen Seite kennen gelernt, sei es gestattet, auch seiner „Meriten“ zu gedenken, um deren willen er beim alten Fritz einen großen Stein im Brette hatte, worauf er freilich bei seinem übermüthigen Zuge gegen Altena allzu sehr sich verlassen zu haben scheint.

Passirt man, vom Bahnhofe kommend, das Wittenberger Thor der Elbfestung Torgau, so gewahrt man rechts von der Straße im inneren Raume der Schleusenlünette Nr. 3 (Lünette Wolffersdorff) eine aus polirtem Granit gefertigte Pyramide mit der Inschrift: „Zur Erinnerung an die tapfere Vertheidigung von Torgau durch den königlich preußischen Oberst von Wolffersdorff vom 10. bis 14. August 1759.“

Torgau war 1759 noch nicht eine regelrecht ausgebaute Festung. Ein einfacher Erdwall mit Graben umgab und schützte die Stadt. Trotz dieser ungenügenden Befestigung hatte der Commandant Wolffersdorff drei Sturmangriffe des Feindes nicht nur völlig abgeschlagen, sondern war auch beim dritten dieser Angriffe dem zur Flucht sich wendenden Gegner nachgefolgt und hatte ihm noch manchen Verlust beigebracht.

Damit aber hatten die Belagerten auch das Letzte gethan, was ihnen noch möglich war; denn es mangelte ihnen jetzt an aller Munition.

Wiederholt hatte der Befehlshaber des Belagerungscorps, Prinz von Stolberg, die Capitulation angeboten und war dabei selbst so weit gegangen, daß er die Hauptbedingungen derselben Wolffersdorff überließ. Die Unterhandlungen gelangten zu dem Abschluß, daß der Garnison ein freier, ehrenvoller Abzug bewilligt wurde und sie ihre Waffen behielt. Der betreffende Passus der Capitulation lautete: „Der königlich preußischen Garnison wird freier Abzug mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen, der Artillerie mit brennenden Lunten bewilligt.“

In einem besonderen Artikel hatte der capitulirende Oberst von Wolffersdorff sich noch ausbedungen, daß, so lange die Besatzung nicht [854] aus der Stadt und aus der Schanze vor dem Elbbrückenthore völlig ausmarschirt sei, kein Ueberläufer in die Reihen der Feinde aufgenommen werden solle. Mit gutem Grunde hatte Wolffersdorff auf diesem Punkt bestanden. Er wußte, daß unter seinen Truppen viele Ueberläufer und solche waren, die als Kriegsgefangene Dienste genommen hatten, und es war ihm nicht verborgen, was er von einem Theile derselben bei dem Abzug zu erwarten hatte.

So zog denn am 15. August 1759 Morgens 8 Uhr die Besatzung von Torgau mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen aus, ihren Weg über die Elbe nach Wittenberg nehmend. Jenseits der Elbe waren auf der großen Wiese zwei Bataillone Kroaten des österreichischen Generals Luczinsky zur Rechten und Linken zur Parade aufgestellt, zwischen denen hindurch die abziehenden preußischen Truppen marschirten. Ebendort, unweit des Ausganges der Elbschanze, hielt auch Prinz von Stolberg mit seinem Stabe.

Nicht ohne Achtung konnten der Prinz und sein Gefolge die preußischen Truppen vorüberziehen sehen, die so rühmliche Beweise ihres Muthes und ihrer Tapferkeit gegeben hatten.

Der Oberst von Wolffersdorff hatte, während die Tambours den preußischen Grenadiermarsch schlugen, den ersten Zug des Regiments Hessen-Kassel an dem Prinzen Stolberg vorübergeführt und stellte sich nun, nach dem üblichen Gebrauch, neben dem Prinzen auf, um den Vorbeimarsch selbst beobachten zu können. Da wurde dieser plötzlich durch einen schlimmen Vorfall unterbrochen. Als nämlich das Bataillon von Grolmann in die Nähe des Prinzen kam, rief ein Adjutant des Letzteren mit lauter Stimme den Mannschaften zu:

„Wer unter Euch ein Reichskind oder ein Kaiserlicher ist, der trete aus! Seine Durchlaucht geben solchen allen Schutz!“

Auf diesen Zuruf trennten sich die Glieder des zumeist aus österreichischen und anderen Ueberläufern und Gefangenen bestehenden Bataillons; der größte Theil der Mannschaften lief weg und versteckte sich hinter den Palissaden, sowie hinter den am Wege aufgestellten Kroaten oder im Graben unter der Brücke; einige liefen auch nach den am Elbufer liegenden Kähnen.

In dieser schwierigen Situation verlor Wolffersdorff keinen Augenblick die Fassung. Sofort war er an das Bataillon herangesprengt und rief mit Donnerstimme:

„In den Zügen geblieben oder ich lasse Euch niederschießen, Galgen und Rad soll die Ausreißer treffen!“ – eine Drohung, die er sofort damit bekäftigte, daß er ein Pistol aus dem Gürtel riß und dem ihm zunächst Austretenden eine Kugel durch den Kopf jagte.

Inzwischen war der Prinz Stolberg herangekommen und sagte zu dem Oberst mit drohender Stimme, er möge das bleiben lassen, widrigenfalls es nicht gut gehen würde. Ohne ihn jedoch im Geringsten zu beachten, ertheilte Wolffersdorff seinem Adjutanten von Bonin Befehl, dem schon vorbeigezogenen Regimente Hessen–Kassel nachzujagen und demselben die Ordre zu bringen, Halt und Kehrt zu machen und sich zum Schlagen fertig zu halten. Er selbst sprengte zurück zu dem Bataillone Hoffmann, welches dem Grolmann’schen folgte, und commandirte: „Das ganze Bataillon Halt! Front! Fertig!“ Der Artillerie aber sandte er durch einen andern Adjutanten den Befehl, abzuprotzen und mit Kartätschen zu laden. Hierauf ritt er zu dem Prinzen zurück, setzte ihm zornglühenden Gesichts das zweiläufige Pistol, dessen einer Lauf noch geladen war, auf die Brust und rief ihm mit starker Stimme zu:

„Durchlaucht haben die Capitulation gebrochen, somit bin auch ich nicht mehr daran gebunden. Sie sind mein Gefangener, oder ich schieße Sie auf dem Flecke nieder und lasse Ihr ganzes Gefolge von diesem Bataillone niederschießen. Ich werde in die Stadt zurückgehen und von Neuem anfangen, mich zu wehren. Reiten Sie in die Schanze, oder ich lasse anschlagen und Feuer geben.“

Diese Entschlossenheit brachte den ganz verdutzt dreinschauenden Prinzen aus aller Fassung, zumal er sah, wie vor seinen Augen und ganz in seiner Nähe verschiedene Ausreißer von preußischen Husaren und Infanteristen niedergeschossen und niedergehauen wurden. Er machte Einwendungen, mußte aber aus dem Munde des erbitterten Obersten so demüthigende Reden vernehmen, wie sie unter anderen Umständen ein Reichsfürst sich nicht hätte bieten lassen.

Jetzt kam der General Luczinsky, der weiter vorn gehalten, herbeigesprengt, um sich nach der Ursache der eingetretenen Stockung des Zuges zu erkundigen. Er war erstaunt, den Prinzen in einer Lage zu finden, wo derselbe nur zwischen Tod und Gefangenschaft zu wählen hatte. Als er jedoch des Näheren vernommen, was vorgefallen, wandte er sich mit ernstem Ton an den Prinzen und sagte:

„Ei, ei, Durchlaucht, der Oberst hat Recht, was capitulirt ist, muß gehalten werden.“

Wohl oder übel mußte jetzt der Prinz sich der Demüthigung unterziehen, die Ueberläufer aufzufordern, wieder in Reih und Glied zu treten. Mehrere derselben trieb General Luczinsky selbst hinter den Reihen seiner Kroaten hervor. An Todten, Verwundeten und solchen, die in Kähnen über die Elbe entkommen waren, kostete dieser Tumult den Preußen 1 Unterofficier und 67 Mann.

Wegen dieses Zwischenfalles stellte Wolffersdorff neue Zusatzbedingungen zur abgeschlossenen Capitulation, welche ihm den freien Abzug sichern sollten. Auf diese einzugehen, zauderte anfänglich der Prinz von Stolberg. Da indessen Wolffersdorff (der, nebenbei gesagt, auch durch seine riesige Figur imponirte) durch das von ihm mit dem Finger am Drücker dem Prinzen stets vorgehaltene Pistol seinen Worten Nachdruck gab, überdies der Prinz auch wahrnehmen mußte, daß schon mehrere Officiere der Reichsarmee, weil das Hoffmann’sche Bataillon schußfertig stand, die Degen und Säbel losschnallten, um sich gefangen zu geben, so blieb ihm nichts übrig, als alle Punkte der Forderung zu bewilligen. Unbehindert setzte nun Wolffersdorff mit seinen Truppen den Marsch fort und traf am 16. August in Wittenberg ein, wo er nachstehende Cabinetsordre seines Königs vom 14. August 1759 vorfand:

„Mein lieber Obrister v. Wolffersdorff. Da die Russen mich bei Kunersdorff zur Retraite gezwungen, so habt Ihr in Torgau in bestmöglichster Art zu capituliren, doch sorgt dafür, daß Ihr freien Abzug nach Potsdam erhaltet, und meldet Euch, wenn Ihr dorthin gekommen seid. Ich bin Euer wohl affectionirter König

Fürstenwalde, den 14. August 1759. Fr–ch.“     

Unter dem 20. August sandte Wolffersdorff einen eingehenden Bericht über die stattgehabten Ereignisse an den König. Dieser, obwohl in seiner damaligen bedrängten Lage mit Ertheilung von Belobigungen durchaus nicht sehr freigebig, schrieb zurück:

„Mein lieber Obrister v. Wolffersdorff. Ich habe Euer Schreiben vom 20. dieses erhalten, muß Euch Meine ganz besondere Satisfaction über Euren in Torgau während der Belagerung sowohl als auf dem Ausmarsch Eurer unterhabenden Bataillons bezeigten Dienst-Eyffer und Fermeté hierdurch zu erkennen geben. Ihr könnt Euch versichert halten, daß ich Euer unvergessen und auf Eure Avangtage und avancement bedacht sein werde. Ich bin Euer wohl affectionirter König

Fürstenwalde, den 26. August 1759.Frch.“     

Um dieser Meriten willen pardonnirte später der König dem General von Wolffersdorff „die mauvaise Altenaer Geschichte“. Wolffersdorff ist am 6. Mai 1781 als Generallieutenant und Chef eines Infanterieregiments gestorben. Erich Schild.     




Scene aus dem Fuchs- und Hasenleben. (Mit Illustration S. 841) Im Charakter unseres Reineke findet sich vielleicht kein Zug so scharf ausgeprägt, wie Mißtrauen und kaltblütige Vorsicht. Dies zeigt sich auch in seinem anscheinend einseitigen Verhalten bei einer Treibjagd. Während andere kleine Wildarten außer ihrer Schnelligkeit auch noch manche kleine List anwenden und durch Absprünge, Rückwechsel oder seitliches Ausbrechen ihre Verfolger zu täuschen suchen – hält der Fuchs sich mit all diesen kleinlichen Versuchen keine Secunde auf; beim ersten verdächtigen Geräusch ist er unbemerkt auf und davon und sucht vor Allem seinen werthen Balg gänzlich aus dem Bereich seiner Verfolger zu bringen, indem er oft stundenweit entfernt gelegene Zufluchtsstätten auf dem nächsten Wege zu erreichen sucht. Nur in starken Dickungen, in denen die tief gelegenen Baue befindlich, läßt der Fuchs sich wohl eine Zeitlang im Kreise herum jagen, und der anstehende Jäger sieht dann oft mit Verwunderung den Fuchs zuletzt in ruhiger Haltung kaum 20 bis 30 Schritte hinter den laut jagenden Hunden daher kommen. – Seine Flucht ist niemals eine unbedachte, kopflose – ja es ereignet sich gar nicht selten, daß ein flüchtiger Fuchs im Waldtreiben einen in blinder Eile an ihm vorüberstürmenden Hasen mit einem blitzschnellen Satze überrollte und durch einen Biß in’s Genick tödtete. Eine solche der Wirklichkeit abgelauschte Scene bringt unsere Abbildung zur Anschauung. – Reineke ist im Begriff, dem unglücklichen, klagenden Lampe rasch den Garaus zu machen; hinter der Gruppe im Mittelgrund stockt ein zweiter Hase im raschen Lauf und starrt erschrocken nach der Stelle, woher die Klagetöne seines verendenden Cameraden erschallen. – Draußen auf dem freien Felde ist die Jagd noch im vollen Gange – die Schüsse knallen auf allen Seiten, hier und dort stürzen die getroffenen Hasen verendend nieder und zwischen ihnen rennen die noch unverletzten, betäubt durch das Lärmen, hier und dorthin über die schneebedeckte Fläche. – Reineke aber wird nicht lange bei seinem Raube verweilen, sondern schleppt ihn nur wenige Schritt weit abseits, um ihn rasch und oberflächlich in Laub und Schnee zu verscharren und dann über Nacht zu seiner mit Geistesgegenwart und Gewandheit errungenen Beute zurückzukehren.




Zwei Fahrstühle und ein Flügel sind uns, auf unsere Bitte in Nr. 29 der „Gartenlaube“, aus dem Kreise unserer Leser zur Verfügung gestellt worden. Von den beiden Fahrstühlen, die wir Herrn C. Trippler zu Jerichow und Herrn Oberpfarrer G. Schmidt zu Dommitzsch bei Torgau verdanken, ist der eine nach Merseburg, der andere nach Polnisch-Wartenberg an zwei Männer überwiesen worden, von denen der eine rückenmarksleidend ist und der andere seit zehn Jahren die Erquickung, einmal in die frische Luft und unter Gottes freien Himmel zu kommen, entbehren mußte, weil die Kosten eines Fahrstuhls für ihn unerschwinglich waren. „Ist ein solch Vehikel auch ein wehmüthig Weihnachtsgeschenk für den, der es gebrauchen muß, so ist’s doch gewiß doppelt willkommen, wenn man es aus Noth entbehren mußte.“ Diese Bemerkung des einen der beiden wohlthätigen Herren möchten wir Denen an’s Herz legen, welche im Stande sind, mit solchen „wehmüthigen Geschenken“ Leidende zu beglücken.

Den Flügel, ein Werk von Wyszniewsky sen., stellte uns Frau Elise Bloem, geborene Glatz, in Schöneberg bei Berlin, mit der Bemerkung zur Verfügung: „Ehe das Instrument durch Verkauf vielleicht um einen Spottpreis in zweifelhafte Hände geräth, will ich es lieber verschenken, wenn ich einem Würdigen damit eine Freude bereite.“ Wir wiesen dieses Christgeschenk einer armen Lehrerwittwe in Berlin zu, deren beide Söhne, die sich dem Berufe ihres Vaters widmen, den würdigsten Gebrauch von dieser Gabe machen werden.



Inhalt: An unsere Leser. S 837. – Glockenstimmen. Von Stephanie Keyser (Schluß). S. 838. – Schnee- und Eisflora. Ein Bericht von Clarus Sterne. S. 845. – In der Dampfwäscherei. Von St. v. J. S. 848. Mit Illustrationen. S. 848 und 849. – Zwingli der Reformator. Von Paul Lang. S. 850. Mit Portrait. S. 844. – Die Photographie in der alpinen Hochregion. Von J. Beck. S. 852. Mit Abbildungen. S. 853. – Blätter und Blüthen: Noch einmal General Wolffersdorff, der Bedränger Altenas. Von Erich Schild. S. 853. – Scene aus dem Fuchs- und Hasenleben. S. 854. Mit Illustration. S. 841. – Zwei Fahrstühle und ein Flügel. S. 854.


Unter Verantwortlichkeit von Dr.Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede. in Leipzig-

  1. Die beiden Abbildungen, welche unsere heutige Nummer schmücken, sind nach Photographien aus der Sammlung des Verfassers im Holzschnitt hergestellt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: herstellt