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Artikel „Wyttenbach, Thomas“ von Emil Blösch in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 44 (1898), S. 434–436, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wyttenbach,_Thomas&oldid=- (Version vom 7. Oktober 2024, 21:36 Uhr UTC)
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Wyttenbach: Thomas W. wurde 1472 in der jetzt zum Kanton Bern gehörigen Stadt Biel aus wohlangesehener Familie geboren. Von seiner Jugend ist indessen gar nichts bekannt; er erscheint zuerst 1496 als Theologe in Tübingen, wo er Baccalaureus und Magister wurde, und dann seit November 1505 in Basel. Hier erwarb er den Doctortitel und hielt theologische Vorlesungen, durch welche er Aufsehen erregt und auf den damals in Basel studirenden Ulrich Zwingli bedeutenden Einfluß ausgeübt hat. Des letztern Mitschüler, Leo Judae, hat später bezeugt, daß derselbe das Beste seiner Ueberzeugung, die Richtung auf die heil. Schrift als Wahrheitsquelle, diesem Lehrer verdanke. Schon dadurch hat W. für die Reformationsgeschichte der Schweiz eine große Bedeutung erlangt; er sollte aber auch direct als Reformator wirksam sein. In wie weit er schon in Basel sich mit der kirchlichen Tradition in Gegensatz stellte oder in Widerspruch fühlte, läßt sich nicht mehr feststellen; es wird behauptet, daß er sich gegen die Ablaßlehre ausgesprochen habe. Im J. 1507 kam er als Prediger und Leutpriester an die Kirche seiner Vaterstadt. Die Stellung von Biel war eine sehr eigenthümliche: kirchlich zur Diöcese Lausanne gehörig, bildete sie weltlich einen Theil des Fürstbisthums Basel, genoß aber zugleich ein weitgehendes Maaß von städtischer Freiheit und war mit dem mächtigen Bern durch Freundschaftsverträge aufs engste verbündet. Sie konnte sich deshalb ziemlich selbständig bewegen. Das Wahlrecht zur Kirche stand dem Benedictiner-Kloster St. Johann bei Erlach zu. Die Bürgerschaft aber hatte sich die Befugniß errungen, einen Vorschlag einzureichen. Am 16. August 1507 wurde die Wahl vom Bischof von Lausanne bestätigt. Vermöge seines Ansehens als Gelehrter, wol auch durch seine zahlreiche Verwandtschaft, erlangte W. bald einen bedeutenden Anhang in der Stadt, obwohl seine Predigt vom bisher Gewohnten abwich; allein die Hartnäckigkeit, mit welcher er im Streit mit einem Caplan seine materiellen Ansprüche verfocht [435] und selbst eine Reise nach Rom nicht scheute, um sein Recht durchzusetzen, machte wol nicht bei Allen einen günstigen Eindruck, und als er mit rücksichtslosem Eifer die sittlichen Mißbräuche bekämpfte und dabei weder das kirchliche Herkommen noch die Interessen der an den fremden Kriegsdiensten Betheiligten schonte, wandten sich manche, namentlich unter den vornehmen Rathsherren, unwillig von ihm ab, und es begegneten ihm Schwierigkeiten, welche seine Stellung unerfreulich machten. Im J. 1515 zum Chorherrn und Custos am Sanct Vincenzenstift in Bern ernannt, hielt er sich nun zeitweise in dieser letztern Stadt auf; er verkehrte hier mit dem spätern Berner Reformator Berchtold Haller und mit andern gleichgesinnten Männern und sah sich nicht nur in der Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer gründlichen Erneuerung der Kirche befestigt, sondern auch zum Entschlusse ermuthigt, diese Ueberzeugung offen zu bekennen. Er kehrte daher 1517 wieder ganz nach Biel zurück, in der Absicht, „den Seinen das Licht der Wahrheit und die reine Lehre des Evangeliums mitzutheilen“, wie er in einem Briefe an Zwingli schrieb. Doch wurde der hochgeehrte Doctor von den Staatsmännern Berns auch später noch (1522) in den schwierigen kirchlichen Fragen zu Rathe gezogen. In Biel folgten jetzt einige Jahre ernstlicher Kämpfe gegen Menschensatzungen und falsche Frömmigkeit, gegen Fastengebote, Fegfeuerglauben, Beichte, Wallfahren, Seelenmessen, Bilderverehrung und gegen das Verbot der Priesterehe. Es entstand arge Aufregung und Parteiung unter den Bewohnern. Dem kühnen Prediger fehlte es nicht an Zustimmung; zwei Männer namentlich, wahrscheinlich beides Familiengenossen, werden als Wyttenbach’s Freunde und Förderer seines Einflusses genannt, welche ihn auch in den städtischen Räthen unterstützten: der Alt-Bürgermeister Ulmann Wyttenbach und der Alt-Venner Peter W. Allein er hatte auch mächtige Gegner, die ihn der Aufreizung beschuldigten und als Unruhestifter bezeichneten. Im J. 1522 war W. nahe daran, sich durch Verzicht auf sein Amt dem unerfreulichen Zustand zu entziehen und nach Basel zu der friedlichen Beschäftigung mit den Wissenschaften zurückzufliehen. Zwingli, mit dem er brieflich verkehrte, vermochte ihn von dem Gedanken abzubringen und ihm das Ausharren als Pflicht darzustellen. Jetzt erfolgte denn auch der völlige Bruch mit der kirchlichen Ordnung, indem sich W. verheirathete. Damit war nun aber auch das Zeichen zum offenen Angriff gegeben. Die beiden bedeutendsten Gegner, der aus Freiburg gebürtige Stadtschreiber Ludwig Sterner und der bischöfliche Meyer von Römerstal, Vertreter des Fürstbischofs im Rathe der Stadt, traten mit einer Anklage gegen den abgefallenen Priester in Basel auf und brachten ihre Beschwerden gleichzeitig auf der Eidgenössischen Tagsatzung vor, die in ihrer Mehrheit entschieden auf der Seite des alten Glaubens stand. Am 13. Juli 1524 trat nun eine eigene Botschaft des Bischofs vor den Bieler Rath und verlangte, daß er solche Unordnung nicht dulden solle. Die Behörde wünschte sich darüber in Bern zu berathen, wo sie gewöhnt war, eine Stütze gegen den Bischof zu finden; allein in Bern war man jetzt anderer Meinung, als früher, und erklärte sich ebenfalls für Absetzung der verheiratheten Priester. Unterdessen kam, am 14. Juli, ein Schreiben von der Tagsatzung aus Zug, das sehr entschieden zur nämlichen Maßregel aufforderte. Allein im Gegensatz zum Kleinen oder engern Rathe nahm jetzt die Mehrheit der Bürger im Großen Rathe entschieden Partei für den bedrohten Prediger. Ein Handwerker, der Zunftmeister Hans Oeler, trat besonders lebhaft für ihn ein; es hieß, der Stadtschreiber habe Biel bei den Eidgenossen verläumdet, oder auch: das angebliche Schreiben aus Zug sei gar nicht von der Tagsatzung, sondern in Biel „hinter dem Ofen“ gemacht worden. W. selbst verfaßte eine Vertheidigungsschrift. Am 31. Juli wurde aber die Absetzung ausgesprochen und am folgenden Tage, trotz einer Rede des Venners Niklaus [436] Wyttenbach und des Beklagten selbst, wiederholt. Am 14. August bestätigte der Bischof diesen Beschluß und forderte den Rath zur Wahl eines Nachfolgers auf. W., von der Kanzel ausgeschlossen, predigte jetzt auf den Straßen und Plätzen und sprach für seinen Glauben und sein Recht in den Zunftstuben. Der Unwille gegen die Feinde desselben war jetzt auf einmal so allgemein, daß der Stadtschreiber in der Nacht aus Biel entfloh, am 28. Nov. 1524, und erst auf vermittelnde Fürsprache des Bischofs wieder in die Stadt eingelassen wurde. Die Neigung zur Reformation war im Wachsen. Politische Verfassungsfragen über den Antheil der Bürger am Regiment mischten sich in den religiösen Streit. Das Jahr des Bauernkriegs, der auch in die Schweiz seine Wellen geworfen hat, blieb nicht ohne Wirkung, die einen ermuthigend, die andern erschreckend, Alle aufreizend zu schärferer Parteistellung. Biel wurde in der ganzen Eidgenossenschaft als „das Ketzerstädtchen“ verrufen. Am 11. Nov. 1525 forderte der Bischof neuerdings, daß man sich seiner Weisung füge, und Boten, welche Biel an die Tagsatzung nach Luzern abordnete, erhielten am 8. Decbr. einen so „ungnädigen Abscheid“, daß ein allgemeiner Schrecken die Bürger ergriff. Auch diesmal wandelte sich aber der Eindruck bald ins Gegentheil, auf einmal hieß es wieder: fort mit der Messe! fort mit den Götzen! – Die Aufregung war größer als je; allein jetzt legten sich die Berner ins Mittel. Am 3. Jan. 1526 kamen ihre Gesandten, zugleich mit denen des Bischofs, und jetzt war die Freiheit der Stadt, ihre ganze Zukunft in Gefahr. Sie mußte nachgeben und die Vermittelungsvorschläge annehmen. Die Macht des Kleinen Rathes wurde befestigt, die Gemeinde zum Gehorsam verpflichtet und so am 4. Jan. 1526 der Friede wieder hergestellt. W. blieb abgesetzt, es wurde zwar kein neuer Leutpriester erwählt, aber der Kaplan mußte sein Amt versehen und – wieder Messe lesen. Der Reformator hatte seinen Einfluß vollständig eingebüßt; er erhielt zwar am 21. April 1526 eine kleine Entschädigung zugesprochen, allein sein Anerbieten, auf der großen Disputation in Baden, im Mai 1526, seinen Glauben zu vertreten, wurde übel aufgenommen, und der fernere Kampf um sein Recht, der sich noch einige Monate hinzog, hatte keinen andern Erfolg, als daß er ihm den Rest von Achtung und Beliebtheit entzog. Am 21. Sept. ist zuletzt in den Rathsverhandlungen davon die Rede, und noch im Laufe des gleichen Jahres ist Doctor Thomas gestorben, aber nicht einmal der Tag seines Todes ist bekannt. Erst als sich Bern im Januar 1528 fast unerwartet dem neuen Glauben zuwandte, konnte auch der von W. in Biel ausgestreute Same ungehemmt aufgehen. Die Stadt schloß sich sofort und ohne jeden Widerspruch der Reformation an, sie trat am 28. Jan. 1528 ins „Christliche Burgrecht“, welches Zürich, Bern, Basel, St. Gallen und Constanz zur Vertheidigung des Evangeliums mit einander verband.

Scheurer, Bernerisches Mausoleum, Bern 1740. – Kuhn, die Reformatoren Berns, Bern 1828. – C. A. Blösch, Th. Wyttenbach u. d. Reformation in Biel (aus den Akten des Bieler Stadtarchivs) im Berner Taschenbuch von 1853. – Vischer, Geschichte der Universität Basel, Basel 1860. – Riggenbach, in Herzog’s Realencycl. Bd. XVII (2. Aufl.) – v. Stürler, Urk. z. Ref. in Bern, Bd. I, Bern 1862. – R. Stähelin, Huldreich Zwingli, Basel 1895, Bd. I, S. 38–42. – Usteri, Initia Zwinglii in Theol. Stud. u. Krit. 1885. –