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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[57]

No. 4.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Gebannt und erlöst.

Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Der junge Mann war noch immer mit seinen Krankheits- und Reiseplänen beschäftigt, als der Haushofmeister auf der Terrasse erschien. Er kam im Namen seines Herrn, um sich zu erkundigen, ob der junge Baron mit seinen Zimmern zufrieden sei, und ob er noch irgend etwas vermisse oder wünsche.

„O durchaus nicht! Es ist alles ausgezeichnet, vortrefflich!“ sagte Paul, der Mühe hatte, seine üble Laune zu verbergen; ihn ärgerte hier alles, sogar die respectvolle Artigkeit des alten Mannes, der jetzt fortfuhr:

„Der Herr meinte, Sie würden den Blick in die Ebene vorziehen, Herr Baron! Er hat deshalb ausdrücklich diese Zimmer bestimmt.“

„Ich bin meinem Onkel sehr dankbar für seine Fürsorge,“ entgegnete Paul in der festen Absicht, sich dieser Fürsorge sobald wie möglich wieder zu entziehen. Eben deshalb aber fand er es nöthig, einiges Interesse an der Umgegend zu zeigen; er zog deshalb sein Fernglas hervor und fragte nach Diesem und Jenem.

Der Haushofmeister gab in seiner einsilbig höflichen Weise die nöthige Auskunft und nannte die einzelnen Berge und Ortschaften.

Die Aussicht von der Terrasse hatte allerdings nicht jene wilde, düstere Großartigkeit, welche der Blick aus den Zimmern des Freiherrn zeigte, aber großartig war sie immerhin. Dort schaute man nur auf die Schluchten und Schneefelder des Gebirges, hier auf der entgegengesetzten Seite sah man über die Windungen der Bergstraße hinweg den Ausgang des Thales, das sich dort hinten zu einem prachtvollen Halbrund öffnete und endlich von der Ebene begrenzt wurde. Die Felsen traten allmählich zurück, um grünen Vorbergen Platz zu machen, welche von einzelnen Gehöften Weilern und Kirchen belebt wurden. Der Bergstrom floß dort breiter und ruhiger dahin; man konnte seine Windungen weithin verfolgen, bis sie sich in der Ferne verloren. Diese Ferne freilich verschwand heute im Nebel, aber es war doch so klar geworden, daß man auf einige Stunden Entfernung alles deutlich zu unterscheiden vermochte.

„Das ist Werdenfels,“ sagte der Haushofmeister, auf eine größere Ortschaft deutend, die gerade in der Thalöffnung lag, „und unmittelbar darüber auf jenem Hügel liegt das Stammschloß Ihrer Familie, Herr Baron.“

„Ich weiß es; ich bin vor Jahren einmal mit meinem Vater dort gewesen,“ erwiderte Paul, indem er das Fernglas auf das umfangreiche Gebäude richtete, das in der Ferne sichtbar war. Es erhob sich nicht wie Felseneck aus starren Felsen und düsteren Tannen, sondern stand auf freier, lichter Höhe und blickte weit in die Ebene hinaus. Ringsum breiteten sich die reichen Werdenfels’schen Besitzungen aus, während zahlreiche Dörfer und Landsitze sich in der Nachbarschaft zeigten.

„Und dieser schöne Wohnsitz mit seiner herrlichen Lage, seinen weiten Gärten und Terrassen ist nun ganz verödet?“ fragte Paul, indem er das Glas wieder sinken ließ.

„Er wird sorgfältig vor dem Verfall geschützt,“ erklärte der Haushofmeister. „Der Herr weist jährlich bedeutende Summen an, um das Schloß und die Gärten im Stande zu erhalten.“

„Aber er hat es seit dem Tode seines Vaters ja wohl niemals wieder betreten?“

„Nein, niemals wieder!“

„Seltsam! Es hieß freilich, es sei damals etwas vorgefallen, was ihm den Aufenthalt verleidete.“

„Nicht, daß ich wüßte.“

„Nicht?“ fragte Paul, den alten Mann scharf fixirend. „Ich weiß aber doch, daß bei meinen Eltern oft davon die Rede war. Ich erinnere mich nur nicht mehr genau, um was es sich dabei handelte; man achtet als Knabe nicht viel auf solche Dinge. Sie aber waren damals jedenfalls schon im Dienste des Freiherrn. Wissen Sie wirklich nichts darüber?“

„Durchaus nichts, Herr Baron!“

„Ebenso gut könnte ich einen Stein zum Reden bringen wie dieses Mumiengesicht!“ dachte Paul ärgerlich, indem er seine Beobachtungen wieder aufnahm. „Und dieses weiße Schlößchen oder Landhaus dort drüben, gehört das auch zu den Werdenfels’schen Besitzungen?“ fragte er nach einer Pause.

„Nein, das ist Rosenberg, ein kleines Landgut, das einer verwittweten Dame gehört.“

„Eine Wittwe also – vermuthlich auch über Sechszig!“ sagte Paul; das heißt die letzten Worte dachte er nur, ohne sie auszusprechen. Im Grunde waren ihm alle diese Dinge herzlich gleichgültig; er fragte nur aus Langeweile weiter. „Und wie heißt die Besitzerin?“

„Frau von Hertenstein.“

Das Glas wäre beinahe zu Boden gefallen; so jäh und hastig wandte sich der junge Mann um.

„Wie nannten Sie die Dame?“

„Frau von Hertenstein,“ wiederholte der Haushofmeister, befremdet über die leidenschaftliche Frage und die helle Röthe, [58] welche plötzlich das Gesicht des jungen Barons überfluthete. Paul sah dieses Befremden und versuchte eine anscheinende Gleichgültigkeit zu erzwingen, was ihm aber durchaus nicht gelang.

„Ich lernte auf meiner Reise eine Dame dieses Namens kennen,“ sagte er. „Eine junge, sehr schöne Frau.“

„Ja – das ist sie allerdings,“ entgegnete der Haushofmeister mit einem langen Blick in das erregte Antlitz des jungen Mannes.

„Ist sie schon lange verwittwet? Sie lebt wohl für gewöhnlich nicht in Rosenberg? Besucht sie die Besitzung bisweilen?“

Die heftigen, beinahe ungestümen Fragen fanden eine sehr kühle und gemessene Antwort.

„Wir leben hier in Felseneck sehr abgeschlossen, Herr Baron, und haben gar keinen Verkehr mit der Umgegend, deren Verhältnisse mir größtentheils fremd sind. Ich weiß nur durch Zufall, daß Frau von Hertenstein in Rosenberg erwartet wird, schon in der nächsten Woche. Justizrath Freising, den ich gestern sprach, erwähnte es.“

Paul wäre im Uebermaß seines Entzückens am liebsten dem alten Manne, den er vorhin sehr respectwidrig eine „Mumie“ genannt hatte, um den Hals gefallen. Da sich dies nun nicht gut ausführen ließ, brach er in eine plötzliche Liebenswürdigkeit aus, die er bisher durchaus nicht entwickelt hatte. Er lobte die Aussicht, die Zimmer, das Schloß, alles, was überhaupt zu loben war ; er schwärmte für die Gemsenjagd, die er gleich morgen unternehmen wollte, und erkundigte sich angelegentlich nach der Schloßbibliothek, seiner „Studien“ wegen – kurz, er zeigte sich ganz entzückt von dem Aufenthalte in Felseneck. Um so zurückhaltender verhielt sich der alte Haushofmeister; vielleicht dämmerte ihm eine Ahnung der Wahrheit auf, aber er blieb höflich und gelassen wie vorhin und empfahl sich nach einigen Minuten. – –

Arnold war noch bei seiner früheren Beschäftigung, als sein junger Herr wieder eintrat, diesmal aber mit ganz verändertem Gesichtsausdruck.

„Bist Du noch nicht fertig?“ fragte er etwas ungeduldig.

„Nein; denn ich packe den großen Koffer aus, die ganze Garderobe,“ erklärte Arnold mit nachdrücklicher Betonung, indem er sich zugleich kriegsbereit emporrichtete, aber die Kriegsbereitschaft war diesmal nicht nothwendig; denn Paul zeigte eine ganz merkwürdige Sanftmuth bei dieser directen Mißachtung seines Befehles.

„Thue es immerhin!“ entgegnete er. „Ich habe mir die Sache überlegt und gefunden, daß Du eigentlich vollkommen Recht hast.“

Arnold ließ vor Schreck ein Dutzend Taschentücher, die er gerade in der Hand hielt, zu Boden fallen. Es war etwas so Unerhörtes, daß sein junger Herr ihm Recht gab, daß er sich gar nicht darein finden konnte.

„Es ist wahr, ich habe Rücksichten auf meinen Onkel zu nehmen,“ fuhr Paul fort. „Er ist der Chef der Familie; er ist mein Vormund und hat mich mit Güte überschüttet. Es wäre undankbar, wollte ich seinen Wünschen den Gehorsam versagen. Wie gesagt, Arnold, Du hast ganz Recht, und ich verzeihe Dir auch Deinen eigenmächtigen Schritt. Er war nicht in der Ordnung, aber Du hast es gut gemeint – ich sehe das jetzt ein. Wir bleiben jedenfalls in Felseneck“.

„Den ganzen Winter?“ fragte der alte Diener, der seinen Ohren nicht traute.

„Den ganzen Winter! Und auch noch den Sommer, wenn mein Onkel es verlangt. Packe sämmtliche Koffer aus, Arnold! Wir bleiben hier.“

Damit kehrte Paul in das Wohnzimmer zurück, wo er zu seiner großen Befriedigung bemerkte, daß man von den Fenstern aus Rosenberg ganz deutlich sehen konnte.

Arnold stand noch immer neben dem geöffneten Koffer, aber mit sehr kritischer Miene; er kannte seinen jungen Herrn viel zu gut, um an diese plötzliche Bekehrung zu glauben. Endlich bückte er sich nach den Taschentüchern und hob sie auf, während er halblaut sagte:

„Er muß hier irgend etwas unter sechszig Jahren entdeckt haben – ich kenne das!“


Die Werdenfels waren in alten Zeiten eines der mächtigsten Geschlechter gewesen, das beinahe absolut auf seinen Besitzungen herrschte und sich auch absolut dünke. Die neuere Zeit mit ihren Umwälzungen und Gesetzen hatte dem nun freilich ein Ende gemacht, aber es blieben dem jedesmaligen Herrn der Güter immer noch genug Rechte übrig, um ihm einen weittragenden Einfluß zu sichern, der je nach Umständen segensreich oder unheilvoll werden konnte. Segensreich freilich war das Regiment der Werdenfels für ihre Untergebenen niemals gewesen. Härte und Unterdrückung von der einen Seite, Furcht und mühsam verhaltener Haß von der anderen hatten seit Generationen geherrscht, und unter dem Vater des jetzigen Besitzers war jene lang verborgene Feindschaft sogar zum offenen Ausbruch gekommen.

Der alte Freiherr war seit Jahren todt, aber er hatte dafür gesorgt, daß er und sein Regiment nicht sobald vergessen wurden. Er war eine jener wilden, rücksichtslosen und gewaltthätigen Naturen gewesen, wie sie in seinem Geschlecht leider nicht zu den Seltenheiten gehörten. In einer Zeit geboren und erzogen, wo ein Mann seines Standes sich nahezu alles erlauben durfte, während der Niedriggeborene ihm fast rechtlos gegenüberstand, und durch die hohe militärische Stellung, die er jahrelang bekleidete, vollends an unbedingten Gehorsam seiner Untergebenen gewöhnt, kannte und wollte er es nicht begreifen, daß eine andere Zeit anbrach, die ihm eines seiner Privilegien nach dem anderen aus den Händen wand, die seiner Willkür Schranken auferlegte und ihn zwang, die Rechte Anderer zu achten. Seine Gewaltthätigkeit brach bei jeder Gelegenheit aus; die Insassen seiner Güter mußten sie ebenso schwer empfinden wie die Beamten und Diener, und nicht einmal seine nächsten Angehörigen waren sicher davor.

Seine Gemahlin gehörte einem Geschlechte an, das noch älter war als das der Werdenfels und eine Fürstenkrone im Wappen führte. Das allein hatte den Freiherrn bei seiner Wahl geleitet; die Neigung spielte keine Rolle dabei. Er war stolz auf die Abkunft seiner Frau, und er war auch stolz darauf, daß ihm ein Sohn geboren wurde; er hätte einen Erben seines Namens und Stammhalter seines Hauses sehr schwer vermißt, aber eine andere Bedeutung hatte dieser Sohn kaum für ihn. Wäre Raimund gleichfalls wild und zügellos gewesen, vielleicht hätte der Vater sein Ebenbild in ihm erkannt und geliebt, aber die ernste, etwas träumerische Natur des Knaben war ihm in tiefster Seele zuwider und forderte seinen herbsten Spott und Tadel heraus. Man hörte und sah wenig von dem jungen Freiherrn; er hatte früh seine Mutter verloren und wuchs ausschließlich in der strengen, beinahe sclavischen Zucht seines Vaters heran, der ihm nicht die geringste Selbstständigkeit gestattete. Den Gutsangehörigen, dem eigentlichen Volke, trat er niemals nahe; entweder durfte er es nicht oder er wollte es nicht. Jedenfalls geschah von seiner Seite nichts, um den Haß zu mildern, den der Vater überall gegen sich wachrief; man wußte freilich, daß er bei diesem keine Stimme hatte und sich ebenso wie jeder Andere seinem eisernen Willen beugen mußte, aber die allgemeine Abneigung ging doch allmählich auch auf ihn über.

Da kam jenes Jahr, dessen revolutionäre Bewegung, ursprünglich von den Städten ausgehend, bald auch die gesammte Landbevölkerung ergriff. Auch auf den Gütern gab es überall Widersetzlichkeit, Tumult und offenen Aufstand gegen die Gutsherren; wo nur ein Funke verborgen lag, brach er jetzt in heller Flamme aus. In Werdenfels lag der Zündstoff überreichlich aufgehäuft; dort kam all der jahrelang im Geheimen genährte Groll und Haß zum Ausbruch, und die Verhältnisse gestalteten sich daselbst drohender als an den anderen Orten, aber der Freiherr war trotzdem nicht zu der geringsten Nachgiebigkeit zu bewegen. Er verhöhnte seine Nachbarn wegen ihrer Furcht vor den Bauern und Tagelöhnern und trat den seinigen noch hochmüthiger und herausfordernder gegenüber als sonst.

Die Folgen konnten nicht ausbleiben; es gab eine Reihe der schlimmsten Scenen und Auftritte, aber trotzdem ging Werdenfels stets als Sieger daraus hervor. Er verstand es nun einmal, den Gebieter zu spielen, wie kein Anderer, und sein Stolz, seine Furchtlosigkeit imponirten den Leuten, die ringsum so viele Beispiele kläglicher Zaghaftigkeit sahen; sie lärmten und drohten, aber sie wagten sich nicht ernstlich an den so lange Gefürchteten.

Endlich aber kam es doch zum Aeußersten. Ein an sich geringfügiger Vorfall gab den Anlaß dazu, und der unbeugsame [59] Starrsinn, den der Freiherr auch bei dieser Gelegenheit zeigte, brachte die so lange schon gereizten Leidenschaften zum vollen Ausbruch. Die ganze Dorfschaft zog tobend und lärmend vor das Schloß und bedrohte den Gutsherrn. Dieser, weit entfernt nachzugeben, ließ die Thüren verrammeln, bewaffnete seine Dienerschaft und ließ es auf einen Kampf ankommen. Die Bauern ihrerseits wollten um jeden Preis den Eingang erzwingen; sie schritten zum Sturme, der auch gelungen wäre; denn die Vertheidigungsanstalten erwiesen sich als völlig unzureichend, und bei der furchtbaren Erbitterung der Leute war das Schlimmste zu befürchten, wenn das Schloß und dessen Herr in ihre Hände fielen.

Da auf einmal nahm der Kampf ein ebenso unerwartetes wie schreckliches Ende. Gerade im entscheidenden Augenblick, als die Thüren bereits begannen, dem wiederholten Ansturm zu weichen, schlugen urplötzlich unten im Dorfe helle Flammen empor. Es war eine Feuersbrunst entstanden – wie und woher, das wußte Niemand, aber eines der Gehöfte brannte lichterloh. Es war ein kalter, trockener Tag, und von der Geisterspitze wehte ein stürmischer Wind in das Thal hernieder.

Bei diesem Anblick, bei der furchtbaren Gefahr, welche ihrer Heimath drohte, vergaß die tobende Menge ihre Haß- und Rachepläne. Alles stürzte hinunter in das Dorf, um das eigene Hab und Gut zu retten, aber es war bereits zu spät. Das Feuer hatte schon zu reichliche Nahrung gefunden, und einmal entfesselt spottete das Element jeder menschlichen Anstrengung. Der Sturm trug die Flammen von Dach zu Dach, von Haus zu Haus; alle Rettungsversuche waren vergeblich, und einzelne Tollkühne, die sich in die brennenden Gebäude wagten, um ihre Habe oder ihr Vieh zu retten, wurden von den einstürzenden Balken erschlagen. In wenigen Stunden lag ganz Werdenfels in Schutt und Asche, und drei Menschenleben waren den Flammen zum Opfer gefallen.

Das Schloß auf seiner sicheren Höhe war natürlich unversehrt geblieben; der Ausbruch des Feuers gerade im Moment der Katastrophe hatte es gerettet, aber Haß und Erbitterung, die jetzt durch das hereingebrochene Elend um das Zehnfache gesteigert waren, suchten nach einem Zusammenhange zwischen den beiden Ereignissen. Es liefen dunkle, unheimliche Gerüchte um, jene Feuersbrunst sei nicht durch Zufall entstanden, der Freiherr selbst habe sie veranlaßt, um den Angriff von seinem Schlosse abzulenken und sich vor der Wuth der Anstürmenden zu retten. Es hieß sogar, der eigene Sohn sei es gewesen, der den Befehl des Vaters ausgeführt hatte. Es waren unsinnige, haltlose Gerüchte, die nicht die geringste Bestätigung fanden, aber sie wurden geglaubt und die Stimmung gegen den Gutsherrn wurde eine derartige, daß er seines Lebens nicht mehr sicher war.

Er schien das endlich selbst einzusehen; denn er verließ mit seinem Sohne Werdenfels auf längere Zeit. Als er nach Jahresfrist zurückkehrte, war jene politische Bewegung erloschen; die Behörden hatten die Zügel wieder fest in Händen und duldeten nicht die geringste Ausschreitung. Einen offenen Angriff hatte der Freiherr also nicht mehr zu fürchten, und dem dumpfen Groll und Haß, der ihn empfing, setzte er eine eiserne Stirn entgegen. Es standen ihm andere Güter und Schlösser zur Verfügung, aber sein Stolz erlaubte ihm nicht einen Wechsel des Aufenthaltes, den man hätte als Furcht auslegen können. Er blieb in Werdenfels, trotzig, hochmüthig und ungebeugt, wie er es von jeher gewesen war, und nahm sofort wieder seine frühere Stellung an der Spitze seiner dortigen Standesgenossen ein.

Der junge Freiherr war nicht mit zurückgekehrt. Das Verhältniß zwischen ihm und seinem Vater schien sich überhaupt geändert zu haben; denn während ihm früher nicht die geringste Selbstständigkeit gestattet war, lebte er jetzt fast immer auf Reisen und sah den Vater oft monatelang nicht. Nach Werdenfels kam er nur äußerst selten, immer nur auf ganz kurze Zeit, und es bedurfte jedesmal eines ausdrücklichen Befehls, um ihn zu einem derartigen Besuche zu veranlassen.

So vergingen Jahre, ohne daß Raimund Anstalt machte, sich zu vermählen, obgleich der Freiherr dies dringend wünschte und für eine unabweisbare Pflicht des einzigen Sohnes und Erben erklärte. Als seine Mahnungen in dieser Hinsicht nichts fruchteten, schritt er wie gewöhnlich zu einem Gewaltact. Er wählte eine standesgemäße Partie aus, warb im Namen seines Sohnes und rief diesen dann aus Italien zurück, um ihm anzukündigen, daß die Verbindung zwischen den beiden Familien eine beschlossene Sache sei und daß man nur noch den formellen Antrag erwarte. Diesmal aber gelang es ihm nicht, seinen Willen durchzusetzen; denn Raimund weigerte sich entschieden, zu gehorchen. Der Vater, der bereits zu weit gegangen war, um zurücktreten zu können, gerieth außer sich und drohte mit Fluch und Enterbung; der Sohn blieb bei seiner Weigerung. Es mochten bei dieser Gelegenheit wohl noch andere Dinge zur Sprache gekommen sein; denn sie endete mit einem vollständigem Bruche. Raimund verließ das väterliche Haus, um nicht mehr dorthin zurückzukehren, und der Freiherr war im Begriff, seine Drohung auszuführen und die Enterbung auszusprechen, als, wahrscheinlich in Folge der stattgehabten Aufregung, ein Schlagfluß ihn traf. Der Sohn, der sofort durch die Aerzte zurückgerufen wurde, kam zu spät – er fand nur noch die Leiche seines Vaters.

Werdenfels hatte nun einen neuen Herrn, und es schien anfangs, als solle damit auch eine bessere Zeit beginnen, aber es schien eben nur so. Dem alten Freiherrn war bei all seinen schlimmen Eigenschaften eine eiserne Consequenz nicht abzusprechen gewesen; sein Sohn zeigte sich dagegen seltsam launenhaft und unbeständig in all seinen Neigungen und Unternehmungen. Er hatte unmittelbar nach dem Leichenbegängnisse das Schloß verlassen und bewohnte ein keines Jagdhaus, das eine halbe Stunde davon entfernt lag, aber er, der seinen Besitzungen jahrelang fern geblieben war und die vollständigste Gleichgültigkeit dagegen gezeigt hatte, so lange sie unter dem Scepter seines Vaters standen, schien jetzt, wo er unumschränkter Herr war, sich ihnen ganz und gar widmen zu wollen. Er plante die großartigsten Anlagen und Verbesserungen, überschüttete die Gutsangehörigen mit Wohlthaten und versuchte es sogar, ihnen persönlich nahe zu treten.

Aber das Alles hörte ebenso plötzlich auf, wie es begonnen hatte. Vielleicht entmuthigte es ihn, daß er statt der Dankbarkeit nur überall den alten Haß und das alte Mißtrauen wiederfand, vielleicht war es auch nur eine philanthropische Laune gewesen – genug, er schlug auf einmal in die vollste Menschenfeindlichkeit um, floh alle Beziehungen, die er vor Kurzem noch so eifrig gesucht hatte und zog sich in die Einsamkeit seines Felseneck zurück, das er aus einer Ruine zu einem prachtvollen Wohnsitze umschuf. Werdenfels und die übrigen Schlösser standen verödet; ihre Unterhaltung kostete jährlich eine Riesensumme, ohne daß sie jemals benutzt oder auch nur betreten wurden.

Zum Glücke befanden sich die Güter selbst unter tüchtiger und umsichtiger Leitung. Der alte Freiherr, der ein kluger Rechenmeister war, hatte dafür gesorgt, und da die Beamten sämmtlich im Dienste blieben und reich besoldet wurden, so wurde auch die Verwaltung ganz in der bisherigen Weise fortgeführt. Die Werdenfels’schen Besitzungen hoben sich immer mehr und brachten immer reichere Erträge, während der Herr derselben sich von Jahr zu Jahr tiefer in die Einsamkeit vergrub und sich endlich der Welt und dem Leben völlig abwendete. –

Es erregte natürlich in der Nachbarschaft nicht geringes Aufsehen, als man erfuhr, daß Felseneck einen Gast beherberge. Paul Werdenfels wurde zwar allgemein als der präsumtive Erbe seines Onkels angesehen, da er außer diesem der einzige nach lebende Vertreter des Geschlechtes war, aber man wußte ja, daß der Freiherr alle Beziehungen, soweit sie den persönlichen Verkehr betrafen, vollständig ignorirte. Er hatte dies ja auch bisher seinem jungen Verwandten gegenüber gethan, und es war jedenfalls wieder eine seiner unberechenbaren Launen, daß er diesen Verwandten jetzt urplötzlich zu sich rief. Man bedauerte allgemein den jungen Baron, der das schöne Italien und einen zahlreichen Freundeskreis verlassen mußte, um dem menschenfeindlichen Onkel auf seinem öden Felsenschlosse Gesellschaft zu leisten und dort in halber Gefangenschaft zu leben; denn es galt als selbstverständlich, daß auch ihm kein Verkehr mit der Nachbarschaft gestattet werden würde.

Paul selbst aber war im Gegentheil geneigt, das, was ihm anfangs als eine unerträgliche Strafe erschien, für einen jener Glücksfälle zu halten, um die sein Freund Bernardo ihn beneidete. Seit er wußte, daß die schöne Reisegefährtin, deren Spur er in weiter Ferne suchte, in seiner unmittelbaren Nähe weilte, hätte er den Aufenthalt in Felseneck mit keinem anderen in der ganzen Welt vertauschen mögen.

Er ließ aber vorlaufig sowohl die Gemsen wie die Schloßbibliothek in Ruhe, zeigte dagegen einen ungemeinen Eifer, die [60] Angelegenheit mit dem Justizrath Freising zu erledigen, an den sein Onkel ihn gewiesen hatte. Dieser rechtskundige Herr war von der bevorstehenden Ankunft der Frau von Hertenstein unterrichtet; er kannte sie also jedenfalls näher und war in Folge dessen eine höchst interessante Persönlichkeit für den jungen Baron, dessen Besuch er schon am zweiten Tage erhielt.

Der Justizrath, ein Mann von einigen vierzig Jahren, eine große, hagere Gestalt, mit nicht unangenehmen, aber etwas pedantischen Zügen, empfing den Clienten in seinem Arbeitszimmer und schien schon auf dessen Kommen vorbereitet. Die nächste, etwas peinliche Veranlassung des Besuches war, dank der Großmuth des Freiherrn, sehr schnell erledigt. Der Rechtsanwalt konnte zwar ein leises bedenkliches Kopfschütteln nicht unterdrücken, als ihm der Betrag genannt wurde, um den es sich handelte, da er aber bereits die Weisung erhalten hatte, die Verpflichtungen des Herrn von Werdenfels anstandslos zu regeln, so erbat er sich nur die nöthigen Namen und Adressen. Paul gab diese sehr bereitwillig, er empfing dagegen mit einem frohen Aufathmen die Versicherung, daß die betreffenden Summen sofort bezahlt werden würden, und damit war diese Angelegenheit abgemacht.

Jetzt aber bot der junge Mann seine ganze Liebenswürdigkeit auf, das Gespräch aus dem Geschäftlichen in das Vertrauliche hinüber zu leiten, was ihm auch ohne große Mühe gelang. Er war völlig fremd hier, gedachte aber längere Zeit bei seinem Onkel zu bleiben und wünschte sich natürlich einigermaßen in der Nachbarschaft zu orientiren. In Felseneck bot sich leider keine Gelegenheit dazu, da man dort sehr abgeschlossen lebte, aber der Herr Justizrath war jedenfalls in der Umgegend bekannt und zu einer freundlichen Auskunft bereit.

Der Herr Justizrath war das allerdings; er besaß zum Glück nicht die impertinente Schweigsamkeit des alten Haushofmeisters und nahm keinen Anstand, dem jungen Baron, der sich so lebhaft für seine Nachbarschaft interessirte, die erbetene Auskunft zu geben.

Paul fragte zunächst nach mehreren Gutsherrschaften, die ihm sehr gleichgültig, und hörte einige Antworten, die ihm sehr langweilig waren, bis er endlich zu dem kam, was ihm einzig und allein am Herzen lag.

„Da ist mir noch ein Schlößchen aufgefallen,“ warf er mit anscheinender Gleichgültigkeit hin. „Es liegt etwa eine Stunde von Werdenfels entfernt und gehört ja wohl einer verwittweten Dame?“

„Sie meinen Rosenberg?“ fragte der Justizrath, „Es ist gegenwärtig im Besitz der Frau von Hertenstein.“

„Ganz recht! Ich habe zufällig in Venedig die Dame kennen gelernt, allerdings nur sehr flüchtig, aber ich gedenke doch in Rosenberg einen Besuch zu machen. Sind Sie dort bekannt, Herr Justizrath?“

Der Justizrath hob mit unverkennbarem Selbstgefühl den Kopf.

„Sehr genau, Herr Baron! Ich habe die Ehre, der Geschäftsführer und Rechtsfreund der gnädigen Frau zu sein. Ich stehe überhaupt in freundschaftlichen Beziehungen zu ihr, da ich sie schon vor ihrer Vermählung gekannt habe.“

Paul fand den Justizrath ungemein liebenswürdig; er rückte schleunigst seinen Sessel einen Schritt näher.

(Fortsetzung folgt.)




Gedanken des Prinzen Heinrich des Seefahrers

am 25. Januar 1883
an Bord von Seiner Majestät Schiff „Olga“.

„Heut’ ist’s wohl schön im Schlosse zu Berlin!

Das glaub’ ich! All die freudigen Geschwister,
Der ganze frohe Kranz, – er darf sich schmiegen
Traut an die Eltern, Glück und Freude strahlend,
Und dicht gefüllt von allen Hohenzollern
Und von den Schwagersippen, pranget heut’
Die graue Burg, die in der Spree sich spiegelt,
Der Königsadler sturmvertrauter Horst!

Nur Einer fehlt! – Der treibt auf fernen Wogen,
Und fremde Sterne schauen ihm auf’s Haupt:
Der Eine – der bin ich, Matrosenprinz,
Seefahrer Heinrich! Fast ein Halbkreis Erde
Trennt mich vom Vaterhaus: und etwas Heimweh
Wär’ heute keine Schande, sollt’ ich meinen! – –

Doch faß’ dich fest und stark, Lieutenant zur See:
Wir sind kein weich Geschlecht, dort in der Mark,
Und vollends nun ein Seemann, ‚rauh und starr‘!

’s ist gar nicht wahr! Ich bin nicht in der Fremde:
Denn deutscher Boden ist ein deutsches Schiff,
Ob es bei Grönland, ob bei Capland schwimmt,
Und über meinem Haupte schwebt auch hier,
Großvater, deines Reiches stolzer Aar.
Und sind mir auch die Sterne fremd da droben –
Dahinter blaut der Eine Himmel doch,
Und meine Wünsche dringen, mein Gebet
Auch hier zum alten, deutschen Gott empor.
Und weiß ich’s doch: nicht minder warm und herzlich
Als derer, die sie schau’n um sich geschaart,
Gedenken mein die Eltern, ja vielleicht
Noch zärtlicher, just weil ich ferne bin!

So thu ich gern und klaglos meine Pflicht.
Die Stunde schlägt; die Wache tret’ ich an.
Die goldne Hochzeit feir’ ich aber mit!“

 Felix Dahn.




Ein mittelalterliches Gesellenstechen auf dem Marktplatze zu Nürnberg.

Von Julius von Altenau.

Nürnberg! Welcher Deutsche hätte sie im Leben nicht wenigstens einmal besucht und bewundert, die alterthümliche und ehrwürdige Frankenstadt, berühmt durch ihre mittelalterlichen Mauern und Thore, durch ihre zahlreichen und hochgethürmten gothischen Dome, durch ihre zierlichen Façaden und Erker! Wessen Ohr hätte nicht mit Andacht dem feierlich-tiefen und volltönenden Klange der Glocken von St. Lorenz gelauscht, oder um die Mittagsstunde beim Anblicke der Liebfrauenkirche am Automatenspiele des „Männleinlaufens“ sich ergötzt und sich zurückgeträumt in längst entschwundene Jahrhunderte! Ist doch Nürnberg mit seiner reichen und ruhmvollen Geschichte unter den Großstädten Deutschlands die einzige, welche sich das charakteristische Gepräge der Vergangenheit fast vollständig unversehrt bewahrt hat; und wenn bedauerlicher Weise auch der „Zahn der Neuzeit“ an der Peripherie hier und da bedenklich zu nagen begonnen, so tritt doch, je mehr man sich dem Kerne der Stadt nähert, jener unverfälschte Typus altdeutscher Architektur immer eindrucksvoller hervor, um schließlich im Centrum, dem weltbekannten Marktplatze, seinen Höhepunkt und würdigen Abschluß zu erreichen.

Auf diesen auch geschichtlich hochinteressanten Marktplatz, dessen Schönheit jedoch leider durch moderne Arcaden mit Verkaufsbuden einigermaßen beeinträchtigt wird, führen wir heute unsere Leser, indem wir sie bitten, mit uns vor dem an der südlichen Seite gelegenen großen und langgedehnten Gebäude, als dem Aufnahmspunkte unserer Abbildung, Stellung zu nehmen. Dieses Haus gehörte einstmals der Patricierfamilie Rieter von

[61]

Das Gesellenstechen auf dem Marktplatz zu Nürnberg am 28. Februar 1446.
Nach dem Oelgemälde von A. Mattenhei[me]r. Photographie im Verlage von Fr. Hanfstängl in München.

[62] Kornburg, und vor ihm wurde, als im Jahre 1487 Kaiser Maximilian der Erste die Belehnung der Reichsfürsten vornahm, eine Tribüne errichtet, auf welcher der kaiserliche Thronsessel Aufnahme fand. Der Platz selbst entstand dadurch, daß im Jahre 1349 nach zuvor eingeholter Erlaubniß des Kaisers Karl des Vierten die hier stehende Synagoge, die Judenschule und außerdem zahlreiche Privathäuser der Juden niedergerissen wurden. Genau auf der Stelle, wo die Synagoge gestanden, wurde die Liebfrauenkirche erbaut, mit dem Schutte der abgebrochenen Gebäude aber ward ein sumpfiger Weiher vor dem Lauferthore ausgefüllt und die durch fortgesetzte Aufschüttungen entstandenen Hügel „der Judenbühl“ genannt. Heute heißt diese Gegend „das Maxfeld“, und hier war es, wo im vergangenen Jahre die baierische Gewerbe- und Kunstausstellung abgehalten wurde.

Die Liebfrauenkirche mit ihrer wundervoll zierlichen Gothik (sie ist gegenwärtig die Hauptkirche der Katholiken Nürnbergs) präsentirt sich auf unserem Bilde rechts im Hintergrunde. Die Entstehung des Gotteshauses, welches mit vollstem Rechte zu den herrlichsten Denkmälern der Stadt gezählt wird, fällt in die Jahre 1355 bis 1361. Die Baumeister waren Georg Rupprecht und Fritz Rupprecht, während Sebald Schonhofer die Bildhauerkunst vertrat. Den ganzen Platz beherrschend und zugleich mit ihm in voller künstlerischer Harmonie stehend, legte der stolze Bau so recht Zeugniß ab sowohl von dem hohen Kunstsinne seiner Urheber im Besonderen, wie vom Geschmack der alten Nürnberger insgemein, welche solche Vorbilder den zukünftigen Geschlechtern zur Nacheiferung hinterließen. Ein Jahrhundert später, im Jahre 1462, fügte Adam Krafft das reizende Portal mit Balcon hinzu, und 1509 schmiedete Georg Heuß, ein Schlosser, das künstliche Uhrwerk, während ein Kupferschmied, Sebastian Lindenast, die dazu gehörigen Figuren in Kupfer trieb. Dieses Werk, im Volksmunde das „Männleinlaufen“ genannt, stellt den Kaiser Karl den Vierten dar, in goldenem Gewande mit Scepter und Reichsapfel auf dem Throne sitzend. Durch ein Seitenthürchen bewegen sich zur Mittagsstunde auf einer Drehscheibe die sieben Kurfürsten in rothen Mänteln langsam im Halbkreise dreimal vor dem Kaiser vorüber, zuletzt an dessen rechter Seite wieder in einer Thür verschwindend. Zwei automatische Posaunenbläser, die Herolde, führen zeitweise ihre Posaunen an den Mund, während oberhalb der ganzen Gruppe in einem zierlichen Glockenthürmchen zwei Glockenschläger die Glocke mit ihren Hämmern bearbeiten.

Im Innern der künstlerisch reich ausgestatteten Kirche fesselt hauptsächlich das Grabdenkmal der Nürnberger Patricierfamilie Pergenstörffer, ein Relief des bereits gedachten Adam Krafft, unsere Aufmerksamkeit; prachtvolle Glasmalereien und Holzschnitzereien, letztere von Veit Stoß gearbeitet, schmücken den Chor des herrlichen Gotteshauses, welches noch während der letzten Jahre durch den Director des Germanischen Museums, Herrn von Essenwein, innen wie außen einer gründlichen und vortheilhaften Renovirung unterzogen wurde.

Betrachten wir nunmehr die Umgebung der Liebfrauenkirche, so fällt uns zunächst ein unmittelbar neben derselben stehendes, als Fachwerk errichtetes, alterthümliches Gebäude in’s Auge. Es ist das alte Tuchhaus, in welchem vormals der Tuchmarkt abgehalten wurde. Zwischen ihm und der Kirche wendet sich die Straße auf den „Häringsmarkt“ und von da in ein Gäßchen, worin das Wohnhaus des Dichters Hans Sachs steht. Neben dem Tuchhause, auf unserm Bilde rechts im Vordergrunde, haftet der Blick auf einem Bau mit durchsichtigem Dacherker und hohem, stufenförmig gekröntem Giebel. Es ist der sogenannte „Plobenhof“, ehemals ein Patricierhaus der Ploben und noch früher im Besitze der Familie Groß; im vierzehnten Jahrhundert soll es Kaiser Ludwig der Baier mit Vorliebe als Absteigequartier benutzt haben.

An der Nordseite des Platzes (auf der Abbildung dem Beschauer gerade gegenüber) fesselt unser Auge eine höchst malerische Fronte alterthümlicher Gebäude, welche zu den ältesten Wohnhäusern der Stadt gerechnet werden. Gekrönt wird diese Fronte durch die Thürme des Rathhauses, der St. Sebalduskirche, der kaiserlichen Burg und der Kaiserstallung. Der besonders in’s Auge fallende stattliche Bau mit den flankirenden Eckthürmen war früher Eigenthum der Familie Haller; vor ihm steht der bewundernswerthe „Schöne Brunnen“, ein Meisterwerk Heinrich Behaim’s und von diesem in den Jahren 1385 bis 1395 unter der Leitung der damaligen Stadtbaumeister Friedrich Pfinzing und Ulman Stromer in reichem gothischen Stil ausgeführt, während die den Brunnen zierenden herrlichen Bildhauerarbeiten demselben Sebald Schonhofer zu verdanken sind, dem wir bereits unter den Künstlern der Liebfrauenkrche begegneten. Begrenzt wird diese ganze nördliche Häuserfronte durch zwei Straßen, von denen die zur Linken am Rathhause vorüber auf die kaiserliche Burg, die zur Rechten aber hinterwärts vom Rathhause in östlicher Richtung zum Lauferthore führt.

Auch die westliche Seite des Platzes endlich – auf unserem Bilde links – wird von schönen, mit Thürmen geschmückten Patricierhäusern umrahmt, unter denen namentlich das Haus Willibald Pirkheimer’s, des Jugendfreundes Albrecht Dürer’s, sowie das massiv-castellartige Haus der Familie Harsdorf hervortreten; etwas weiter oben steht das Hans Martin Behaim’s, des großen Seefahrers und Verfertigers des berühmten Erdglobus

Dieser im Vorstehenden geschilderte hochcharakteristische Marktplatz bildete vor Zeiten auch die regelmäßige Scenerie der frischen und fröhlichen Turniere, in denen die mannhafte Patricierjugend Nürnbergs ihre körperliche Kraft und Gewandtheit erprobte. Doch halt: nicht der „Turniere“, sondern officiell gesprochen, der „Gesellenstechen“, wennschon beide Bezeichnungen so ziemlich auf dasselbe hinausliefen. Der „Gesellenstechen“? fragt hier verwundert der Leser, dem das absonderliche Wort vielleicht noch niemals vorgekommen. Nun wohl, so möge er uns aus einem kurzen Abstecher in das Leben und Treiben unserer kampfesfreudigen Altvordern begleiten und sich bei dieser Gelegenheit auch der einigermaßen subtilen Unterschiede zwischen beiden Arten des Waffenspieles bewußt werden. Sind wir doch in Nürnberg, einer Stadt, die wie keine andere zu Rückblicken in vergangene Zeiten auffordert.

Die Theilnahme an den eigentlichen Turnieren, welche namentlich bei festlichen Gelegenheiten, wie Hochzeiten, Kindtaufen, Besuchen vornehmer Gäste etc., veranstaltet wurden, galt im Mittelalter von jeher als ein eifersüchtig bewachtes Vorrecht der fürstlichen, gräflichen und ritterbürtigen Geschlechter. Wer sich nicht wenigstens als rittermäßig, das heißt als adlig ausweisen konnte, der wurde zu diesen Kampfspielen schlechterdings nicht zugelassen. War eine Hochzeit die Veranlassung zur Veranstaltung eines Turniers, so nahm neben den Gästen in der Regel auch der Bräutigam selbst mit daran Theil. Zuweilen begann das Lanzenrennen unter den Rittern schon am ersten Hochzeitstage, und an den nächstfolgenden Tagen setzten es Fürsten, Grafen und Ritter im buntem Wechsel unter einander fort, dergestalt, daß man vielleicht einen Kurfürsten gegen einen einfachen Rittersmann, oder einen Herzog gegen einen Grafen die Lanze versuchen sah. Wer am meisten traf und am wenigsten fiel, galt für den ausgezeichnetsten Kämpfer.

Statt mit der Lanze wurden übrigens oftmals auch Turniere mit dem Schwerte gehalten, wobei vorher bestimmt wurde, wie viele Streiche Jeder mit dem Schwerte zu thun habe. Abends beim Tanze erhielten dann die besten Kämpfer aus den Händen der vornehmsten Frauen die im Turniere verdienten Belohnungen, oder, wie es hieß: „es wurden die Danke an sie ausgetheilt“, welche in kostbaren Waffen, goldenen Kränzen, Ringen, Spangen oder sonstigem Geschmeide zu bestehen pflegten.

Neben diesen eigentlichen Turnieren, an denen nur die Angehörigen alter und vornehmer Geschlechter sich betheiligen durften, hatte man nun noch die sogenannten Gesellenstechen, das heißt weniger solenne und weniger exclusive Waffenspiele, in denen gegebenen Falles vorzüglich die Mitglieder des jüngeren Adels sich versuchten. Gleichwohl waren auch bei ihnen zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestimmte Gesetze vorgeschrieben, an die sich Jeder, der sich zum Kampfe verstand, pünktlich halten mußte. In einer solchen Vorschrift eines Gesellenstechens vom Jahre 1543 heißt es z. B. folgendermaßen:

„Nachdem es alter löblicher Brauch und Gewohnheit ist, daß man auf fürstlichen und königlichen Hochzeiten und Freudenfesten allerlei Ritterspiel mit Rennen, Stechen und Turnieren zu üben pflegt, so wollen wir neben andern Ritterspielen auch ein Gesellenstechen halten lassen und haben darauf nachfolgende Artikel gestellt, wollend und gnädiglich begehrend, daß sich ein Jeder, der sich zu solchem Stechen gebrauchen lassen will, demselben gemäß verhalte bei festgesetzter Buße: Wer sich zum Gesellenstechen gebrauchen [63] lassen will, er sei wer er wolle, soll ein Rittermäßiger von Adel sein und seinen Namen anzeigen mit Vermeldung, wer und von wannen er sei, damit man ihn nachmals erkenne. Alle, die sich zum Gesellenstechen gebrauchen lassen wollen, sollen zu Mittwoch an dem ihnen bezeichneten Orte zusammen kommen, allda mit Zeug und Roß sich vergleichen und einander auch mit Hand und Mund zusagen, daß Einer gegen den Andern keinen falschen und betrüglichen Vortheil gebrauchen wolle, außer den ihm seine Stärke giebt. Ein Jeder soll den Zeug, Sattel, Sack, Stange u. s. w., wie ihm solches gegeben und gezeichnet wird, behalten und Nichts daran ändern oder verwandeln bei bestimmter Buße. Ein Jeder soll sich befleissigen, daß er seinen Mann wohl treffe, aber nicht mit Willen und vorsätzlich dem Andern nach den Fäusten oder dem Pferde nach dem Kopfe stechen. Bleibt Einer, wenn er getroffen ist, noch am Pferde hängen, so soll ihm Niemand aufhelfen; geschieht dieses, so soll es für einen Fall gerechnet werden. Niemand soll auf die Bahn reiten außer die Stecher und die Personen, welche dazu beschieden und verordnet sind. Kein Stecher darf von der Bahn abziehen und sich austhun (auskleiden), es wäre denn wegen solches Mangels an seinem Zeuge, den man nicht alsbald verbessern kann, er muß es aber den Verordneten stets zuvor anzeigen. Jeder soll sich zur bestimmten Stunde auf der Stechbahn in seiner Rüstung völlig fertig einfinden. Nie sollen Zwei zugleich auf einen Andern einreiten.“

Weil aber während des Stechens selbst bei geschlossenem Visire die Kämpfer nicht immer zu erkennen waren, so wurden gewöhnlich vor Beginn des Kampfspieles ihre Helme mit den verschiedenen Helmzeichen und Farben mit Angabe ihrer Namen verzeichnet und den Ordnern übergeben, die während des Kampfes je zur rechten oder linken Seite des Helmes Gewinn oder Verlust vermerkten. Daß endlich auch hier den Siegespreis in Gestalt des ersten „Dankes“ errang, wer am wenigsten fiel und am meisten traf, ist selbstverständlich. –

Doch nun zurück nach Nürnberg und seinem Marktplatze! Daß auf letzterem die Söhne der alten Patriciergeschlechter von jeher förmliche Turniere nach adligem Vorbilde, das heißt Waffenspiele nach allen Regeln der ritterlichen Kunst abzuhalten pflegten, wurde schon weiter oben bemerkt. Mit der Zeit aber erregte solch schnöder und anmaßlicher Eingriff in ein althergebrachtes Vorrecht den stillen Ingrimm der in der Umgebung der Stadt auf ihren Burgen hausenden alten fränkischen Adelsgeschlechter. Als „der Unfug“ trotzdem nicht aufhörte, machte sich der Zorn der Ritterbürtigen in wiederholten und immer energischeren Remonstrationen bei den Vätern der Stadt Luft, worin drohend die Einstellung dieser Kampfspiele gefordert wurde, und wirklich ließ sich darauf hin auch der Rath zu Nürnberg, um Conflicte zu vermeiden, zur Herausgabe eines Statutes herbei, laut dessen „kein Nürnberger Bürger turniren solle, weder in der Stadt noch an auswendigen Orten bei Strafe von 200 Pfund Häller“.

Aber auch hierdurch ließen sich die jungen Patriciersöhne in ihren ritterlichen Neigungen nicht stören; es fand sich leichtlich ein Ausweg, das Verbot zu umgehen. Man vermied nämlich einfach von nun an für die Waffenspiele die bisherige officielle Bezeichnung als „Turniere“; man schrieb sie nicht mehr öffentlich aus, man lud auch keine Auswärtigen dazu ein, sondern es turnierten nur die jungen Leute, die „Jungen Gesellen“ unter sich innerhalb der Stadt, woraus sich dann schon von selbst die Berechtigung des weniger ceremoniellen Titels der „Gesellenstechen“, mit dem man sich nun begnügte, ergeben mochte.

So wurde denn unter veränderten Formen lustig fortturniert. Auch unter den Nürnberger Patriciergeschlechtern bildeten natürlich Hochzeiten die gewöhnliche Veranlagung zur Abhaltung eines Stechens. Ein ganz außergewöhnlich prächtiges, von welchem alte Abbildungen und urkundliche Mittheilungen nähern Aufschluß geben, wurde am 28. Februar 1446 veranstaltet, an welchem Tage Wilhelm Löffelholtz Frau Kunigunda, Tochter Conrad Paumgärtner’s und Wittwe des zwei Jahre zuvor verstorbenen Hieronymus Ebner, heimführte. „Zu diesem Stechen,“ erzählt die Chronik, „sind 39 Helme eingeritten, deren jeder einen Rüstmeister, einen Stangenführer und zween Knechte zu Fuß gehabt, in seine Farben gekleidet. Die Stecher sind alle geritten in hohen Zeugen und hat jeder sein Wappen mit Schild und Kleinod geführt.“ Die Braut aber setzte drei Danke aus: „nemlich ein Heftlein 12 Gulden werth, einen goldnen Ring zu 8 Gulden und einen Kranz zu 4 Gulden“, wobei zu bemerken, daß der Gulden damaliger Zeit etwa dem heutigen Betrag von 3 Mark entsprach, daß aber der Werth des Geldes zu jener Zeit ein ungleich höherer war als heutzutage.

Dieses solenne Stechen nun ist es, welches unsere heutige Abbildung dem Leser vorführt. Rings um den weiten Platz sind die Schranken und Gerüste aufgeschlagen. In dieselben hinein reiten von der Seite der Liedfrauenkirche her die Stecher, um unter dem Schall der Posaunen und Zinken, die vom Balcon der Kirche aus ertönen, einer unübersehbaren Menge von theils auf den Gerüsten stehenden, theils an den Fenstern der Häuser zusammengedrängten Zuschauern ihre Turnierkünste vor Augen zu führen. Das edle Waffenspiel beginnt. Schon haben ein Holzschuher und ein Stromer den ersten Gang gegen einander gemacht, und Holzschuher wird im Vordergrunde von seinem Knappen und von seinem Schalksnarren über den Platz geleitet, um auf der andern Seite wieder in die Schranken zu reiten; zur linken Seite des Bildes aber erblickt man eine ambulante Cantine, welche bei den Volksbelustigungen jener Zeit ebenso wenig fehlen durfte wie heutzutage.

Den Ueberlieferungen zufolge soll „unter den Stechern an jenem Tage Alles glücklich und ohne Unfall abgegangen sein; nur daß der Ullstadt im Gedränge einen Mann zu todt ritt (!) und dem Hirschvogel ein Roß auf der Bahn liegen blieb. Das Beste that Conrad Haller, der das Heftlein erhielt; sodann zeichnete sich Berthold Volckammer aus, der den goldenen Ring erwarb, zuletzt Stephan Tetzel, dem der Kranz gegeben wurde.“ Auch von einem stattlichen Tanze, der am Abend auf dem Rathhause die Festlichkeit beschloß, weiß der Chronist zu berichten.

So viel über die Waffenspiele der alten Nürnberger! Zu vergessen ist übrigens nicht, daß dieselben keineswegs blos als Kurzweil, sondern zugleich auch als praktische Vorübungen für den „Ernstfall“, wie moderne Taktiker sagen würden, aufgefaßt wurden. Lag doch die Stadt mit ihrer Nachbarschaft in fast ununterbrochener Fehde und mußten daher ihre Bürger jederzeit gewappnet und gerüstet sein, die heimischen Mauern gegen den Feind durch eigene Kraft zu schützen. Nur eine kriegsgewandte und kriegsbereite Patricierjugend aber durfte es wagen, jene Ritterspiele, welche sich der Adel als eine Art von Reservatrecht vorbehalten hatte, öffentlich nachzuahmen. Schon gelegentlich der Anwesenheit Kaiser Heinrich’s des Sechsten im Jahre 1197 sollen die Nürnberger Geschlechter ihm zu Ehren ein glänzendes Turnier mit darauffolgendem Tanze auf dem Rathhause veranstaltet haben. Oft auch wurden von Fürsten und Herren Turniere hierher öffentlich ausgeschrieben, und noch im Jahre 1441 hatte Markgraf Albrecht Achilles von Ansbach einen Turnierhof in Nürnberg errichtet, nachdem er zuvor bei dem Rathe der Stadt um Geleit und Schutz hierzu hatte anhalten lassen.

So leuchtet uns denn Nürnbergs große Vergangenheit, eine Jahrhunderte umspannende Epoche der Macht, des Reichthums und des Ruhmes, aus seinem alten Markplatze noch heute achtunggebietend entgegen. Wohl hatten die Stürme späterer Zeiten, die zahllosen Fehden, die inneren Zwistigkeiten, die großen äußeren Kriege des Reiches bis in den Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts hinein am Marke der einst so stolzen Stadt derartig genagt, daß dieselbe zuletzt beinahe am Abgrunde ihres vollständigen Ruins angelangt war, aber zu ihrer Ehre muß es gesagt werden: aus eigener Kraft hat sie sich während der letzten Jahrzehnte zu erneutem Glanze und Ansehen wieder emporzuschwingen verstanden. Im gegenwärtigen Augenblick, da die Bevölkerung der alten Frankenstadt die Ziffer von 100,000 Einwohnern bereits erheblich überschritten, ist dieselbe hiermit auch formell in den Kreis der modernen deutschen Großstädte eingetreten; Handel und Gewerbe gedeihen aufs Neue in ihr wie vor Zeiten, und noch im vergangenen Jahre hat sie sich in der überaus glänzenden baierischen Landes-Ausstellung einen leuchtenden Markstein des Fortschrittes zu setzen gewußt. Bleibt Nürnberg allezeit eingedenk der Größe seiner Vergangenheit, hält nach wie vor die emsige Arbeit seiner Bürger gleichen Schritt mit der geistigen und körperlichen Ausbildung seiner Jugend, so wird sicherlich auch für diese Stadt aus dem rüstigen Streben und Schaffen der Gegenwart eine neue und ruhmvolle Blüthezeit der Zukunft erwachsen.

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Myrthe und Lorbeer.

(Zum 25. Januar 1858 und 1883.)

Vor fünfundzwanzig Jahren! – Damals wurde es nicht nur als ein Familienereigniß – mehr vielleicht noch als ein Bund von politischer Tragweite angesehen, als Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, einziger Sohn des Prinzen Wilhelm von Preußen und seiner Gemahlin geb. Herzogin zu Sachsen, sich mit Victoria, Princeß Royal von Großbritannien und Irland, ältester Tochter der Königin Victoria von Großbritannien und Irland und ihres Gemahls des Prinzen Albert, Herzog zu Sachsen, am 25. Januar zu London vermählte. In dem voraussichtlichen Thronerben eines der größten deutschen Staaten und der Kronprinzessin von Großbritannien und Irland einten sich in Herz und Hand die Interessen der zwei größten evangelisch-germanischen Staaten Europas. Mit dieser Heirath wurde die alte Allianz zwischen Brandenburg und dem großen Oranier auf Großbritanniens Throne, die Allianz zwischen Friedrich dem Großen und Georg dem Zweiten, zwischen Friedrich Wilhelm dem Dritten und Georg dem Dritten wieder neu besiegelt, der Kriegslorbeer vergangener Zeiten durch die bräutliche Myrthe wieder aufgefrischt.

Kronprinzessin Victoria.
Nach dem Oelgemälde von Winterhalter.

Derjenige, der diese Zeilen schrieb, erinnert sich noch aus seiner Kindheit des hochgespannten Interesses, mit welchem die damalige europäische Welt die jungfräuliche Königin auf Englands Thron verfolgte. Die Wahl eines Gatten wurde als eine internationale Frage behandelt. Die Botschafter und Gesandten, so am Hofe von St. James beglaubigt waren, berichteten darüber an ihre Höfe als über einen schwebenden politischen Fall, bis dann das Herz der jungen Königin durch all diese Combination einen Strich machte und die Fragen nach allen Möglichkeiten und Consequenzen durch die Wahl ihres Vetters, des Prinzen Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, entschieden waren.

Die Thronfolge in England stand auf zwei Augen. Daher neue Spannung – erhöhte Erwartung, als die Stunde des Ereignisses heranrückte. Das junge Ehepaar und mit ihm das englische Volk hatten auf einen Thronerben gehofft, auf einen Prinzen von Wales, und siehe es kam eine Kronprinzessin zur Welt. Denn die Erstgeborene behielt für immer diesen Titel, wenn auch später ein Prinz folgte. Dieser Titel ist ein Recht, das ihren Kindern und Kindeskindern die Nachfolge auf Englands Thron sichert für den Fall, daß die männliche Descendenz ausstirbt.

Wir geben hier ein Bild der Erstgeborenen der Königin und ihres Gemahls, des Prince-Consort – Winterhalter hat das Baby gemalt, wie er später die meisten der königlichen Kinder von deren frühester Jugend an conterfeit hat.

Alle charakteristischen Merkmale in der Erscheinung der späteren Kronprinzessin von Deutschland sind schon hier, wenn auch in den feinsten Linien, angedeutet. Neben dem großen, braunen, lichten, klugen Auge und der geistigen Lebendigkeit, welche diese kindlichen Züge beseelt, fesselt den Beschauer bei der Betrachtung diesem Bildes auch der nationale Typus. Abgesehen davon, daß wir ein engelhaftes Kind vor uns sehen, erkennen wir auf den ersten Anblick auch ein englisches Kind.

Zu jener Zeit, in welcher uns das erste englische Königskind vorgestellt ist, war der Knabe, welchen unsere zweite Illustration bringt, neun Jahre alt. Die „Gartenlaube“ ließ den Holzschnitt nach einem Oelgemälde von Professor Schoppe anfertigen. Das Original gehört dem Kaiser und befindet sich auf seinem Schreibtische. Das Bildniß stellt den Prinzen Friedrich Wilhelm, einzigen Sohn des Prinzen Wilhelm von Preußen, den Erben von Preußens Thron, in seinem vierten Jahr dar. Damals, als dieses Bildchen entstand, waren die Hoffnungen [65] auf eine directe Nachkommenschaft König Friedrich Wilhelm’s des Vierten geschwunden. Man kann sagen, daß des Prinzen tiefe blaue Augen sympathisch in ihrem Blicke, herzlich in ihrem Ausdrucke sind, daß der Oberkopf bedeutend entwickelt ist, aber man wird bei aller Sympathie für den Sprößling eines großen Geschlechts nicht behaupten können, daß es gerade ein schönes Knabenportrait sei. Die Kinder der preußischen Königsfamilie sind in der Kindheit allesammt nicht schön. Zu ihrem Vortheile entwickeln sie sich erst später. Prinz Friedrich Wilhelm ward seinen Eltern am Jahrestage der Schlacht bei Leipzig im Jahre 1831 im neuen Palais zu Potsdam geboren und wuchs unter treuer Obhut seiner Eltern theils im Palais Unter den Linden, theils in der sommerlichen Stätte von Babelsberg auf. Kann man auch nach der Verschiedenheit des Alters gerade nicht sagen, daß er und diejenige, die später ihr Leben mit ihm theilen sollte, in der Wiege für einander bestimmt waren, wie das bei Fürstenkindern so häufig der Fall, so ergab es sich doch aus den natürlichen Verhältnissen, daß im Hinausblick auf die Zukunft für den künftigen Thronerben das auf den Teppichen der Säle in Buckingham Palace und auf dem Rasen des Homegarden zu Windsor spielende Königskind sehr in Erwägung gezogen wurde. Vielleicht formten sich von beiden Seiten ganz bestimmte Pläne, nachdem Friedrich Wilhelm der Vierte, ein Verehrer der politischen und socialen Constitution Großbritanniens wie seiner Hochkirche, dazu ein persönlicher Freund der Königin, bei der Taufe des Prinzen von Wales in England gewesen war und hoch erhoben von den dort gewonnenen Anschauungen und Eindrücken nach seinen Staaten zurückgekommen war. Eine feste Form erhielten die von beiden elterlichen Seiten gehegten Wünsche und Hoffnungen erst während des Aufenthalts, den der Prinz und die Prinzessin von Preußen nach der Märzrevolution in England nahmen.

Kronprinz Friedrich Wilhelm.
Nach dem Oelgemälde von Professor Schoppe.

In dieser Zeit wob sich das innige Freundschaftsband zwischen der Königin und ihrem Gemahle einerseits, dem Prinzen und der Prinzessin von Preußen andererseits, ein Freundschaftsverhältniß, welches nicht nur familiäre Beziehungen umfaßte, sondern sich auch in politischer Hinsicht in einer Wechselwirkung zwischen England und Preußen bemerkbar machte. Die Eltern des Prinzen Friedrich Wilhelm sahen die Entwickelung derjenigen, die einst des Sohnes Gattin zu werden bestimmt war, und konnten beobachten, wie sie, die Lieblingstochter des Vaters, an Herz und Geist desselben zum Leben emporreifte. Beginnt auch die Lebensgeschichte einer jungen Prinzessin unserer Tage erst mit dem Momente, wo sie aus der Kinderstube heraustritt, so waren die Symptome des geistigen und seelischen Lebens in der Prinzessin Victoria doch so bedeutsam, daß man schon in dem Kinde eine gewisse Bürgschaft dafür fand, es werde die ihm für die Zukunft gestellten Aufgaben würdig lösen.

Unter sorgsamer Obhut der Eltern, namentlich unter der geistigen Pflege der Mutter, war inzwischen Prinz Friedrich Wilhelm zum Jüngling herangereift. Er war in das erste Garderegiment zu Fuß eingetreten; er hatte in Bonn den Studien obgelegen – er war nach allen Richtungen hin in Vorbereitung für seinen hohen Beruf. Nach einem Besuche, den die Eltern des Prinzen der Königin Victoria 1851 bei Gelegenheit der großen Industrie-Ausstellung in London gemacht hatten, und nach einer Wiederholung desselben, zwei Jahre darauf bei Gelegenheit großer Land- und Flottenmanöver, waren sie im Sommer 1856 mit ihren beiden Kindern, dem Prinzen Friedrich Wilhelm und der damals mit dem Prinzen Friedrich, späterem Großherzog von Baden, verlobten Tochter Louise, wieder nach England gekommen, und bei dieser Gelegenheit fand das Eheverlöbniß zwischen dem preußischen Prinzen und der englischen Königstochter statt.

Die Princeß Royal, vorbereitet auf das, was im Werke war, hatte von dem ihr bestimmten Bräutigam vielfach erzählen gehört, aber ihn noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen. In diesem Falle wird wohl eine Prinzessin von Großbritannien mit dem Mädchen aus einem Bürgerhause dasselbe Gefühl theilen, daß es sie drängt, sich in ihrer Seele und mit ihrem Auge ein Bild von demjenigen zu machen, der ihres Lebens Schicksal sein soll. Aber noch war die Verlobung nicht officiell, noch sie selbst erst 15½ Jahre alt. So konnte sie auch an dem großen Galadiner, bei dem die preußischen Gäste zuerst erschienen, nicht Theil nehmen. Dafür schlich sie sich aus ihren Gemächern in eine Gallerie, durch deren hohe Glasfenster sie unbemerkt den künftigen Gatten beobachten konnte, und kehrte, im Innern hoch beglückt, in ihre Gemächer zurück. So sehr hatte der künftige Bräutigam ihr gleich gefallen. Prinz Friedrich Wilhelm blieb in England; er fühlte sich in der englischen Königsfamilie heimisch; er lernte die ihm Bestimmte näher kennen, und in seinem Herzen erwuchs die innerste Neigung zu ihr.

Die Hochzeit ward in England, in London, gefeiert, und zwar ward der St. James-Palast und die Chapel Royal als Ort der Trauungsfeierlichkeit ausersehen. In derselben Capelle, in welcher die Eltern ihren Ehebund geschlossen hatten, sollte auch die älteste Tochter die Weihe ihres Herzensglückes empfangen. Ganz England nahm an dem freudigen Ereignisse in der Familie der Königin Theil. Unter den Hochzeitsgästen befanden sich die Eltern des Bräutigams, der Prinz und die Prinzessin von Preußen, sowie der Oheim der Königin, der König der Belgier. Als Gast hatte sich auch das Publicum Londons angesagt – es war auf allen [66] Plätzen und allen Straßen in dichten Massen zu schauen, um den Neuvermählten seinen Hochzeitsgruß zuzujauchzen.

So ein Hochzeitszug am englischen Hofe ist von großartiger Pracht und geradezu mächtigem Eindrucke durch die Beibehaltung alter Formen, in deren Rahmen sich das Modernste bewegt. Die Kleidung der Staatstrompeter, welche den Eintritt jedes Zuges durch ihre Fanfaren begrüßen, der Yeomen, welche Spalier bilden, trägt den Charakter der Zeit Heinrichs des Achten. Zuerst erschien der Zug der Gäste, mit den Eltern des „Bridegroom“, dann derjenige der Königin. In einer Gruppe von fürstlichen Herren ging der hohe Bräutigam in der Uniform eines preußischen Generalmajors, zu welchem er an diesem Tage ernannt worden; er war mit dem höchsten Orden seines Hauses, demjenigen vom Schwarzen Adler, decorirt.

Der Knabe, den wir auf dem Bilde gesehen haben, hatte sich zum stattlichen jungen Manne von siebenundzwanzig Jahren herausgebildet, hoch, voll, kräftig von Bau, frisch und energisch in seinen Bewegungen. Das Gesicht war noch nicht das Kronprinzenangesicht, das wir kennen und das uns fast ein Typus geworden ist: der dunkelblonde Vollbart umrahmte noch nicht das Oval desselben. Ein blonder Schnurrbart bedeckte die Oberlippe, und der Anfang des Vollbartes zeigte sich damals nur erst in einem Ansatze an beiden Seiten. Aber das große dunkelblaue Auge blickte hell und freundlich aus den vom frischesten Lebenshauche belebten Zügen, verkärt durch den Ausdruck eines Hochgefühles von Glück, das ihm hier vor den Communion Rails der Royal Chapel zu Theil werden sollte.

Der letzte der Züge brachte die Braut in einer Wolke von Brautjungfern aus dem höchsten englischen Adel. Die Prinzessin war wenige Wochen vor ihrer Hochzeit in das achtzehnte Jahr getreten; sie sah vielleicht noch jünger aus. Was dem Gesichte seinen Reiz verlieh, war der wechselnde Ausdruck von Kindlichem und Jungfräulichem in dem von den zartesten Farben überhauchten Antlitze, und die Augen, die so viel verheißend aus dem Kindergesichte schauten, hatten das, was sie damals versprochen, gehalten – sie waren die Seele dieses bräutlichen Antlitzes. Von lichtem Braun glänzend, klar und innig, waren ihre Blicke die Sprache eines hellen, trotz der Jugend schon entschlossenen Geistes, eines auf Wahrheit und Innigkeit gerichteten Herzens und Gemüthes.

Jeder dieser Brautzüge wurde von den Staatstrompetern der Königin mit Fanfaren begrüßt – jeden Zug begleitete der auf der Orgel gespielte Alexander-Marsch von Händel zum Altar. Vor dem Altar wurde das Paar vereinigt, und der Erzbischof von Canterbury vollzog die Trauung. Bekanntlich ist diese in England noch ein Recht der Kirche, und die Formel vereinigt mit der religiösen Weihe ein staatlich-juridisches Moment. In ihr hat sich die uralte germanische Eheschließung erhalten. Der Geistliche fordert den Vater auf, seine Einwilligung zu der Hingabe der Tochter an den Mann zu geben, und indem dieser die Hand in die der Braut legt, begiebt er sie mit seinem Leibe und seinen leiblichen Gütern. Das „I will“ des Prinzen Friedrich Wilhelm kang voll und frisch durch die hohe Kirchenhalle von St. James.

Fest reihte sich an Fest sowohl in Buckinghampalace wie in Windsor. Hier nahm die Königin die Einkleidung ihres Schwiegersohnes als eines Ritters „Of the most noble order of the Garter“, des Hosenbandordens, vor. Sonst ist es in England in der höchsten Gesellschaft der Brauch, daß man Neuvermählte vierzehn Tage allein läßt, aber dieser Honigmonat war dem prinzlichen Ehepaare nicht beschieden. Von der Heimath waren erwartungsvoll Wünsche und Gedanken über den Canal gerichtet, um die junge Fürstin, welche einst die Thronstelle einer Königin Louise, Elisabeth und Augusta einnehmen sollte, von Angesicht zu Angesicht zu schauen und sie im Lande begrüßen zu können.

König Friedrich Wilhelm der Vierte, welcher diese Heirath so sehr begünstigt hatte, konnte nicht der Gast der Königin Victoria bei den Hochzeitsfeierlichkeiten sein. Die tückische, unheilvolle Krankheit, die drei Jahre später seine irdischen Tage beschloß, war bereits derart fortgeschritten, daß seine Anwesenheit bei der Hochzeit, die wohl in seinem Wunsche gelegen, zur Unmöglichkeit ward.

Als königlichen Commissarius zur Beiwohnung bei den Hochzeitsfeierlichkeiten hatte er einen seiner vornehmsten Hofherren, den Grafen Redern, nach London entsandt mit dem Auftrage, die junge Gemahlin seines Neffen in die preußische Heimath zu geleiten. Die Hochzeitsreise ging über Brüssel, wo das junge Paar vom Könige Leopold empfangen wurde, über Hannover, wo Georg der Fünfte der Welfentochter einen Empfang bereitete, über Magdeburg, Potsdam nach Charlottenburg. Hier empfing der König das neue Familienmitglied an der Pforte seines Schlosses: „Das ist ja schön, mein liebes Kind, daß Du nun da bist“ waren die Worte, mit welchen der königliche Herr die Ankommenden begrüßte. Am 8. Februar fand der großartige Einzug in Berlin statt, der Einzug auch in jenes dem Zeughause gegenüber gelegene Palais, in welchem Friedrich Wilhelm der Dritte und die Königin Louise ihre Flitterwochenzeit gehalten und welches die Berliner Heimathstätte des kronprinzlichen Paares geblieben ist bis auf den heutigen Tag.

Nach fünfundzwanzig Jahren! Es ist, als ob die Königin Louise, als sie kurz vor ihrem Tode aus diesem Hause geschieden, einen Ehesegen für das kommende Geschlecht darin zurückgelassen hätte. Aus diesem Hause machte sich das prinzliche Paar, welches nach dem Tode König Friedrich Wilhelm’s des Vierten an die erste Stelle am Throne gerückt war, auf Grund seines Herzens, Geistes und Charakters einen Tempel häuslichen Glückes. Waren auch höhere und außerhalb des Herzensbereiches liegende Interessen bei dieser Heirath zuerst thätig gewesen, so hatten sich doch über diese hinweg vor dem Altare in der königlichen Capelle von St. James in zwei fürstlichen Sprößlingen auch zwei Herzen die Hand gereicht. Mit vollbefriedigtem Mutterglücke konnte die Königin Victoria dem vom Könige gesandten preußischen Commissarius sagen, daß hier eine fürstliche Ehe aus wahrer Herzensneigung geschlossen worden sei. Die Folge gab diesem Ausspruche vollauf Bestätigung. Ein reicher Kindersegen entsproß dieser Ehe, und wenn auch zwei Kinder, und zwar das letzte zum größten Schmerze der Eltern schon im reiferen Knabenalter von ihrem Herzen wieder genommen wurden, so gab Gott für diesen Verlust wieder neue Freude, indem er ihnen zwei Enkelkinder in die Arme legte.

Freundlich mild, hellen und weisen Geistes waltet die Kronprinzessin in ihrem Hause, und mit den Vornehmsten und Mächtigsten des Landes sitzen die Künste und Wissenschaften an ihrem Tische zu Gaste. Auf praktische greifbare Ziele, auf die allgemeine Wohlfahrt ist ihr und ihres Gemahles ganzer Sinn gerichtet.

Auch äußere Erfolge waren diesem fünfundzwanzigjährigen Eheleben beschieden. Aus dem engern nationalen Kreise war der Kronprinz hinaus in den Bereich der großen deutschen Interessen getreten. Er hat sich mit seinem Schwerte diese Stellung erobert, und im vollsten Gefühle kann die Gattin sich sagen, daß sie mit der Kaiserin Augusta das Glück theile, von den zwei populärsten Männern Deutschlands den Einen als Gatten zu besitzen. Unter den Erinnerungen an alte Allianzen der Mächte sollte, als diese Ehe in Aussicht genommen war, in den gemeinsam errungenen Lorbeer vergangener Zeiten die grüne blühende Myrthe verflochten werden; jetzt nach fünfundzwanzig Jahren verflicht sich mit dem Silberkranze der Jubelgattin der grüne Lorbeer des siegreichen Feldherrn in innigster Allianz der Herzen.Georg Horn.     




Das Klootschießen, ein ostfriesisches Wintervergnügen.

Die in anderen Gegenden unseres Vaterlandes oft so stille Winterzeit bringt für Ostfriesland und die angrenzenden Küstenländer, namentlich die Jever- und Butjadingerlande, Tage des regsten Lebens und Treibens. Besonders stark entfaltet sich dasselbe, wenn die Erde hart gefroren und der Schnee fern geblieben ist. Nimmt man dann eins der vielen Provinzial- und und Localblätter zur Hand, so begegnet Einem fast unter jeder Localnachricht das Wort „Klootschießen“.

Verirrt sich nun ein solches Zeitungsblatt einmal zu den Bewohnern des inneren Landes, so wird ob der Bedeutung des [67] Wortes wohl regelmäßig der Kopf geschüttelt. Weder Meyer noch Brockhaus kennen dieses Wort in ihrem Lecicon, und nur ein Ostfriese, ein echter Ostfriese kann hierüber Auskunft geben; denn nur er weiß das Wintervergnügen seiner Brüder mit dem nöthigen Feuer zu schildern, und höher wird ihm das Herz schlagen, wenn er der heimathlichen Gebräuche gedenkt. Er war selber, wenn nicht als Mann, so doch als Jüngling oder Knabe dabei, wie diese Kämpfe ausgefochten wurden, und war er auch nicht selber beim Wettkampf betheiligt, so hat er wenigstens sein „Hurrah“ bei jedem Siegeswurf kräftig mit erschallen lassen.

Wenn überall der Boden hart gefroren ist und die ganze Marschebene sozusagen eine felsenharte Tafel bildet, dann ist der Zeitpunkt des Klootschießens gekommen. Mit Spannung sieht man in jedem Dorfe, in jeder Stadt diesem Augenblick entgegen, und tritt endlich der kahle Frost ein, so jubelt jeder Mund; denn nicht allein die jüngere Generation, sondern auch die älteren Leute nehmen Theil an dieser Lust.

Wie im Wirthshause, so ist in der Familienstube „Klootscheeten“ die einzige Unterhaltung; Erinnerungen aus längst vergangener Zeit steigen wieder auf und werden zum Besten gegeben. Da freut sich mit der alten die jüngere Welt über Vaters oder Bruders Kunst- und Glückswürfe und empfindet noch das Hochgefühl des Sieges nach. Wetten und Herausforderungen werden besprochen. Nicht allein, daß sich in einem Orte gegenseitig die Kräfte im „Klootschießen“ messen, nein, Dorf gegen Dorf, Gemeinde gegen Gemeinde, selbst ganze Amtsbezirke ziehen gegen einander zu friedlichem Streit.

Was ist denn aber das „Klootschießen“? Die kurze Antwort lautet: ein Werfen mit faustgroßen Kugeln von hartem Holze, durch welche kreuzweise Löcher gebohrt, die wieder mit Blei gefüllt sind, sodaß die Kugeln etwa ein bis eineinviertel Pfund wiegen.[1] Sehen wir uns nun einen derartigen Wettkampf zwischen zwei Dörfern an! Selbstverständlich geht ihm die übliche Herausforderung voraus. In einer Dorfschenke finden wir an geeignetem Tage sechs stämmige Burschen, Abgesandte eines benachbarten Ortes, die sich rund um den Herd, das offene zu ebener Erde brennende Feuer, gesetzt haben, sich häufig räuspern und noch häufiger in die Flammen spucken, als sei ihnen das Feuer im Wege und versuchten sie es zu löschen; der am Feuer stehenden zinnernen Deckelkanne mit dem beliebten „Heet utt söt“, einem mit Zucker und Kanel oder Syrup und Ingwer gekochten leichten Biere, wird dabei kräftig zugesprochen.

Hin und wieder fällt ein Wort, welches auf ungeduldiges Warten schließen läßt. Endlich kommen neue Gäste – die jungen Burschen aus dem Orte selbst. Mit Windeseile ist ihnen die Botschaft zugetragen worden, daß Abgesandte da sind, „üm tom Klootscheeten uptoföddern“. Nach kurzem Gruß setzen sie sich zu ihrer Kanne „Heet un söt“.

Seitwärts blickend mustern sich die Jünglinge gegenseitig, bis endlich einer der auswärtigen aufsteht, mit gravitätischem Ernst in die tiefe Hosentasche fährt und die Kugel mit den Worten: „Wie hangt de Kloot up,“ das heißt: „wir fordern Euch zum Klootschießen heraus“, vor den Anderen auf den Tisch legt.

Bis dahin war so ziemlich Alles in größter Gemüthsruhe verlaufen; jetzt aber kommt Leben in die Gesellschaft; es erfolgt ein kurzes, leises Geflüster; dann ergreift einer der Dorfjünglinge die Kugel, und die Worte: „Wie nehmt de Kloot up,“ das heißt: „wir nehmen die Herausforderung an“, lösen den Bann der Zungen. Im Hause und außerhalb desselben, wo die liebe Dorfjugend schon mit kaum bezwingbarer Sehnsucht das Resultat erwartete, wird’s lebendig und „Juchhes und Hurrahs“ verkünden den zu Hause Harrenden, daß morgen geworfen wird.

Die Bedingungen, wie schwer die Kugeln sein sollen und um welchen Preis geworfen werden soll, sind bald vereinbart. Schwere Kugeln, einundeinviertelpfündige, werden ausgemacht, und der Preis beträgt jederseits zehn Reichsthaler. Heftiger Kampf aber entbrennt um die Zahl der Werfenden; denn das eine Dorf kann nur zwei geübte „Klootscheeters“ stellen, während das andere drei aufzuweisen hat. Heftig wird disputirt und den Worten durch wuchtige Faustschläge auf den Tisch Nachdruck gegeben. Einige Kannen Warmbier besiegeln endlich den Vertrag auf drei Personen, die von Dorf zu Dorf, die „Kloote“ hin- und zurückwerfend, den Kampf entscheiden sollen.

Der festgesetzte Tag bricht an! Früh sind schon Jung und Alt auf den Beinen, um ja rechtzeitig auf dem Kampfplatze zu erscheinen.

Der Ort, von dem aus der Wettstreit beginnen soll, wird mittelst Spaten und Hacke geebnet und eine lange Strohmatte daraufgelegt. Durch untergelegte Säcke wird dieselbe an dem einen Ende angemessen erhöht, um den Kämpfenden beim Werfen eine feste Stütze zu geben und ein Ausgleiten zu verhindern.

Eine große Menschenmasse, zu der die liebe Jugend ein Hauptcontingent stellt, ist versammelt, und manche Wette, das Resultat des Kampfes betreffend, wird noch gemacht.

Da trilt allgemeines Stillschweigen ein! Die Kämpfenden sind in Positur getreten, und die Schlacht, von der die Ehre des ganzen Dorfes abhängig ist, beginnt. Der erste Klootschießer holt jetzt weit aus, nimmt einen kräftigen Anlauf und wirft dann mit aller Leibeskraft, nachdem er den Arm auf’s Schnellste im Kreise geschwungen hat, die Kugel von sich. Mit ungeheurer Kraft saust diese eine gewaltige Strecke durch die Luft, trifft dann den harten Boden, schnellt kräftig wieder auf und hüpft eine Weile vorwärts, um rollend noch eine tüchtige Strecke vorwärts zurückzulegen.

Vom „Bahnwieser“ (Pfadzeiger) wird die beim Werfen einzuschlagende Richtung durch einen emporgehaltenen Stock angegeben und gleichzeitig eine ausgemachte Stelle für das Niederfallen der Kugel angedeutet. Schlägt die Kugel an der angezeigten Stelle auf, so rollt sie noch eine gute Strecke weiter fort, fehlt sie aber diese Stelle, so bleibt sie manchmal liegen, und viel Mühe kostet es, den Fehlwurf später wieder auszugleichen. Dort, wo die Kugel zur Ruhe kommt, legt der „Stockleger“ seinen Klutenstock nieder und bewacht die Kugel, damit sie nicht verschoben werde.

Hierher! Hålwêr! (hole wieder) schreit der Bahnzeiger der andern Partei, und der zweite Werfer tritt vor. Nach verschiedenen blinden Anläufen macht er endlich den wahren Anlauf, beschreibt mit dem kugelbeschwerten Arm eine Kreislinie, und in einer Entfernung von fünfzig bis sechszig Schritt fällt die Kugel auf eine glattgefrorene Fläche nieder und hüpft und rollt noch ein großes Stück vorwärts. Ein nicht enden wollender Jubel seiner Partei bricht los; denn um einige Schritte liegt die Kugel der anderen vor. Der zweite Mann beider Parteien thut nun seine Schuldigkeit, indem er die Kugel seines Vordermannes, dort wo dieselbe liegen geblieben, aufnimmt; er wirft sie nun weiter, nachdem Matte und Säcke am neuen Wurfplatze wieder ausgebreitet und der Bahnzeiger sich aufgestellt hat. Ihm folgt der Dritte. Während dessen stärken sich diejenigen, die bereits theilweise ihrer Pflicht nachgekommen sind, mit einer kraftigen Mettwurst und einem herzhaften „Doorekaat“ (Schnaps aus der J. ten Doorekaat’schen Fabrik in Norden).

So geht es ohne große Unterbrechung fort bis zum nächsten Dorfe. Jetzt wird, nach eingenommener Stärkung, wieder zurückgeworfen. Die Werfer nehmen nun den Kloot der Gegenpartei auf und werfen von dem Punkte aus, wo derselbe lag, wodurch der Vorsprung der Partei, welche mit dem Werfen begonnen hat, für die andere Partei wieder ausgeglichen wird.

Die Kraft, mit welcher die Klootschießer werfen, ist so wuchtig, daß sie häufig durch den Schwung zu Boden stürzen und Mancher sich dadurch schon erheblichen Schaden zugefügt hat. Daher sind auch stets Leute bestimmt, die den Klootschießer vor gefährlichem Niederstürzen zu bewahren und aufzufangen suchen. Häufig haben die Werfenden ihre Füße nur mit Strümpfen bekleidet, um leichten Schritt zu haben, und legen, um in ihren Bewegungen nicht behindert zu sein, die Oberkleider ab. Sofort nach dem Wurfe werden dem Schweißtriefenden vor Erkältung schützende Pelzmäntel oder warme Decken umgehangen; man stülpt ihm eine Pelzkappe auf und versorgt ihn auch mit weiten Schuhen. Jeder herrliche Wurf wird mit lautem Jubel und Hurrah begrüßt, ja, der Werfer wird mit den freudigsten Umarmungen und Händedrücken belohnt. Unaufhörlich werden die Kämpfer durch ihre Partei angefeuert, gebeten und geliebkost, doch die Ehre zu retten. Jeder matte und verfehlte Wurf aber wird mit Unwille und Schelten von der eigenen, mit Hohn und Gelächter von der anderen Partei begleitet. Wer zuerst und mit den

[68] wenigsten Würfen am Ausgangspunkte wieder angelangt ist, und wär’s nur um den Raum einer Spanne, der ist Sieger.

Wie schon gesagt, ist es vor Allem um die Ehre des Sieges zu thun; denn der Siegerpreis ist meistensts bis zur Beendigung des Kampfes schon darauf gegangen. – Gewöhnlich sind die Kämpfer die Söhne der Bauern oder diese selbst, und erst wenn diese keine tüchtigen Werfer aus ihrem Kreise stellen können, kommen auch Andere an die Reihe. Abends krönt dann ein großes Siegesgelage in irgend einem Gasthofe die Freude des Spieles. Der Sieger ist der Held des Tages und Abgott Aller. Spät nach Mitternacht kehrt die Gesellschaft heim, und Alle meinen einstimmig: „Es ist doch ein herrliches Vergnügen, das Klootschießen, und so bald wie möglich soll’s wiederholt werden.“ W. Lülling.     




Die Besänftigung des ungestümen Meeres.

Eine Vergleichung alter Mythen mit neuen Versuchen.
Von Carus Sterne.

Eine merkwürdige griechische Sage berichtet von einem Wettstreite, welchen Neptun mit der Minerva um die Herrschaft über die neugegründete Stadt Athen, die spätere Hautptstadt Griechenlands, ausgekämpft habe. Der Beherrscher des Meeres brachte das Pferd hervor, die Göttin der Weisheit aber ließ den Oelbaum hervorsprießen, und die als Schiedsrichter herbeigerufenen Götter entschieden, daß der Oelbaum als das werthvollere Geschenk für die Bewohner anzusehen sei und daß die Herrschaft über die Stadt deshalb der Göttin gebühre, die sich in Folge dieses Sieges nach ihrer Stadt Athene nannte. Beim ersten Anblicke erscheint der Sinn dieser Localsage dunkel, aber er wird deutlicher, wenn wir erfahren, daß die mähnenschüttelnden Rosse des Neptun nur Bilder der sich bäumenden, weißkämmigen Meereswogen sind. Darum heißt es auch in einer anderen Form desselben Mythus, Athene habe auf der Burg von Athen den ersten Oelbaum hervorsprießen lassen, Poseidon dagegen, indem er mit dem Dreizack auf den Boden stampfte, eine Salzquelle oder einen Brunnen mit Seewasser daselbst erzeugt. Beide Gründungsheiligthümer, der erste Oelbaum wie die Neptunsquelle, wurden später in die Tempelbauten der Akropolis hineingezogen und erfuhren eine ihrem Rufe entsprechende Verehrung. Noch dem Pausanias, der im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung Griechenland bereist und geschildert hat, zeigte man im Erechtheum[2] als Wahrzeichen des Götterstreites diesen Meeresbrunnen und versicherte ihm, daß man in seinem Kessel das Meer Wellen schlagen und branden höre, so oft der Südwind die Wellen gegen den mehr als eine Meile entfernten Hafen von Athen treibe.

Es ist auffallend, daß den alten Mythenerklärern der Sinn dieser Kampfsage gänzlich entgangen ist. Dem Schreiber dieser Zeilen erscheint es zweifellos, daß er die den Alten wohlbekannte besänftigende Wirkung, welche das Oel der Weisheitsgöttin, deren natürliches Symbol die Studirlampe war, auf die aufgeregten Meereswogen ausübt, in einer classischen Form versinnlichen sollte, worauf auch der Zusatzmythus deutet, Poseidon habe Athen zu überschwemmen gedroht, Athene aber seine Macht gebrochen. Darum blieb der Oelbaum den Athenern heilig, und als der von der Göttin selbst erzeugte Tempelbaum aus der Burg in den Perserkriegen durch Brand zerstört wurde, benutzte man seinen Wurzelausschlag, um in der „Akademie“ einen ganzen Park heiliger Oelbäume aufzuziehen. Erinnert man sich überdies, daß die Oelbaume den Meeresstrand allen anderen Standorten vorziehen und dort den heftigsten Stürmen Trotz bieten, so wird der dunkle Sinn dieses Naturmythus noch leuchtender hervortreten. An jene Sage vom Götterkampfe knüpft sich zugleich die Wahl des Oelzweiges zum Symbole des erstrittenen Sieges (z. B. in den olympischen Spielen) sowie des durch Kampf gewonnenen Friedens.

Den alten Griechen, welche auf der See wohl Bescheid wußten, war das einfache Mittel, die aufgeregte Oberfläche der See durch aufgeschüttetes Oel zu glätten, wohl bekannt, und ganz allgemein benutzten es ehemals, wie uns Plutarch und andere Schriftsteller mitgetheilt haben, die Taucher, welche auf der dunklen Meerestiefe nach Perlmuscheln, Korallen und Schwämmen suchten. Sie nahmen beim Hinabtauchen den Mund voll Olivenöl und spritzten es von sich, um in der Meerestiefe das nöthige Licht für ihre Nachforschungen zu gewinnen. Die beständige Kräuselung der Meeresoberfläche durch kleine Wellen hindert nämlich das Eindringen des Tageslichtes in genügender Menge, und daher hat die Ausspritzung des Oeles, welches die Oberfläche glättet, eine baldige Aufhellung der Tiefe zur Folge. Auch die heutigen Schwammfischer bedienen sich noch dieses einfachen Mittels, selbst wenn sie, ohne zu tauchen, die Schwämme vom Kahne aus mit der Harpune suchen; sie werfen zu diesem Zwecke eine Anzahl in Oel getauchter Steine im Halbkreis gegen den Wind, um die Wellen schon im Herankommen zu zerstören.

Man möchte sagen, daß die Natur den Menschen das Geheimniß der Meeresbesänftigung durch Oel freiwillig entschleiert und den Schiffern die nöthigen Fingerzeige selbst gegeben habe; denn an solchen Küstenplätzen, wo sich Erdölquellen in’s Meer ergießen, bleibt die See auch bei heftigem Winde ruhig und die Brandung ist daselbst eine unbekannte Erscheinung. Der bekannte französische Geologe Violet d’Aoust beobachtete diese beruhigende Wirkung der Petroleum ergießenden Salsen an einem Punkte der mexicanischen Küste in der Nähe von Veracruz, woselbst eine starke Wasserbewegung so unbekannt ist, daß die Führer kleinerer Fahrzeuge beim Sturme schleunigst dieses ewig stille Ufer zu gewinnen suchen.

Küstenorte, in deren Nähe Petroleumquellen fließen, wie z. B. auf der Halbinsel Apscheron im Kaspischen Meere, könnten sich somit ohne kostspielige Bauten Sicherheitshäfen anlegen, wenn sie einfach eine Oelquelle an der betreffenden Stelle in’s Meer leiten wollten.

Uebrigens sind die fetten Oele in dieser Richtung noch wirksamer als das Erdöl, welches im natürlichen Zustande oft zu dickflüssig ist, um sich schnell über die Wogen zu verbreiten. Daß in dem ölreichen Küstenlande Attikas früh die meerberuhigende Wirkung des Olivenöls beobachtet wurde, kann Niemand verwundern. Jedes ölführende Fahrzeug, welches bei stürmischem Wetter umschlug, mußte den Erfolg zeigen. An den griechischen Küsten ist die Benutzung des Oeles, um sich bei jedem Wetter die Landung zu ermöglichen, auch stets unvergessen geblieben, und bei stürmischer See führen die Piloten häufig zu diesem besonderen Zwecke ein Gefäß mit geringwerthigem Oel bei sich.

Der oben erwähnte französische Naturforscher erfuhr dies zu seinem nicht geringen Erstaunen auf seiner geologischen Reise in Griechenland (1830). Eines starken Sturmes wegen hatte sein Pilot die größte Schwierigkeit, die Küste der Insel Thasos zu erreichen, und sein wiederholt ausgesprochenes Bedauern, daß er leider kein Oel bei sich führe, um die Brandung zu stillen, kam dem Reisenden beinahe lächerlich vor. Als aber kurz darauf bei anhaltendem Sturme auch die Ausschiffung Schwierigkeiten fand, hatte er die beste Gelegenheit, die schnelle Wirkung dieses für die Küstenschifffahrt wichtigen Hausmittels kennen zu lernen.

Bei den nordischen Seeleuten blieben diese Thatsachen lange Zeit hindurch, wenn nicht unbekannt, so doch unbenutzt, obwohl es hier nicht wenig Häfen giebt, in denen die Landung bei stürmischem Wetter fast unmöglich ist. In neuester Zeit hat sich indessen ein reicher Schotte, William Shields, das Verdienst erworben, durch ausgedehnte und dem entsprechend kostspielige Versuche den Nutzen des Verfahrens auch für die Sicherung größerer Schiffe nachzuweisen. Er stellte seit zwei Jahren Versuche im Hafen von Peterhead in Schottland an, der bei schlechtem Wetter geradezu unnahbar ist, indem er auf dem Meeresgrunde ein System metallener Röhren mit brausenartigen Oeffnungen legen ließ, welche es ermöglichen, mittelst einer an der Küste aufgestellten Druckpumpe bis auf eine Entfernung von 180 Metern von der Küste beliebige Oelmengen auszupumpen und schnell auf eine große Fläche in der Richtung der mit den stärksten Wogen bedecken Barre zu vertheilen. Diese Versuche

[69]

Hirtentod in der Pußta.
Originalzeichnung von Albert Richter.

[70] ergaben, daß auch bei der stärksten Brandung die Meeresoberfläche nach halbstündigem Pumpen so wohl geglättet wurde, daß selbst die kleinsten Barken ohne Gefahr einlaufen konnten. Shields empfiehlt deshalb allen in ähnlicher Lage befindlichen Häfen die Herstellung eines solchen Apparates, dessen Kosten sich auf etwa 10,000 Mark belaufen und der viel kostspieligere Hafenbauten überflüssig macht.

Aehnliche Versuche wurden am 4. December vorigen Jahres auf Veranlassung des schottischen Handelsamtes im Hafen von Aberdeen angestellt. Man hatte eine günstige Gelegenheit abgewartet; denn es wehte an jenem Tage ein so starker Südoststurm, daß die Wogen sich beständig über die Molen ergossen und der hohe Seegang es so ziemlich Schiffen jeder Art unmöglich machte, die Barre mit Sicherheit zu passiren. Man verwendete statt des Oeles Walfischthran und erreichte nach Verlauf von 20 Minuten die Stillung der Brandung so weit, daß die Schiffe mit Sicherheit einlaufen konnten. Freilich wurden dabei 280 Gallonen (das heißt nahezu 2 Tonnen) Thran verbraucht – ein etwas kostspieliges Opfer für den erzürnten Neptun. Natürlich soll damit nicht behauptet werden, daß ein solches Opfer nicht unter Umständen ein wohlangebrachtes sein könne, aber sparsamer erscheint jedenfalls das griechische Verfahren, bei welchem die Schiffer das Oel immer bei sich führen, um sich im gegebenen Falle mit geringeren Opfern ruhige See in der unmittelbaren Umgebung ihres Fahrzeugs zu verschaffen.

Ein ähnliches Verfahren hat im letzten December ein englischer Schiffscapitain, Namens Beacher, angewendet, um seinen neuen Dampfer mit 50 Passagieren und werthvoller Ladung bei stürmischem Wetter glücklich zur Landungsstelle von Newcastle zu bringen. Er stellte auf jede Schiffsseite einen Matrosen mit einer Kanne auf, die 2 Gallonen Lampenöl enthielt, mit dem Auftrage, immer nur so viel Oel in die Wogen zu gießen, als nöthig sei, das Wasser in der unmittelbaren Umgebung des Schiffes zu glätten, und mit dem weiteren Zugießen zu warten, bis das Wasser sich wieder aufgeregt zeige. In dieser Weise wurde dem Schiffe für eine längere Zeit – der Bericht spricht von mehreren Stunden – ruhige Fahrt verschafft und die Landungsstelle an der Mündung des Tyne zum Erstaunen der daselbst befindlichen Zuschauer schnell und glücklich erreicht, während der gesammte Oelverbrauch nur 4 bis 5 Gallonen betrug. Dies wäre natürlich ein viel ökonomischeres Verfahren, als das zuerst erwähnte, und es zeigt jedenfalls, wie wichtig es für ein Fahrzeug werden kann, größere Mengen von Oel an Bord zu haben.

Seit alten Zeiten schon haben sich die Naturforscher bemüht, zu erklären, auf welche Weise das Oel die erregten, schäumenden Rosse des Neptun bändige. Am längsten blieb die Erklärung des Aristoteles in Ansehen, welche, von der Schlüpfrigkeit des Oeles ausgehend, besagte, der Wind gleite von der glatten Oberflächenschicht, welche das Oel über das Wasser breitet, ab und können das letztere in Folge dessen nicht weiter aufwühlen. Diese Erklärung war offenbar von der alten Palästra geholt, auf welcher die Ringer sich einölten, um von dem Gegner weniger sicher gepackt werden zu könnwn, aber sie wurde trotz ihrer Unwahrscheinlichkeit immer wieder erneut, weil man eben keine bessere an ihre Stelle zu setzen wußte. Andere meinten, der Wind treffe nunmehr blos die Oelschicht und bewege sie über dem Wasser hin, weiches sich darunter beruhige.

Noch manche andere Meinungen sind im Laufe der Jahrhunderte von den Physikern zur Erklärung des mysteriösen Vorganges, der sich vor ihren Augen vollzog, aufgestellt worden, aber keine derselben befriedigt den denkenden Geist. Wir haben es offenbar mit einer ziemlich zusammengesetzten Erscheinung zu thun, in welcher sich verschiedene einfachere Kraftwirkungen gegenseitig durchkreuzen. Vor einigen Monaten hat ein belgischer Physiker, Herr van der Mensbrugghe, in den Schriften der Brüsseler Akademie der Wissenschaften versucht, den Vorgang zu analysiren und ihn sogar in mathematische Formeln zu kleiden, wovon wir hier in gewöhnlicher Sprache eine kurze Andeutung geben wollen.

Die Sturmwellen des Meeres sind, wie man sich leicht klar machen kann, die Summe unzähliger kleinerer Angriffe, welche die bewegte Luft auf die horizontale Meeresfläche übt, und die sich anhäufen, weil die Angriffe sich immer in derselben Richtung erneuern. Jedermann erinnert sich aus dem physikalischen Unterricht, daß die Wellen im Grunde nicht, wie es der Augenschein uns vortäuscht, eine Fortbewegung der Flüssigkeit selbst, sondern im Wesentlichen nur eine Fortpflanzung der die Wellen erzeugenden Kraft darstellen; die Wassertheilchen bleiben, ebenso wie die Halme des Getreidefeldes, über welches die Windwellen dahineilen, zunächst an ihrer Stelle und heben und senken sich nur in einem in sich selbst zurückkehrenden Bogen. Allein eine gewisse horizontale Bewegung der Wassermassen mit dem Winde findet nichtsdestoweniger dennoch statt, wie wir ja deutlich an dem überstürzenden Kamm der Wellen sehen können, und nichts ist natürlicher, da ja die hochgehenden Wellen dem nachschiebenden Winde eine sehr günstige Angriffsfläche darbieten. Der Wind stößt gleichsam nach. Die Kraft der überstürzenden Wassermassen wird sich im Allgemeinen erhöhen, je länger die Wellen laufen, bis zu einem Gleichgewichtspunkte, der sich wohl schon dadurch ergiebt, daß die Wellen die vor ihnen liegende Wasserfläche um so mehr vor dem unmittelbaren Angriff des Windes schützen, je höher sie ausfallen.

Die Alten wußten dabei noch von einer sogenannten Decuman-Welle, einer zehnten Welle zu erzählen, die sämmtliche neun vorhergegangenen Wellen an Stärke übertreffen sollte, über welche aber, soweit uns bekannt, keine neueren Beobachtungen vorliegen. Am Ufer kommt dann der Kampf der zurückprallenden Wellen (Reflexionswellen) mit den heraneilenden, der Anprall gegen die Klippen, das Wachsthum der lebendigen Kraft, wenn die breite Meereswelle in eine engere Bucht einläuft, dazu, um die Brandung zu erzeugen, die natürlich mit dem allgemeinen Wellengange und dem Winde wächst. Nebenbei sei hier bemerkt, daß an einzelnen Küstenstellen, wo enge Klüfte sich in die Uferfelsen fortsetzen, öfter Erscheinungen auftreten, die an den Meerbrunnen des Poseidon auf der Akropolis (nach der Beschreibung des Pausanias) erinnern. In einem solchen natürlichen Schlote an der mexicanischen Küste, dem sogenannten Buffadero, steigt das Meerwasser bei Sturmgang sogar vierzig Meter über die Meeresfläche und bildet einen imposanten natürlichen Springbrunnen, der nach jeder herankommenden Welle seine Garbe emporschleudert.

Haben wir somit in den großen Meereswellen einen aus vielen kleineren Anstößen erwachsenen Gesammteffect vor uns, so werden wir uns nicht wundern dürfen, daß derselbe auch am besten durch zahlreiche kleinere, aber unaufhörlich wirkende Gegenströmungen zerstört werden kann, und dies bestätigt in der That die allgemeine Erfahrung der Seeleute, der zufolge kleine an der Oberfläche der See schwimmende Körperchen, wie z. B. die Eisnadeln des gefrierenden Polarmeeres oder die schwimmenden Tangreste der sogenannten Sargassosee, die Entstehung hoher Wellen selbst bei starkem Winde verhindern. Diese schwimmenden Körperchen brechen – um es ganz allgemein verständlich auszudrücken – die horizontal wirkende Kraft der Wellen durch die Kraft ihres directen Auftriebes; von der Sturzwelle hinabgezogen, steigen sie immer wieder, ohne der Kreisbewegung der Welle willig zu folgen, möglichst senkrecht empor und hindern dadurch ein Anwachsen der lebendigen Kraft.

In ähnlicher Weise wirkt nun offenbar auch das Oel, indem es, durch die Sturzwelle hinabgezogen, in Form kleinerer Tropfen wieder nach oben steigt und dabei den Zusammenhang im gleichen Sinne bewegter Flüssigkeitsmassen unterbricht, wobei noch manche andere in derselben Richtung wirkende Eigenschaft des Oeles, z. B. die Zähigkeit seiner fortwährend neu zerreißenden Oberflächenschicht und die Kraft seiner Neuausbreitung hinzukommen mag, um den auffallenden Gesammteffect zu erzeugen. Es ist dabei gar nicht nöthig, daß die an der Oberfläche sich verbreitende Oelschicht sehr dick sei, vielmehr will man sogar schon von den sehr geringen Fettmengen, die beim Massenfange von Fischen und anderen Seethieren verbreitet werden, eine deutliche Beruhigung des Wassers an solchen Fangplätzen beobachtet haben.

Dieselbe Wirkung wie das Oel müssen nun alle leichteren Körper ausüben, die sich nicht im Wasser auflösen, und so will man auch an Stellen, wo die Meeresoberfläche sehr reich an kleinen Organismen ist, eine Abschwächung des Wellenganges bemerkt haben. Vielleicht würden auch im Wasser vertheilte Sägespähne eine entsprechende Wirkung hervorbringen. Selbst ein mäßiger Platzregen äußert nach vielfachen Erfahrungen der Seeleute eine ähnliche Wirkung, indem er durch das unaufhörliche Hinabdrücken der von den einzelnen Tropfen getroffenen Oberflächen-Theilchen die Gleitbewegung den oberen Schichten erschwert und durch den zu der Wellenrichtung mehr oder weniger senkrechten Aufprall der [71] Tropfen einen Theil der an der Oberfläche freien Kraft verzehrt. Daher das alte Seemanns-Sprüchwort: „Kleine Regen löschen große Winde“, welches Rabelais als Ueberschrift eines seiner übermüthigsten Capitel im Pantagruel benutzt hat. Auch der berühmte Polarfahrer Scoresby fand, daß bei Regenwetter selbst ein heftiger Wind nur schwächere Wellen zu erzeugen vermag, als ein mäßiger Wind bei trockenem Wetter.

Selbstverständlich müssen Oeltropfen viel stärker als Wassertropfen wirken, weil hier die größere Leichtigkeit und Unvermischbarkeit beider Flüssigsten dazu kommt, um die Wirkung zu einer dauernden zu machen, und die einheitliche Bewegung beider Flüssigkeiten zu hintertreiben. Der Regentropfen vermischt sich alsbald mit dem bewegten Seewasser und wird, wenn überhaupt einen, doch nur einen sehr geringfügigen Auftrieb erzeugen, aber Wasser und Oel bewahren die ewige Feindschaft, mit welcher sie Poseidon und Athene von Anfang an begabt haben, und wie der Oelbaum der Athene auf der Akropolis selbst nach dem Tempelbrande wieder neu ausschlug, so kommt auch das Oel immer wieder nach oben, so viel auch die Wellen sich mühen mögen, es hinabzureißen, und in diesem Bestreben ihre Kraft verzehren. Wie in dem phantastischen Spiegel der Dichtung, so behält auch in der Wirklichkeit das Oel die Oberhand und die anfangs so wilden Rosse des Poseidon eilen schließlich besiegt und ermüdet von dannen.




Blätter und Blüthen.

Ungarns Hirten. (Mit Abbildung S. 69) In einer Gesellschaft der High-Life von London unterhielt sich ein sehr reicher Lord mit dem Fürsten Esterhazy, dem damaligen Gesandten Oesterreichs in England, über die Schafzucht. Der Lord meinte, daß er wohl einer der größten Schafheerdenbesitzer sei: denn er habe gegen 20,000 Schafe. Der Fürst erwiderte ruhig:

„Wenn ich nicht irre, so stehen bei meinem Vater 20,000 Schäfer in Diensten.“

Dies giebt sofort ein treffendes Bild von der Großartigkeit der ungarischen Heerdenzucht. Hauptsächlich betreibt man die Schweine-, Schafe-, Rinder- und Pferdezucht, wonach sich auch die Classen der Hirten theilen. Die unterste Stufe nimmt der Kanoß oder Schweinehirt ein, der vorzüglich im Bakonywald unter uralten Eichen seine grunzende Gesellschaft hütet, welche hier eine reichliche Eichelmast findet. Die zweite Stufe hat der Czordás oder Gulyás inne, dem die Hornviehheerden anvertraut sind, welche man auf den die fast unabsehbaren Haideflächen unterbrechenden Grasangern bunt verstreut sieht.

Zwischen der langsam und schwer sich dahinwälzenden Donau, bald von sandigen, bald von sumpfigen Ufern eingeschlossen, aus welchen Schilf und Erlengebüsch üppig emporwachsen, und der fischreichen Theiß im Osten giebt es auch weite Sandflächen mit einzelnen Flugsandhügeln, die gleichfalls der Tummelplatz vieler zahlreicher Heerden sind. Da waltet vorzugsweise der Juhasze oder Schafhirt seines Amtes, der die genügsamen Schafe mit seinem treuen Hunde bewacht und der außer der Pußta und dem Himmel über sich nichts sieht als seine Heerde. Da ist aber auch auf anderen Plätzen der den obersten Rang unter den Hirten einnehmende echte Sohn der Pußta, der Csikos oder Pferdehirt, den an Kühnheit der Rossebändigung nur zuweilen der schlauere Pferdedieb übertrifft. So beschwerlich der Dienst dieser Hirten ist – denn im Sommer liegt eine fast tropische Gluth über der Pußta, während im Winter die Kälte alles Lebende mit tödtlichem Froste bedroht und nicht selten ein furchtbarer Sturm über die Ebene wegfegt und für die Heerde besorgt macht – so vergessen diese Leute doch rasch die Mühsal ihres Berufes, wenn sie in den vereinzelt stehenden Pußtaschenken einkehren, wo sie singen und zechen oder nach der Fiedel des Zigeuners den wilden Csardás tanzen.

Ungarns Pußten sind so groß, daß man die vielen Meierhöfe nur sehr weit aus einander antrifft, obschon sie nach Tausenden zählen. Man kommt aber auch durch Gegenden in Ungarn, welche einem reizenden Obst- und Weingarten gleichen, wo die Trauben des edelsten Gewächses pfundschwer am Stocke hängen, während an den Karpathen hin kaum die blaue Zwetsche reift. Ungarn hat 31 Millionen „Katastraljoche“ (10,000 auf 1 österreichische Quadratmeile) produktiver Fläche, wovon 1732 Quadratmeilen auf den Ackerboden, 77 auf die Weinberge und 865 auf die Hutweiden kommen, die also die Hälfte der Ackerfläche ausmachen.

Es ist aber auch die Heerdenzucht des Ungarn Stolz, und durchfliegt man im Wagen, von wiehernden Rossen gezogen, die Pußta, so begreift man, daß selbst diese im allgemeinen dürre, baumlose Steppe, auf welcher man nur manchmal eine Schenke oder Csarda mit einem Ziehbrunnen davor erblickt, den Besitzern der Heerden, welche darauf ihre Weide finden, dennoch große Einkünfte abwirft. Es verläßt aber auch der Hirt seine Heerde nicht; denn er wacht gleichsam über einen Schatz seines Gebieters, und da das Vieh den größten Theil des Jahres auf der Pußta bleibt, so ist es sehr erklärlich, wenn der immer bei der Heerde weilende Hirte nur eine sehr beschränkte und armselige Kenntniß von der Welt hat. Trotzdem schlägt auch in ihm unter dem elenden Kittel ein menschliches Herz voll Adel, wo es gilt, ein braver Mann zu sein. So berichteten im vergangenen Winter ungarische Blätter:

„Vor Kurzem kam ein Bote von der Korovics’schen Pußta, nächst Klein-Becskerek, zu seiner Herrschaft nach Temesvar herein und machte derselben die Anzeige von einem seltsamen Unglücksfalle, der sich daselbst zugetragen. Der Schafhirte der Pußta war mit seiner aus 200 Thieren bestehenden Heerde auf die Hutweide hinausgezogen, um die Thiere daselbst weiden zu lassen. Während des Weideganges kam die Heerde auch an eine jener riesigen Pfützen, wie sich dieselben heute in Folge des an vielen Stellen zu Tage getretenen Grundwassers gebildet haben. Die Pfütze war zugefroren, und der Hirte wollte die Schafe über dieselbe treiben, als die dünne Eisdecke plötzlich unter den dichtgedrängten Thieren einbrach und dieselben bis über den Bauch im Wasser standen, getragen vom Eise, welches sie nicht mehr losließ; der Schäfer, die Gefahr erkennend, in welcher seine Heerde schwebte, faßte zur Rettung derselben den Plan, vor derselben das Eis durch sein Körpergewicht zu brechen, damit ihm die Thiere folgen und sich durch die Straße, die er ihnen bahnen werde, aus dem Wasser retten könnten. Und so ging es auch eine Weile ganz gut; der Hirte ging vor seiner Heerde her, eine breite Straße im Eise bahnend, auf welcher ihm die Schafe folgten. Aber die Pfütze schien unermeßlich an Größe; die Kräfte verließen ihn; die Nacht brach herein, und am Morgen wurde er, in seine Bunda gehüllt, in sitzender Stellung im Wasser erfroren aufgefunden, dicht umdrängt von seiner Heerde, die gleichfalls erfroren war. Das Schicksal des guten Hirten erregt allenthalben in der Gegend bei der Landbevölkerung die größte Theilnahme.“

Unser Bild stellt dieses traurige Ereigniß dar. Starr sitzt der erblaßte Schäfer im Vordergrund; um ihn drängt sich die Heerde, als ob sie auf ihn als ihren Retter allein vertrauen könnte. Aber die Macht des Geschickes ließ den Braven untergehen, und so kam auch keines der armen Geschöpfe mit dem Leben davon, weil keines sich von dem trennen wollte, dem es gewohnt war, immer zu folgen, und dem es „hier in den Tod gefolgt war“. A. R.     




Eine giftige Eidechse. Fast in allen Ländern und bei dem Volke Sagen über die Giftigkeit einzelner Eidechsenarten verbreitet, welche durch die zoologische und anatomische Untersuchung in keiner Weise bestätigt werden. Im Gegentheil sind die Eidechsen, wenn man die Krokodile ausnimmt, dem Menschen gegenüber die wehrlosesten und harmlosesten Geschöpfe, die sich denken lassen, wie sie denn auch bei Annäherung eines menschlichen fußes meist nichts Eiligeres zu thun haben, als zu entfliehen. Nur die Aehnlichkeit des gestreckten Leibes mit dem Schlangenleibe hat sie bei den Unkundigen in Verruf gebracht. Bei einem in Mexico und den Südstaaten Nordamerikas einheimischen Eidechsengeschlecht (Heloderma) liegt die Sache jedoch anders.

Der Biß der schon dem alten Hernandez bekannten mexikanischen Krusteneidechse (Heloderma horridum), welche die Azteken Tola Chini und die Creolen Escorpion nennen, wird von denselben nicht minder gefürchtet, als derjenige der Klapperschlange, und in diesem Falle darf man die Angaben der Leute nicht, wie es Brehm gethan hat, für bloßen Aberglauben erklären. Sowohl die Untersuchungen des deutschen Zoologen J. G. Fischer, wie diejenigen der französischen Naturforscher Dumeril und Bocourt haben gezeigt, daß diese über meterlang werdende hartschuppige Eidechse nicht nur in der Weise vieler Giftschlangen Furchenzähne besitzt, sondern auch stark entwickelte Speicheldrüsen, die sich an der Basis jener Zähne öffnen, mit dem offenbaren Zwecke, den giftigen Speichel durch die Zahnfurchen in die Wunde zu leiten.

Wir wissen ja aus vielfachen neueren Untersuchungen (vergl. „Gartenlaube“ 1882, S. 20), daß der Speichel der meisten Thiere in ähnlicher, wenn auch milderer Weise giftige Wirkungen in Wunden äußert, wie das Speichelgift der Schlangen. Durch neuere zuverlässige Beobachter ist denn auch festgestellt worden, daß der Biß der amerikanischen Krusteneidechse nicht nur Vögeln und kleineren Säugethieren tödtlich wird, sondern auch beim Menschen bedenkliche Zufälle hervorbringt, wenn auch nicht gerade der Tod darnach erfolgt. Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung eine neue Beobachtung, welche in einem vor Kurzem erschienenen Hefte des „American Naturalist“ mitgetheilt wurde. Sie betrifft eine durch die unfruchtbaren Striche von Texas, Neu-Mexico und Arizona verbreitete Art dieses Geschlechtes mit glänzend schwarzer Zeichnung auf orange-gelbem Grunde, welche Professor Cope zu Philadelphia im Jahre 1869 zuerst beschrieben und nach den über sie umlaufenden Gerüchten die verdächtige Krusteneidechse (Heloderma suspectum) genannt hat. Dr. Schufeldt, der das Thier kürzlich in einem wissenschaftllchen Institute untersuchen wollte und dasselbe zu diesem Zwecke in die Hand genommen hatte, erhielt einen Biß in den rechten Daumen, der trotz sofortiger Aussaugung der Wunde und Anwendung anderer geeigneter Gegenmittel eine starke Anschwellung der Hand und heftige Schmerzen bis zur Schulter hinauf verursachte, sodaß der Gebissene die ganze darauf folgende Nacht kein Auge schließen konnte, obwohl er das verletzte Glied beständig in mit Opium versetztes Eiswasser hielt. Da er außerdem durch Aracgenuß in einen starken Schweiß versetzt wurde, so nahmen die Symptome am nächsten Tage ab und die Wunde heilte ohne weitere üble Folgen. Man muß aber hiernach annehmen, daß die Verwundung bei Vernachlässigung der erwähnten Vorsichtsmaßregeln wahrscheinlich schlimmere Folgen gehabt haben würde. Zum Schlusse mag noch erwähnt werden, daß der bekannte Wiener Kriechthierforscher Dr. Steindachner vor Kurzem eine neue verwandte Eidechsenart auf Borneo (Lanthanotis borneensis) beschrieben hat, welche ebenfalls Rinnenzähne besitzt, obwohl man über ihre Giftigkeit vorläufig keine Nachrichten hat.



[72] Deutschlands merkwürdige Bäume: 1) Die Königstanne im sächsischen Erzgebirge. Wenn andere Gebirge, wie hauptsächlich der Böhmerwald, sich durch besonders starke Laubbäume auszeichnen, so sind es im Erzgebirge namentlich himmelanstrebende, mächtige Tannen, welche den Berglandschaften neben den vielfachsten anmuthigen Reizen eine überwältigende Romantik verleihen und auf Auge wie Gemüth ergötzend wirken.

Eine solche Tanne, wirklich eine „Königin“ unter ihren vielen gigantischen Schwestern, ist die „Königstanne“, der Stolz des gesammten deutschen Forstwesens. Dieselbe hat ihren Standpunkt in nächster Nähe des durch seine Holzspielwaarenindustrie in neuerer Zeit wohlbekannten Marktfleckens Olbernhau, inmitten des Erzgebirges. Der Weg von letztgenanntem Orte zur „Königstanne“, welcher bergauf durch einen prächtigen Hohlgang langgestreckter, ungefähr siebenzigjähriger Buchen führt, läßt den Wanderer die Nähe dieses Baumes wenig vermuthen, und um so überraschender ist der Eindruck, wenn man plötzlich zu Füßen des Waldriesen aus seinen träumerischen Vorstellungen und Erwartungen gerissen wird. Die „Königstanne“ steht an und für sich ziemlich isolirt; denn einige wenige Zwergfichten ausgenommen, findet man ringsum nur den eben beschriebenen Buchenbestand, und es tritt somit die Größe der Tanne um so auffallender hervor. Ihr Durchmesser beträgt, 1,4 Meter über dem Erdboden gemessen, 2,07 Meter, sodaß sich ein Pferd, beziehungsweise Reiter, hinter dem Stamme querüber bequem verbergen kann. Der Kronansatz beginnt bei 10,4 der Schaftlänge, und die ganze Scheitelhöhe der Tanne mißt 47 Meter. Es dürfte dieselbe somit als die umfangreichste und höchste ihrer Art in ganz Deutschland, ja vielleicht in Europa zu betrachten sein.

Leider geht nun dieser edle Baum, dessen Alter auf beiläufig 500 Jahre geschätzt wird, seinem Untergange entgegen, indem er seit 1874 bereits oben ausgetrocknet ist, an der für alte Tannen charakteristischen Krone abzusterben beginnt und deshalb auch diese „Königin“ unter den Bäumen bald das Schicksal einer Stuart theilen und dem Beile zum Opfer fallen wird.

Man kann sich einen weiteren Begriff von den Größeverhältnissen des Baumes machen, wenn man den Holzwerth desselben berechnet. Der Schaftinhalt wird auf 57,41 Festmeter, der Reisiggehalt auf 14,36 Festmeter taxirt, was in Summa 71,77 Festmeter macht. Rechnet man nun den Festmeter zu 12 Mark, so ergiebt sich als Resultat ein Gesammtwerth von rund 860 Mark, eine Summe, welche als Erträgniß eines einzigen Baumes gewiß beträchtlich und wohl der Mühe werth ist, Axt und Säge anzulegen.

Die „Königstanne“ bei Olbernhau im sächsischen Erzgebirge.
Nach einer Skizze von F. Stich.

Wünschen wir jedoch, daß uns dieser König unter den Nadelholzbäumen unseres waldreichen deutschen Vaterlandes wenigstens noch für einige Jahre erhalten bleibe und dem Erzgebirge wie bisher zur Zierde gereiche, wenn auch die neuen Generationen diesen Schmuck der Natur werden entbehren müssen; auch Könige müssen sterben, gleichviel, ob Könige unter den Menschen oder Könige unter den Bäumen. Fritz Stich.     




Zur Gründung eines Curhauses für deutsche Lehrer und Lehrerinnen in Karlsbad. Es ist eine bekannte Thatsache, daß neben Krankheiten des Kehlkopfs und der Lunge besonders Magen- und Unterleibsleiden den Lehrerstand heimsuchen und plagen, Leiden, die in Folge des Mangels an körperlicher Bewegung und der mit vielem Aerger und Verdruß verbundenen Berufsthätigkeit der Lehrer zu entstehen pflegen. Gerade darum ist der weltberühmte Bade-Ort Karlsbad in Böhmen für die Lehrerwelt ein wahrer Zufluchtsort geworden, und es wurde statistisch festgestellt, daß mehr als 400 deutsche Lehrer und Lehrerinnen jährlich Karlsbad besuchen. Leider ist aber die Karlsbader Cur mit so großen Kosten verbunden, daß viele kranke Lehrer auf ihren Gebrauch verzichten müssen. Um nun diesem Uebelstande abzuhelfen, hat sich soeben ein provisorisches Comité gebildet, welches sich die schöne Aufgabe gestellt hat, in Karlsbad ein Curhaus für die Lehrer und Lehrerinnen der deutschen Nation zu gründen. In einem Aufrufe, welchen dieses Comité soeben erlassen hat, finden wir folgende sehr treffende Begründung der Nothwendigkeit dieser geplanten Stiftung:

„Was die Karlsbader Cur so kostspielig macht, sind weniger die Reisekosten, welche erst mit der Entfernung beträchtlicher werden, noch weniger die Cur- und Musiktaxen, da diese meist von der löblichen Badeverwaltung den Lehrern in humaner Weise bisher erlassen wurden, vielmehr sind es die Unterhaltungskosten für Wohnung und Beköstigung, die bei zunehmender Frequenz sich erheblich steigern. Für Reiche und Wohlhabende ist die vier- bis sechswöchentliche Cur mit keiner besonderen Schwierigkeit verbunden, wohl aber für den meist dürftig besoldeten Lehrer, dem es ohne ausreichende Unterstützung geradezu unmöglich wird, 150 bis 200 Gulden (300 bis 400 Mark) an Reise-, Cur- und Unterhaltungskosten ein- oder mehrmalig in Folge aufzuwenden, in Folge dessen der bekümmerte kranke Gatte und Familienvater sich seinem bangen Schicksale überlassen müßte, wenn es nicht ein billigeres Auskunftmittel gäbe: die solidarische Selbsthülfe.

Wir haben in Karlsbad einige stattliche Gebäude wie: das Militär-Curhaus für Militärs, das Fremdenhospital für unbemittelte Personen, das jüdische Hospital für unbemittelte Glaubensgenossen, Anstalten, welche ihren Pflegebefohlenen freie Cur, Wohnung, billigen oder freien Unterhalt gewähren. Unwillkürlich drängte sich uns die Frage auf, warum für den Lehrer keine solche Anstalt existirt? Was dem Edelmuth anderer energischer Männer gelungen ist, wird sicher auch mit Gottes Beistande für die deutsche Lehrerschaft durch die solidarische Selbsthülfe zu erreichen sein. Nehmen wir an, daß von der gesammten Lehrerschaft deutscher Nation in allen Landen nur der vierte Theil mit einem jährlichen Betrage von 1 Gulden resp. 2 Mark, oder einem einmaligen Betrage von 5 Gulden resp. 10 Mark unser Unternehmen unterstützen würde, so hätten wir in kurzer Zeit die nöthigen Mittel, um ein Grundstück erwerben und bald darauf ein entsprechendes Curhaus erbauen zu können, das nach anzustellenden statistischen Berechnungen je nach der Theilnehmerschaft Raum genug böte, in geregelter Weise die Kranken aufzunehmen und in entsprechender Art zu verpflegen. Außer den jährlichen Beiträgen dürfte noch der Sammelfonds vermehrt werden durch Beiträge aus Wohlthätigkeitsconcerten, theatralischen Aufführungen, Vorträgen, welche zu diesem Zwecke von geeigneten Mitgliedern in’s Werk gesetzt würden, sowie durch Vermächtnisse und Schenkungen von Lehrern und Lehrerfreunden.“

Die Eintracht baut ein Haus! Möchte doch die deutsche Lehrerwelt dieses Spruches gedenken und an dem edlen Werke sich möglichst zahlreich betheiligen! Etwaige Vorschläge zur schnelleren Erreichung des Zweckes wird das genannte Comité bereitwilligst entgegennehmen, und wir bitten unsere Leser alle darauf Bezug nehmende Zuschriften an die Adresse: Herrn Leonard Schier, „Vereinshaus zur Cur für Lehrer und Lehrerinnen in Karlsbad“ richten zu wollen.




Kleiner Briefkasten.

B. G. in Boston. Die internationale elektrische Ausstellung in Wien wird programmmäßig am 1. August 1883 eröffnet und am 31. October 1883 geschlossen werden. Die Anmeldungen der auszustellenden Gegenstände, welche möglichst genau nach dem fest bestimmten Formulare auszufertigen sind, müssen spätestens bis zum 1. März 1883 an das Directions-Comité der internationalen elektrischen Ausstellung, Wien, Wallfischgasse 9a eingesandt werden.

Eine Abonnentin in Wien. Taschentücher wurden erst in der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts in Deutschland eingeführt, und Italien war das Land, aus welchem die Frauen jener Zeit diesen Artikel bezogen. Es gab viel Leute, die gegen diesen neuen „Luxus“ predigten: denn die Taschentücher waren damals sehr kostbar, aus feinster Leinwand oder aus Kammertuch gefertigt und mit Stickereien, theuren Spitzen, feinen Quasten, ja sogar mit Gold und Perlen geziert.

K. Z. in Stargard. Warum verschweigen Sie uns Ihren Namen? Anonyme Anfragen finden grundsätzlich keine Berücksichtigung.

L. in Klein-Hammer. Schwindel!

D. L. in Ostpreußen und A. L. in Straßburg. Gedichte, welche zum Abdruck nicht geeignet sind, werden nicht zurückgeschickt, sondern einfach vernichtet.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das Wort Kloot ist gleichbedeutend mit dem hochdeutschen „Kloß“. Erdklöße heißen plattdeutsch auch „Kluten“, und damit zusammenhängend werden Mehlklöße an der Elbe „Kluten“, an der Weser „Klûtjen“, in Ostfriesland „Klüiken“ genannt.
  2. Das Heiligthum der Athene auf der Akropolis