Die Gartenlaube (1883)/Heft 30
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No. 30. | 1883. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Heiße Stunden.
Nach Wochen unaufhörlich strömenden Regens schien die langvertriebene Augustsonne endlich wieder einmal auf die kleine fränkische Stadt herab, in welcher der große Meister der Töne auf den Wink seines Taktstockes die motivbegierige Menschheit um den Gral versammelte. In den Bahnhof dieses modernen Olympia, der für solche eventuelle Völkerwanderungen in großstädtischer Weitläufigkeit und Eleganz errichtet ist, brauste soeben, mit der herkömmlichen königlich baierischen Gemüthlichkeitsverspätigung von einer guten halben Stunde, der von Neumark kommende Mittagszug ein, und Schaaren neuer Ankömmlinge entströmten aufathmend den sonnendurchglühten Coupes. Während ein Theil der Reisenden sich der vor dem Bahnhof harrenden stattlichen Anzahl von Droschken bemächtigte, eilten Andere vorerst in das wenige Schritte entfernt liegende Haus des Banquiers F., um da in dem „Bureau des Verwaltungsrathes“ den schuldigen Tribut von dreißig Mark zu entrichten und dagegen die Einlaßkarte für das Bühnenweihfestspiel einzutauschen.
Unter den Letztgenannten befand sich auch ein junger, etwa fünfundzwanzig Jahre zählender Mann von stattlicher Gestalt und frischen, einnehmenden Zügen. Sein Reisekofferchen in der einen, die errungenen Theater- und Quartierbillets in der anderen Hand, trat er als der letzten Einer wieder auf den inzwischen menschenleer gewordenen Bahnhofsplatz heraus, wo nur noch eine einzige Droschke melancholisch in der heißen Mittagssonne briet. Er hatte bereits das Gefährt erreicht, den eingeschlafenen Kutscher angerufen und den Schlag geöffnet, um sich und sein Kofferchen hineinzuschwingen, als von der anderen Seite her zwei Damen, gefolgt von einem schwerbeladenen Gepäckträger, auf den Wagen zugeeilt kamen.
„Ach, Mama, wie schrecklich! Dieser letzte Wagen ist schon besetzt,“ rief die Eine, Verzweiflung und Enttäuschung in der jugendlichen Stimme.
Die etwas corpulente Mama aber kam trotzdem vollends heran und sagte dann erst ungläubig, gedehnt: „So –?“ als der höfliche junge Mann, wie man von ihm nicht anders erwarten konnte, sein Kofferchen mit einem „Bitte, meine Damen,“ wieder zurückzog.
„Komm doch, Rosa!“ ermuthigte sie die zögernde Tochter, während sie sich bereits ganz bequem im Fond zurechtsetzte.
Einen Augenblick später rollten Beide davon, und der junge Mann, der grüßend seinen Hut zog, erhielt von der Mama ein gnädiges Lächeln, von dem blonden Töchterchen aber unter dem aufgespannten Sonnenschirm ein schüchternes „Danke sehr!“ und ein allerliebstes Kopfnicken zum Lohn dafür, daß er nun an der Seite des übriggebliebenen Gepäckträgers zu Fuß und im Schweiße seines Angesichts die Wohnung aufsuchen mußte, welche ein löbliches Bayreuther Wohnungscomité ihm gütigst angewiesen hatte. –
Zwei Stunden darauf sehen wir unsern jungen Reisenden die buntbelebte Straße hinauswandern, an deren Ende der weltberühmte Festtempel aus sanftgeschwungenen waldigen Hügeln und grünen Matten hervor winkt und lockt. Ein endloser Zug von Wagen aller Arten und Rangstufen bewegte sich in der Mitte der Straße, ein unabsehbares Gewimmel auf den Fußwegen zu beiden Seiten vorwärts.
Es ist Sonntag Nachmittag, und so sind in der Menge nicht nur die Fremden, die, festliche Spannung auf dem Gesicht, den kommenden Genüssen mit Ungeduld entgegen sehen, sondern auch die biedere Bevölkerung von Bayreuth, Alt und Jung, strömt neugierig mit hinaus, um wenigstens das bunte Schauspiel draußen, vor und zwischen dem „Bühnenspiel“, sich entfalten zu sehen.
Immer dichter wird der Menschenknäuel auf dem Festplatze, immer stärker der Andrang der Wagen – da schweben plötzlich feierlich-ernste Trompetenklänge über das Gewühl hin und laden zum Eintritt in die Hallen der Kunst. –
Es giebt bisweilen ebenso freundliche, als merkwürdige Zufälle in diesem Leben, wer wollte das leugnen? Just auf Reisen spielt der launische Glücksgott so manchen liebenswürdigen Streich, und Niemand wird daher besonders erstaunt sein, zu hören, daß unser junger Bekannter, den wir von jetzt an bei seinem Namen, Alfred Berger, nennen wollen, der Nachbar eben jener zwei Damen wurde, welchen er vor einigen Stunden einen kleinen Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte.
Als er sich mühsam durch die enge Sitzreihe an denselben vorüberzwängte, um zu seinem Platz zu gelangen, erkannte er die junge Blondine sogleich wieder, obschon sie inzwischen den grauen Reise-Anzug mit einem zarten, rosenfarbenen Gewand vertauscht hatte, in welchem sie, wie Alfred Berger sich innerlich gestand, geradezu entzückend aussah.
Auch sie erkannte offenbar den jungen Mann, denn sie erwiderte seinen Gruß mit einem freundlichen Neigen ihres lockigen Blondköpfchens. Selbst die Mama blickte einen Moment grüßend von der Partitur des „Parsifal“ auf, in der sie gleich darauf eifrig weiter las und blätterte.
Während sich Alfred Berger, nicht unzufrieden über den angenehmen Zufall, den bevorstehenden Genüssen an der Seite einer so reizenden Nachbarin entgegen sehen zu dürfen, auf seinem [482] Platze zurecht rückte und sich neugierig in dem Theater umsah, das er heute zum ersten Mal betreten, hörte er die ältere der Damen sagen:
„Sieh, Rosa, das ist die himmlische Stelle im Vorspiel, auf die ich Dich besonders aufmerksam mache. Hier – die Figur in As-dur 4/4 Tact mit der Tremolandobegleitung - hast Du es? O, ergreifend!“
Der zarte Spitzenfächer, den Rosa unablässig bewegte, ruhte einen Augenblick, während sie sich gehorsam nach der Seite der Mama über das Buch beugte und die gefeierte Stelle mit den Augen suchte, aber matt und klagend kam es von ihren Lippen:
„Ah, es ist so furchtbar heiß hier!“
„Nun, Rosa, das ist doch in diesem Augenblick Nebensache,“ wurde vorwurfsvoll erwidert.
Der Fächer spielte weiter, und Rosa seufzte leise, Alfred Berger aber ließ sich diese vorzügliche Gelegenheit zum Anknüpfen eines Gespräches nicht entgehen und wagte eine bestätigende Bemerkung über die Temperaturverhältnisse. Er wurde durch eine kleine Erwiderung beglückt in der halb befangenen, halb reservirten Weise, die sehr junge, wohlerzogene Damen bei der Annäherung Fremder anzunehmen pflegen. Weitere Conversation wurde jetzt unwillkürlich gehemmt, als plötzlich tiefe Dunkelheit das zuvor glänzend erleuchtete Haus überschattete. Die angenehme Kühle, welche anfangs in dem riesigen Raume herrschte, war, nachdem die Tausende von draußen hereingeströmt, längst entflogen, und unter schwüler, erstickender Hitze begannen aus der unsichtbaren Tiefe des Orchesters die ersten geheimnisvoll fesselnden Töne des Vorspiels zum „Parsifal“ aufzuschweben.
Doch wer hat noch Sinn, an irdische Drangsal, an Hitze und Mattigkeit zu denken, wenn die weihevollen Klänge des Gralmotivs, siegreich die elegische Klage der Schuld und des Leidens bekämpfend, erschallen, wenn endlich der Vorhang vor der Bühne sich getheilt und Gurnemauz-Scaria mit der mächtig tönenden Stimme die schlummernden Knappen erweckt hat? Wohl dauert er einunddreiviertel Stunden, der erste Act des „Parsifal“, aber Zeit und Raum sind verschwunden für die athemlos lauschende und schauende Menge, welche den „thörichten Reinen“ in die Wunderwelt des Gralheiligthums begleitet.
Sowohl Alfred Berger, wie seine jugendliche Nachbarin hatten von Anfang bis zu Ende in höchster Spannung das auf der Bühne Dargebotene verfolgt, und Mamas Gesicht strahlte in höchster Begeisterung, als der Vorhang sich schloß und das blendende Gaslicht den Zuschauerraum wieder überfluthete, aus dem jetzt Alles hinaus eilte.
„Ach bitte, liebe Mama, laß uns schnell fort,“ drängte Rosa, da erstere noch beschäftigt war, allerlei geheimnißvolle Manipulationen mit den Blättern der Partitur vorzunehmen.
„Gleich, gleich, Kind. Ich breche nur schnell die Seiten ein, auf denen die schönsten Stellen vorkommen, damit wir sie gleich nachlesen können, so lange sie uns noch frisch im Gehör sind.“
„Vor allen Dingen wollen wir zusehen, daß wir etwas zu trinken bekommen, denn ich verschmachte beinahe,“ jammerte das Töchterchen, während Beide in dem hinausfluthenden Gedränge mit fortgeschoben wurden.
Gaslicht und Theaterraum erweckten unwillkürlich die Illusion, draußen, wie nach sonstigen Vorstellungen, Dunkelheit und Kühle zu finden, und erst als man auf den von grell heißem Sonnenlicht durchglühten Festplatz trat, erinnerte man sich halb verwundert, halb enttäuscht, daß ja die Uhr kaum die sechste Nachmittagsstunde zeigte.
Der von allen Treppen und Thüren hervorquellende Menschenstrom hatte gleich nach dem Verlassen des Gebäudes Alfred Berger von seinen Nachbarinnen getrennt, und dieser wandelte nun belustigt einige Zeit unter dem bunten, alle Sprachen und Nationalitäten vereinigenden Gewühl umher, in dessen einzelnen Gruppen allerwärts die eben gehabten Eindrücke in erregtem Meinungsaustausch, mit enthusiastischen Lobsprüchen, oder auch hier und da mit kopfschüttelndem Tadel, besprochen wurden. Nachdem er in einem der beiden Restaurationszelte mit Mühe einen frischen Trunk erobert hatte, schlenderte er auch hinüber nach dem größeren und eleganteren Restaurant des Festplatzes.
Hier entdeckte er, an einem Seitentischchen der Veranda, die beiden bekannten Damen, die Mutter schon wieder über die unvermeidliche Partitur gebeugt, indeß die Tochter eben mit matter, schüchterner Stimme einem Kellner nachrief, dessen Frackschöße bereits um die nächste Ecke verschwanden.
Sofort trat der junge Mann an den Tisch und frug, mit höflichem Anstand seinen Hut ziehend:
„Kann ich Ihnen vielleicht zur Erlangung einer Erfrischung behülflich sein, mein Fräulein?“
„Ach ja, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Güte haben wollten. Die Kellner stürzen immer so schnell vorbei und hören nicht, wenn man sie ruft.“
Die schwarzen Fracksittige flatterten soeben in geringer Entfernung vorüber, wendeten aber augenblicklich und nahmen ihren Flug auf Alfred Berger zu, als dieser in männlich befehlendem Tone ein „Kellneeer!“ donnerte.
Nach kurzer Besprechung mit der jungen Dame:
„Schnell eine Flasche Selterwasser und eine Flasche Rothwein, aber sogleich, die Damen warten schon seit einer Viertelstunde!“
In weniger als einer halben Minute stand das Verlangte auf dem Tische. Alfred mischte selbst den Trank und sah mit andächtiger Befriedigung zu, wie das arme durstige Kind dankbaren Blickes das Glas ergriff und es hastig leerte. Selbst die Mama ließ sich jetzt durch das Sprudelmotiv der Flaschen aus ihren musikalischen Forschungen reißen und nahm einen Trunk.
„Sehr freundlich von Ihnen, mein Herr, daß Sie uns schon wieder zu Hülfe gekommen sind,“ bemerkte sie. „Wollen Sie nicht Platz nehmen?“
Der liebenswürdige Zufall hatte nämlich für einen dritten, leerstehenden Stuhl gesorgt.
„Erlauben die Damen zuvor, daß ich mich Ihnen vorstelle: Alfred Berger, Referendar aus Leipzig.“
„Commerzienräthin Jung aus Berlin, meine jüngste Tochter Rosa.“
„Also Rosa Jung,“ dachte Alfred. „Sie trägt ihren Namen in der That, denn jung ist sie, und wie ein Röschen ist sie mir gleich erschienen.“
Die Unterhatung wurde nun von der Commerzienräthin mit einigen Präludien über die Aufführnug eingeleitet, wobei sich Alfred mit verschiedentlich eingestreuten „Wundervoll!“ „Ganz ausgezeichnet!“ „Wirklich ergreifend!“ abzufinden suchte, da er sich der Motivkenntniß der partiturfesten Dame durchaus nicht gewachsen fühlte. Er war, wie wir vorhin gehört, seines Zeichens ein Jurist, mit liebevollem Interesse und leidlichem Verständniß für Musik im Allgemeinen und Wagner-Opern im Besonderen begabt. Auf einer Ferienreise nach der Schweiz begriffen, die ihn in nächster Nähe an Bayreuth-Olympia vorüber führte, wollte er sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, eine Aufführung in Richard Wagner’s viel berühmtem und besprochenem Bühnentempel anzuhören. Wie viele Andere, gehörte er zu der Classe jener Harmlos–Neugierigen, welche bereit sind, die in Augen und Ohren fallenden Schönheiten Wagner’scher Bühnenspiele freudig anzuerkennen, ohne daß sie in die tiefsten Geheimnisse symphonischer Ton- und Themataverschlingungen eingedrungen wären. Auch Fräulein Rosa schien in diesem Punkte noch nicht auf der Höhe des Verständnisses und des Enthusiasmus angelangt, denn sie erklärte der Mama, als diese behufs weiterer Auseinandersetzungen die Partitur wieder öffnete, sie wolle die Pause lieber zur Erholung benutzen, da sonst ihre Kräfte und namentlich ihre Augen für die kommenden Stunden nicht ausreichen würden.
„Ich glaube, Sie gebrauchen das Opernglas zu häufig und anhaltend, gnädiges Fräulein,“ erlaubte sich Alfred Berger zu bemerken.
„Dieses junge Geschlecht kann doch gar nichts aushalten,“ schalt die Commerzienräthin dagegen. „Nimm Dir ein Beispiel an mir, Kind, die ich bei solchen Genüssen weder an Speise und Trank, noch an Hitze und Müdigkeit denke.“
„Ja, liebe Mama, Du hast aber auch während der Fahrt die ganze Nacht geschlafen, während ich leider im Eisenbahnwaggon nie ein Auge schließen kann,“ wandte Rosa ein.
„Wie, die Damen sind die vorhergehende Nacht durch und dann wohl gar noch den halben Tag gefahren?“ frug Alfred erstaunt. „Es ist allerdings eine starke Anforderung an zarte weibliche Nerven, gleich darauf sechs Stunden im Theater zubringen zu müssen.“
[483] „Und bei solcher Hitze!“ wurde von Rosa bestätigt.
„Es machte sich nicht gut auf andere Weise mit unserer Fahrt von Tölz, wo wir uns einige Wochen aufgehalten haben.“
„Aber übermorgen ist doch wieder eine Vorstellung,“ wagte Alfred zu erwähnen, bereute aber die voreilige Einwendung, als die Commerzienräthin mit unverkennbarem Mißfallen im Ton erwiderte:
„Halten Sie es für möglich, daß wir den heutigen Nachmittag unthätig in der Stadt zugebracht hätten, während hier der ‚Parsifal‘ in Scene geht? – Rosa, es ist Dir wirklich nicht gut, so viel zu trinken, nachdem Du den Tag über fast noch nichts gegessen hast, denn das Mittagsmahl hast Du ja kaum angerührt. Wahrhaftig, die Flaschen sind beide fast leer!“
„O, und mein Durst ist trotzdem noch nicht gestillt!“
„Werden die Damen in der nächsten Pause nicht soupiren?“ frug Alfred. „In diesem Falle wäre es gut, einen Tisch zu belegen und den Kellner zu instruiren.“
„Sie haben Recht, Herr Referendar. Werden wir auch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben?“
„Wenn Sie gestatten, gnädige Frau –“
„Gewiß, gewiß – sehr angenehm. Wir müssen Ihnen nur dankbar sein, daß Sie sich unser so freundlich annehmen, um so mehr, als wir vorläufig noch allein hier sind. Unsere Herren, mein Mann und ein Verwandter, kommen erst morgen an. – Aber horch! Das ist schon das Trompetensignal. Wir müssen eilen!“
Alfred bestand natürlich darauf, die Sorge für die Shawls und Hüte der Damen zu übernehmen, und nachdem er alles in der Garderobe abgeliefert hatte, mußte er sich schleunigst auf den Platz neben Rosa drängen, da schon das Gaslicht erlöschte und das Klopfen des Capellmeisters zur Stille ermahnte.
Die düster wogende Orchestereinleitung des zweiten Actes paßt durchaus nicht zu seiner befriedigt angeregten Stimmung, und mit einem kühnen Sprunge flieht sein Geist über die dämonischen Melodien, die auf und ab wogenden chromatischen Gänge, die schneidenden Wehlaute der Amfortas-Klage hinweg, nach dem eben verlassenen Restaurationszelte zurück, wo er in der Eile nochmals dem Kellner einschärft, das lauschige Eckplätzchen auf der Veranda um keinen Preis einer anderen Gesellschaft zu überlassen.
Selbst das Erscheinen Klingsor’s auf der Bühne und die grauenvolle Beschwörungsscene der Kundry vermögen nicht, ihn seinen privaten Gedanken zu entziehen. Erst die aufsteigende Pracht des Zaubergartens und die unwiderstehliche Anmuth der lockenden und kosenden Blumengestalten fesseln Blick und Ohr wieder so vollständig, daß er nur noch mit innerer Befriedigung die Bemerkung macht, wie Fräulein Rosa, wahrscheinlich auf seinen Rath hin, die Hand mit dem Opernglase gar nicht mehr erhebt.
Wäre es nicht so dunkel gewesen, so würde er wahrgenommen haben, daß tiefe Blässe das Antlitz seiner reglos sitzenden Nachbarin überzogen hatte, während die langen seidenen Wimpern sich immer tiefer über ihre Augen senken.
Das arme, ermüdete Kind sah und hörte bereits nichts mehr von Rosenmädchen und Schmeichelgesang, sondern kämpfte mit der drückenden Hitze in dem menschengefüllten Raum um sie her und der bleiernen Schwere, welche sich als Nachwirkung des rasch genossenen Weines über ihre Glieder legte, einen hoffnungslosen Kampf.
Ein Traum begann schon ihre Sinne mit der teuflischen Vorspiegelung zu umfangen, daß sie nicht hier, im Bühnentempel, im „Parsifal“, sondern zu Hause in dem jungfräulichen Schlafgemache weile, wo das kühle, weiche, spitzenbesetzte Kissen auf ihrem Lager sie mit magischer Gewalt zu sich herabzog. – Jetzt schlossen sich die Lider vollends, jetzt neigte sich ihr Körper, instinctiv den erträumten Ruheplatz suchend, zur Seite.
„Parsifal, bleibe!“ lockte unten aus Rosengebüschen Kundry’s Stimme mit schmeichelndem Wohllaut.
Da sank das Köpfchen Rosa’s in seliger Weltvergessenheit an die Brust des Referendarius Alfred Berger.
Es war so dunkel im Zuschauerraum, daß dieser die süße Last anfänglich nur fühlte. Glücklicher Weise gelang es ihm, eine rasche Bewegung des Erstaunens zu unterdrücken, die unfehlbar die Schlummernde wieder aufgeschreckt hätte. Nach und nach fing sein Blick an das Halbdunkel zu durchdringen, und er konnte deutlich die Umrisse des feinen Köpfchens mit dem im Nacken geschlungenen Goldhaar und den Löckchen an den Schläfen unterscheiden. Das Opernglas aus Elfenbein wurde nur noch lässig von der einen Hand gehalten und drohte, im nächsten Augenblick polternd zur Erde zu gleiten, wie Alfred mit Entsetzen entdeckte.
Seinen linken dem Störenfried nächsten Arm durfte er nicht bewegen, weil Rosa’s Schulter an demselben ruhte. Mit größter Vorsicht und Anstrengung gelang es ihm, den rechten Arm unvermerkt zu erheben und das Glas leise aus ihrer Hand zu nehmen, worauf er es, zu einstweiliger Unterbringung, in seine Rocktasche gleiten ließ. Kaum war dieses schwierige Geschäft unter ängstlicher Vermeidung aller unnöthigen Bewegungen ausgeführt, so zeigte sich, daß der Fächer in Rosa’s anderer lässig an der Seite herabhängenden Hand die gleiche erdbodensuchende Tendenz hatte, wie vorher das Opernglas.
Der Angstschweiß trat unserem Referendarius auf die Stirn, während er unter äußerster Anspannung seiner Muskeln auch diesen gefahrdrohenden Gegenstand glücklich mit den Fingerspitzen erfaßte.
Nun aber, nachdem auch der Fächer in die bergende Rocktasche gewandert war, konnte sich unser junger Freund mit Ruhe dem Genuß hingeben, den Schlummer seiner reizenden Nachbarin zu bewachen. Er empfand deutlich die sanften, gleichmäßigen Athemzüge, die ihre Brust hoben und senken, und ein ungenanntes, seliges Gefühl durchschauerte ihn.
Zum ersten Mal in seinem Leben überkam ihn die Ahnung und das Verlangen, wie süß es sein müsse, solch ein zartes, hingebendes Wesen sein Eigen nennen, es auf jedem Schritt hegen und pflegen zu dürfen. Mußte er sich auch vor jeder Bewegung hüten, so konnten doch seine Augen, die sich immer mehr gewöhnten, das Halbdunkel zu durchdringen, ungehindert hinunter schweifen auf das lockige Haar, das sich so weich um den schlanken Hals und das kleine reizende Ohr schmiegte, auf die mädchenhafte Gestalt, die mit Grazie und Nachlässigkeit an seiner Schulter lehnte. Er hätte ewig so verharren, ewig diese liebliche Rosenknospe schirmen und halten mögen mit seinem starken Mannesarm.
Und Parsifal? Und Kundry?
Für Alfred Berger waren sie und die übrige Welt augenblicklich im Nichts versunken. Zwar verschmolzen, ihm selbst unbewußt, die liebedurstigen Töne und Worte, in denen Kundry den reinen Jüngling zu umstricken sucht, mit seinen eigenen Träumereien, aber die Klänge kamen wie aus weiter, dämmernder Ferne an sein Ohr.
Erst als Parsifal–Winkelmann, durch den Liebeskuß der schönen Sünderin aufgeschreckt aus seiner knabenhaften Unschuld, plötzlich „wissend“ wird und mit voller Stimme einsetzend „Amfortas! Amfortas!“ ruft, wandte Alfred sein Auge erschrocken und indignirt dem Sänger zu, dessen ungebührlich laute Töne seine schöne Schläferin zu erwecken drohten. Zum Glück zeigten ihre ruhigen Athemzüge an, daß ihr Schlummer noch immer tief und fest sei. Aber Alfred sah jetzt mit Schmerz den Moment kommen, wo er selbst die Ursache ihres Erwachens werden mußte. Aus der Lectüre des Textbuches erinnert er sich, daß der Schluß des zweiten Actes herannahte, und er darf natürlich das Schließen des Vorhanges und das Hellwerden des Hauses nicht abwarten, ehe er sie stört.
Wahrhaftig, da versinkt schon der Zaubergarten Klingsor’s in die Tiefe! Könnte er doch mit versinken sammt seiner süßen Last!
Noch einen letzten Blick auf das holde Kind in seinem Arme – noch einen Athemzug, der ihn wonnig durchschauert – dann macht er plötzlich eine starke Bewegung mit dem linken Arme – und während er nun mit der rechten Hand krampfhaft das nach der Bühne gerichtete Opernglas vor die Augen hält, fühlt und sieht er, wie sie jäh in die Höhe schreckt und sich tiefaufathmend die Löckchen aus der Stirn streicht. Nun wendet sie den Kopf erstaunt nach seiner Seite, dann nach der Bühne, und jetzt – jetzt ist ihr offenbar das Bewußtsein von Zeit und Ort zurückgekehrt, denn mit einem heftigen Rucke legt sie die weiteste Entfernung zwischen sich und ihren Nachbar, die ihr momentan gestattet ist; das heißt, sie rückt auf dem schmalen Sitze, wie er dem Musentempel Richard Wagner’s leider eigen ist, um einige [484] Zoll näher zu der Mama hin, welche, versunken in Begeisterung und Genuß, weder hiervon nach von der vorangegangenen Schlafscene ihrer Tochter das Geringste bemerkt hat. Alfred Berger dagegen fühlt den Entfernungsruck schmerzlich genug, wenn er auch noch immer unverwandt die Trümmer des Zaubergartens zu besichtigen scheint, unter denen auch für ihn die Seligkeit der letzten halben Stunde unwiderbringlich begraben ist.
Der losbrechende Beifallssturm zeigt ihm das erfolgte Schließen des Vorhanges an, und da er annehmen zu können glaubt, daß Fräulein Rosa inzwischen Zeit genug gehabt hat, sich von etwaiger Bestürzung und Verlegenheit zu erholen, befreit er endlich sein Gesicht von dem Opernglase und will sich mit erkünstelter Unbefangenheit zu seiner Nachbarin wenden. Das ist aber vorläufig vergebene Mühe, denn sie kehrt ihm energisch die Rückseite ihrer rosenfarbenen Gestalt zu und scheint plötzlich von dem Enthusiasmus der Mama mit erfaßt zu sein, die, gleich dem übrigen Publicum tapfer applaudirend, nach der Loge Wagner’s hinaufschaut, wo indeß der Meister mit der ihm eigenthümlichen Zurückhaltung der Menge den Anblick seiner vergötterten Persönlichkeit – nicht gewährt. Unter Ausrufen der Entrüstung hierüber beginnt man schließlich, da nichts Anderes übrig bleibt, in’s Freie zu strömen, wo die inzwischen eingetretene abendliche Kühlung zur Erholung ladet.
Alfred Berger hatte mit rühmlicher Schnelligkeit die Garderobe der Damen erobert und genoß das Glück, die Commerzienräthin in ihren Mantel hüllen zu dürfen. Rosa hatte ihren Spitzenshawl hastig und wortlos von seinem Arme genommen und so schnell umgeschlungen, daß er ihr nicht mehr dabei behülflich sein konnte. Er glaubte in den Zügen der jungen Dame eine tiefe Verstimmung zu bemerken und mußte sich sogar für die Ursache derselben zu halten anfangen, da sie es consequent zu überhören schien, wenn er versuchte eine Bemerkung an sie zu richten, während sich alle Drei nach dem Restaurant begaben.
Die Commerzienräthin dagegen strahlte vor Behagen und Wohlwollen. Anfänglich behauptete sie zwar, zu begeistert und aufgeregt zu sein, um essen zu können, widerstand jedoch schließlich nicht länger, als man an dem reich besetzten Ecktische Platz nahm.
Wie hatte sich unser junger Freund auf die gegenwärtige halbe Stunde gefreut, und wie wenig erfüllte sie seine Erwartungen! Fräulein Rosa vermied seinen Blick und dankte nur kurz, in eisigem Tone, wenn er ihr eine Schüssel reichte oder ihr Glas füllte. Im Uebrigen verhielt sie sich fast immer schweigend. – Sie schien ihm wirklich ernstlich zu zürnen. Aber worüber denn? Weil sie, an seinen Arm gelehnt, eingeschlafen war? Das ist doch wahrhaftig nicht seine Schuld!
O lieber, unschuldiger, unerfahrener Referendar, und fast möchte ich sagen: reiner Thor! Ahnst du denn gar nicht, welche gerechte Ursache das liebliche Kind hat, dir zu zürnen? Kann sie dir denn je vergeben, daß ihr Köpfchen eine halbe Stunde lang an deiner, eines fremden Mannes, Brust geruht hat? Sie schämt sich ja so ungeheuer darüber, daß sie es nicht einmal der Mama anvertrauen möchte! Es ist zu entsetzlich! – Und du wagst noch zu fragen, ob es deine Schuld sei? –
„Nun sagen Sie selbst, Herr Referendar. War dieser zweite Act nicht von einer hinreißenden Schönheit? Ich begreife nicht, wie einige ihn zu lang finden können,“ rief jetzt die Commerzienräthin.
Der also Angeredete betheuerte im Gegentheil, daß der zweite Act für seinen Geschmack eher zu kurz sei, und daß er gern noch eine Stunde länger im Zaubergarten geweilt haben würde. Diese Anspielung wurde von Fräulein Rosa leider verstanden und mit einem indignirten Aufblick bestraft, der sich aber schnell wieder auf den Teller senkte, noch ehe er Alfred’s Auge begegnet war.
„Du bist ja noch ganz still und ergriffen, Kind, von dem herrlichen Genuß. – Warst Du nicht auch ganz entzückt davon, wie z. B. die Solostimmen über dem Kosegesang schwebten?“
Rosa gestand mit leichtem Erröthen ein, sie erinnere sich nicht, dies besonders bemerkt zu haben.
„Nicht? Unbegreiflich! Aber Du mußt doch wissen, welche Stelle ich meine? Hier –“ und damit erschien die Partitur wieder auf dem Tisch, als eben die Fanfare zum letzten Act rief.
„Mama, hast Du mein Opernglas und meinen Fächer aufgehoben?“ fragt Rosa plötzlich erschrocken.
„Ich, Kind? Wie käme ich dazu? Vielleicht liegen sie dort unter dem Mantel.“
Alfred zog die vermißten Gegenstände aus seiner Tasche und überreichte sie lächelnd der Suchenden mit einer Verbeugung, besann sich aber während dieser Handlung plötzlich, daß es Fräulein Rosa wahrscheinlich sehr unangenehm sei, auf diese Weise an einen Moment erinnert zu werden, in dem sie nicht fähig war, das Verschwinden ihres Eigenthums zu bemerken.
„Bitte, Fräulein – ich dachte – ich wußte nicht – ich habe die Sachen – einstweilen eingesteckt,“ stotterte er dunkelroth vor Verlegenheit.
Fräulein Rosa hatte den Zusammenhang offenbar sogleich begriffen, denn auch sie war tief erröthet, und in ihren Augen blitzte sogar eine kleine Thräne des Zornes und der Scham, als sie die stummen Zeugen der Vergangenheit in Empfang nahm. Beider Blicke hatten sich dabei eine Secunde lang getroffen, Alfred hatte zu seinem tiefsten Bedauern die verrätherische Thräne bemerkt und nahm sich vor, das arme Kind durch einige Worte, etwa eine Versicherung ewigen Stillschweigens über das Geschehene, oder eine Bemerkung, daß die Sache ja gar nichts zu bedeuten habe, zu beruhigen.
„Ich kann Ihnen versichern, gnädiges Fräulein –“ fing er gutmüthig und immer noch sehr verlegen an.
„Hast Du gesehen, Mama, daß Geheimrath Hofmann’s, da drüben in der Ecke, uns gegrüßt haben?“ fiel Rosa kühl ein, indem sie, Alfred’s Anrede gänzlich überhörend, das Köpfchen schnell nach der bezeichneten Seite wandte.
Verblüfft und schweren Herzens folgte er den Damen, die jetzt den Weg nach dem Theater einschlugen.
Während des letzten Actes des „Parsifal“ ließ Fräulein Rosa’s Kunstinteresse nichts zu wünschen übrig. Sie saß steif und gerade auf ihrem Platz und nahm das Opernglas fast nie von den Augen, sodaß ihr Nachbar, wenn er einen forschenden Blick nach der Seite schweifen ließ, nur die kleine, von elegantem Handschuh bedeckte Hand statt des Gesichtes zu sehen bekam. Er hatte daher vollkommen Muße, den Vorgängen auf der Bühne seine Aufmerksamkeit zu schenken. Namentlich widmete er dem siechen König Amfortas die regste Theilnahme. Brennt nicht auch in seinem Herzen jetzt eine Wunde, die nie, das fühlte er, wieder heilen wird?
Im Congoland.
Eine wochenlange einförmige Reise auf dem englischen Postdampfer führt den Congofahrer größtentheils in solcher Nähe an der Küste von Westafrika entlang, daß diese sich wie ein Panorama vor ihm aufrollt. Von Kabinda an nähert sich endlich der bis dahin viele Küstenpunkte berührende Dampfer in ununterbrochener Fahrt dem Congo; gefährliche Bänke zwingen ihn jedoch, wie alle tiefgehenden Fahrzeuge, vom Lande abzuhalten. In dieser Gegend wurden in den Jahren 1863 und 1868 von den englischen Kreuzern die letzten Sklavenschiffe aufgebracht.
Mißfarbige Gewässer, schwankende Strömungen und unruhiger Wellenschlag kündigen die Nähe des Congo an; der Dampfer pflügt quer hindurch, denn er pflegt den Fluß von der Südseite anzulaufen. Die bisherige Küstenlinie schwindet mehr und mehr, zugleich aber tauchen gerade voraus Bestände von Mangroven[1] und Fächerpalmen auf, welche die südliche Landmarke, Point Padrao, in Besitz genommen haben. Ausgedehnte Strecken von niederem, dicht bewaldetem, sowie nach innen von
[485][486] Altwassern und Lagunen labyrinthisch durchzogenem Schwemmlande treten in Sicht.
Hier, an einer leider nur sehr schwierig aufzufindenden Stelle, hat in den letzten Tagen des Jahres 1484 der Entdecker der Congomündung, der portugiesische Seefahrer Diego Cao, als Zeugen seines Erfolges einen der ihm mitgegebenen Steinpfeiler (Padrao) aufgerichtet. Als der erste erblickte mit dem portugiesischen Entdecker auch ein Deutscher den Congo: Martin Behaim, ein weitgereister, einem Nürnberger Patriciergeschlechte entsprossener Mann, welcher die Expedition als „Kosmograph“ begleitete.
Noch ehe der Dampfer zur eigentlichen Mündung gelangt, blinkt vor den jenseitigen, weit zurückliegenden Uferhöhen eine Linie weißer Punkte auf, welche das geübte Auge als eine lange Reihe blendend weißer Gebäude erkennt, die vor einem dunklen Hintergrunde von Mangroven scheinbar auf dem Wasser schwimmen. Es ist Banana, der Centralplatz des Congohandels sowohl wie eines großen Theiles des Küstenhandels weiter Landstriche im Norden und Süden.
Erst wenn der Dampfer hinüberkreuzt, entdeckt man, daß die zahlreichen stattlichen Gebäude auf einer sehr niedrigen und schmalen Landzunge liegen, auf einer öden Nehrung, die, einige Kilometer weit vom Nordufer vorspringend, auf der einen Seite von einem breiten Nebenarm des Congo, auf der anderen vom Meere bespült wird. Solchergestalt von unruhigen Gewässern umflossen und ursprünglich von ihnen aufgebaut, ist sie wiederum der Gefahr ausgesetzt, von innen oder außen durchbrochen zu werden. Die gerade an jenen Stellen angesessenen Holländer haben, wie ihre wackeren Landsleute daheim, schon öfters mit dem ihre Existenz gefährdenden Elemente mühsam zu kämpfen gehabt. Mit Pfahlwerken und aus ziemlicher Entfernung herbeigeholten Steinen, die sie an den bedrohten Punkten aufwallen, haben sie bisher ihr Besitzthum erfolgreich behauptet.
Mit voller Kraft hat der Dampfer die mächtige Strömung durchschnitten und läuft in den breiten Arm des Congo ein, der sich zwischen der Nehrung und dem oberhalb liegenden Inselgewirr öffnet. Der Begrüßungsschuß dröhnt über das Wasser und weckt das Echo in den Mangrovenbeständen; der Anker fällt, und von den Factoreien eilen Boote heran, um Nachrichten von der Heimath sowie Güter in Empfang zu nehmen.
Wer auf der Reise verschiedene Küstenpunkte besucht und bereits einen Einblick in afrikanische Handelsverhältnisse gewonnen hat, erkennt sogleich, daß Banana ein wichtiger Platz sein muß. Segelboote und größere Fahrzeuge, sowie kleine und mittlere Dampfer, welche den Güterverkehr auf dem Flusse und an der Küste besorgen, beleben kommend oder gehend die Wasserfläche oder liegen an den Bollwerken vertaut; zeitweilig ankern auch große Seeschiffe in der Nähe, welche die hier angehäuften Producte nach Europa führen, und viermal im Jahre liegt der stattliche neue Dampfer „Afrikaan“ des holländischen Hauses an der Landungsbrücke. Er vermittelt die directe Verbindung zwischen Banana und Rotterdam.
Die südliche Hälfte der langgestreckten Nehrung befindet sich im Besitze des holländischen Hauses, dessen Baulichkeiten und Gehöfte den größten Theil des Raumes einnehmen. Unmittelbar benachbart liegt eine französische Factorei. Dann folgt eine Strecke theilweise versumpften Bodens, noch eine Nebenfactorei der Holländer und auf diese ein ursprünglich portugiesisches Gehöft, das im vorigen Jahre in die Hände einer englischen Gesellschaft übergegangen ist. Am weitesten nördlich und ziemlich abgelegen hat die englische Livingstone-Mission sich eine Heimstätte geschaffen.
Diese Ansiedelungen zusammengenommen bilden Banana. Wenn man jedoch schlechthin von Banana spricht, so ist in der Regel das holländische Haus gemeint. Nicht nur steht es allen übrigen weit voran an Großartigkeit der Anlage, sondern es gewährt dem Ankömmling auch liebenswürdige Aufnahme und Gastfreundschaft, ohne welche sich Niemand in diesen Gegenden aufhalten könnte, so lange er nicht unter eigenem Dache wohnt. Die deutschen Expeditionen in Loango wie Angola waren von jeher auf das holländische Haus angewiesen. Nicht als ob etwa Vertreter anderer Nationen weniger zuvorkommend wären! Wer jene Küstenstriche bereist hat, wird der opferfreudigen Gastfreundschaft und thatkräftigen Hülfe aller Europäer, seien es Portugiesen, Holländer, Engländer, Franzosen, Deutsche, allezeit dankbar gedenken müssen, denn wo immer er sich hingewendet, wurde er willkommen geheißen.
Das holländische Haus und das englische Hatton und Cookson besitzen jedoch die meisten Factoreien, die ausgedehntesten Beziehungen und bedeutendsten Verkehrsmittel, sodaß vor Allem der Forschungsreisende durch deren rückhaltlos gewährte Benutzung in seinen Unternehmungen gefördert wird.
Wer genügend lange an vielen Orten der Küste gelebt hat, um nach eigener Erfahrung urtheilen zu können, darf sich der Verpflichtung nicht entziehen, ungerechtfertigte Anschauungen zu widerlegen. Westafrika ist nicht eine Freistätte für den Abschaum der Menschheit. Wohl wird man dort, wie überall, sympathische und unsympathische, brave und weniger gut geartete Menschen finden; wohl geht dort mancher Mann durch eigene Schuld zu Grunde, und manches ist geschehen, was nach Recht und Gesetz nicht hätte geschehen sollen. Derartiges ereignet sich jedoch selbst da, wo nicht wie in fernen, der Cultur noch unerschlossenen Gebieten die eigenartigen Zustände und Lebensbedingungen größere Anforderungen an die moralische Kraft des Individuums stellen.
Ein Land für Abenteurer ist Westafrika am allerwenigsten. Wer daselbst, und zwar unter viel ungünstigeren äußeren Verhältnissen, nicht arbeitet, wie er daheim arbeiten sollte, der vermag nicht zu existiren. Reichthümer wird Niemand dort spielend erwerben, und zu einem erfolgreichen Geschäftsbetrieb bedarf man geschickter und thätiger Männer.
Zu Banana lernt man den Handelsbetrieb in unerwarteter Großartigkeit kennen. Das holländische Haus ist der bedeutendste Stapelplatz sowohl für europäische Tauschwaaren, als auch für Producte des Congogebietes und der Länder im Norden und im Süden. Dem entsprechend zerfällt das Etablissement in zwei Abtheilungen. In der südlichen sind die zur Verschiffung nach Europa bereiten Landesproducte, in der nördlichen die für den Tauschhandel eingeführten Güter aufgestapelt. In der nördlichen Abtheilung befindet sich zugleich auch die Hauptbuchhalterei. Zwischen beiden, auf der schmalsten Strecke der hier etwa zweihundert Schritte breiten Nehrung, sind die schwarzen Arbeiter des Hauses angesiedelt. Ihre Zahl beträgt etwa vierhundert. Sie wohnen nach Landessitte in kleinen, reihenweise angeordneten, aus Papyrusschäften und Palmfiedern erbauten Hütten, welche von der frischen Seebrise mit voller Kraft bestrichen werden.
Die beiden, durch die originelle Arbeiterstadt getrennten Centralfactoreien bestehen aus riesigen, von eingeführten Backsteinen, Holz oder Eisen construirten Magazinen, sowie schmucken Wohnhäusern. Letztere sind mit breiten schattigen Veranden versehen und enthalten viele hohe luftige Zimmer, die theilweise leer stehen zur Aufnahme gelegentlicher Besucher.
An diesen fehlt es selten in Banana; sei es, daß Beamte oft entlegener Factoreien in Geschäften oder auf einer Erholungsreise eintreffen, sei es, daß Leidende Herrn Dr. Rabe, den seit Jahren in Banana wirkenden, aus Mecklenburg stammenden Arzt des Hauses, consultiren wollen. Alle Gebäude sind blendend weiß gestrichen und den gesunden Seewinden zugänglich. Die weiten Höfe sind mit reihenweis geordneten noch jungen Cocospalmen und mit einer aus Südafrika zur Küste gebrachten Baumart (Spondias lutea) bepflanzt. Künstlich angelegte feste Wege auf dem nachgiebigen, das Gehen ungemein erschwerenden Sande verbinden die wichtigsten Baulichkeiten mit einander.
Die Gehöfte beherbergen europäische und afrikanische Thiere. Da sind ein Paar wohlgepflegte Sattelpferde der beiden Chefs des Hauses, eine Anzahl trefflicher, durch mancherlei charakteristische Eigenthümlichkeiten ausgezeichneter Reitesel und Ziegen, Schafe, Schweine verschiedener Länder. Zahlreiche Hühner, Tauben, Truthühner und Pfauen beleben das Gehöft. Mancherlei Antilopen fesseln den Blick in einem kleinen Park, und Affen ergötzen durch ihr Treiben in einem großen Gitterhaus. Auch ein breitgehörnter Reitochse aus dem Süden wandelt beschaulich umher. Dazu kommen noch die Lieblinge der Beamten des Hauses: ein riesiger Neufundländer, ein flockiger Jagdhund und verschiedene Hündchen, eine Anzahl Katzen, eine überaus zahme, überall auftauchende drollige Manguste (Ichneumon), die nirgends fehlenden klugen Graupapageien und anderes kleines Getier.
Des Tages über herrscht eine rastlose Thätigkeit in den weiten Gehöften. Unter luftigen Schuppen schaffen die Küfer, unter anderen wird an Schiffen gezimmert; aus der Schmiede dröhnen [487] Hammerschläge. Singend und rufend tummeln sich Hunderte von Schwarzen an den Bollwerken und Landungsbrücken, entladen und beladen Fahrzeuge, schaffen Güter von und nach den Magazinen, verpacken Waaren oder säubern die Niederlagsräume. Allenthalben überwachen Europäer die Arbeiten. Boten eilen mit Zetteln hin und her und halten gewissermaßen eine engere Postverbindung zwischen den verschiedenen Dirigenten aufrecht, denn die Verwalter der einzelnen Magazine verlassen ihre so verführerische Schätze enthaltenden Räume nicht, so lange diese dem Verkehre offen stehen. Dem von der Cultur beleckten Afrikaner erscheint Alles als rechtmäßige Beute, was er in Factoreien bei Seite schaffen kann.
Mit einer Unterbrechung um die Mittagszeit währt die vielartige Thätigkeit vom Morgen bis zum Abend. Dann tritt Ruhe ein, obwohl in der Hauptbuchhalterei nothwendige Arbeiten auch noch bei Licht bewältigt werden. An diese Geschäftsräume, von wo aus das ganze Unternehmen geleitet wird, stößt eine große offene Halle, wo die Europäer, mit Ausnahme einiger, welche im südlichen Gehöft leben, ihre Mahlzeiten einnehmen. Sie speisen an zwei langen Tafeln: an der einen und größten haben die höheren Beamten und Gäste ihre Plätze, an der zweiten essen die übrigen Angestellten, die nach Beendigung der Mahlzeit die Halle verlassen.
An der Haupttafel dagegen, namentlich wenn Gäste anwesend sind, rücken später die Herren zwanglos zusammen und pflegen bei einem Glase des in diesem Klima so wohlthätigen, sogar nothwendigen portugiesischen Landweines und einer Pfeife Tabak anregender Unterhaltung. Der Chef des Hauses und sämmtlicher dazu gehöriger Factoreien, Herr A. de Bloeme, und sein Vertreter Herr de la Fontaine-Verwey, sowie die Vorsteher der verschiedenen Departements: die Herren Anema, Gray, Consul van Wettern, W. Develle (ein Landsmann aus Köln) leisten den Gästen in liebenswürdigster Weise Gesellschaft. Besucher von anderen Factoreien finden sich ein sowie Capitaine und Ingenieure von eingekommenen Schiffen. Zur günstigen Zeit trifft man in Banana auch wohl Beamte des Hauses, die sonst in fernen Factoreien und Plätzen leben: Herrn Greshoff aus Boma, Abtheilungschef der Factoreien am oberen Congo, Herrn Consul Niemann, die gleiche Stellung zu St. Paul de Loanda in Angola bekleidend; Herrn Reïs aus Ponta da Lenha, früher am Kuilufluß; Herrn Kamerman aus Ambriz, einst getreuer Nachbar unserer Station Tschintschotscho; Herrn Chaves von Muanda, den unverwüstlich fröhlichen Sänger der Küste. So begegnet man unverhofft wieder manchen lieben alten Bekannten, darunter lebensfrischen Männern, die länger denn ein Jahrzehnt an der Küste heimisch sind und von Afrika nicht lassen. Unter solchen Umständen wird die Unterhaltung ungemein lebhaft. Zustände und Ereignisse der Küste werden besprochen, Abenteuer erzählt, Erinnerungen ausgetauscht. Nicht selten herrscht in dem fröhlichen Kreise ein wunderbares Sprachgewirr, da oft holländisch, portugiesisch, deutsch, englisch, französisch zugleich gesprochen wird. Wer anderweitige Vergnügungen liebt, begiebt sich nach einem Nebengebäude, wo in großem luftigem Gesellschaftszimmer ein Billard und Pianino locken.
Auf unwillkommene Gäste ist das holländische Haus ebenfalls eingerichtet, wie eine an der Hafenseite verdeckt stehende kleine Batterie von Schiffsgeschützen beweist. Zur Zeit des Sclavenhandels haben die Eingeborenen trefflich gelernt, Raubzüge zu unternehmen. Noch vor drei Jahren wagten sie, eines Morgens in Canoes heranschleichend, einen Ueberfall auf die der holländischen unmittelbar benachbarte französische Factorei. Als Flußpiraten liegen sie immer auf der Lauer, um abgelegen im Fluß ankernde oder auf den Grund gerathene Handelsfahrzeuge zu plündern. Selbst wohlbewaffnete Schiffe haben sie anzugreifen sich erdreistet, und die Chronik des Congo berichtet von manchen Beraubungen und blutigen Vorgängen. Derartige Uebelthaten zu strafen und Sicherheit für den Handel zu schaffen, sind englische Kriegsschiffe zuletzt in den Jahren 1875 und 1877 mit Waffengewalt auf dem Congo vorgegangen.
Freilich läßt sich damit nicht viel erreichen. Denn das von Wasseradern durchzogene versumpfte Waldland der Niederung bietet dem mit Canoes, Steinschloßflinten und Pulver reichlich versehenen Raubgesindel ausgezeichnete Verstecke, sowie zahllose Wege zur Flucht. Durchstreift man zu Boote die Niederung oder befährt auf Dampfern den Hauptstrom, so lernt man die Schwierigkeiten der Aufspürung und Verfolgung vollauf würdigen.
Den Altwasserarm einige Kilometer weit hinabfahrend und dann um den mit stattlichen Mangroven bestandenen Bulambemba Point (etwa: Echospitze) nach Osten biegend, hält sich der Dampfer an der Nordseite der vier bis acht Kilometer breiten Wasserfläche, die zu beiden Seiten von dunklen Wäldern begrenzt wird. Als schlanke, dreißig Meter hohe Bäume oder als undurchdringliches Gebüsch beschatten Mangroven den Sumpfboden, alle übrigen Holzgewächse ausschließend. Pandanusforste umsäumen die wirren Bestände. Auf Strecken festeren Bodens, wo das Schwemmland über den mittleren Stand des Wassers emporgewachsen ist, haben sich an Stelle der zu Grunde gegangenen Rhizophoren buschreiche Waldwiesen gebildet, geschmückt mit Gruppen anmuthiger wilder Dattelpalmen und stattlicher Wollbäume; selbst breitästige Affenbrodbäume haben hier und dort Raum gefunden. Schön blühende Hybiscusbüsche und großblätterige Ficusarten umkränzen das Ufer und hängen ihr Gezweig in das rasch strömende Wasser. Schlinggewächse überspinnen Busch und Baum. Allenthalben öffnen sich Buchten und Einschnitte an den nur durch die Vegetation kenntlich gemachten Uferstrecken, und Seitenwasser zweigen sich ab, die man in der Regel erst entdeckt, wenn Canoes in dem Pflanzengewirr ein- und ausschlüpfen.
In ruhiger Fahrt immer dem Nordufer folgend, passirt der Dampfer zwei dem Ufer angeschmiegte Inselchen, die Kalb- und Bulleninsel; auf letzterer sieht man im glücklichen Fall das erste Krokodil, ein wohlbekanntes, ziemlich großes Thier, welches die westliche Sandspitze seit vielen Jahren zu seinem Ruheplatz erwählt hat.
Man bemerkt überhaupt auffallend wenige Thiere. Affen zeigen sich kaum noch an den Verkehrswegen in der Niederung, die Hippopotamen haben sich in entlegene Canäle zurückgezogen. Selbst die Vogelwelt ist recht arm. Der gemeine angolensische Adler hockt hier und dort auf einem Aste oder streicht trägen Fluges über den Fluß, etliche Gänse und Enten ziehen vorüber, ein Schlangenhalsvogel oder Reiher wird aufgetrieben. Lärmende Graupapageien kreuzen, namentlich des Morgens, von Ufer zu Ufer, und ein Schwarm grüner Tauben schwirrt gelegentlich am Waldrande hin. Oberhalb der Mangrovenbestände, wo der Fluß inselreicher, die Landschaft offener wird, erscheint vor allem das Wassergeflügel zahlreicher und man erblickt öfters abseits rastende, jedoch sehr wachsame Krokodile, die in der Regel eilig in das Wasser gleiten.
Nichtsdestoweniger bleibt die Reichhaltigkeit des Thierlebens hinter aller Erwartung zurück, und wer die Jagd mit einigem Erfolge betreiben will, muß zu Boote die Seitengewässer aufsuchen, obwohl auch dort alles Wild sich schell verbirgt und schwierig zu erlegen ist.
Stromauf von der Bulleninsel tauchen an beiden Ufern im gelichteten Walde neu angelegte kleine Factoreien auf. Die Oertlichkeiten, von Wasser und Sumpf umgeben, besitzen nichts Einladendes. Vor zwei Jahrzehnten noch standen an diesen Stellen die Gehöfte von Sclavenhändlern. Von hier aus konnten sie den Congo bis zur Mündung überblicken und, wenn englische Kreuzer ihnen den Weg versperrten, ihre mit Menschen befrachteten Fahrzeuge durch Canäle der nördlichen Niederung ungesehen bis an das Meer schaffen.
Nun beginnen Bänke und Inseln das Fahrwasser zu beschränken, und der Dampfer hat Umwege einzuschlagen. Die Lage der Untiefen verändert sich überdies rasch und wechselt fast mit jedem Hochwasser; selbst Inseln verschwinden in wenigen Jahren und entstehen wieder ebenso schnell an anderen Orten. Von den schwindenden Inseln und Bänken wie von unterwaschenen Uferstrecken heben die Fluthen die des Haltes beraubte Vegetation ab und tragen sie mit sich hinaus in das Meer. So entstehen die vielgenannten schwimmenden Inseln des Congo, die zuweilen bis hundert Schritt im Durchmesser halten mögen, in der Regel aber viel kleiner sind. Es sind in der Hauptsache hohe Gräser und Büsche, die, durch ihr Wurzelgewebe verbunden, aufrecht wie sie wuchsen von dannen treiben. Größere Bäume finden natürlich in der schwimmenden Pflanzendecke keinen Halt, sondern sinken um; doch sieht man bisweilen über armdicke Bäume Wind und Wellen zum Trotze das Gleichgewicht bewahren.
Flache, mit hohen Gräsern und verstreutem Gebüsche bestandene Inseln zur Rechten lassend, läuft der Dampfer in den nördlichen Arm des Hauptstromes, der hier immer noch die Breite [488] des Rheins bei Köln besitzt. Das nördliche Ufer trägt vielartiger werdende Bewaldung, die namentlich reich an Wein- und Oelpalmen ist. Zur Rechten erscheinen am Uferrand der grasigen Insel drei einsame Oelpalmen; ihnen gegenüber, noch hinter einer Waldecke verborgen, liegt Ponta da Lenha: der Holzort. Es wird, je nach Wind und Wasserstand, in vier- bis fünfstündiger Fahrt von Banana erreicht. Bis dorthin können große Seeschiffe bequem gelangen; im Jahre 1874 dampfte ein deutsches Kriegsschiff bis zu diesem Punkte: die „Gazelle“, unter Freiherrn von Schleinitz.
Zur Zeit des blühenden Sclavenhandels zählte Ponta da Lenha über ein Dutzend großer Gehöfte, die in länger Reihe am Flusse auf einer künstlich erhöhten und durch Pfahlwerke geschützten Uferleiste errichtet waren. Gegenwärtig finden sich daselbst noch drei Factoreien.
Trotz der starken Verpfählungen unterwäscht der Strom das Ufer; vor einigen Jahren wurde ein Theil einer portugiesischen Factorei plötzlich hinweggerissen, und ein französisches Haus, das gleiche Schicksal befürchtend, hat vor anderthalb Jahren den Platz verlassen. Ponta da Lenha ist von Wasser und Sumpf umgeben und wird nicht selten überfluthet; Morast und Wasserläufe trennen die einzelnen Häuser, sodaß der Verkehr sich gewöhnlich auf Booten oder Canoes vollzieht.
Trotz der bedenklichen Lage ist der Ort nicht in besonderem Grade ungesund, weil vom Flusse her frische Luft die Baulichkeiten durchstreift. Aber seine goldenen Tage sind vorüber; die Stätte ist leer geworden, und nur die Tradition berichtet noch von dem übermüthigen Treiben, das einst hier herrschte.
Der schmucken, durch eine schöne Bananenallee ausgezeichneten holländischen Factorei liegt die englische von Hatton und Cookson unmittelbar benachbart. In letzterer haust Herr Cobden Phillips, ebenfalls ein altbewährter Freund der deutschen Loango-Expedition. Er ist ein Gelehrter und Künstler in der Wildniß, der nach des Tages Arbeit frisch und fröhlich nach seinen Büchern und Instrumenten oder nach der geliebten Geige greift. Gar wunderbar muthet es an, wenn in stiller Abendstunde von der Veranda die verständnißvoll vorgetragenen Weisen unserer Classiker über den leise rauschenden Strom und in den Sumpfwald hinausklingen. Dann halten wohl auch passirende Eingeborene mit Rudern inne und lauschen im treibenden Canoe den Tönen eines Concertes von Mendelssohn oder einer Violinsonate von Bach, wo zur Sclavenzeit der Zecher wüster Lärm erschallte.
Von dieser Gegend aufwärts theilen mehrere Inselreihen den Congo in drei Hauptarme, die Fahrzeugen mittlerer Größe hinreichende Tiefe bieten. Die Dampfer verfolgen in der Regel den in der Mitte liegenden, um in abermals vier bis fünf Stunden Boma zu erreichen. Eine große Anzahl kleiner Factoreien liegt versteckt an den Seitengewässern.
Man erblickt hier die letzten Mangroven, die bereits recht kümmerlich aussehen, weil das Wasser, das ihre Wurzeln umspült, kaum noch brackisch ist. Auch der geschlossene Urwald tritt zurück; nur hier und dort ziehen sich Waldstreifen entlang oder erheben sich Baumgruppen, während die Ufer noch vielfach mit dichtem Gebüsch bekleidet sind.
Aber auch dieses wird spärlicher und an seine Stelle treten die hohen Halmgräser, die den größten Theil des flachen Geländes in unbestrittenen Besitz genommen haben; unter ihnen zum ersten Male der classische Papyrus, dessen unzugängliche Horste die versumpften Bodenstrecken beherrschen, dessen geschmeidige Schäfte das treffliche landesübliche Baumaterial bilden. Die waldscheue, vom Meeresstrande bekannte Fächerpalme findet hier wiederum die Bedingungen ihres Gedeihens und überragt vereinzelt oder in lockeren Hainen die hohen Grasbestände. Allenthalben treiben schwimmende Inseln, deren hauptsächliche Geburtsstätte zur Zeit des Hochwassers gerade in diesem Gebiete zu suchen ist.
Fast unbehindert schweift der Blick weithin über die von unzähligen großen und kleinen Wasseradern durchzogenen Gelände der breiten Niederung bis zu den fernen Uferhöhen. Diese leiten ostwärts zu den Hochlanden des Congo über, die nach kurzer Fahrt oberhalb Ponta da Lenha in Sicht treten. Diese Landschaft ist auf dem beigegebenen Bilde dargestellt.
Nicht wie ein mächtiges Gebirge, sondern als Ketten gerundeter Hügel begrenzen sie die Landschaft, deren Hauptreiz lediglich der vielfache Wechsel zwischen Festem und Flüssigem sowie die ausgeprägte Herbststimmung bildet, welche ihr während der Trockenzeit die mit Ausnahme des Papyrus abgestorbenen Gräser verleihen.
Zur Erinnerung an Hedwig Reicher-Kindermann.
Verrauscht, verklungen für ewig ist die herrliche Stimme, die mit ihrem süßen Wohllaut, ihrer unendlichen Kraft und Fülle Tausende von Herzen im Sturm erobert! Erde, kalte, feuchte Erde deckt die hohe Gestalt unserer Reicher-Kindermann, keine geliebte Heimatherde, sondern fremde: der Adria sonnig blauer Himmel wölbt sich über ihrem Hügel.
Wer nur einmal mit dieser wunderbaren Frau persönlich verkehrt hat, dem wird es schwer, an ihren Tod zu glauben, eine solche Lebensfülle und Gefühlsmächtigkeit trat Jedem mit ihr entgegen. Man kann sich eben das hohe schöne Weib nicht todt denken, und doch reden’s uns alle Zeitungen seit dem 2. Juni täglich vor, und die Nachrufe und Erinnerungen haben noch heute kein Ende. Um so mehr zieht uns nun Alles an, was aus ihrem Leben erzählt wird. Und gerade weil ihr großer öffentlicher Künstlerlebensgang nur eine kurze Spanne von Jahren umfaßt, geht man gern ihrer früheren Vergangenheit nach, um den Ursprung ihrer Größe und die Quellen der Leiden zu erkunden, die beide sich in ihr Leben getheilt zu haben scheinen.
Hedwig Kindermann konnte die Anwartschaft auf ein glückliches Leben nicht augenscheinlicher in die Wiege gelegt werden. Sie war an Leib und Seele trefflich beanlagt und hochbegabt und vom Schicksal mit Eltern gesegnet, deren Bildung und Mittel geeignet waren, ihr den Pfad von der Kindheit bis zum Beruf so freuden- und hoffnungsreich wie möglich zu machen. Ihr Vater ist bekanntlich der berühmte Sänger August Kindermann in München; von der Liebe zu ihrer Mutter zeugen viele später veröffentlichte Briefe. Hedwig muß als Kind und Backfisch eine reizende Erscheinung gewesen sein in ihrer Anmuth, Kraft und Natürlichkeit. Es wird erzählt, daß, wenn sie mit der Küchenschürze geschmückt der Mutter am Herde half, ihre fröhlichen Lieder zum Küchenfenster herausschallten und die Leute auf der Gasse stehen blieben und lauschend sagten: „Das ist Kindermann’s Hedwig! Wie die singt!“ – Und doch soll, nach allen Berichten, der Vater erst durch den Professor an der Münchener Musikschule, Franz Wüllner, auf den Werth der Stimme seiner Tochter aufmerksam gemacht worden sein.
Er nahm sie nun in seine Schule und bildete sie so weit aus, daß sie, sehr jung schon selbstständig, die dornenvolle, aber durch den winkenden Lorbeer unwiderstehlich verlockende Künstlerbahn betreten konnte. Von da an beginnen Kampf und Leid und mit den Triumphen die Gefahren für das junge Leben. Wer die Energie anerkannte, durch welche die entzückende Soubrette sich bis zur höchsten Stufe ihrer Kunst emporrang und die Bewunderung aller Kunstenthusiasten in Deutschland, Oesterreich, England, Frankreich und Italien bis zur Vergötterung zu steigern vermochte, der darf auch nicht vergessen, daß dieselbe Gewalt der Seele, mit welcher sie die peinigendsten körperlichen Schmerzen bezwang, wenn die Pflicht ihrer Kunst es forderte, auch im Dienst ihrer Leidenschaften stand.
Von diesen körperlichen Schmerzen schildert uns ein Beispiel die langjährige Freundin Hedwig’s, Adelheid Bernhardt, in ihrem inhaltreichen „Erinnerungsblatt“[2] S. 7 wie folgt:
„In München (wo Hedwig zuerst an der Hofbühne auftrat) war es auch, wo ihr Leiden begann, denn in den wenigen Wochen unseres Zusammenseins litt sie fast täglich an den entsetzlichsten Krämpfen. Ich erinnere mich eines Abends gegen fünf Uhr, daß sie von Krämpfen befallen wurde. Ich war allein mit ihr und der Aufwartung. Gegen sonstige Anfälle war sie diesmal merkwürdig
[489]ruhig zu leiten, denn oft gehörte die Gewalt von vier Personen dazu, um sie vor einem Sprung aus dem Fenster zu schützen. Diesmal legte sie sich unbewußt auf das Bett, ich öffnete die Fenster, um Luft hereinströmen zu lassen, nachdem ich sie genügend verstellt, und schickte zu Herrn Baron von Perfall, um die Oper abzusagen, da sie ‚Amneris‘ singen sollte. Sie hörte dies und sagte: ‚Nein, Adelheid, ich werde singen.‘
Sie sang wirklich, und so wunderbar hinreißend, wie ich sie nie wieder gehört; jeder ihrer Töne zog mich mächtig zu ihr hinauf; seit jenem Tage war es mir klar, daß solcher Gesang noch ganz Deutschland in Bewegung setzen müsse.“
Und so ist es denn auch geschehen. Doch begann ihre große Zeit erst mit ihrem Auftreten bei den Bayreuther Festspielaufführungen 1876, wo sie in der obwohl untergeordneten Partie der „Erda“ im „Rheingold“ eine so Alles bewältigende Meisterschaft bewies, daß ihr Beruf, die vollkommenste Darstellerin der Wagner’schen Schöpfungen zu werden, von diesem Augenblick an bei allen Fachmännern feststand.
Jetzt regten sich auch die Bewerbungen um sie. Zunächst folgte sie einem Rufe Pollini’s an das Hamburger Stadttheater. Im Jahre 1848 finden wir sie am Hofopernhaus in Wien, und dort drückt die Nachricht vom Tode ihrer Mutter sie tief darnieder. Von dort schrieb sie am 15. Juli, ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstage, an Adelheid Bernhardt: „Ich muß furchtbar viel studiren, da ich sehr ehrenvolle Anträge nach London und Petersburg, sowie nach Mailand (Scala) und Paris an die Große Oper habe. Natürlich muß alles italienisch studirt werden. Aber ich ersinge mir halt ein Vermögen und schlage Capital aus dem Talent, welches mir vom Schöpfer verliehen ist.“
Der schöne Traum! Als ob die für jede Bitte immer offene Hand dieser Künstlerin je zum Dienste des Mammon hätte geeignet sein können!
Schon im September desselben Jahres datiren ihre Briefe wieder aus München, wo sie abermals mit ihrem Vater vereinigt ist. Ihn singen zu hören und heimlich ihm Kränze zu werfen, ist ihre höchste Lust. - Aber auch neue dunkle Schatten treten jetzt auf. „Ich werde Dir,“ schreibt sie an die Freundin, „in Form eines Tagebuchs mein ganzes Leben beschreiben, all meine Erfahrungen und Enttäuschungen, und Du wirst staunen. In der einfachen, wahren Erzählung wirst Du einen Roman finden. Noch [490] ist mir das Schlimmste nicht widerfahren! Ich muß noch immer erwarten, daß mich ein entsetzlicher Schlag trifft, den ich nur ahne, vor dessen Eintreffen ich aber jetzt schon zittere.“
Welcher Schlag dies sein könne, läßt aus späteren Briefen an Adelheid Bernhardt sich nur ahnen. Hedwig hatte, noch sehr jung, sich mit Reicher, Schauspieler am Gärtnerplatztheater, vermählt, eine Ehe, die ihren Vater in Sorgen und Trauer versetzt haben soll. Sie gebar einen Sohn, ihren „Franzl“, an dem sie mit aller Liebe ihres leidenschaftlichen Herzens hing bis zu ihrem letzten Augenblick. Während dieser Münchener Zeit ist noch kein Schatten über ihrer Ehe zu bemerken. Sie schreibt um diese Zeit an die Freundin: „Seit ich von meinem theuren Mann fort bin, lebe ich nicht mehr, ich vegetire nur!“ Später (im December) meldet sie: „Mein Manderl hat Engagement in Weimar, Erfurt, Eisenach. Ich bin sehr glücklich darüber.“ Im Januar 1879 schreibt sie: „Ich trachte jetzt einen zehnjährigen Vertrag zu erhalten mit Gatten und mit zwei oder drei Monaten Urlaub.“ Und im Juni 1879: „Wirke für meinen Mann eine schöne Stellung aus, Berlin, Leipzig, Dresden, dadurch machst Du mich glücklich.“
Schließlich (wohl 1882) wurde die Ehe doch getrennt, aber so wunderliche Herzen waren beide, daß sie kurz nach der Scheidung den Wunsch gehegt haben sollen, nach einem Jahre still sich wieder zu vereinigen. Das Kind war durch das Gericht dem Vater zugesprochen worden; doch davon später.
Aus den Münchener Briefen müssen noch einige für die Kenntniß von Hedwig’s Seelenleben bedeutende Stellen hier mitgetheilt werden. Am 8. December 1878 schreibt sie der Freundin: „Baron von Perfall ist mir der gütigste Vater. Er hat mich in sein Herz geschlossen, weil er mich kennt, und er hilft mir aus meiner schlimmen Lage! – Ich vergesse es ihm nie! Ewig werde ich ihm dankbar dafür sein! Ich reiche ihm meine Kunst dafür, es ist ja das Einzige, was ich wirklich mein nennen darf.“
Ein glücklicher Augenblick dictirte ihr (am 28. Juni 1879) die Worte: „Meine Ortrud ist mit kolossalem Erfolge vorbei, ich habe schön gesungen, gespielt und ausgeschaut, so sagt man mir wenigstens.“
Aber nur zwei Tage später eröffnet sie uns einen erschreckenden Einblick in ihr Inneres: „Meine Ortrud-Leistung,“ meldet sie der Freundin, „ist Seiner Majestät durch seinen Secretär und Regierungsrath Bürkel bekannt gemacht worden, ich bin heute zu Bürkel bestellt und stürze mich tout-de-suite en grande toilette. Wie gut, daß ich noch hier bin und höchstwahrscheinlich hier bleibe, obwohl ich schwere Ahnungen habe und die Folgen dieses Hierbleibens eine unabsehbare Reihe von Kummer und Herzweh sein wird. Ich werde eine große Künstlerin werden, wenn ich so weiter meinem inneren Leben folge, ich werde die Mitmenschen durch die Gewalt meiner Töne, durch das Gefühl hinreißen, begeistern, mein Herz aber wird von eben diesen Menschen zerrissen. Ich weiß, daß Du mich für närrisch hältst, nachdem Du diesen Brief gelesen. Immer glauben die Leute dasjenige für wahnsinnig, was sie nicht mehr begreifen. Ich lasse nur meine Seele sprechen, bringe die tausend Stimmen zu Papier, die in mir sich mächtig hören lassen. Ich muß all meine Geistes- und Körperkräfte zusammenraffen, um nicht wieder meinen unheilvollen Geistern zu verfallen, die mich peinigen, verfolgen.“
Und abermals zwei Tage darnach: „Ich erwarte meinen Mann mit Franzl! Hab’ ich nur erst meinen Bubi wieder!“
Im October desselben Jahres ist Hedwig in Paris. „Ich bin im Begriff, eine große Karriere zu machen,“ jubelt sie am 29. Sie hatte beim Probesingen an der Großen Oper so gefallen, daß ihr ohne Gastspiel sofort ein Antrag gestellt wurde. „Ich habe einen dreijährigen Vertrag abgeschlossen, man lobt vor Allem meine auffallend schöne Aussprache im Singen!“ – Aber diese Stellung konnte sie so wenig antreten, wie die am 8. April 1880 von Mailand angezeigte, von wo sie schrieb: „Hier sitze ich als Cantatrice della Scala, engagirt für drei Saisons, im Frühjahr mache ich meine erste Tour nach Amerika, Buenos-Ayres für 60,000 Franken und Benefiz in fünf Monaten.“ Aus Gesundheitsrücksichten mußte sie alle diese lachenden Pläne aufgeben und nach München zurückkehren, von wo sie am 26. April der Freundin mittheilt, daß sie seit ihrer Pariser Reise an einem constanten nervösen Schmerz leide. „Ich litt unsäglich und habe buchstäblich seit October keine Nacht geschlafen, der Schmerz wuchs, der Zustand drohte verhängnißvoll für meisten Beruf zu werden.“ Trotz alledem blieb auch jetzt noch guter Rath von ihr unbeachtet, denn der Brief schließt mit den Worten: „Mein Doctor kommt, wenn er mich schreiben sieht, wird er böse!“ -
Wenige Monate später begrüßen wir sie in Leipzig. Hier, wo damals unter der Oberleitung Angelo Neumann’s die Oper zu seltener Kunsthöhe emporblühte, stieg auch Hedwig Reicher-Kindermann wie im Sturme zur Höhe ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Ruhmes hinan. In kurzer Zeit hatte sich das ehrendste gegenseitige Verhältniß zwischen dem Publicum und ihr gebildet: sie belohnte die aufrichtige Bewunderung der Leipziger mit ihrer innigen Zuneigung und Liebe: ihre „große Familie“ nannte sie dieselben, und die Stadt war ihr so theuer, wie eine zweite Vaterstadt.
Nachdem unsere Künstlerin auf ihrem öffentlichen Lebensgange bis hierher geführt ist, gestatten mir nun die Leser, sie auch in die hiesige Häuslichkeit derselben zu führen, indem sie einem Besuche dorthin folgen. Bei einer solchen Größe sind auch kleine Beobachtungen ihrer Persönlichkeit und Umgebung der Theilnahme werth.
Vor mehr als Jahresfrist war es mir vergönnt, die nun geschiedene Künstlerin persönlich kennen zu lernen, und ihr Bild hat sich mir, sowie Allen, die sie gekannt, unauslöschlich eingeprägt. – Es war an einem Nachmittage des April vorigen Jahres, als ich mit meiner Freundin, die Frau Kindermann Grüße von einer ihrer Schwestern bringen sollte, an der einfachen, aber bekränzten Thür der Wohnung am Schletterplatz klingelte. Ein weißes Schild an der Thür zeigte die Inschrift: „Hedwig Reicher-Kindermann, Opernsängerin.“ Ein sauberes Dienstmädchen öffnete und ließ uns eintreten. In dem kleinen Vorsaal standen Schränke, auf denen eine Menge verdorrter Bouquets lagen. Das Mädchen führte uns in ein nicht sehr großes Zimmer, das in seiner originellen Drapirung der Wände mir unvergeßlich ist. Zahllose Lorbeerkränze schmückten das Heim der Künstlerin, sie bedeckten die Wände des Zimmers vollständig, hingen über dem Claviere und lagen auf demselben. Große Bilder der Künstlerin, sie als Isolde, Brunhilde, Carmen etc. darstellend, hingen an den Wänden, vom Lorbeer fast verdeckt, oder lagen auf Stühlen, eines lehnte sogar am Ofen. Blumen schmückten die Fenster, alles blühte und duftete.
Während wir noch unsere Umgebung betrachteten, ging die Thür leise auf, und Hedwig Kindermann erschien auf der Schwelle. Ein dunkelblauer Schlafrock, mit bunten Kanten verziert, umhüllte die hohe Gestalt. Das dunkle Haar war schlicht zurückgestrichen. Zuerst war die Künstlerin furchtbar stolz und unnahbar. Sie nötigte uns, Platz zu nehmen, und setzte sich dann zu uns. Ich saß dicht neben ihr und hatte Muße, denn ich brauchte ja die Grüße nicht zu bestellen, das schon gezeichnete Profil in der Nähe zu betrachten. Frau Kindermann hörte, zuweilen mit dem Kopfe nickend, ernst und schweigsam auf Das, was meine Freundin vorbrachte. Mir wurde dieser starren Ruhe gegenüber ganz unheimlich zu Muthe, und ich wäre am liebsten davon gelaufen. Wie bald änderte sich jedoch mein Sinn, denn plötzlich wurde sie eine Andere, ein ganz anderes Wesen, und ich saß, wie gebannt von der bezaubernden Liebenswürdigkeit der berühmten Sängerin, nun um so fester!
Ich wundere mich heute noch, woher Frau Hedwig Kindermann so plötzlich das Vertrauen nahm, mit dem sie uns, die ihr Fremden, von denen sie kaum den Namen wußte, nun in ihr Leben einweihte. Das Herz mußte ihr doch ganz voll davon sein, sodaß ein Ausströmen desselben ihr eine Wohlthat war. Vieles von dem oben Dargelegten, das mir freilich damals größtentheils unbekannt war, teilte sie nun so süß plaudernd, so offen und treuherzig mit, daß ich mich in eine ganz wunderbar gehobene Stimmung von Trauer, innigster Theilnahme und tiefer Ehrfurcht versetzt fühlte.
Sie erzählte uns mit ihrer tiefen, melodischen Stimme von ihrem guten Vater, ihrer todten Mutter, ihren Schwestern, ihrem Gatten und dem Kinde. Ihre Heirath mit Reicher erwähnte sie nur kurz, und ihre Stimme zitterte, als sie voll Wehmuth hinzufügte: „Mein Vater sagte damals zu mir: damit hast Du mir den größten Schmerz angethan!“
Am aufgeregtesten wurde sie, als sie von ihrem Kinde erzählte! Wie würde ich erst von ihrer Klage ergriffen worden sein, wenn ich damals schon den Brief gekannt hätte, den sie wenige [491] Tage vor unserm Besuch, während einer Gastspielreise nach Bremen, von dort an Adelheid Bernhardt geschrieben:
„Was wissen die Menschen, die meine Kunst bewundern, wie es in mir aussieht! Wer kann es begreifen, wenn ich beklatscht und bewundert da oben stehe, daß ich schlaflos die Nächte verbringe und nur eben mein Herzeleid mich der Kunst so voll und ganz in die Arme warf! Wenn nicht die liebevolle aufopfernde Pflege meiner jüngsten Schwester Toni wäre, wo wäre ich jetzt! Sie ist es, die mich dem verhaßten Leben erhalten hat – kann ich ihr's danken?! Du weißt, Adelheid, wie ich litt unter unseren Verhältnissen! Wie dem auch sei – ich schreibe Dir aufrichtig, wie ich fühle! Nie kann ich mehr hoffen, glücklich zu sein: Ich habe meinen Franzl verloren! Das ganze Weltall müßte zusammenstürzen, während ich diese Worte niederschrieb – Worte, welche der Ausschrei einer verzweifelnden, sich in Sehnsucht verzehrenden Mutter sind. – – Da hast Du mein Herz! So sehe ich aus, bedaure mich, wenn Du es vermagst.“
Dieser wilde Sturm des Schmerzes brach jetzt nicht wieder hervor. Sie erging sich in allerliebsten Erzählungen von ihrem „Bubi“, aber mit Thränen im Auge klagte sie wieder über die Trennung und seufzte tief auf : „Und ich habe mein Kind doch so sehr lieb!“ Mir wurde ganz weh um's Herz, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte ihr die Thränen weggeküßt.
Auch von ihrer schweren Krankheit im Centralhotel zu Berlin sprach sie, wo vier Aerzte das Bett der Typhuskranken umstanden hatten. Auf ihr kurz geschnittenes glattes Haar deutend, sagte sie lächelnd: „Das ist auch noch eine Errungenschaft jener schweren Zeit.“
So sprach sie noch viel, und aus Allem klang ihre große Herzensgüte, ihr mildes Urtheil und ihre begeisterte Liebe zur Kunst. „Es giebt ja oft Tage und Stunden, wo ich keine Silbe rede, aber wir Künstler sind einmal so, das muß eben unsere Umgebung ertragen lernen,“ sagte sie, als sie uns von der Güte ihrer Schwester Toni erzählte, die wir nun ebenfalls kennen lernten, denn sie kam in’s Zimmer und wandte sich so reizend naiv an die Schwester mit der Bitte:
„Hedwig, schenk’ mir zwanzig Pfennig!“
Hedwig lachte mit uns, befriedigte die Schwester und trug ihr noch auf, ja den Vogelbauer nicht zu vergessen. Sie bestellte ihr Haus noch, ehe sie ihre Reise nach England antrat!
Von London aus, wo sie als Brunhilde in „Walküre“ und „Götterdämmerung“, wie überall, unerhörte Erfolge erregt hatte, schrieb sie (am 26. Mai 1882) unter Anderem: „Das Neueste ist also, daß Neumann wahrscheinlich im October-November wieder hier und dann drei Monate in Amerika – New-York und Boston – sein wird. Trotzdem halte ich fest an meinem Vorhaben, nach Leipzig zurückzukehren. Denn mein Leipzig ist mir an’s Herz gewachsen und gäbe es nur ein Hoftheater, das ist München, wo ich wegen Papa gern wäre.“
Nach der Rückkehr von dieser Reise sollte sie doch nur gar zu bald ganz von Leipzig scheiden Der Abschied ist ihr schwer geworden. „Ach, jedes Blumentöpferl thut mir leid, was da bleibt, und ich muß fort!“ sagte sie, ihre schönen Blumen betrachtend.
Wir waren endlich aufgestanden und bewunderten die erstauliche Fülle der Lorbeerkränze. „Ja,“ sagte sie, „das ist auch mein Stolz.“ Und nun zeigte sie uns mehrere, die sie von ihr besonders theuren Personen oder bei besonders denkwürdigen Veranlassungen empfangen hatte, und schloß endlich lächelnd : „Ach, und da habe ich noch Körbe voll zu Hause.“
Eine nicht ganz gelungene Kreidezeichnung lehnte auf einem Stuhl, sie stellte sie als Isolde vor. Frau Kindermann erzählte uns, sie habe das Bild einem armen Schlucker für dreißig Mark abgekauft. Da aber manches auf dem Bilde nicht gut sei, so bessere sie es selbst aus. So war sie immer die Herzensgüte selbst! Man könnte davon unzählige Beispiele anführen, wie kein Armer ohne ein Mittagsbrod von ihrer Thür ging, wie sie einem armen Betteljungen fünf Groschen gab und dann entzückt ausrief: „Schauen’s nur das glückliche Gesicht, was der Jung’ macht!“
Und sobald schon mußte dies schöne Wesen sein Leben lassen! Seit diesem Besuche kann ich nicht an Hedwig Kindermann denken, ohne daß mir Schiller’s Vers vor Augen stände: „denn der Mächtigste von allen Göttern ist der Augenblick.“ Wenn je in erschütterndster Weise, hat sich die Wahrheit dieses großen Dichterwortes an Hedwig Kindermann dargethan. Sie lebte nur mit dem Augenblick: sie beherrschte ihn, wenn ihre Kunst es gebot, sie besiegte jeden Schmerz, wenn die Pflicht rief, sie errang ihre höchsten Triumphe durch ihre Herrschaft über den Augenblick; – aber ebenso gewaltig war der Sieg des Augenblicks über sie, wenn sie von der Bühne in’s Leben zurücktrat. Sie ließ sich vom Augenblick in den tiefsten Jammer wie zur äußersten Lust führen. Wohin er sie aber auch geführet, da hielt sie ihn fest. Ein solcher festgehaltener Augenblick der Freude war es, der sie nach ihrem letzten Triumph als Erda an jenem Abend in Triest beim „prächt’gen Krügel Pilsener“ in der tückisch schmeichelnden Mailuft gefangen hielt, bis der Schüttelfrost ihr den letzten Augenblick verkündete. Augenblicke um Augenblicke – aber die ihrer Kunst werden noch strahlen, wenn die andern längst verwischt sind.
Der Name Hedwig Reicher-Kindermann wird ewig in leuchtenden Lettern am Kunsthimmel prangen und weiter leben im Herzen Aller, die ihre bezaubernde Stimme gehört – ob auch der Leib zu Staub zerfällt, im Herzen Tausender bleibt Hedwig Kindermann ewig unvergessen.
Wo kommen unsere gefiederten Hausfreunde her?
Vor nahezu zwei Jahrzehnten schrieb mir Herr Karl Hagenbeck in Hamburg, Inhaber der größten Handelsmenagerie der Welt, zum ersten Mal, ich möge an einem bestimmten Tage im Monat Mai dort eintreffen, weil dann ein großes Schiff von Australien mit reicher Ladung an Schmuckvögeln anlange. Seitdem habe ich fast Jahr für Jahr einer derartigen Ankunft beigewohnt, und eine solche ist in der That bedeutsam und anregend genug, daß es sich wohl verlohnt, um ihretwillen eine Reise nach Hamburg zu unternehmen.
Je nach der Gegend, beziehentlich dem Welttheil, aus welchem das Schiff hergekommen, ergiebt sich der Anblick jedesmal als ein absonderlicher. Hier haben wir gegen zwei Dutzend große, stattliche Kakadus, in verhältnißmäßig engen Kasten zusammengedrängt, vor uns, und wenn wir ihnen zu sehr nahen oder durch eine rasche Bewegung sie erschrecken, so klappen sie ihre blutfarbigen Federschöpfe helmartig auf, und ihre ausdrucksvollen dunkeln Augen blicken so sprechend, daß wir uns wahrlich nicht zu wundern brauchen, wenn diese Vögel menschliche Worte verlauten lassen. Dort schwirrt und tobt es stürmisch durch einander; es sind rothe Cardinäle, deren sonst so sauberes, purpurnes Gefieder jetzt recht abgestoßen und angeschmutzt erscheint und unser Bedauern erregt. Jenen Versandkäfig bevölkern Hunderte von Prachtfinken, welche auf stufenweise angebrachten Stangen vor uns sitzen, uns sämmtlich die Köpfchen zuwenden und förmlich erwartungsvoll anschauen. Wiederum in einem andern Kasten kommen uns die Insassen, sobald wir nahen, schnatternd und meckernd entgegen; es sind keine Sittiche, Schmalschnäbel und Andere, und wehe uns, wenn wir die Hand hinein halten wollten, sie würden sofort alle vereinigt auf den Feind losgehen und uns mit ihren Kneifzangenschnäbeln gar empfindlich zusetzen. Vor einer besonders werthvollen Vogelsendung stehend, wird uns die Liebhaberei zunächst arg verleidet; Graupapageien empfangen uns nämlich mit solchem durchdringenden schrillen Geschrei, daß ungewöhnlich kräftige Nerven dazu gehören, um es ertragen zu können.
Jedes Schiff bringt, natürlich seinem Abfahrtsort entsprechend, verschiedene Arten von Vögeln mit, ja manchmal ganz unerwartete, denn die einander begegnenden Schiffe treiben, wie mit mancherlei anderen Dingen, auch mit den lebenden Vögeln unterwegs Kauf und Tausch. So habe ich selber gesehen, daß ein von Brasilien zurückkehrender Dampfer Webervögel aus Südafrika, ein Schiff von New-York Sonnenvögel aus China mitführte etc. Darin liegt erklärlicher Weise für den Liebhaber und Kenner ein ungemein [492] großer Reiz, ein gleicher Ansporn aber auch für die Händler. Wenn seltene Widafinken vom Cap, Papagei-Amandinen von Ostindien, besonders schöne und kostbare Prachtfinken von Afrika oder von Australien oder die seltensten Plattschweifsitiche und andere beliebte kleine Papageien zu erwarten sind, da giebt es einen gar erregten Wettstreit, und die Händler fahren dem Dampfer wohl viele Meilen weit in die See entgegen, um einander nicht allein den recht hübschen Ertrag, sondern auch die Ehre der Einfuhr streitig zu machen.
Zunächst wollen wir aber unsere Blicke in die Wildnisse lenken, in denen die Vögel gefangen oder sonst wie erbeutet werden. Die meisten von ihnen, wie die großen Schwärme von Wellensittichen, manchen Plattschweifsittichen, vielerlei Prachtfinken, auch kleinere Schaaren von Cardinälen, Staarvögel in zahlreichen Arten und andere mehr werden mit Netzen vornehmlich an der Tränke oder bei anderen Gelegenheiten eingefangen. Große, sprechenlernende Papageien, der Jako, die vielartigen Amazonen und andere werden von den Eingeborenen aus den Nestern gehoben oder doch als ganz junge Vögel aufgegriffen, dann, bis zum völligen Flüggewerden, besonders mit gekautem Mais aus dem Munde, aber auch mit Bananen und allerlei anderen Früchten aufgefüttert. Im Uebrigen betreibt man den Vogelfang in den fernen Gegenden mit all den Vorrichtungen und Hülfsmitteln, welche bei uns im Gebrauch sind; also mit Vogelleim, Schlingen, Netzen, Fallen. Manche kleine Papageienarten lassen sich dupfen, das heißt sie sind so harmlos, daß man vermittelst einer an eine Stange gebundenen Schlinge oder Leimruthe einen nach dem andern herabholen kann, ohne daß die übrigen verscheucht werden, bis die ganze Schaar im Käfig sich befindet. Die eingefangenen oder aus den Nestern geraubten und aufgefütterten Vögel werden sodann nach den Küstenstädten zum Verkauf gebracht. Wo es sich verlohnt, harren ihrer besondere Aufkäufer, die sie in möglichst großer Anzahl nach Europa bringen, so erwirbt man z. B. die Graupapageien in Afrika und die Wellensittiche in Australien. Ueberall anderwärts aber hängt der Handel vom Zufall ab. Das Schiffsvolk, die Matrosen, der Steuermann, der Koch und selbst die Officiere, ebenso die Reisenden, Jeder erhandelt in den Küstenstädten, beziehungsweise den verschiedensten Plätzen des Handelsverkehrs überhaupt, allerlei Gefieder. Nach den Hauptpunkten des derartigen Verkehrs senden heutzutage die Großhändler von Europa aus schon ihre Agenten, und dieser ganze Vogelhaudel entfaltet eine Rührigkeit, die man in der That mit Staunen betrachten muß.
Hoch obenan unter den Großhändlern des Thierhandels im Allgemeinen steht Karl Hagenbeck und neben ihm seine Schwester Christiane Hagenbeck, welche schon seit einer langen Reihe von Jahren den Vogelhandel dieses Geschäfts in der Hand hat. Dann folgen in ziemlich gleicher Bedeutung Chs. Jamrach[WS 1], A. H. Jamrach und I. Abrahams in London, William Croß in Liverpool, H. Fockelmann[WS 2], H. Wucherpfennig und H. Möller in Hamburg, J. H. Dieckmann in Altona, N. Welsch in Bremerhafen. E. Reiche in Alfeld bei Hannover, welcher einen großartigen Canarienausfuhrhandel nach Nordamerika betreibt und eine Filiale in New-York besitzt, importirt amerikanische Vögel in großer Anzahl, und ähnlich, wenn auch nicht in demselben Maße, L. Ruhe, gleichfalls in Alfeld. Dazu kommen dann noch eine Anzahl von Händlern, welche von den west- und südamerikanischen Hafenstädten aus Vögel importiren, so namentlich mehrere Firmen in Bordeaux, Marseille und G. Singer in Triest. Weiter führen die Händler, welche alljährlich in mehr oder minder großer Anzahl Canarien nach Rußland verhandeln, auch wiederum Vögel von dort, wie Lafurmeisen, Carmingimpel, Hakengimpel und andere mehr, mit. Den Beschluß in diesem ungemein regsamen Verkehr machen die sächsischen und böhmischen Händler, welche Singvögel aus dem Südosten zu uns nach dem Norden und Nordwesten alljährlich in beträchtlicher Anzahl überbringen, so Stein- und Blaudrosseln, Orpheus- und andere Grasmücken, dann namentlich Sprosser, Nachtigallen, Schwarzköpfchen und andere.
Die Vogelhandlung von Chr. Hagenbeck empfängt allein jährlich 50,000 bis 60,000 Köpfe fremdländischer Vögel, und mit ihr wetteifern alle übrigen genannten Großhandlungen, während noch zahlreiche keinere Händler in den Hafenstädten, unter denen ich wenigstens G. Lintz in Hamburg erwähnen will, im Ganzen sicherlich gleichfalls 50,000 Köpfe jährlich erlangen. Wenn wir sodann die in Frankreich, Holland, Italien und Südösterreich thätigen Importeure berücksichtigen und die Gesammteinfuhr überblicken, von den gemeinsten Prachtfinken, welche in Schiffsladungen zu 1000 Köpfen und mehr ankommen, bis zum seltensten Papagei, der in einem Exemplare zum ersten Mal herüber gebracht wird, so dürfen wir die alljährlich in den Handel gelangenden fremdländischen Vögel auf mindestens 500,000 Köpfe veranschlagen. Diesen außerordentlich großartigen Verkehr vermittelt für Deutschland, Oesterreich, die Schweiz und zum Theil auch für Holland und Belgien meine Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ (Berlin, Louis Gerschel), für Frankreich „L’ Acclimitation“ (Paris, Deprolle), für Belgien „L’ Acclimitation Illustrée“ (Brüssel, Ed. de Wael); auch sämmtliche Geflügelzeitungen in Deutschland bringen beiläufig bezügliche Annoncen, dasselbe thun auch einige ornithologische Vereinsblätter und dann gelegentlich die englischen Sportzeitungen.
Bedeutsam für den Handel mit fremdländischen Vögeln, wie für den Thierhandel überhaupt, sind die alljährlich zweimal stattfindenden öffentlichen Versteigerungen der „Sociéte d’ Acclimitation“ von Antwerpen. Als Hauptorte des Vogelhandels zweiter Hand sind Berlin, Wien, Leipzig, Dresden, Prag zu nennen. Wenn ich beiläufig darauf hinweise, daß der Ertrag der Canarienvogelzüchtung in Deutschland im Durchschnitt jährlich 300,000 bis 450,000 Mark beträgt, daß dazu eine Summe von mindestens 20,000 bis 80,000 Mark als Ertrag der Züchtung von Wellensittichen, mancherlei anderen Papageien und namentlich mannigfachen Prachtfinken hinzukommt, so darf ich den Umsatz des gesammten Vogelhandels wohl zweifellos auf 800,000 bis 1,000,000 Mark jährlich schätzen.
Aber nothgedrungen müssen wir auch einen Blick auf die düsteren Punkte im Vogelhandel werfen. Gefahren und Trübsal beginnen für den Vogel von dem Augenblick des Einfangens an, dann folgen sie noch mehr beim Transport aus dem Inneren nach der Küste und im höchsten Maße während der langen Seefahrt. Aus dem Innern her werden die Vögel meistens auf weiten Reisen und unter großen Beschwerden in Behältern, in welchen sie nichts weniger als wohl sich fühlen können – so z. B. die Graupapageien in langen, röhrenförmigen Körben, welche die Neger über der Schulter tragen – nach den Hafenstädten gebracht. Hier sperren sie die Aufkäufer sodann meistens in schmutzige, enge Behälter, und noch viel schlimmer ist dieses Verhältniß in der Regel auf der Seefahrt. In recht ungeeigneten Versandvorrichtungen werden die Vögel übergeführt; aus einfachen Holzksten, die zum Verschicken von irgend welchen Waaren nach jenen fernen Ländern gedient haben, stellt man in der Weise Käfige her, daß die vordere Seite herausgeschlagen und durch ein Drahtgitter ersetzt wird, oder man hat auch besondere, aber nicht minder einfache Holzkisten aus rohen Brettern, ebenso blos an der Vorderseite vergittert. Damit die Vögel beim Füttern nicht entweichen können, werden ihnen die Schwingen an einem, manchmal auch an beiden Flügeln verschnitten. Dies geschieht fast regelmäßig bei den meisten Papageien, und bei ihnen gerade ist es besonders zu bedauern, weil die Federstümpfe schwer ausfallen und die neuen Schwingen sehr langsam nachwachsen. An den Versandkäfigen mangelt fast immer eine Vorrichtung zur Reinigung, nur bei wenigen ist an der Vorderseite eine bewegliche Leiste zum Oeffnen vorhanden, sodaß vermittelst eines eisernen Hakens der Koth herausgekratzt werden kann. Zu bedauern ist es auch, daß die meisten derartigen Versandkisten gar nicht einmal Futtergefäße haben, sondern daß die Nahrung für die Vögel ohne weiteres auf den schmutzigen Boden geschüttet wird. Aus alledem ergeben sich bereits Uebelstände, welche nur zu unheilvoll wirken.
Auf dem Schiffe kommen nun noch weitere Beschwerden hinzu. In der Enge, in welche die bedauernswerten Vögel zusammengepfercht sind, entsteht zunächst eine unheilvolle Schwüle, welche im Schiffsraum, insbesondere auf den Dampfschiffen, durch die Hitze der Maschine, durch Qualm und Dunst gesteigert wird, oder die Vögel stehen ganz draußen auf dem Verdeck und sind allen Unbilden der Witterung preisgegeben. So lange die aus den Tropen mitgenommenen Futtermittel, welche die Vögel von Jugend auf kennen, ausreichen und in gutem Zustande bleiben, geht es noch, dann aber beginnt entweder die Einwirkung verdorbenen Futters oder die nur zu schwierige Gewöhnung an Ersatzmittel, welche den Thieren meistens nicht einmal zuträglich sind. Sodann macht sich auch der Einfluß des fremden Klimas geltend, und die nun beginnende Sterblichkeit erreicht den höchsten Grad,
[493][494] sobald die Vögel bei den Händlern zweiter Hand und schließlich bei den Liebhabern an noch andere, wenn auch durchaus zuträgliche Futtermittel und an fremdes Trinkwasser gewöhnt werden.
Dies gilt im Wesentlichen nur von den großen sprachbegabten Papageien, insbesondere von dem Jako oder Graupapagei; alle übrigen Vögel oder doch fast alle, nur mit Ausschluß einer geringen Anzahl, ertragen die geschilderten Reisebeschwerden in wahrhaft staunenswerther Weise, sterben nur in verhältnißmäßig unbedeutender Anzahl, erholen sich dagegen, wenn sie auch noch so zerlumpt im Gefieder und beschmutzt ankommen, auffallend schnell, mustern sich auf das Beste heraus und beginnen nach überraschend kurzer Frist ihre höchste Lebensthätigkeit, eine fröhliche und erfolgreiche Brut.
Seit langen Jahren führe ich in meiner Zeitschrift „Die gefiederte Welt“ und in meinen Hand- und Lehrbüchern einen ernsten Kampf gegen die erwähnten unseligen Verhältnisse, aber nur allmählich läßt es sich erreichen, daß im Laufe der Zeit Bildung und Kenntniß und damit dann auch Humanität, milde und liebevolle Behandlung der Thiere bei jenen rohen Menschen, durch deren Hände der Handel mit unseren gefiederten Lieblingen geht, geweckt werden.
Eine unbegründete Voreingenommenheit herrscht übrigens im Allgemeinen gegen die Händler. Selbst in manchen naturgeschichtlichen Werken wird ihnen noch vorgeworfen, „daß ihre Buden von Schmutz starren, daß sie die Vögel roh und grausam behandeln und schlecht verpflegen“ – wer aber dergleichen behauptet, kennt die Verhältnisse nicht. Es würde in der That einem Händler große Verluste bringen und sein Geschäft nur zu bald dem Verfall entgegenführen, wenn er derartig verfahren wollte. Vielmehr ist es eine Lebensfrage für ihn, daß er die Vögel zweckmäßig halte und mit aufmerksamer Beachtung aller im Lauf der Zeit gewonnenen Erfahrungen verpflege. Eine andere Handlungsweise würde ihm, zumal die Concurrenz jetzt auf diesem Gebiet eine außerordentlich regsame ist, wohl schnell gründlich verleidet werden. In der That darf ich sagen, daß die Vogelhändler in Deutschland und auch in allen übrigen genannten Ländern die eifrigsten Leser meiner Bücher und folgsamsten Schüler meiner Anleitungen zur praktischen Vogelpflege sind. In Hamburg u. a. finden wir heutzutage bereits elegant und geschmackvoll ausgestattete Vogelhändlerladen, und selbst diejenigen, welche man als Schmierbuden zu bezeichnen pflegt, ergeben sich für den verständnisvollen Blick doch als zweckmäßig eingerichtet, mindestens aber werden in allen Fällen die Vögel gut behandelt und sorgfältig verpflegt.
In jeder Wochennummer der „Gefiederten Welt“ sehen wir im Anzeigenteil viele Dutzend Arten und Hunderte von Exemplaren ausgeboten und zwar so, daß jede Jahreszeit ihre bestimmten Vögel zur Geltung bringt. Ebenso bietet dieser Vogelmarkt zu regelmäßiger Zeit den massenhaften Ertrag der Canarienvogelzucht, ferner die Züchtungsergebnisse fremdländischer Finkenvögel und Papageien, sodann einheimische Vögel, von den Sprossern der Bukowina, den Nachtigallen, Schwarzplättchen und mancherlei anderen aus den östeereichischen Landen bei uns zum Verkauf kommenden vorzüglichen Sängern, den abgerichteten Dompfaffen aus Thüringen, bis zu Hänfling, Zeisig und Stieglitz aus dem nächsten Hain.
Bei dieser Aufzählung erschrickt wohl mancher begeisterte Vogelfreund und empfindsame Thierschützer und schreit Ach und Wehe über den Vandalismus, der in solchem Vogelhandel liege – aber jedes Ding hat doch seine zwei Seiten, und bevor man ohne weiteres den Stab bricht, wolle man mir, der doch im Laufe von einem Vierteljahrhundert für den praktischen und tatsächlichen Vogelschutz gewirkt hat, einmal das Wort gestatten.
Vor Allem halte ich mich an den alten Ausspruch: Thatsachen reden – in diesem Falle nämlich haben wir die Thatsache vor uns, daß zunächst jene vielen Tausende der in den Handel gebrachten Vögel stets ihre eifrigen Abnehmer finden, ferner daß die Käufer die Vögel keineswegs mehr, wie es wohl in früherer Zeit geschah, lediglich als Spielzeug betrachten, denn dazu haben dieselben ja heutzutage doch zu hohe Preise, sondern sie vielmehr stets und überall liebevoll und mit Verständniß auf Grund ausreichender Kenntnisse verpflegen.
Sodann aber hat der Stubenvogel in der Häuslichkeit anerkanntermaßen einen hohen erziehlichen Werth, indem er den Sinn der Jugend zu naturgeschichtlichen Dingen hinlenkt, Neigung für die Natur erweckt und schließlich zum ernsten Studium führt. So bilden die Vögel nicht allein einen Schmuck, sondern auch einen beachtenswerthen Gegenstand der Anregung und Belehrung in der Familie. Ferner giebt es viele Leute, welche durch kenntnißvolle und erfolgreiche Züchtung von Stubenvögeln oder durch Zähmung und Abrichtung von sprachbegabten Papageien sich einen bedeutsamen Nebenerwerb zu verschaffen vermögen. Weiter sind die Vögel dadurch, daß sie zu geringen Preisen in ihren Heimathsländern eingekauft, dann hier durch zweckmäßige Behandlung am Leben erhalten, eingewöhnt und nun für hohe Preise verkauft werden können, zu einem wichtigen Handelsgegenstande geworden. Schließlich ist es gewiß nicht zu unterschätzen, daß einerseits durch den Vogelhandel zahlreiche Arten überhaupt erst zu uns und in die wissenschaftlichen Sammlungen gelangten, und daß andererseits durch die Züchtung solcher bisher kaum bekannten Vögel deren Lebensweise, Nest, Eier, Nest- und Jugendkleid, Winter- und Sommerkleid, Geschlechtsunterschiede etc. beschrieben und also Forschungen gemacht werden konnten, zu denen die Reisenden in den fernen Weltgegenden vielleicht noch in vielen Jahrzehnten nicht gelangt wären. Das zoologische Museum von Berlin hat im Laufe der Jahre aus meiner Vogelstube viele Arten im Jugendkleide und zugleich eine beträchtliche Anzahl von lebend eingeführten Vögeln, welche es überhaupt noch nicht besaß, empfangen.
Im fernen Westen Nordamerikas, tief in der Wildniß und weit ab von jeder Civilisation, haben sich eine Anzahl Deutscher versammelt, welche meistens aus großen Entfernungen herbeigekommen sind. Vor ihnen steht ein Vögelchen aus der alten Heimath, ein deutscher Dompfaff oder Gimpel, dessen eingelernte Lieder, „Die Wacht am Rhein“ und „Ein Sträußchen um Hute“ Erinnerungen wecken und den bärtigen Männern Thränen in die Augen locken. So trägt ein Vögelchen deutsche Gemüthlichkeit in die weite Ferne, stärkt den Sinn für deutsche Sitte bei Denen, die vom alten Vaterlande losgerissen und in die Prairie oder den Urwald verschlagen sind!
Ein Gründer des sechszehnten Jahrhunderts.
Es liegt nahe, daß die große kirchliche Revolution des sechzehnten Jahrhunderts und die mit derselben im engsten Zusammenhange stehenden politischen Unruhen des Bauernaufstandes, sowie des Württembergischen und Schmalkaldischen Krieges auch einen wesentlichen ungünstigen Einfluß auf den Handel Deutschlands gehabt haben. Die großen süddeutschen Handelsfirmen, wie die Fugger und die Welfer in Augsburg, welche noch im ersten Drittel des sechszehnten Jahrhunderts fast den gesammten ausländischen Import nach Deutschland beherrschten, verloren bedeutend an Einfluß und mußten denselben den holländischen und englischen Kaufleuten überlassen. An Stelle der gerühmten deutschen Solidität der guten alten Zeit trat mit dem Niedergange des deutschen Handels die Speculation und zwar gleich in so gefährlicher Form, daß unsere modernen Gründer gegen die jener Zeit noch als lichte Engel erscheinen.
Als Mittelpunkt des Binnenhandels im obersächsischen Kreise galt damals Leipzig, und Magistrat wie Staatsregierung gaben sich redlich Mühe, ihm diesen Ruf zu erhalten. Im Frühling des Jahres 1578 kam der Inhaber einer bedeutenden importirenden Firma der Stadt Augsburg, Conrad Roth, nach Dresden, um Kurfürst August von Sachsen zur Unterstützung einer großen kaufmännischen Unternehmung, die für den Aufschwung des sächsischen Handels von hervorragender Bedeutung werden sollte, zu bestimmen. Der Fürst ließ zunächst durch seinen Gesandten im Haag, Hubert Languet, genaue Erkundigungen über Roth einziehen, und da diese sehr günstig für denselben ausfielen, so lehnte er zwar eine staatliche Beihülfe ab, versprach aber seine Betheiligung an dem Unternehmen mit Privatmitteln und wies den Kaufmann an einen der reichsten Leute der Stadt, an den kurfürstlichen Kammermeister Hans Harrer, dem jener seine Pläne eingehend aus einander setzte. Darnach hatte Roth – und an dieser Thatsache läßt sich in keiner Weise zweifeln – mit dem Könige Sebastian von Portugal einen Vertrag abgeschlossen, nach welchem er demselben 400,000 Gulden, die zur Bestreitung der Expedition des portugiesischen Königs gegen Marokko nöthig waren, zahlen sollte; als Aequivalent für diese Leistung hatte Portugal die Lieferung ganz enormer Quantitäten Gewürze, namentlich Nelken, Muscat und Pfeffer an Roth übernommen.
[495] Dieser selbst hatte bereits aus eigenen Mitteln dem Könige 100,000 Gulden vorgestreckt, worüber die portugiesischen Originalquittungen zur Prüfung vorlagen, und dafür mehrere Schiffsladungen Pfeffer erhalten, die theils noch in Häfen Portugals, theilweise schon in Augsburg lagerten. Es handelte sich nun für Roth darum, Theilnehmer, welche die übrigen 300,000 Gulden aufbrächten, für sein großartiges Unternehmen zu gewinnen, das, wenn es glückte, dem Anscheine nach von außerordentlicher Rentabilität sein mußte. Harrer, der die Augsburger Firma Conrad Roth seit Jahren als zahlungsfähig und solid kannte und durch die glänzenden Referenzen welche der Kaufmann bei sich führte, bestochen wurde, erklärte sich bereit, mit 300,000 Gulden der zu gründenden Handelsgesellschaft als Actionär beizutreten.
Nun begab sich Roth nach Leipzig und trat in gleicher Weise mit den Directoren der großen Thüringischen Handelsgesellschaft in Unterhandlung. Dieses für den sächsischen Handel außerordentlich segensreiche Konsortium hatte es sich zur Aufgabe gestellt, Sachsen und die angrenzenden Länder mit überseeischen Producten zu versorgen, und es gelang daher Roth, der mit der genannten Handelsgesellschaft schon früher in Handelsbeziehungen gestanden hatte, leicht, auch sie zur Theilnahme an dem großen Actienunternehmen, wie wir es heute nennen würden, zu bestimmen. Wir erwähnen dies ausdrücklich, um unseren Lesern zu zeigen, daß es keineswegs einfältige und beschränkte Leute waren, die Roth zum Opfer fielen, sondern die gewiegtesten Großhändler und Fachleute von Ruf und Ansehen. Auch der Kurfürst selbst sprang nunmehr mit einer größeren Summe als Theilnehmer ein.
Als Hauptstapelplatz für die einzuführenden Gewürze wurde Leipzig bestimmt, und der Magistrat der Stadt ließ im Gewandhause, dem berühmten großartigen Leipziger Kaufhause, in Anbetracht der großen Wichtigkeit des Roth’'schen Unternehmens gewölbte Hallen zur Niederlage sowie für den Verkauf der Gewürze herstellen. Nach einigen Monaten trafen denn auch mehrere Trains mit Pfefferladungen ein, welche selbst die ängstlichsten unter den Actionären der portugiesischen (Gesellschaft vollkommen beruhigten und wegen der ausgezeichneten Qualität der Waaren und ihrer Wohlfeilheit einen so bedeutenden Absatz erzielten, daß die alten Handelsfirmen, welche bisher den Import der überseeischen Gewürze für die Leipziger Messen besorgt hatten, mit dem großartigen neuen Unternehmen nicht mehr Schritt halten konnten und sich theilweise ganz vom Markte zurückziehen mußten.
Wie großartig aber und umfassend Conrad Roth sein kaufmännisches Unternehmen auffaßte, geht daraus hervor, daß derselbe, mit der bisherigen langweiligen Postverbindung nicht zufrieden, die Einrichtung einer neuen Post für Personen, Briefe und Handelsgüter mit größerer Fahrgeschwindigkeit für alle bedeutenderen Handelsplätze Deutschlands vorschlug und die Kosten der gesammten Anlage auf eigene Rechnung übernehmen wollte. Leipzig sollte der Mittelpunkt dieser neuen Poststraßen werden, von dem nach Nürnberg und Augsburg 25 Stationen, nach Hamburg und Lübeck 10, nach Prag 12, nach Lyon durch die Schweiz 35, nach Danzig und Königsberg 49 führen sollten; Oesterreich, Dänemark, Schweden und Italien sollten ebenfalls in diese Postrouten hineingezogen werden, und ein Brief nach den meisten Orten Mitteldeutschlands, wie Braunschweig, Magdeburg, Berlin, sollte nur einen halben Groschen, nach Wien, Hamburg, Lübeck, Frankfurt am Main nur anderthalb Groschen kosten! Der Kaiser aber, an den sich der Kurfürst mit der Bitte um Genehmigung der neuen Posteinrichtung wandte, lehnte den Antrag mit dem Hinweis auf die Zerrüttung des kaiserlichen Postwesens, die nothwendig durch die Einrichtung neuer Poststraßen herbeigeführt werden würde, ab.
Bis zu diesem Zeitpunkte kann man das Unternehmen Conrad Roth’s, der sich nach Allem, was wir bisher von ihm gehört haben, als Kaufmann von großer Gewandtheit, ungewöhnlichem Unternehmungsgeist und weitsichtigem Blick gezeigt hatte, wenn es auch auf gewagter Speculation basirte, nicht gerade als ein unsolides bezeichnen. Der erste große Erfolg hatte ungefähr dieselbe verlockende Wirkung auf die Capitalisten jener Zeit, wie die Auszahlung der hohen Dividenden der Gründer in unseren Tagen; man drängte sich von allen Seiten zur Theilnahme an dem lucrativen Geschäft, und die Warnungen der besonneneren Leute verhallten unbefolgt. Da trat ein Ereigniß ein, welches außer der kaufmännischen Berechnung lag und das, je unerwarteter es kam, desto stärker den trügerischen Boden eines solchen Geschäftes erschüttern mußte.
Der große Kriegszug, welchen König Sebastian von Portugal gegen die mohammedanischen Bewohner Marokkos unternommen hatte, schlug zu Ungunsten der christlichen Waffen aus; der heldenmüthige Führer der Expedition selbst und die Edelsten des Landes fielen in einer mörderischen Schlacht, und Phllipp der Zweite, dem nach dem Tode des Cardinals Heinrich das herrenlose Königreich von Portugal nach alten Verträgen zufiel, ließ dasselbe durch den Herzog Alba für die Krone von Spanien in Besitz nehmen.
Die Folge dieser Ereignisse war, daß Handelsstockungen in den portugiesischen Häfen eintraten und auch für die Leipziger Importgesellschaft der fernere Bezug der Gewürze aus Portugal aufhörte, da das neue Regiment in Lissabon nicht gewillt schien, den Verpflichtungen des todten Königs gegen seine Gläubiger nachzukommen. Natürlich erhielt auch der Credit der Firma im Gewandhause in Leipzig einen argen Stoß, und die Theilnehmer derselben bestürmten in der Panik, unter deren Macht sie standen, ihren Dirigenten ängstlich, Mittel und Wege zu schaffen, die sie vor dem drohenden Fallissement retten könnten. Conrad Roth, welcher bei seiner Speculation so unglückliche Begebenheiten, wie die eingetretenen in Portugal, nicht in Betracht gezogen hatte und der mißlichen Lage der Dinge keineswegs gewachsen war, wußte sich selbst keinen Rath, tröstete aber, so gut er vermochte, die ungestümen Dränger damit, daß er von Augsburg, wo er sich damals gerade aufhielt, nach Lissabon gehen wolle, um seine Sache in Portugal selbst zu vertreten.
Wenige Tage darauf traf am kurfürstlichen Hofe die Nachricht ein, daß Roth plötzlich gestorben sei, und dieselbe stand bald, trotz aller gegentheiligen Gerüchte, unzweifelhaft fest. Nachdem der Kaufmann den ganzen Tag über in seiner Schreibstube zu Augsburg beschäftigt gewesen, habe er des Abends auf sein Pult beim Fortgehen geschrieben: „Morgen früh will ich verreisen!“ Beim Morgengrauen sei er auch wirklich mit seinem portugiesischen Diener weggeritten, aber nur bis zu einem Dorfe in der Nähe von St. Gallen gekommen und hier in der Nacht nach seiner Ankunft plötzlich gestorben. Der Rath von Augsburg jedoch habe in der Vermuthung eines Selbstmordes und zur Sicherstellung der Thatsache seines Todes einen vereidigten Arzt nach dem Dorfe geschickt, der die wieder ausgegrabene Leiche untersucht und gefunden habe, daß Roth an Gift gestorben sei. Der Kaufmann hatte sich aus Verzweiflung über seine mißglückte Speculation den für ihn unlösbar gewordenen Verpflichtungen durch einen freiwilligen Tod entzogen. Die Insolvenzerklärung der Firma Roth folgte, wie sich unsere Leser denken können, diesem Ereignisse auf dem Fuße.
Die meisten unserer Leser werden sich wohl noch der Schreckenstage erinnern, die der jähe Zusammenbruch der meisten schwindelhaften Actienunternehmungen der Gründerzeit in Deutschland hervorrief, und des unsäglichen Elends, welches damit über so viele reelle Handelshäuser hereinbrach. Aehnlich muß es damals auch in Sachsen und namentlich in Leipzig gewesen sein, als die furchtbare Nachricht vom vollkommenen Zusammenbruche des Roth’schen Unternehmens und von dem Tode des Conrad Roth aus Augsburg ankam. Wir können leider keine Auskunft darüber geben, wie viele Opfer dieser ersten Gründung gefallen sind, nur das können wir an der Hand unserer Quellen nachweisen, daß ihre Zahl nicht unbeträchtlich gewesen sein kann. Von der großen thüringischen Importgesellschaft, die auf sehr soliden Grundlagen ruhte, wissen wir, daß sie die Verluste, welche sie durch den Zusammenbruch der Gründung Conrad Roth’s erlitt, aushielt und noch lange Zeit zum Segen der Elb-, Mulde- und Saalegegend arbeitete. Ueber einen Capitalisten aber, der sich mit dem Augsburger Kaufmanne am tiefsten eingelassen und auch bei dem Sturze desselben die meisten Verluste erlttten hatte, finden wir genauere, archivalische Nachrichten, nämlich über den Kammermeister des Kurfürsten August von Sachsen, Hans Harrer. Dieser, der für den reichsten Mann Sachsens galt, war nicht stark genug, um den Verlust seines Vermögens und dazu noch die täglichen Vorwürfe seines Herrn, des Kurfürsten, zu ertragen. In seiner Verzweiflung schloß er sich Nachmittags in die kurfürstliche Silberkammer ein und schnitt sich den Hals ab. Nach dem grausamen Brauche der Zeit wurde die Leiche des unglücklichen Mannes Nachts um zwölf Uhr durch den Diebeshenker zum Fenster hinausgestürzt, auf einen Schinderkarren geworfen und unter dem Galgen eingescharrt. Der Kurfürst zog die Hinterlassenschaft Hans Harrer’s, in welcher sich namentlich sehr reiche Silberschätze befanden, an sich und machte sich für seinen Verlust, den er bei dem ominösen Pfefferhandel Roth’s erlitten hatte, so gut er konnte, bezahlt.
Uebrigens bemühte sich August vermittelst seiner diplomatischen Beziehungen in Spanien, den Niederlanden und Italien durch Arrestationen auf Roth’sche Güter, die hier und dort noch in den Häfen lagerten, seinen Unterthanen den erlittenen Verlust nach Möglichkeit zu verringern. Das Pfefferlager in Leipzig kaufte ein Augsburger Handelshaus für nahezu 100,000 Gulden an.
Wie gewaltig aber der moralische Eindruck über den Zusammenbruch dieser ersten deutschen Gründung im Volke war, läßt sich daraus schließen, daß sich um den Namen Conrad Roth’s ein ganzer Sagenkeis geschlungen hat, der ihn als einen zweiten Rattenfänger von Hameln erscheinen läßt. Die Historie des Kurfürstenthums Sachsen sowie die Meißnische Chronik, welche kaum 100 Jahre später verfaßt sind, erzählen schon ganz grausige Geschichten von Roth.
Nach ihnen schlug der Speculant den Leipziger Kaufleuten vor, ihm eine Anzahl junger Leute aus den Familien der am meisten beteiligten Actionäre zur Begleitung nach Lissabon mitzugeben, damit dieselben sich selbst an Ort und Stelle von den großen Vorräten von Gewürzen, die für ihn in den portugiesischen Häfen lagerten, überzeugen könnten. Man ging in Leipzig auf den Vorschlag ein, und Roth reiste mit seinen Begleitern nach Portugal ab. Dort angesammelt lockte er die unerfahrenen jungen Leute auf ein Schiff, fuhr mit ihnen, um eine vor dem Hafen liegende Insel zu besuchen, auf die hohe See hinaus und – kehrte mit den Schiffsleuten allein auf einem Boote nach Lissabon zurück. Das Schiff, so lautete die Erzählung Roth’s, sei leck geworden und mit seinen Insassen untergegangen, nur er und die Schiffer hätten sich noch rechtzeitig auf ein Boot retten können.
Die Wahrheit aber, wie sich durch die Aussagen eines seiner Spießgesellen ergeben hätte, den man später in Augsburg henken ließ, wäre die gewesen, daß der raffinirte Bösewicht in der Nacht, als die Aermsten im ersten Schlafe gelegen, das Schiff anbohren lassen und sich selbst mit den Schiffsleuten, die in seinem Sold gestanden, auf ein Boot gerettet hätte. Conrad Roth wäre darauf katholisch geworden und hätte sich mit seinem Gelde in ein portugiesisches Kloster geflüchtet!
Ganz so schlimm war nun Conrad Roth, wie die Leser der „Gartenlaube“ gesehen haben, noch nicht gewesen, aber die gute Stadt Leipzig und ganz Sachsen hatte doch auf Jahrzehnte mit dieser ersten Probe einer „Gründung der guten, alten Zeit“ genug!
[496]Blätter und Blüthen.
Der welsche Sackpfeifer. (Illustration S. 493.) Der Künstler unserer Illustration, Genremaler Conrad Grob, ist, wie er selbst kein Jüngling, auch unsern Lesern kein Neuling mehr. Schon im Jahrgang 1860 der „Gartenlaube“ (Seite 653) brachten wir von ihm ein „Gefängniß in Neapel“ und im folgenden Jahrgang (Seite 173) die Festung „Gaeta“, dann seine „Maler aus der Studienreise“ 1873 (Seite 467). In den beiden ersten Bildern zeigte der Künstler sich noch in den Jahren seiner Entwickelung, im letzten bereits auf der Höhe seiner Leistungen. Conrad Grob ist ein Schweizer, 1828 zu Andelfingen im Canton Zürich geboren, eines Bauern Sohn. Seine Künstlerlaufbahn wurde ihm nicht leicht gemacht. Nachdem er drei Jahre lang, von 1842 bis 1845, in Winterthur einen guten Grund in der Kunst hatte legen können, war er genöthigt, die Mittel, die ihm die Thore einer Kunstakademie öffnen sollten, sich selbst zu erwerben. Er griff muthig zum Wanderstab und ging ohne Weiteres nach Italien, wo er nun seine doppelte Aufgabe, zu lernen und zu gleicher Zeit zu verdienen, mit aller Beharrlichkeit verfolgte. Dennoch war es ihm erst 1885 vergönnt, in München sein Ziel zu erreichen; er ward Zögling der Akademie und Schüler des Professors Arthur von Ramberg. Außer den obengenannten Bildern werden von seinen späteren Erzeugnissen hervorgehoben: „Die gefangene Maus“, „Italienische Bettelkinder“, „Die Portraitirung eines Bauernmädchens“, „Der Besuch auf der Leiter“, „Sonntagnachmittag in der Schweiz“, „Vater Pestalozzi“ etc. Wie schon diese kurze Auszählung andeutet, sucht Conrad Grob am liebsten seine Stoffe in den ländlichen Volkskreisen, die er voll Leben und Anmuth darzustellen weiß. Ein wahrhaft herzerfreuendes Beispiel dafür ist das vorliegende Bild seines italienischen Sackpfeifers. Diese Kindergruppen können der lieblichsten Erscheinung im Leben nicht sorgfältiger abgelauscht werden, und wie zart und sinnig hat er in der Scene, die nur einen freudigen Eindruck auszuüben bestimmt ist, auch eine stille und doch deutlich genug sprechende Klage angebracht: der traurige Blick, den das arme welsche Kind auf den dickbackigen Knaben wirft, der mit so sichtlichem Behagen in sein großes Butterbrot beißt. An der Tracht des großen Mädchens oben auf der Treppe erkennt man, daß dieses Stückchen Kinderlust auf Schweizerboden spielt.
Neuer Versuch zur Enthüllung eines alten Geheimnisses. Die „Gartenlaube“ hat im Jahrgang 1863 (S. 300 u. 309) in dem illustrirten Artikel „Ein geheimnißvolles Grab“, ferner 1866 (S. 379) in dem Artikel „Zwei fürstliche Geheimnisse neuerer Zeit“ und endlich 1867 (S. 416) in der Notiz „Ein Ruck am Schleier des Geheimnisses“ die unheimliche Geschichte von dem Menschenpaar erzählt, das über ein Menschenalter lang in tiefster Abgeschlossenheit von aller Welt erst in, dann bei Hildburghausen in einem Dorfschlosse (Eishausen) lebte, das zwar nunmehr längst, die Frau 1837, der Mann 1845, gestorben ist, aber durch den mächtigen Reiz des Geheimnißvollen einen förmlichen Sagenkreis hinterließ und eine Reihe von poetischen und von historisch untersuchenden Schriften veranlaßte, die das Dunkel, welches über dem jahrelangen Erlebniß schwebt, eher vermehrten als aufhellten.
Wir sind in Folge unserer Nachforschungen damals zu der Ansicht gelangt, daß diese Abgeschlossenheit von aller Welt weder von Seiten des Mannes noch der Frau eine freiwillige, daß sie vielmehr eine nothgedrungene, ja ängstlich gehütete war, und daß wir in dem weiblichen Wesen eine Bewachte, in dem Manne aber den Wächter derselben erkennen mußten. Da der Letztere, der sich Vavel de Versay nannte, als reicher, vornehmer Herr auftrat, so wurde er – man weiß nicht wann und von wem zuerst – der „Herr Graf“ genannt und die Dame die „Frau Gräfin“; seinen Namen „Vavel“ machte das Landvolk in und um Eishausen sich mundgerecht, indem es ihn „Pfaffel“ hieß. Erst nach dem Tode der Frau ward es bekannt, daß sie nicht seine Gemahlin gewesen, in der kirchlichen Todtenliste steht sie als „Sophie Botta, ledig, bürgerlichen Standes, aus Westfalen, 58 Jahre alt“. Von dem Manne aber ward es später bekannt, daß er neben dem genannten Namen auch den eines „Leonardus Cornelius van der Balck“ führte.
Von der „Gräfin“ weiß man, daß sie während der dreißig Jahre ihres Gefangenenlebens nur zweimal mit einem anderen Menschen, als dem „Grafen“ gesprochen hat, und zwar in deutscher Sprache. Der „Graf“ stand vierzehn Jahre lang mit dem Geistlichen von Eishausen (dem Vater des als Director der Musterschule in Frankfurt a. M. berühmt gewordenen Pädagogen Kühner) in tagtäglichem brieflichem Verkehr und hat doch jede persönliche Berührung mit ihm vermieden, nie ein Wort mit ihm gesprochen. Im Nachlaß der „Gräfin“ fand man die feinste Pariser Garderobe, in dem des „Grafen“ eine ausgewählte und reichhaltige Bibliothek wissenschaftlicher Werke in verschiedenen Sprachen. Sind diese wenigen Andeutungen nicht schon hinreichend, immer frischen Eifer zur Enthüllung dieser geheimnißvollen und noch so nahen Vergangenheit zu erwecken?
Dies ist in der That geschehen. Vor uns liegt der erste Theil eines neuen Werkes: „Der Dunkelgraf von Eishausen. Erinnerungsblätter aus dem Leben eines Diplomaten von R. A. Humann, Dr. jur. et phil. Mit Abbildungen des Portraits des Dunkelgrafen und des Schlosses von Eishausen.“ (Hildburghausen, Kesselring, 1883.) Da dieser erste Theil sich vorzugsweise mit dem „Grafen“ beschäftigt und erst der zweite die Nachforschungen über die „Gräfin“ enthalten wird, so versparen wir unsere Mittheilungen über das Resultat der fleißigen und geistvollen Arbeit für später, empfehlen aber das interessante Buch Allen, die der Reiz des Geheimnißvollen anlockt.
Ein deutsch-amerikanisches Jubiläum in Philadelphia. Die ersten Jahrzehnte nach dem Dreißigjährigen Kriege sind mit Recht für unser deutsches Vaterland als die Periode seines tiefsten geistigen und materiellen Verfalles bezeichnet worden; verlor Deutschland doch auch in jener Zeit alle politische Initiative und sank zum ohnmächtigen Schleppenträger des Auslandes herab. Erst ein volles Menschenalter nach dem westfälischen Frieden wagte das gedrückte Volk seine scheuen Blicke behufs Verbesserung seiner elenden Lage in die Ferne zu richten, und als unter Pastorius im Jahre 1683 die erste größere Auswanderung nach Amerika stattfand, war sie nicht der Ausdruck nationalen Könnens und Wollens, sondern weh- und demüthige Unterordnung unter die Macht Englands. Jetzt ist dies nun allerdings anders geworden; Deutschland nimmt gegenwärtig im Rathe der Völker eine leitende Stellung ein, und seine im Auslande lebenden Söhne können in vieler Hinsicht stolz aus ihr altes Vaterland sein. In diesem Sinne soll denn nun auch am 6. Oktober 1883 in Philadelphia die Wiederkehr des zweihundertsten Jahrestages gefeiert werden, wo deutsche Auswanderer zuerst in größerer Anzahl über den Ocean gingen und den Grund legen halfen für die große transatlantische Republik.
Nach längeren Berathungen hat sich eine Anzahl deutscher Vereine in Philadelphia dahin geeinigt, daß die geplante Feier eine möglichst öffentliche sein soll, die sich vor den Augen des amerikanischen Volkes abspielt und an der sich das deutsch-amerikanische Element in Masse betheiligen kann. Es soll den nichtdeutschen Bürgern der Vereinigten Staaten anschaulich gemacht werden, was das Deutschthum im Laufe der Zeit für die Union gewesen ist, zugleich aber soll auch dargethan werden, daß die jetzige Generation der Deutsch-Amerikaner sich des Ruhmes ihrer Vorfahren würdig bewiesen hat und stets würdig beweisen wird zur Ehre und zum Heile der Republik. Die Deutschen Philadelphias betrachten sich gewissermaßen als die Repräsentanten des gesammten Deutschthums in den Vereinigten Staaten und wollen sich bestreben, durch ihre Feier allen ihren Stammesgenossen im Lande Ehre zu machen. Andererseits geben sie sich der Hoffnung hin, daß auch in anderen Städten der Union ihre Stammesgenossen eine ähnliche Feier veranstalten oder sich wenigstens an dem Feste in Philadelphia betheiligen.
Concerte, Processionen und Pickniks sind zwar nichts Neues, aber sie sind und bleiben wohl noch lange die einzigen Feierlichkeiten, welche irgend ein Fest zu einem allgemeinen Volksfest gestalten können. Und dies erscheint als die Hauptsache bei dem geplanten Jubiläum. Das Concert soll das künstlerische Wesen der Deutschen, ihr Wirken in Musik und Gesang vorführen. Der historische Umzug wird ein Bild dessen geben, was sie in Krieg und Frieden geleistet haben: der Vereinszug ein Bild ihres geselligen Lebens und der Gewerbezug ein Bild ihres großartigen Antheils an der Industrie der Union. Das Picknik endlich vereinigt Alle zur lebhaften Betheiligung an dem fröhlichen Feste. Man ist auch der Frage näher getreten, ob sich aus der beabsichtigten Feier nicht der Grund zu irgend einem dauernden Monumente oder zu einer Stiftung zum steten Gedächtnisse an den historischen Tag erzielen läßt. Doch soll die Entscheidung über diese Frage bis nach dem Ablauf der Jubelfeier verschoben werden.
Das Mädchen aus der Fremde. Das „liebliche Räthsel“, welches Schiller in dem genannten Gedichte dem deutschen Volke geschenkt hat, scheint noch heutzutage die Gemüther der aufmerksamen Leser unseres großen Dichters lebhaft zu beschäftigen. Das beweisen uns u. A. auch drei Briefe, die wir in letzter Zeit erhalten haben und in welchen eine und dieselbe Frage an uns gestellt wird: „wen Schiller in diesem Gedichte mit der Persönlichkeit des Mädchens gemeint hat?“ Den Neugierigen könnten wir einfach den Rath ertheilen, in dem Werke: „Schiller’s lyrische Gedichte. Erläutert von Heinrich Düntzer“ (Leipzig, Ed. Wartig 1874) den betreffenden Abschnitt nachzuschlagen. Da wir aber nicht annehmen können, daß dieses rein wissenschaftliche Werk Jedem leicht zugängig ist, so glauben wir den Inhalt der Düntzer’schen Erklärung hier in aller Kürze wiedergeben zu dürfen.
Das Gedicht erschien demnach auf dem ersten schon Ende Juli 1796 abgedruckten Bogen des Musenalmanachs aus 1797, und ist wahrscheinlich während Goethe’s Anwesenheit zu Jena, im Anfange des Monats, entstanden; das Mädchen repräsentirt die Dichtkunst, und diese Beziehung hat Schiller selbst dadurch angedeutet, daß er mit „dem Mädchen aus der Fremde“ die erste Sammlung seiner Gedichte eröffnete. Wie in einem anderen Gedichte Schiller’s der Frühling als schöner Jüngling auftritt, so hier die Dichtung als ein Mädchen, dessen höheren Ursprung der erste Theil (Strophe 1 bis 3), wie der letzte ihre lieblichen Gaben darstellt, die sie jedem gern darbietet. Das Ganze wird märchenhaft eingekleidet, als eine Sage aus vergangener Zeit.
Inhalt: Heiße Stunden. Von Wilhelm Kästner, S. 481. – Im Congoland. Von Dr. Pechuel-Loesche. 2. Europäische Handelsplätze in der Congoniederung, S. 484. – Mit Illlustration: Schwimmende Inseln und die Hochlande des Congo, gezeichnet von Prof. A. Goering, S. 485. Zur Erinnerung an Hedwig Reicher-Kindermann, S. 488. Mit Portrait, S. 489. – Wo kommen unsere gefiederten Hausfreunde her? Von Dr. Karl Ruß, S. 491. – Ein Gründer des sechszehnten Jahrhunderts. Von Dr. Roderich Irmer, S. 494. – Blätter und Blüthen: Der welsche Sackpfeifer (Mit Illustration auf S. 493). – Ein Versuch zur Enthüllung eines alten Geheimnisses. – Ein deutsch-amerikanisches Jubiläum in Philadelphia. – Das Mädchen aus der Fremde, S. 496.
Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressiren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandl. Ernst Keil in Leipzig“.
- ↑ Eine Baumart, die in tropischen Küstengegenden auf Bodenstrecken gedeiht, welche von Brackwasser bespült werden. Der Stamm der Mangrove wird von einem oft grotesk gestalteten Wurzelgerüst getragen, welches bis mehrere Meter hoch über dem Schlamm frei emporragt. Von dem Gezweig hängen Luftwurzeln nieder, die jedoch nicht, wie vielfach geschildert wird, zu neuen selbstständigen Pflanzen auswachsen.
- ↑ „Erinnerungsblatt an Hedwig Reicher-Kindermann nebst deren Briefen an eine Freundin“. (Dresden. Commissions-Verlag von C. Pierson’s Buchhandlung. 1883.) Verehrern und Freunden der großen unglücklichen Sängerin ist dieses Schriftchen, dem wir die werthvollsten Mittheilungen verdanken, auf das Wärmste zu empfehlen.