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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 52.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



An unsere Leser.

Um die Nummern-Bezeichnung unserer Zeitschrift in genauen Einklang mit der Wochenzahl des Jahres zu bringen, lassen wir, statt der üblichen 13, in diesem Quartale ausnahmsweise 14 Nummern erscheinen, und wird daher dieser Nr. 52 in nächster Woche noch eine Nr. 53 folgen, welche alle Abonnenten des 4. Quartals gratis zu beanspruchen haben. – Nr. 1 des neuen Jahrganges wird am 5. Januar 1882 ausgegeben werden.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil. 




Der schwarze Fritz.
Weihnachtserzählung aus dem Handwerkerleben.0 Von Zoë von Reuß.
1.

Immer näher rückt die Weihnacht. – Als die Kleinen heute Morgen vom Schlafe erwachten mit der seit Wochen gewöhnlichen Frage: „Wie oft müssen wir nun noch schlafen?“ hatte die Mutter beruhigend geantwortet: „Nur noch ein einziges Mal – morgen schon ist heiliger Abend.“

Aber auch die Spannung der Erwachsenen stieg, und mit ihr jene fieberhafte Thätigkeit, der die Tagesstunden nicht lang genug sind und welche darum längst die Nacht zur Hülfe genommen hat. Auf den Straßen und Plätzen rennt man in lauter Uebergeschäftigkeit hin und her, und in den Läden und Gewölben drängen sich seit gestern förmlich die Käufer. Am dichtesten aber war das Gedränge doch wohl dort an der Marktecke. Das alte, etwas rauchgeschwärzte Giebelhaus war aber auch ganz besonders günstig gelegen – man fiel sozusagen ordentlich hinein. Auch strahlte der stattliche, kürzlich renovirte Bäckerladen des Parterregeschosses in bunter festlicher Licht- und Farbenfülle bis weit auf den Marktplatz hinaus, und wo sonst die liebe, schlichte Gottesgabe in wohlgerathenen braunen Laiben neben den zierlichen frischen Semmelreihen aufgepflanzt stand – wie junge stramme gutgeschulte Recruten – da thürmten sich augenblicklich den kommenden Festtagen zu Ehren wahre Berge von Leckereien in allerlei verführerisch buntem Süßkram; denn das Weihnachtsfest macht ja die Spiel- und Naschfreuden fast zur Pflicht. Wenn man an dem unscheinbaren Hause vorüberging, war’s wohl wie ein warmer, würziger Odem, der Einem entgegenzog und sogar die Eiszapfen zu schmelzen versuchte, die oberhalb der Ladenthür und Fenster hingen. Drinnen drängten sich auch förmlich die Käufer; selbst die Ladenstube war ausgeräumt worden und beinahe zu einem gaumenreizenden Kunstgewölbe umgestaltet – auch hier stand die kaufende Menge Kopf an Kopf gedrängt. Der stattliche Bäckermeister, der aus der daneben gelegenen Wohnstube durch’s Ladenfensterchen in den bunten Trubel hinübersah, strich sich auch immer von Neuem das Bürgermeisterkinn und schmunzelte gar vergnüglich – der Jahresabschluß versprach gut zu werden.

Stetig hatte sich das Geschäft gehoben, so klein es begonnen. Es sind just fünfundzwanzig Jahre, daß des Meisters seliger Alter mit Weib und Kind aus der Vorstadt draußen in das rauchgeschwärzte Haus an der Marktecke gezogen. Damals standen die Kunden in erster Morgenfrühe noch draußen auf der Straße unter dem braunen Wetterdache, und die Mutter reichte ihnen das frische Gebäck zum Fenster hinaus. Aber der auf den saubern Verkaufstisch hineinstiebende Schnee konnte unmöglich weißer und weicher sein, als die duftenden Semmeln des Bäckermeisters. Das hatten die Reichen der Stadt bald gemerkt und kamen jeden Morgen in den neuen Laden. Die Armen aber stellten sich von weit und breit ein, weil an dem auf dem ausgehangenen Zettel verzeichneten Gewichte niemals ein einziges Quent fehlte. Und so mehrte sich der Wohlstand langsam, aber sicher. Ohne Kampf freilich ist’s auch nicht abgegangen. Es gab eine böse Zeit, wo die rissigen altersgrauen Mauern des Hauses ungleich fester standen, als drinnen der Friede der Familie!

Es werden nun bald ein zwanzig Jährchen sein, da brannte es drinnen lichterloh – Vater und Sohn lagen mit einander in Hader und Streit. Der älteste Sohn und heimliche Liebling des Bäckermeisters sollte eine reiche Bürgerstochter freien, damit man die kostbare Schmeer- oder vielmehr Mehlgrube hier an der Marktecke käuflich erwerben könne; denn bisher hatte sie der Meister nur in Pacht gehabt. Dann wollte ihm der Vater das aufblühende Geschäft überlassen und sich mit der Mutter auf den Altentheil zurückziehen.

Aber der Wilhelm hatte von jeher seinen eigenen Kopf und ging seinen eigenen Weg. Die dunstige Backstube war ihm zu eng, und vor dem Backofen war es ihm zu heiß. Am liebsten [858] saß er und zeichnete und wäre gern ein Baumeister geworden. Weil aber sein Vater das sauererworbene Geld zum Studium nicht hergeben wollte, so ward er, vielleicht aus Trotz, ein Zimmermann. Und mit seinem Herzen war’s fast ebenso wie mit dem Kopfe. Er hätte allerorten die reichste Bürgerstochter haben können; denn er ging stolz aufrecht wie ein Gardist und sah im Gesichte aus wie Milch und Blut. Und doch hatte er sein Herz einem blutarmen Mädchen geschenkt, der braven Eva, die sich und ihr altersschwaches Mütterchen kümmerlich von ihrer Hände Arbeit ernährte. Freilich sahen die Beiden aus wie das erste gotterschaffene Menschenpaar, wenn sie so bei einander standen – schön, frisch, gesund und fröhlich. Es war eine Lust, sie anzuschauen.

Aber der Meister sträubte sich mit Hand und Fuß und wollte die ungleiche Heirath nicht zugeben. Allein der Kopf des Jungen war nicht minder hart, als der des Alten. Er erklärte rund weg, nicht von seinem Evchen lassen zu wollen; sein Arm sei ebenso stark und fest wie sein Muth; darum koste es was es wolle – selbst das Erbtheil!

Ganz so schlimm ward’s glücklicher Weise freilich nicht. Der Alte gab dem Sohne auf Zureden der Mutter, mit der’s dazumal gerade zum Sterben ging, ein kleines Capital zum Anfang. Damit war er abgefunden.

Inzwischen war der zweite Sohn des Alten, der jetzige Meister, auch zum Manne herangewachsen. Er, der bis jetzt immer in der Backstube gesteckt hatte, war nun plötzlich Hahn im Korbe – um so mehr, als er wirklich bald dem Vater die Schwiegertochter zuführte, mit deren Mitgift das eigene Capital ergänzt und die Mehl– und Schmeergrube erworben werden konnte.

Der Wilhelm und das Evchen aber durften dem Alten nicht „unter die Augen kommen“ – so hatte er ihnen beim Abschiede erklärt – über das eigene Herz hinaus! Aber der böse Tod wartet leider nicht, bis wir uns eines Andern, Bessern besonnen haben; er nimmt am liebsten aus vollem Leben heraus – auch das Lebenslicht des starken Bäckermeisters erlosch plötzlich, unter einem einzigen Hauch! So kam es, daß der immer noch helllodernde Zorn des Vaters gegen den ältern Sohn den jüngern um so weicher bettete. Der Wilhelm war wirklich durch das Testament mit dem abbezahlten Pflichtteil abgefunden worden, so nöthig er jetzt pecuniäre Hülfe im Geschäft gehabt hätte; denn dem jungen Ehepaare dort draußen, weit in der Vorstadt, fehlte es an Allem, am Gelde und am Segen. Die Projecte des jungen Bauunternehmers gediehen nicht, und von den Kindern, die ihm Evchen geschenkt hatte, blieb ein einziges am Leben.

Es war kein geringer Triumph für den jungen Meister, als ihn der früher tausendmal beneidete Bruder um Hülfe – oder Gerechtigkeit, wie er sagte – ansprach, und natürlich war derselbe nicht Thor genug, sich die kaum gefüllten Taschen zu erleichtern. Da hielt sich der Wilhelm nicht mehr; es gab bitterböse Worte von Betrug und Erbschleicherei, und im Groll schieden die beiden Brüder, um sich niemals wiederzusehen; denn das einmal siedende Blut des ältern Bruders trieb diesen plötzlich fort, weit in die Welt hinaus. Er wollte anderwärts ein neues Haus gründen und neues besseres Glück suchen.

Ob er’s ernstlich gesucht? Es ist möglich – gefunden aber hat er’s sicher nicht.

Schon nach einem Jahre tauchte ein Gerücht auf, daß der Wilhelm Klauer, der Bruder des reichen Bäckermeisters an der Marktecke, an den Folgen eines Sturzes vom Baugerüst gestorben sei. Draußen im Laden wurde es von den klatschmäuligen Kundinnen nach allen Seiten hin besprochen, und auf die Weise erreichte es auch das Ohr des Meisters. Etwas Genaueres wußte aber Niemand zu sagen; auch von Weib und Kind schien jede Spur verweht, und der von unvergessenem wildem Groll erfüllte Bruder war der Letzte, sich um sie zu kümmern.

Darüber ist nun auch schon wieder ein halb Mandel Jahre hingegangen, und der Grund des Hauses festete sich unter den jungen Leuten jährlich mehr – wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Selbst die Ehre ist zuweilen käuflich, wenigstens das, was die Leute gewöhnlich so nennen. Wenn der Meister in der Bierstube zu dem Bekanntenkreis trat, so wurde er halb im Spaß, halb im Ernst „Herr Stadtvertrockneter“ angeredet. Dazu war er Mitglied und Vorstand verschiedener Vereine, und seit Kurzem sogar Kirchenrath, was die junge Meisterin veranlaßte, sich von dem Dienstmädchen, welches sie Sonntags allemal Frau Kirchenräthin zu nennen pflegte, lieber schlechtweg „Frau Räthin“ nennen zu lassen – der Kürze wegen. – –

„Guten Abend, Papa!“ sagt hinter dem Rücken des Meisters plötzlich eine frische Kinderstimme und erschreckt den starken Mann ein wenig. Er hatte nämlich ganz gegen seine Gewohnheit ein Weilchen wie sinnend dagestanden. Woher kamen ihm mit einem Male die Gedanken? Es ist doch sonst seine Sache nicht, sich mit dergleichen viel abzugeben. Ist’s das Weihnachtsfest, was die Erinnerungen wachruft, besonders die Jugenderinnerungen? Er wendet sich auch sogleich nach der Störung um, wie um seinen Fehler zu verbessern und erblickt die Gustel, die eben aus der Nachmittagsschule kommt, das letzte Mal vor den Ferien. Und das breite schwammige Gesicht des Mannes gewinnt an Ausdruck und Leben, als die Kleine herantritt; denn die Gustel ist Meister Klauer’s einziges Kind und sein Augapfel. Verspricht sie doch ein hübsches Mädel zu werden, und daß sie ein liebes Mädel ist, davon ist die ganze Hausgenossenschaft überzeugt – selbst Hofhund und Hauskater sind über diesen Punkt einig. Wie sie so neben dem Vater steht, reicht sie ihm fast bis an’s Kinn. Zärtlichkeit ist natürlich nicht die Sache eines gesetzten Mannes und wohlbestallten Meisters; dennoch fährt ihr der Vater, wohlgelaunt, wie er in Hinblick auf das Wachsthum des Geschäftes nun einmal ist, fast liebkosend über das Haupt, und der feine Mehlstaub, der dabei dem Arbeitskamisol und der blüthenweißen Schürze entfällt, legt sich auf das blonde, krause Haar des Mädchens wie Puder. Dazu nimmt er sich im Stillen vor, dem Töchterchen gegenüber morgen auch in seinen tiefsten Schubsack zu greifen. Die Weihnachtskunden gehen aus und ein, und vergnügt tritt der Meister in den dämmerigen Flur und streckt sogar das behagliche, wohlgenährte, aber ein bischen blasse Gesicht bis auf die Straße hinaus, um sich etwas zu verpusten und sich der lieben Abwechselung wegen den reinen kalten Winterodem einmal um die Nase ziehen zu lassen.

„Meister Hallmsleben schickt mich zum Fegen,“ tönt es ihm plötzlich entgegen. Die Stimme klingt fast noch kindlich, und als er aufblickt, sieht er einen Schornsteinfegerjungen mit Leiter und Besen, der soeben in’s Haus tritt um im Auftrage seines Herrn an die unsaubere, beschwerliche Arbeit zu gehen.

Die sonst alltägliche Nachricht lautet dem Ohre des Meisters heute wie eine Störung; denn die unangenehme, aber nothwendige Arbeit des Essenkehrens wird immerhin einigen Aufenthalt verursachen, und die Zeit ist kostbar. Doch läßt sich nichts dagegen machen. Aergerlich und der Ordnung wegen fragt der Meister kurz:

„Ist’s gemeldet worden?“

„Gestern Abend –“

„So hat’s der Geselle vergessen – Kreuzmillionenelement! Unsereins muß sich einmal um Alles kümmern! Scher’ Dich in’s Haus, Junge, und warte!“ Mit diesen Worten schlurft der Meister den dämmerigen Hausflur entlang; vermutlich giebt’s drinnen im Backhaus ein neues Donnerwetter.



2.

Der kleine Essenkehrer duckt sich indessen scheu und still in einen Seitenwinkel des großen feuchten Hausflurs, zwischen die Mehlsäcke, die rings an den Wänden stehen. Es ist bitterkalt draußen, und er klopft der Schneestaub von den Holzpantoffeln der nackten Füße. Dann liebkost er flüchtig den auf ergiebiger Mäusejagd befindlichen Kater, der auf den hochaufgerichteten Mehlsäcken umhersteigt und sich schnurrend und buckelnd an ihn herandrängt. Der Hinz hätte gewiß nicht mit ihm getauscht: er hatte es besser als „der schwarze Fritz“. Ja, „der schwarze Fritz“ – so nennen ihn nämlich höhnend die Cameraden und Genossen, mit denen zusammen er ehemals die Schule besuchte – ehe Vater und Mutter starben und er in’s Waisenhaus kam. Ja, ja, der Hinz hatte es gut. Alltäglich war ihm der Tisch mit übriggebliebener Milch und altbackenen Semmelbrocken vollauf gedeckt, und der liebe Gott hatte ihm selbst den warmen, bunten, dauerhaften Rock gemacht, während Fritz in seiner dünnen rauchgeschwärzten Kleidung wie ein Espenlaub zitterte. Er pustet in die Hände – ach, wenn er sich doch einmal tüchtig aufwärmen könnte! Halt, dort steht ja die Thür zur Back- und Knetstube offen, und ein Duft von allerlei feinen kostbaren Gewürzen weht ihn appetitreizend an. Dort drinnen ist’s gewiß mollig warm. Ob er wohl nicht ein bischen eintreten könnte, bis er in die zugige Esse [859] muß? Schüchtern tritt er näher. Der Raum scheint ja leer zu sein … doch – die kleine Bäckerstochter ist drinnen.

Gustel schiebt sich an den großen, teiggefüllten Trögen und Mulden entlang und scheint stark gelangweilt zu sein. Sie hat sich hierher geflüchtet, weil die Räume der Familienwohnung, deren Fenster auf die Straße zu gehen, fast sämmtlich jetzt zu Geschäftszwecken benutzt werden. Um sich die Zeit passend zu vertreiben, fängt sie endlich an, die aufgespeicherten Berge von Schaumconfect und Marzipan knabbernd einer gründlichen Mundprüfung zu unterziehen und dabei sich selbst die Devisen der Bonbons und Pfefferkuchenherzen laut vorzulesen.

Jetzt bemerkt die Gustel aber die schwarze Gestalt und fährt erschrocken zusammen. Aber gar bald gewinnt das runde freundliche Gesichtchen seinen ruhigen Ausdruck zurück. In dem geschwärzten Antlitz hat sie mit einem Male zwei blaue Augen erblickt, die sie bekannt ansprechen. Sie erinnert sich mit voller Bestimmtheit, gerade diesen kleinen Schornsteinfeger schon einmal hier im Hause gesehen zu haben – einmal oder zweimal – das eine Mal weiß sie’s ganz gewiß. Es ist im letzten Sommer gewesen, als die Eltern mit den Nachbarn Nachmittags eine Partie machten, die Gustel aber zu Hause bleiben mußte, der Schule wegen. Damals war der kleine Schornsteinfegerjunge auch gekommen um im Backhaus die Esse zu kehren, und war vom Hof aus einen Augenblick auf den Gartenfleck draußen getreten, um sich die Blumen in der Nähe zu betrachten. Die Gustel aber hatte gerade zufällig in der Laube gesessen und die römischen Könige gelernt – oder vielmehr lernen wollen; die alten hohen Herren wollten nämlich durchaus nicht in Gustel’s Kopf, obgleich sie sich Nachts das Geschichtsbuch unter das Kopfkissen gelegt hatte. Da – mit einem Male hatte der kleine Essenkehrer die ganze Reihe hergeschnurrt, vom seligen Romulus bis zum Tarquinius Superbus. Das hatte der Gustel natürlich sehr imponirt und ein Gespräch vermittelt, aus dem sie erfuhr, wie der kleine Schornsteinfeger – ach so lebensgern! – ein großer Schüler geworden und alle Tage mit buntumränderter Mütze zur Schule gegangen wäre, um so recht, recht viel zu lernen, besonders Zeichnen, was der Vater auch so gut gekonnt habe. Wer zeichnen könne und ordentlich Geld dazu habe, der könne nämlich studiren und Baumeister werden und schöne Kirchen und Thürme bauen. Wäre er Baumeister, würde er aber der Gustel zuerst ein schönes Haus bauen – das solle ihr schon gefallen. Nun, das that schon das Luftschloß; die Gustel lachte bereits mit dem ganzen Gesichte. Sie hatte mitleidigen Herzens oft an den armen kleinen Schornsteinfegerjungen denken müssen. Und nun sah sie ihn wieder, und er stand wie ein Häufchen Unglück frierend dort an der Thür. Vielleicht hatte er Hunger – da konnte sie ja helfen.

„Willst Du nicht ein paar Brödchen?“ fragte sie freundlich.

Fritz nickte leise und nahm dankend ein paar altbackene Semmeln, die der Geselle verächtlich abseits gelegt hatte, und schob sie in die Tasche.

„Komm doch ordentlich herein und wärme Dich!“ fuhr Gustel eifrig fort; „mache aber die Thür zu – so!“

Nur zögernd trat der Knabe näher, als fürchte er, daß bald ein Anderer kommen werde, um ihn hinauszuwerfen. Da hörte er die Gustel plötzlich van Neuem fragen:

„Möchtest Du nicht auch eine Frau zum Weihnachten?“

Fritz traute seinen Ohren nicht und sah verdutzt in die Höhe. Eine Frau? Sonderbar! Ja, wenn’s ein schönes Geschichtenbuch gewesen wäre!

„Ich meine eine aus Pfefferkuchen, wie sie dort oben auf den Börden stehen, mit Rosinenaugen und einer Nase von Mandelkern,“ gab Gustel Personalbeschreibung.

Jetzt freilich lachte der Fritz und liebäugelte zärtlich nach seinem braunen Schatz hinaus. Erfreut und verlegen stotterte er seinen Dank für das zukünftige Liebesglück. Gustel aber war noch nicht zufrieden.

„Nimm lieber ein Lebkuchenherz!“ gab sie guten Rath. „Sie schmecken viel schöner; es sind Nürnberger und werden drüben in der Conditorstube gebacken. Die häßlichen braunen Puppen dort sind nur für die Kinder,“ setzte sie altverständig hinzu. „Ich suche Dir eins aus, mit einem schönen Spruch –

Dies süße Herz, ich schenk es Dir,
Doch gieb das Deine mir dafür!’“

las sie von einem quer über einen riesigen Lebkuchen geklebten Papierstreifen ab. „Gefällt Dir das?“

„Sehr schön!“

„Oder weißt Du was,“ fuhr die kleine Plaudertasche fort, „der Geselle soll Dir mit Zuckerguß Deinen Namen daraufschreiben. Nicht wahr?“ Dabei schob sie sich an den langen blankgescheuerten Tischen entlang, auf welchen der Brodteig zu zierlichen Laiben ausgeformt wurde und auf welchen darum der Mehlstaub so dicht verstreut lag, wie draußen aus den Dächern der erste Schnee. „Wie heißt Du eigentlich?“

„Ich? Friedrich Wilhelm Klauer.“

Gustel traute ihren Ohren nicht und sagte:

„Du machst Spaß. Friedrich Klauer? So heißt ja mein Vater.“

„Doch – ganz gewiß!“ versicherte –Fritz.

„Buchstabire einmal!“ befahl die ungläubige Gustel und schrieb alsbald die Buchstaben mit den tintenbeklexten Fingerchen in den Mehlstaub nieder, wie um sich selbst zu überzeugen. Da öffnete sich schnell die Thür, und der Altgeselle trat ein, um nach dem Brodteig zu sehen. Der „schwarze Fritz“ aber erinnerte sich noch zu guter Stunde, daß er nicht in den geheiligten Raum gehöre und daß es hohe Zeit, sich zu drücken und an die Arbeit zu gehen. Darum schlüpfte er blitzschnell hinaus und trat in’s Backhaus. Dort hob er sofort den Eisenschieber in die Höhe, welcher die neben dem Backofen gelegene viereckige, zum Einsteigen bestimmte Oeffnung des Schornsteins verschloß, paßte die kleine Leiter hinein und streifte die Holzpantoffeln von den Füßen, um mit dem Handwerkszeug in den Orkus hinaufzusteigen. Von den letzten Sprossen der Leiter klimmt er dann weiter, indem er einen vorspringenden Stein gewinnt, oder in der steil herabfallenden Brandmauer, mit Händen und Füßen tastend, eine kleine Lücke erspäht, in welcher der nackte Fuß haften kann. Und so ist er bis zur Höhe der ersten Etage emporgeklommen. – Da, o Schreck und Grausen! sitzt er plötzlich fest! – War bei einer kürzlich vorgenommenen Ausbesserung des Mauerwerks die Schornsteinöffnung enger geworden, hatte er, was wahrscheinlich, beim Aussteige die Kniee zu sehr angezogen; er sitzt mit dem Handwerkszeuge wie eingekeilt, und kann weder vor– noch rückwärts. Umsonst bemüht er sich immer von Neuem – und so tritt ihm bald der Angstschweiß auf die Stirn. Vielleicht kann er Hülfe errufen? Er strengt die Stimme an – klingt nicht von unten herauf unausgesetzt das verworrene Geräusch von Menschenstimmen? Richtig, jetzt vernimmt er sogar deutlich die rauhe Baßstimme des dicken Bäckermeisters, welcher seinen Leuten befiehlt, den Ofen am Abend noch einmal zu heizen; die Arbeit soll die Nacht hindurch weiter gehen. Und mit steigendem Entsetzen erkennt Fritz die neue Gefahr: der neu aufsteigende Rauch muß ihn ja unfehlbar ersticken. Noch einmal strengt er alle seine Kraft an, Aber seine Worte verhallen nach oben, wenigstens werden sie in an der Geschäftigkeit und Unruhe dort unten nicht vernommen. Da, o da beginnt sich schwer und bleiern aus die Seele des armen Knaben die – Todesangst zu legen. Soll er also wirklich hier sterben, einsam und verlassen? Ach, verlassen freilich ist er auch im Leben. Und dennoch klammert sich die junge Seele mit allen Fasern verzweifelnd an das Licht, an das Leben. Unwillkürlich blickt er zur Höhe auf und sieht, wie zum Troste, hoch über sich im Aether schimmernd, ewig, treu, wachsam wie das Auge Gottes selbst – den hellen Abendstern



3.

„Kleine Hexe, was machst Du da?“ fragt der dicke Bäckermeister drinnen in der Backstube die Gustel.

Die Kleine hat sich von all den feinen appetitlichen Sächelchen dort ein ansehnliches Häuflein zusammengelesen, welches sie soeben etwas verstohlen in den weiten Schooß einer viereckigen, weißen Papiertüte zu bergen versucht.

„Ich – ich – Nichts!“ stottert aus der Gustel, trotz der unschuldigen Blauaugen, das böse Gewissen.

„Heraus mit der Sprache! Was soll damit? Giebt’s vielleicht wieder eine sogenannte Weihnachtsbescherung für arme Kinder in der Schule? Auch eine neue Mode! – Nun meinetwegen! Nimm aber von dem bunten, billigen Kram dort!“

Seit die Brühe des Wohlstandes, in welcher der Meister schwamm, so fett geworden war, hatte er zuweilen nichts dagegen, wenn auch die Armuth ihr Stücklein Brod hineintauchte. Er hatte mitunter weiche Anwandlungen – so auch heute.

[860] „Also pack’ Dir nur etwas zusammen für die Weihnachtsbescherung in der Schule, mein Kind!“ sagte er.

„Für die Weihnachtsbescherung in der Schule?“ rief Gustel entsetzt. „Wo denkst Du hin, Papa, dafür würde es doch nicht langen – das ist auch schon besorgt.“ Dazu warf sie als kleine Feinschmeckerin einen Blick voll tiefer Verachtung auf die empfohlenen unscheinbaren Pfeffernüsse. „Nein, die Tüte hier und das Lebkuchenherz will ich dem kleinen Schornsteinfegerjungen schenken, der draußen die Esse kehrt. Denke Dir nur: er heißt auch Klauer, wie wir. Friedrich Wilhelm Klauer, gerade wie auf dem Schilde über unserer Ladenthür steht. Ist er vielleicht ein Verwandter von uns?“

„Wir haben keine Verwandte, wenigstens keine, die uns etwas angehen. Du faselst wohl, Mädel?“

„Ich, ich dachte nur so – ’s ist doch ganz kurios. Ich wollt’s erst auch nicht glauben, aber er hat’s mir selbst gesagt, und ganz im Ernst. Dock steht’s, der Geselle soll ihm seinen Namen nämlich mit Zuckerguß auf das Herz schreiben. Wisch nicht mit dem Aermel darüber weg, Papa! Hier, hier steht’s.“ Dabei wies die Gustel aus das hölzerne, wohlbeschriebene Albumblatt der Tischplatte.

„Wie? Was?“ machte verdutzt der dicke Bäckermeister und starrte aus die bezeichnete Stelle.

„Frag’ ihn doch selbst, wenn er wieder kommt, um sein Herz zu holen! Wo bleibt er nur so lange?“

Der Meister wird immer aufmerksamer. Das blasse, aufgedunsene Gesicht erhält einen gespannten Ausdruck und die großen, runden wasserblauen Augen blicken fragend.

„Was spricht die Gustel da? Sonderbar und unerklärlich! Aber potztausend, wo steckt denn der verdammte Junge?“

Er erinnert sich mit einem Mal, daß er denselben ja gar nicht wieder gesehen hat, auch hat ihm Niemand Bezahlung abverlangt. Plötzlich packt ihn ein Gedanke. – Am Ende ist der Schornsteinfeger noch gar nicht fertig geworden mit seiner Arbeit, und er – der Meister – hat dem Gesellen befohlen, den Backofen von Neuem zu heizen.

„Da soll doch gleich …“

Der Meister ist hinaus, so schnell es seine Corpulenz erlaubt; denn es läuft ihm eiskalt über den Rücken, und als er in’s Backhaus tritt, rührt ihn vor Entsetzen fast der Schlag.

Neben dem geöffneten Schornsteine stehen ja noch die abgestreiften Holzpantoffeln des kleinen Essenkehrers, des armen Jungen – der seinen Namen trägt. Der Meister schwankt; ein Blick auf den vorhin gescholtenen trägen Gesellen, der vermutlich die Arbeitspause benutzt und ein paar Augen voll Schlaf genommen hat und darum erst jetzt das Holz zum Heizen herbeiträgt, giebt ihm glücklich die Fassung einigermaßen zurück. Noch ist’s hoffentlich nicht zu spät. Er eilt an die Maueröffnung und ruft mit Stentorstimme hinauf – schwache Antwort hallt zurück.

Und die breite Brust des Meisters athmet befreit, auch hat er alsbald glücklich seine Ruhe und Geistesgegenwart vollends wiedergefunden und commandirt nun wie ein Feldmarschall. Zuerst schickt er zum Meister des Verunglückten und läßt ihm den Vorfall melden. Aber die Gefahr und die eigene Ungeduld sind zu groß – er muß selbst Hand anlegen. Er holt Axt und Beil herbei und eilt mit dem Gesellen zur ersten Etage hinauf. Dort wird durch Klopfen und Rufen bald die Stelle festgestellt, wo der kleine Schornsteinfeger eingeklemmt ist. Dann schlägt man die Mauer ein, um den Knaben herauszuziehen

Er ist ganz erschöpft und vermag nur einzelne abgebrochene Worte zu sprechen, aber, obgleich der eigentliche Zusammenhang vorläufig noch unaufgeklärt bleibt, lassen Name, Alter und eine gewisse Familienähnlichkeit den Meister nicht mehr zweifeln, daß der arme, vor Kälte und überstandener Todesangst zitternde Knabe dort hier in’s warme Nest gehört, weil er das hinterlassene Kind seines einzigen, elend zu Grunde gegangenen Bruders ist.


Armes trotziges – wunderbares Menschenherz! Wer vermißt sich, dich auszukennen? Bist du hart wie Stein, so zermalmt dich plötzlich ein gewaltsamer Eingriff des Schicksals; bist du kalt wie Eis, so schmilzt dich glücklich die Reue und die Liebe. Denn dicht neben Neid und Geiz, Rachsucht und ungeahnter Leidenschaft, die deine Tiefen bergen, schläft sanft und leise auch der Gottesfunken, den ein gütiger Schöpfer als schönstes Erbteil in dich legte und glücklicher Weise so stark und kräftig erschuf, daß es oft nur eines Luftzuges bedarf, um ihn zu neuem Leben zu erwecken – Der heilige Abend war im Bäckerhause wie alljährlich in vorbereitender Uebergeschäftigkeit vergangen und der Meister hatte wegen des aufregenden Vorfalles nur mit seiner Frau unmittelbar nach demselben stille Rücksprache genommen.

Als aber die Schatten der heiligen Nacht erbleichten und im Osten der kurze späte Wintertag erglühte, als die purpurn durchleuchteten Rauchsäulen gleich stillen, frommen Dankopfern über den schneebedeckten Dächern emporwallten und dazu das „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“ aus den gefüllten Kirchen erklang, da stand der Meister stattlich geputzt und mit Hut und Stock zum Ausgehen bereit. Und als er nach einer Stunde von seinem Ausgange zurückkehrte, führte er einen hübschen, festtäglich geputzten Knaben an der Hand, dessen kluger bescheidener Ausdruck unendlich sympathisch berührte. Aus seinem Munde hatte er alles Wissenswerte vernommen – es fehlte kein Glied mehr in der Kette. Der in Haß und Groll geschiedene Bruder war wirklich in der Fremde verunglückt, seine Frau aber, das Evchen die immer zart gewesen und lange gekränkelt, hatte nur eine Sehnsucht gekannt: zurückzukehren nach der Vaterstadt, wo sie einst glücklich gewesen war und hoffen durfte, weniger verlassen zu sein. So hatten Mutter und Kind wieder eine Wohnung in der Vorstadt bezogen, mitten unter den alten Nachbarn. Aber schon nach sehr kurzer Zeit war die Mutter gestorben – an Lungenblutung, wie der Arzt gemeint. Der Fritz aber war in das Waisenhaus gekommen und später einem braven Meister überantwortet worden.

Die Gustel machte natürlich große glückliche Augen, als ihr der Vater den Bruder zuführte. Aber auch die Meisterin nahm ihn mit aufrichtiger Freundlichkeit auf. Er saß Mittags zwischen ihr und der Gustel, als ob er immer da gesessen und an den Platz gehöre. Er fühlte sich ganz zu Hause in dem warmen Bäckerheim. Der jüngste Lehrbube aber, der unten an der Tafel saß, sah über den überladenen Teller hinweg bis hinaus zu dem Platze seines heut so freundlich dreinschauenden Herrn und dachte pfiffig vor sich hin lächelnd:

„Ich möchte nur wissen, was unser Meister eigentlich Schönes zu Weihnachten erhalten hat?“

Und als nach all den winterlichen Festtagen das neue Jahr alles in’s alte Geleis gelenkt hatte, ging der Fritz in sauberer Alltagskleidung und rothumränderter Mütze wieder in die Schule, wie ehemals, als Vater und Mutter noch lebten – sein Herzenswunsch war ihm plötzlich, wie über Nacht, erfüllt worden.

Heute ist er ein ganzer Mann geworden und dazu wirklich ein tüchtiger Baumeister, wie er sich gewünscht hat. Die Gustel aber ist seine Frau und das schöne Haus hat er ihr längst gebaut.

Die traurige glückliche Katastrophe seiner frühen Jugendjahre pflegt er in vertrautem Freundeskreise gern zu erzählen. Auch ich erlauschte sie einst aus seinem eigenen Munde.





Für das Enkelchen.

Es dunkelt schon – kaum ward es heute Tag;
Am Berghang liegt der Schnee mit schwachem Blinken.
Großvater steigt hernieder durch den Hag
Und sieht vom Thal des Dorfes Lichter winken.

5
Die Luft ist feucht und kalt; gemächlich wallen

Die Flocken durch das dürre Astwerk her,
Sein Pfeifchen dampft – vorsichtig schreitet er,
In schneebegrabner Wegspur nicht zu fallen.
Ein Tannenbaum auf seiner Schulter liegt

10
Ein Prachtstück, rund geformt und ohne Lücken:

Der Ast, der Fink und Meise sonst gewiegt,
Soll sich mit Licht und buntem Naschwerk schmücken.
’S ist hohe Zeit – der Weihnachtsabend dämmert;
Großvater lächelt heimlich vor sich hin;

15
Zum warmen Stübchen eilt voraus sein Sinn

In jener Schmiede, wo es drunten hämmert.

[861]

Für das Enkelchen.
Originalzeichnung von J. R. Wehle.

[862]

„Was für ’ne Freude wohl der Junge hat –
Wenn ihm der Baum so in die Augen flimmert!
Zwei Jahre zählt nun unser Karlchen glatt;
Als ob sich’s da nicht um den Baum bekümmert!
’S war ein Stück Arbeit für mich alten Knaben.
Doch wenn sein Vater unverständig ist,
Muß ich schon zusehn, was der Schnee hier mißt:
Denn seinen Christbaum muß der Junge haben.

Er wär’ zu klein noch. Ei warum nicht gar!
So ’n Pfiffikus wie der, so schlau und munter!
Was er für Augen macht, so quick und klar,
Und was für Reden führt er schon mitunter!
Der dankt mir’s noch, wenn sie mich längst begraben,
Daß ich auf seinen Vater nicht gehört.
Und mir – mir wär’ das ganze Fest gestört – –
Nein – seinen Christbaum muß der Junge haben.

So ’n süßer Flachskopf! Wie er auf mich hält!
Was kann er schmeicheln, daß ich ihn mal schwenke!
So ’n Junge war noch niemals auf der Welt –
Mich wärmt’s im Schnee hier, wenn ich sein gedenke.
Ich wollte gern noch Stunden Weges traben,
Gält’s drum, daß er ’ne rechte Weihnacht hat.
Er kriegt’s nicht, wie die Kinder in der Stadt –
Doch seinen Christbaum soll das Karlchen haben.“

Großvater steigt fürbaß. Es schneit so dicht:
Was kümmert’s ihn, wie sich die Kleider feuchten!
Längst g[i]ng die Pfeife aus – er weiß es nicht;
Sein Herz ist warm, und seine Augen leuchten.
Und als das Festgeläut durchzieht die Fluren,
Da strahlt sein Christbaum, und der Enkel lacht,
Und auf dem Berghang küssen still zur Nacht
Der Liebe Engel seiner Füße Spuren.


Die erste elektrische Welt-Ausstellung.

II.[1]
Der Congreß der Elektriker und die elektrischen Conferenzen.

Vor einigen Wochen haben wir ein möglichst anschauliches Bild der interessanten elektrischen Welt-Ausstellung zu Paris vor den Augen unserer Leser zu entrollen versucht. Wir haben gesehen, daß der elektrische Strom heutigen Tages bereits, wie er dies bisher in den Verkehrsrichtungen that, auch in sämmtlichen industriellen Gebieten als neue wohlthätige Kraft von erstaunlicher Vielseitigkeit und Tragweite auftritt. Aber nicht allein jene nach Tausenden zählenden sinnreichen Maschinen und Mechanismen, welche durch die seltene Exactheit ihrer Functionen das Herz jedes Ingenieurs erfreuten, waren der Magnet für die Besucher des Palais de l’Industrie, nein, zwei andere Factoren wetteiferten mit ihnen in fast gleichem Maße, um die Gunst des Publicums für die Ausstellung rege zu halten. Das waren der Congreß der Elektriker und die elektrischen Conferenzen.

Oben in den Salons der ersten Etage des Ausstellungspalastes unter mehreren langen Glaskästen ruhen kostbare werthvolle Reliquien. Neben Nobili’s erster Säule steht hier die weltberühmt gewordene erste Originalsäule Volta’s, daneben befinden sich Autogramme Galvani’s und viele andere theuere und werthe Erinnerungen an die Jugendjahre der elektrischen Forschung. Es ist ein unsagbares Gefühl, welches aus diesen, meist in primitivster Form gebauten, aber doch so unendlich großartige Gedanken offenbarenden Mechanismen zu uns spricht. Eine wehmüthige Erinnerung an die Todten erfüllt uns diesen Denkmälern geistigen Forschens und Ringens gegenüber. Aber neben den Tod trat das Leben, als am 15. September im Palais de l’Industrie eine Versammlung von Männern der Wissenschaft und Technik sich entfaltete, wie sie gewiß selten in gleicher Würde und gleichem Range bisher zu finden war, eine Gesellschaft von Größen des Geistes, welche darthat, daß die Neuzeit Vertreter der wissenschaftlichen Forschung aufweist, die den glanzvollsten Namen der Vergangenheit völlig ebenbürtig zu erachten sind.

Wohl an zweihundert Gelehrte, Ingenieure und Techniker aus allen civilisirten Staaten waren dem Rufe Cochery’s gefolgt und begannen hier ihre gemeinsamen Besprechungen und Arbeiten zur Förderung und Befestigung der elektrotechnischen Wissenschaft und ihrer Anwendung für Industrie und Gewerbe. Wenn auch die Anzahl der aus allen Welttheilen herbeigeeilten Mitglieder eine verhältnißmäßig große war, so waren doch, wie leicht begreiflich, eine Reihe berühmter Namen in Paris nicht vertreten. Da fehlte vor Allen der greise Professor Weber aus Göttingen, der am 24. September d. J. sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum als Professor feierte. Ihn ehrte der Pariser Congreß damit, daß er an jenem Tage an den verdienstvollen deutschen Gelehrten ein in hoher Weise anerkennendes Telegramm sandte.

Unter dem Präsidium des Ministers Cochery und der Leitung der drei Vicepräsidenten Govi (Italien), Thomson (England) und Helmholtz (Deutsches Reich) hielt der elektrische Congreß seine Berathungen in der Zeit vom 15. September bis 15. October. Er beschäftigte sich in eingehender Weise mit der Erörterung wichtiger Fragen des elektrischen Gebietes, und zwar in Plenarsitzungen an jedem Dienstag, sowie in Berathungen für Fachabtheilungen an den übrigen Tagen. Der Sitzungssaal dieser auserlesenen Versammlung war allabendlich von 500 elektrischen Glühlichtern in angenehmster Weise erleuchtet. Vollkommen mathematisch ruhige kleine Flammen, in duftige Vacuumgläser gehüllt, waren an den Wänden angebracht, und die Wände selbst machten in ihrer pompejanisch-rothen und blaßgrünen Gobelinumkleidung einen ernsten und würdigen Eindruck.

Eine der Hauptaufgaben der Congreßmitglieder bestand darin, die ausgestellten elektrischen Apparate genauer Prüfung und Beurtheilung zu unterziehen und die würdigsten durch eine äußere Auszeichnung zu belohnen. Diese internationale Jury, welche ihre Arbeiten in der Zeit vom 26. September bis 26. October vollendete, setzte sich aus 150 Mitgliedern zusammen, und als Präsident derselben fungirte Herr Teisserenc de Bort, dem die Vicepräsidenten Barker (Vereinigte Staaten), Rosetti (Italien), Belpaire (Belgien), de la Rue Warren (England) und Professor Dr. Wiedemann (Deutsches Reich) zur Seite standen.

Die Auszeichnungen bestanden in 50 goldenen, 200 silbernen und 500 bronzenen Medaillen, sowie in Ueberreichung von Ehrendiplomen. Es war keine leichte Aufgabe, in dem zahllosen Gewirre complicirter Apparate das wahrhaft Gute vom Unbrauchbaren zu scheiden, die Jury aber, in einzelne Gruppen getheilt, vollzog diese Function zu allgemeinster Befriedigung.

Begleiten wir heute eine solche Jurygruppe nach mehreren Abtheilungen der Ausstellung!

Interessantes bietet die elektrische Ausstellung auf dem Gebiete des Eisenbahn-Signalwesens. Es ist daher sehr begreiflich, daß die Augen der Jurymitglieder beim Passiren der deutschen Abtheilung sich besonders auf die interessanten Signalapparate des Professors Wittwer und Mechanikers Wetzer richteten. Das Princip dieser neuen Signalvorrichtungen beruht darauf, daß die gegenwärtigen sogenannten „Omnibuslinien“ der Eisenbahnen in der Art eingerichtet sind, daß ein Leitungsdraht eine kleinere oder größere Anzahl von Stationen unter sich und mit einer einem größeren Netze angehörigen Hauptstation verbindet. Die nothwendige Folge davon ist, daß alle diese Stationen die nämlichen Zeichen erhalten. Correspondiren zwei Stationen mit einander, so bewegen sich nicht nur die Apparate dieser beiden, sondern auch sämmtlicher übrigen, und es ergiebt sich hieraus, daß, wenn der Apparat einer Station in Bewegung ist, damit noch nicht darauf hingedeutet wird, daß mit dieser Station gesprochen werden soll. Würde man an irgend einer Station an dem Telegraphen eine Glocke anbringen, so würde diese stets läuten, wenn auf der Linie überhaupt gesprochen wird, und das wäre nicht nur unnütz, sondern in kürzester Zeit unerträglich. Es bleibt also bei der gegenwärtigen Einrichtung nichts anderes übrig, als fortwährend in dem Telegraphenbureau zu warten, bis man angerufen wird.

Das Läutewerk von Wittwer und Wetzer hat nun die Bestimmung, von den verschiedenen Stationen einer Linie jede beliebige andere mit Umgehung der übrigen durch eine Glocke [863] anzurufen. Es läutet nur an der angerufenen Station, läutet aber dort so lange, bis der Beamte kommt und den Wecker stellt. Der Telegraphist braucht hier also nicht den ganzen Tag in seinem Bureau zu bleiben; denn wenn man ihn braucht, wird ihm geläutet. Es kann sogar der Telegraph in der Nacht zur Verfügung gestellt werden, was oft von außerordentlicher Bedeutung ist.

Die Behandlung des Läutewerkes ist eine sehr einfache; an der Vorderseite gewahrt man ein Zifferblatt nebst Zeiger, der im Ruhezustande auf Null weist. Jede Station hat ihre bestimmte Ziffer. Drückt man nun an irgend einer Station den Taster nieder, so bewegen sich die Zeiger aller Stationen und ebenso der eigenen, und dauert der Druck ununterbrochen fort, bis der Zeiger eine bestimmte Zahl erreicht hat (worauf man den Taster auslöst), so läutet es an der der Ziffer entsprechenden Station. Dieses Signalsystem ist in Baiern bereits auf mehreren Bahnlinien in Anwendung gebracht worden und hat sich als vollkommen sicher bewährt. Die allgemeine Einführung für Baiern steht bevor.

Das Bereich des Eisenbahnwesens hat sich in dem kurzen Zeitraume eines halben Jahrhunderts zu so ungeahnter Höhe gehoben – wir erinnern nur daran, daß zur Zeit in dem Eisenbahnnetze unserer Staaten über 100,000 Locomotiven und eineinhalb Millionen Waggons cursiren – und ist mit der Entwickelung unseres modernen Culturlebens so eng verknüpft, daß es sich wohl lohnt, an dieser Stelle noch eines zweiten wichtigen Punktes zu gedenken, der eine nicht minder einflußreiche Rolle in der Wahl der Mittel für die Sicherung des reisenden Publicums spielt. Es sind dies die verschiedenen Systeme der Bremsvorrichtungen. Wir beabsichtigen nicht, eine eingehende Beschreibung oder Auseinandersetzung dieser oft sehr sinnreichen Constructionen zu geben, sondern wollen nur den Vorgang des Bremsactes uns einmal näher betrachten. Die Hauptaufgabe der Eisenbahn-Ingenieure bei Erfindung neuer, rationell wirkender Bremsvorrichtungen gipfelt stets darin, den Zug so schnell wie möglich, aber auch so sanft wie möglich zum Stehen zu bringen.

Wohl zur Genüge bekannt ist die immense Geschwindigkeit unserer Bahnzüge, die im Verein mit dem Gesammtgewicht aller fahrenden Waggons die sogenannte „lebendige Kraft“ des ankommenden Bahnzuges repräsentirt. Diese Kraft, oder wenn wir wollen, die Gewalt, welche jeder zu bremsende Zug in sich trägt und welche durch die Bremsoperation erst vernichtet werden muß, damit der Zug zum Stillstand kommt, ist, wie leicht ersichtlich, sehr bedeutend. Summirt man diese lebendige Kraft aller fahrenden Bahnzüge unseres irdischen Eisenbahnnetzes, so braucht man keineswegs Fachkenner zu sein, um zu dem Resultat zu gelangen, daß sich in einem Zeitraume von fünfzig Jahren, bei progressiver Steigerung des Verkehrs, eine ganz erstaunliche Gesammtkraftleistung ergeben muß, die wir durch unsere Eisenbahnbremsen bisher leider stets vernichtet haben. In der That, stellt man in dieser Richtung eine genauere Rechnung an, so stoßen wir auf einen Verlust von „Milliarden“, die in national-ökonomischer Hinsicht besser hätten verwerthet werden können.

Es ist das Verdienst der Elektricitäts-Ausstellung, auch auf diesem, wie wir sehen, interessanten Gebiete wiederum einen bedeutsamen Schritt vorwärts gethan zu haben. Das Gebiet der „Accumulatoren“ hat in dem System Planté-Faure (vergl. Nr. 29) einen sehr wesentlichen Fortschritt erfahren. Während Planté den Besuchern der Ausstellung in seiner Abtheilung auf das Instructivste die Art und Weise vor Augen führt, wie und in welchem Zeitraume er die Erfindung seiner „Secundär-Batterie“ – bestehend aus Blei-Elementen von großer Oberfläche mit verdünnter Säure, welche die empfangene Elektricität in sich aufstapeln und nach beliebiger Zeit und an beliebigem Orte wiederum abgeben – gemacht, zeigt uns Faure in seiner Abtheilung das Wesen dieser elektrischen Kraftsammler in höchst anschaulicher Weise. Hier stehen solche Blei-Elemente in sehr beträchtlicher Anzahl und werden den ganzen Tag über durch die Rotations-Elektricität der aufgestellten dynamo-elektrischen Maschinen gespeist. Beim Beginn des Abends bemerkt man das Auslösen einiger Elemente; dieselben werden auf einen Schubkarren geladen und fort an einen entfernten Ort der Ausstellung gefahren, um dort, eingeschaltet in die Drahtleitung eines Glühlichtcomplexes, die zur elektrischen Erleuchtung nöthige Kraft abzugeben. Ein Element Faure wiegt 25 Kilogramm und kostet 100 Franken. Was die Kraft und die Dauer dieser Elektricitätssammler anlangt, so haben sorgfältig angestellte Ermittelungen, welche Thomson in Paris, Glasgow und London sammelte, ergeben, daß beispielsweise

4 Elemente treiben können 1 Nähmaschine während 1 Woche,
6 1 Velociped oder
1 Boot mit 2 Personen
6 Stunden,
8 1 Wagen mit 2 Rädern 6
16 1 Wagen mit 4 Rädern 6
40 1 Omnibus v. 24 Plätzen 3
60 1 Omnibus v. 40 Plätzen 3

Die Elemente Faure kann man jetzt bereits bis zu einer Intensität mit Elektricität füllen, daß man mit einem einzigen Elemente ein kleines Glühlicht zum Leuchten zu bringen vermag, und was die Verwendung dieser elektrischen Accumulatoren im Bereiche des Bahnbremsens anlangt, so wird dieselbe dahin zielen, durch geeignete Vorrichtungen die schnelle Rotation der Räder während der bisherigen Bremsdauer zur Erzeugung von Elektricität zu benutzen, dieselbe sodann in den Elementen aufzuspeichern und nach Belieben vermittelst Drahtleitung nach den Glühlicht-Vacuumglocken der einzelnen Coupés zu führen, um dieselben zu beleuchten.

Eine weitere vielverheißende Richtung der Verwendung der elektrischen Kraft, welche sowohl für die gesammte Industrie wie auch für eine große Reihe anderer Zweige von gleichem Werthe sein dürfte, eröffnete sich aus jenem merkwürdigen Experiment, welches in der letzten Zeit der Ausstellung vor einer zahlreichen Versammlung der Congreßmitglieder in der Siemens’schen Abtheilung ausgeführt wurde. Ein unscheinbares Gefäß von Graphit, durch einen Deckel lose verschlossen, in den ein Bündel starker Kohlenstäbe führte, wurde mit einer Menge einzelner Stahlstücke in der Größe einer Wallnuß angefüllt. Die Kohlenstäbe, sowie der Boden des Graphitgefäßes waren in elektrischer Verbindung mit einer dynamo-elektrischen Maschine. Sobald der Strom geschlossen wurde, stieg sofort aus dem Graphitgefäß ein dicker, weißer Rauch auf. Durch ein gefärbtes Glas konnte man, sowie der Deckel abgehoben wurde, erkennen, daß die einzelnen Stahlstücke zusammensanken und bald eine flüssige Masse bildeten. Der elektrische Strom hatte also hier auf höchst einfachem Wege durch seine Intensität den festen „Stahl“ in schneller Zeit geschmolzen. Daß dieses so vollendete interessante Experiment als der Ausgangspunkt einer völlig neuen Aera unserer zukünftigen Schmelz-, Heiz- und Kochmethoden anzusehen ist, darüber kann nur derjenige im Zweifel sein, welcher diesen in jeder Weise gelungenen Untersuchungen nicht beigewohnt hat.[2]

Wie wir uns heute in unseren Häusern und Wohnungen der Annehmlichkeiten der Wasser- und Gasleitungen, sowie der elektrischen Signal-Vorrichtungen erfreuen und sich schon das elektrische Telephonnetz in großen Zügen zu entfalten beginnt, so wird die nächste, zum Theil auch schon die jetzige Generation die unleugbaren Vortheile der elektrischen Kraftleitung, der elektrischen Lichtleitung und der elektrischen Heiz- und Kochleitung genießen. Die Speisen, welche unsere Nachkommen verzehren werden, werden in Wahrheit durch „Elektricität“ zubereitet sein, die Theater und Concerte, die wir dann hören, per Elektricität in unser Ohr gelangen; denn schon besitzt, um ein Beispiel anzuführen, der Präsident der französischen Republik, Mr. Grevy, seit einiger Zeit drei Telephon-Theater in seinem Hause.

Das Gebiet der sogenannten „directrotirenden Maschinen“, welches bisher schon manchem Erfinder erwartungsvolle Stunden, aber auch oft getäuschte Hoffnungen gebracht, wird in nächster Zeit auf elektrischem Felde eine bedeutende Rolle spielen. In der russischen Abtheilung, System Zveritinow, sowie auch in der deutschen von Siemens, nach dem System Dolgoruki, waren kleine rotirende Maschinen ausgestellt, welche direct ohne jede Vermittelung von Riementransmission die Achse der dynamo-elektrischen Maschine in Rotation versetzten. Ein ähnliches Princip, die Vermeidung der Riementransmission, liegt auch der großen elektrischen Kraftmaschine von Edison zu Grunde, welche allabendlich unter großer Präcision bei der rapiden Kurbelumdrehung von 350 Mal in der Minute circa 1000 bis 1200 Glühlichter der gesammten elektrischen Ausstellung mit Elektricität versorgte. Edison läßt aber den Dampf nicht auf einen rotirenden Kolben, sondern auf einen in gerader Linie hin- und hergehenden wirken. Jedenfalls ist aber die hier eingeschlagene Richtung, sich möglich von jeglicher Riementransmission zu emancipiren[WS 1], als eine sehr gerechtfertigte zu bezeichnen, und wird dieselbe den elektrischen Anlagen nur zum Vortheil gereichen. – –

[864] Wir wollen nun zum Schluß unserer Elektricitäts-Betrachtungen noch einige Worte über die „elektrischen Conferenzen“ anführen. Die große Reichhaltigkeit der Ausstellung, die meist außergewöhnliche Complicirtheit der functionirenden Apparate, ferner die Erkenntniß der hohen Wichtigkeit aller elektrischen Vorgänge für sämmtliche Gesellschaftsclassen, sowie das rege Interesse, welches das Publicum besonders während der Abende für die Ausstellung zeigte, bestimmten eine Anzahl Männer der Elektrotechnik, in kurzen Tagesintervallen, gewöhnlich dreimal in der Woche, erklärende öffentliche Vorträge im Palais de l’Industrie über eine Reihe elektrischer Zweige zu halten. Der Besuch dieser Vorträge, da dieselben stets von zahlreichen und meist noch nie gesehenen Experimenten begleitet waren, war daher, zumal die Redner dem Kreise der höchsten technischen Elite angehörten, ein sehr reger und auch lohnender.

In gleichem Maße, wie hier in dem Congreßsaale dem zahlreich versammelten Auditorium das Wesen und die Organisation der neueren Telephonie vorgeführt wurden, enthüllten sich vor unseren Blicken jene merkwürdigen Räthsel, welche vereint die volle Tragweite der elektrischen Kraft darthaten: Photographien in natürlich erhaltenen Farben, die sogenannten „Photo-Relief-Bilder“, welche durch einen Proceß erzeugt werden, bei welchem das elektrische Licht vermittelst einer natürlichen Photographie auf eine eigenartige Gelatinmasse wirkt und in letzterer eine negative plastische Form erzeugt, durch welche man äußerst wirkungsvolle und getreue Relief-Bilder des Originals erhält; ferner die sinnreichen automatischen Apparate Meyer’s, welche beliebige Zeichnungen und Schriftstücke mit schärfster Genauigkeit und ohne chemische Mitwirkung, lediglich durch elektrische Ströme vollkommen getreu auf beliebige Entfernungen übermitteln; sodann das wunderbare Pyrophon Friedrich Kastner’s, das uns durch elektrische Kraft, von unsichtbarer Hand geleitet, die Zauberklänge der Aeolsharfe in voller Harmonie aus einem Flammenmeer ertönen läßt, das sind nur Beispiele aus der Reihe zahlreicher glänzender Errungenschaften der Elektricitätswissenschaft.

So steht der elektrische Strom heutigen Tages als eine Macht da, welche wir im höchsten Maße achten, werth halten und fördern müssen. Wie Telegraphen und Telephone in immer dichteren Maschen unseren Erdball umspannen, so ist die Elektricität dazu berufen, in gleichem Grade veredelnd auf Geist und Körper der Menschheit einzuwirken; sie wird nicht verfehlen, die Gesittung, die Bildung und den Sanitätsstand der Völker einer wesentlichen Besserung entgegenzuführen.

Paris, im November 1881. E. Hinkefuß.     


Die Schlacht von Unter-Sendling.

(Christnacht 1705.)

Eine Weihnachtsgeschichte ist es, von der wir in Nachfolgendem unsern Lesern berichten. Aber sie gehört nicht zu den üblichen Erzählungen von dem Glanz und Duft der strahlenden, wunderherrlichen Christnacht, welche die frohe Feststimmung läutern und erhöhen; denn nicht vom „Frieden auf Erden“ vernehmen wir in ihr, sondern nur von dem Elende des Krieges, und nicht von dem verheißenen Glücke der Menschheit weiß sie zu berichten, sondern nur von dem Jammer eines durch fürstlichen Uebermuth schwergeprüften Volkes. Ihre Haupthandlung fand einen blutigen Abschluß auf den Gefilden Unter-Sendlings, und eine rachgierige Henkerarbeit in den Straßen Münchens bildete ihr grausiges Nachspiel: Mit Recht hat man diesen Christtag von 1705 „Eine Mordweihnacht“ genannt.

Das vorige Jahrhundert war gerade angebrochen, als unter den Herrschern Europas ein Streit über die spanische Thronfolge entstand. Das deutsche Reich hatte zwar kein besonderes Interesse an dem Ausgange dieser Zwistigkeiten, ein Theil desselben wurde aber durch die kurzsichtige Politik einiger Fürsten in die verderblichen Kriegswirren verwickelt. Max Emanuel, der damalige Kurfürst von Baiern, schlug sich auf die Seite der Franzosen, und sein Heer stand nun den kaiserlich österreichischen Truppen feindlich gegenüber.

Nach der Entscheidungsschlacht bei Höchstädt am 13. August 1704 wurde Baiern von dem siegreichen kaiserlichen Heere als ein mit Waffen erobertes Land mit unerhörter Grausamkeit behandelt.

Der Friede zu Ilbesheim ließ nur das Rentamt München der Gemahlin des nach Flandern verjagten Kurfürsten, während alle anderen Städte des unglücklichen Landes gezwungen wurden, kaiserliche Truppen als Besatzung aufzunehmen. So kam es, daß bald in jedem Hause und in jeder Hütte Soldaten lagen, welche das Hab und Gut des Bauern und Bürgers verpraßten, und daß die vom Kaiser eingesetzten Minister das Volk außerdem mit Steuern und Lasten bedrückten, welche jeder Menschlichkeit spotteten.

Um nun dieses unerträgliche Joch der Eroberer abzuwerfen, hatten sich, während auch die Kurfürstin aus dem schwergeprüften Lande nach Venedig entfloh, entschlossene baierische Männer zu einem geheimen Bunde zusammengethan, welcher den Plan verfolgte, an einem gewissen Tage, dem Himmelfahrtstage, die ganze österreichische Besatzung niederzumachen, sich der Städte und Festungen zu bemächtigen und an einem der Donaupässe die Ankunft eines französischen Hülfsheeres abzuwarten. Durch die Verhaftung eines der Mitverschworenen wurde jedoch dieser Plan von den Oesterreichern entdeckt, welche nunmehr in München einrückten und in den baierischen Landen um so ärger wütheten.

Das Maß der Grausamkeit wurde schließlich durch einen kaiserlichen Befehl erschöpft, in Baiern zwölftausend Mann auszuheben, um sie in Italien oder Ungarn für den Krieg zu verwenden. Da inzwischen der Adel und die Geistlichkeit sich allgemein dem Kaiser angeschlossen, der Kurfürst fern von dem Lande weilte und keine Hülfe bringen konnte, so sah sich das unmenschlich geknechtete Volk auf sich selbst angewiesen, und es faßte auch alsbald den Beschluß, sich gegen seine Bedrücker mit den Waffen in der Hand zu erheben.

Unter dem Rufe: „Lieber baierisch sterben, als in des Kaisers Unfug verderben!“ rotteten sich Bürger und Bauern zum hellen Widerstande zusammen.

Nachdem bei Neunburg vor’m Wald und bei Retz in der Oberpfalz 500 bewaffnete Bauern den Oesterreichern einen Rekruten-Transport entrissen hatten, tauchten überall im Lande aufständische Haufen auf, und in wenigen Wochen war das Heer der baierischen „Landesvertheidiger“ auf 30,000 Mann angewachsen. Es begann ein blutiger Guerillakrieg, in welchem Tausende von Bauern im offenen Kampfe fielen und zahlreiche Gefangene von den Oesterreichern an den nächsten Bäumen aufgeknüpft wurden. Hier und dort entschied jedoch das Schlachtenglück zu Gunsten der Aufständischen; sie erstürmten Burghausen, Braunau und Schärting. Die Erhebung griff weiter um sich, und vom Inn und der Isar pflanzte sie sich an die Donau fort.

Es war aber ein ungleicher Kampf, den die baierische „Landesdefension“ in der äußersten Noth unternommen hatte. Sie verfügte nur über regellose, schlecht bewaffnete und schlecht geführte Haufen, während der Feind in den Winterquartieren kriegsgeübte Truppen besaß. Es war also leicht vorauszusehen, daß der Heldenmuth der aufständischen Bauern bald unter dem regelrechten Feuer der kaiserlichen Musketiere verbluten werde.

Trotz alledem beschlossen die Bauern im Isarwinkel, als die Erhebung auch in Oberbaiern durchgedrungen war, einen verwegenen Streich auszuführen: die Stadt München zu überrumpeln, sie den Oesterreichern zu entreißen und die dort unter kaiserlicher Obhut befindlichen kurfürstlichen Prinzen zu befreien.

Heimliche, nächtliche Zusammenkünfte erfolgten zu diesem Zwecke bereits zu Anfang December 1705 in den verschiedenen Gebirgsdörfern, und man setzte sich durch vertraute Leute mit den Münchener Bürgern in Verbindung. Es wurde verabredet, daß die niederbaierischen und die oberbaierischen Bauern in der Christnacht gleichzeitig vor der Stadt erscheinen und die Bürger selbst auf ein gegebenes Zeichen die kaiserliche Besatzung überfallen und entwaffnen sollten.

Inzwischen aber wurde durch den Pflegemeister von Starnberg, Johann Joseph Oettlinger, der Feldzugsplan an den Feind verrathen, der seinerseits sofort gegen das starke Heer der niederbaierischen Landesdefension einige Regimenter schickte, um dessen [865] Erscheinen vor München zu verhindern, und außerdem andere Truppen nach München berief.

Schmied Balthes Mayr von Kochel ruft seine Landsleute zum Kampfe auf (Christnacht 1705).
Nach dem Oelgemälde von Th. Sporer.

Unter diesen Umständen riethen die besonneneren Führer, als sich thatsächlich am 24. December gegen 2800 Oberbaiern in Schäftlarn zum Zuge gegen München versammelt hatten, von dem ganzen Vorhaben ab, da man keine Aussicht auf Erfolg haben konnte. Der vernünftige Rath schien auch dem undisciplinirten Haufen schon im Vorrücken einzuleuchten und man beschloß im Allgemeinen nach Schäftlarn zurückzumarschiren. Da schickten die Tölzer Schützen, welche sich schon beim Aufmarsch des Zuges auf der Schäftlarner Brücke postirt hatten und Jeden, der zurückginge, zu erschießen drohten, Abgeordnete an die Commandanten des Zuges Mayr und Huy mit der Erklärung, sie würden sie in Stücke zerhauen, wenn sie auf den Rückzug beständen; denn die Schützen „seyen capabl ohnne der Minchener oder der Vuderlandtsdefensoren Hilf die Keyserliche nit allein aus Minchen: sondern auch aus dem ganzen Landt zejagen“. Als aber die Commandanten trotz dieser Drohung für schleunigen Rückzug stimmten, setzten die Schützen den Hauptmann Mayr ab mit der Bemerkung, „er solle sich nicht mehr blicken lassen, wenn er nicht erschossen werden wolle“. So rückten sie denn vorwärts unter Führung des Pflegers von Vallai, Maximilian Alram.

[866] Inzwischen ließen die Oesterreicher in der Stadt an den Plätzen, an welchen der Aufstand losbrechen sollte, Kanonen auffahren und verboten den Bürgern bei Todesstrafe, nur einen Schritt auf die Gasse zu thun.

Nach Mitternacht am 25. December erschien die oberbaierische Landesdefension vor München, und da sie auf das mit den Bürgern verabredete Zeichen und das Eintreffen der niederbaierischen Bauern vergebens wartete, griff sie bald auf eigene Faust den „rothen Thurm“ an der Isarbrücke an, den sie auch nach kurzer Gegenwehr eroberte. Von hier aus beschossen die Belagerer die Stadt bis acht Uhr Morgens, das heißt bis zu dem Augenblicke, an welchem der zum Entsatz Münchens commandirte General Kriechbaum mit seinem Corps von Anzing her auf dem Kampfplatze erschienen war. Während dieser die Belagerer im Rücken angriff, machten die Oesterreicher einen Ausfall aus der Stadt, und die von allen Seiten vom Feinde umringten Oberländer mußten trotz der heldenmüthigsten Gegenwehr der Uebermacht weichen, bis sie, gegen Sendling zurückgedrängt, die Waffen streckten. Es ward ihnen Begnadigung zugesagt, aber die kaiserlichen Soldaten drangen nun gegen die Wehrlosen ein, und „so wurde der Geburtstag des Herrn nicht so fast durch ein Kriegsgefecht, als vielmehr durch Hinmordung der unglücklichsten Menschen entehrt und gebrandmarkt“.

Nachmittags am ersten Feiertag wurden fünfhundert Schwerverwundete in die Stadt geschleppt und zum Schrecken der Bevölkerung „lang auf denen Gassen liegent gelassen worden, bis man sie hin und wieder in die Spitäler vertheilt hat“. Aber die Wuth der Soldateska begnügte sich nicht mit dieser scheußlichen Grausamkeit; später wurden die Verwundeten aus den Spitälern hervorgeholt und auf dem Blutgerüste zu München hingerichtet.

Das ist in gedrängter Darstellung die Geschichte der oberbaierischen Landeserhebung im Jahre 1705, wie sie August Schäffler in seiner auf Quellenstudien beruhenden Abhandlung in meisterhafter Weise darstellt. (Vergl. auch „Gartenlaube“ 1869, S. 769.)

Aber in dieses blutige Weihnachtsfest hat das oberbaierische Volk noch eine sagenhafte Heldengestalt hineingewoben, von der die Geschichte nichts zu berichten weiß, die aber von Dichtern besungen und von Malern in Bildern verherrlicht wurde. An der Außenwand der Sendlinger Kirche befindet sich ein schönes Schlachtgemälde von Lindenschmitt, eine Erinnerung an das Sendlinger Blutbad. In dem Mittelpunkt desselben ragt eine Hünengestalt hervor, die mit gewaltiger Stachelkeule Leichname der Feinde um sich her thürmt. Sie stellt den Helden der Sage dar, den Schmied von Kochel, Balthes Mayr genannt. Er ist keineswegs identisch mit dem von den Tölzer Schützen abgesetzten Commandanten „Hauptmann Mayr“, der später in München von den Oesterreichern hingerichtet wurde.

„Dieser Balthasar Mayr ist vielmehr der Ueberlieferung zufolge in Waarkirchen auf dem sogenannten ‚Chrisamgütel‘ von armen, aber redlichen Bauersleuten geboren. Er erlernte in seiner Jugend das Schmiedehandwerk, trat aber in der Folge als Flügelmann der baierischen Leib- und Grenadier-Abtheilung in die kurbaierische Armee. In den Türkenkriegen, die er unter Max Emanuel mitmachte, zeichnete er sich durch seine Tapferkeit, Stärke und Größe aus und erwarb sich den Beinamen des baierischen Riesengrenadiers. Acht Schuh drei Zoll soll er groß gewesen sein. Vor Wien schlug er mit dem geschwungenen Gewehrkolben ganz allein mehr denn zwei Dutzend Ungläubige zu Boden; in der Schlacht bei Siclos sprang ihm seine ‚Wehr‘; er riß die Deichsel eines Wagens ab und zerschellte damit einen ganzen Schwarm berittener Türken. Als Max Emanuel die hohe Belgradmauer stürmte, war es Baierns Riesengrenadier, der sich mit seinem Rücken an das Hauptthor stemmte, dasselbe sprengte, als der Erste hineinstürzte und zu Boden schlug, was ihm Widerstand bot. Nach Beendigung der Türkenkriege, in denen er auch ehrenvolle Wunden erhalten hatte, zog er sich nach Kochel zurück und lebte dort, bis ihn die Erhebung der Bauern nochmals unter die Waffen rief, als Schmied. Auch in dieser Function gab er wiederholte Proben seiner Kraft. Das stärkste Hufeisen z. B. brach er mit einem Riß entzwei; das unbändigste Pferd warf er zu Boden und beschlug es. Wegen dieser seiner Stärke wurde er zum Anführer in der Christnacht-Expedition gewählt. Die von der Gräfin Arco gestickte Löwenfahne in der einen, die mehr als einen Centner schwere Stachelkeule in der andern Hand, stürmte er Allen voran. Wie vor Belgrad, so sprengte der Schmiedbalthes auch am ‚rothen Thurm‘ vor München die festgeschlossene Pforte, schlug mit seiner Keule achtzehn Mann zu Boden, und als die Landesvertheidiger nach Sendling zurückgedrängt wurden, war der Schmiedbalthes der letzte Kämpfer über hochgethürmten Leichenhaufen. Ihm zur Seite waren sein Vetter Reifenstuhl aus Gmund und seine beiden Söhne, Lorenz und Paul, gefallen; er hatte schon viele Verwundungen empfangen, und dennoch stand er noch und kämpfte wie ein Löwe. Da durchbohrte eine Lanze seine Brust; er sank und starb. Seine Hand umfaßte im Tode noch das Löwenbanner.“[3]

Nach einer andern Variante dieser Sage war Balthes Mayr der Urheber der oberbaierischen Landeserhebung, indem er in dem Dorfe Kochel am Kochelsee seine Landsleute in feuriger Rede zu dem Zuge nach München bewog. Diese Scene stellt auch das dieser Skizze beigegebene lebensvolle Bild Th. Sporer's dar; die Bedeutung der einzelnen Personen auf demselben wird der Leser nach dem Obengesagten sich leicht erklären.

Es ist hier nicht der Ort, auf die widerstreitenden Meinungen über die eigenartige Erfindung dieser Sage näher einzugehen; sie ist aber interessant und erwähnenswert als eine der jüngsten in der langen Kette deutscher Heldengeschichten, als eine volksthümliche dichterische Schöpfung des so oft wegen seiner Poesielosigkeit gescholtenen neunzehnten Jahrhunderts.

  1. Vergleiche Nr. 43.
  2. Ob unser Herr Berichterstatter sich hier nicht allzu sanguinischen Hoffnungen hingiebt? D. Red.     
  3. Vergl. „Die oberbayerische Landeserhebung im Jahre 1705“ von August Schäffler. Sybel's „Historische Zeitschrift“, Jahrg. 1861

Drei Tribunen der Presse.

Ein Blick in’s New-Yorker Zeitungswesen.

Während der letzten Jahrzehnte haben drei Männer den allergrößten Einfluß auf die Geschicke der Menschheit jenseits des Weltmeeres ausgeübt, von denen in Deutschland nur wenig bekannt geworden ist: Greeley, Bennett und Raymond, die Gründer und Erhalter der drei größten New-Yorker Journale. Als sie vor vierzig Jahren ihre Laufbahn antraten, da waren noch kindliche Zustände im New-Yorker Zeitungswesen. Damals richtete sich noch der Ehrgeiz der New-Yorker Blätter auf die Frage, wer wohl die frühesten Nachrichten von einem einlaufenden Segler erhalten könne; denn es gab zu jener Zeit noch keine Telegraphen, keine unterseeischen Kabelverbindungen, die mit der Schnelligkeit des Blitzes das Neueste im Augenblick um schweres Geld über den Erdboden jedem zutragen, der es zu bezahlen vermochte, sondern der strebsame Zeitungseigenthümer brauchte nur seine Laurer auf den Höhen der New-York-Bai bei den Lootsenführern zu wissen, um ruhig zu sein, und brachte er es bis zu einer eigenen schnellbeflügelten Yacht, so war er sicher, daß ihm keiner zuvorkommen werde mit den neuesten Neuigkeiten. So gelangten die Nachrichten von der Junirevolution, von den Märztagen, ja noch von Garibaldi und seinen Heldenthaten in die Hände der unternehmenden Zeitungsredacteure. Die Arbeit, die jetzt der Telegraph verrichtet, der sich wie ein weitverzweigtes Netzwerk über das Unionsgebiet ausbreitet, lag in den Händen geringbesoldeter Correspondenten, und die Eisenbahnen kamen nur auf den Hauptverkehrscentren in Betracht. Da mußte oftmals noch die langsame Postkutsche erwartet werden, und der Wetteifer beschränkte sich häufig auf die Geschicklichkeit, mit der das Neueste und interessanteste mit der Scheere aus den Spalten eingelaufener Zeitungen herausgeschält wurde.

In diese Zeiten fallen die Uranfänge der drei großen Organe der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten. Die merkwürdigste, in der Geschichte der Presse fast ahne Gleichen dastehende Erscheinung unter den Gründern dieser Zeitschriften ist ohne Frage Bennett, der Redacteur des „New-Yorker Herald“. Er war der gewiegteste Zeitungsmann von den Dreien, wenn man ihre Werke vom finanziellen Standpunkte aus betrachtet. Nach dieser Seite hin ragte er um eines Kopfes Höhe über seine beiden Rivalen, Greeley und Raymond, [867] empor; sein ganzes Sinnen und Trachten, der Zweck seines Blattes, war ihm nur der Geldpunkt, dem er sich selbst, sein Privatinteresse und sein zeitliches Wohl opferte. Er war ein Original und machte im Leben Alles anders als andere Leute; so erzählt man sich über seine Heirath Folgendes:

„Bill!“ sagte er eines Morgens zu Atree, einem seiner vornehmsten Reporter, „würdest Du wohl am Sonntag eine Fahrt nach Coney Island machen?“

„Ja; Herr,“ antwortete jener erstaunt.

„Und Bill!“ fuhr Bennett fort, „Du kannst Deine Frau mitbringen.“

„Jawohl, Herr,“ entgegnete Atree verwirrt.

„Und Bill! Du kannst einen Wagen bestellen, uns an’s Dampfschiff zu bringen.“

„Ja, Herr,“ war die einzige Antwort, welche Atree zu geben wagte. Er wollte sich eben zurückziehen, als er durch die weitere Bemerkung noch mehr in Staunen versetzt wurde:

„Und Bill! Du kannst auch das junge Frauenzimmer mitbringen, welches ich neulich in Deinem Hause gesehen habe.“

Dieses junge Frauenzimmer, deren Mädchenname Krean war, wurde die spätere Frau Bennett’s.

Er hatte nicht nach Geld geheirathet; sein „Herald“ mußte ihm seinen Reichthum schaffen, und nur das Geld, welches ihm dieses Blatt einbrachte, hatte für ihn Werth. Daher war er mit Bezug auf seinen „Herald“ ebenso sehr Autokrat, wie er im gewöhnlichen Leben dem demokratischsten Gleichheitsgrundzuge huldigte.

Der „Herald“ war sozusagen das Klatschtagebuch der Nation. Sein Gründer, obwohl an Fähigkeiten und Bildung tief unter Greeley und Raymond stehend, war ihnen an Tact und Fertigkeit weit überlegen. Während sie ihr Augenmerk auf politische Vortheile und auf die Erlangung von Einfluß und Würden im Staatsleben richteten, lebte Bennett ausschließlich seinem „Herald“ und den durch denselben zu erlangenden pecuniären Vortheilen. Keine Versuchung war stark genug, ihn aus dieser Lebensstellung heraus zu drängen, und selbst der von Lincoln ihm angetragene französische Gesandtschaftsposten war nicht im Stande, ihn wankend zu machen. Natürlich wirkte er bei dieser Beharrlichkeit Gutes, indem er keine Kosten und keine Mühe scheute, stets das Allerneueste seinen Lesern zu bringen, koste es, was es wolle. So nahmen in seinem Blatte alle Raub- und Mordgeschichten aus beiden Welttheilen natürlich einen hervorragenden Rang ein, und der „Herald“ ersetzte auf diese Weise das Bedürfniß einer besonderen Criminalbibliothek, wie wir sie nun schon seit vielen Jahren in Deutschland haben, vollständig.

Die Berichte dieses Blattes waren stets sorgfältig gearbeitet und die Gerichtsverhandlungen stenographisch nachgeschrieben. In diese letzteren dictirte Bennett selbst während vieler Jahre allen seinen Mitarbeitern kurze vernichtende Ausrufe sittlicher Entrüstung hinein, welche jene dann nach bestem Gutdünken an geeigneter Stelle in ihre Berichte woben. Das war auch lange Zeit seine Gewohnheit mit Bezug auf Leitartikel und andere wichtige Aufsätze, wie er denn bis in seine späten Tage nicht ohne geistigen Einfluß auf den Ton und die Haltung des gesammten Blattes blieb. Aber dasselbe enthielt nie einen Aufsatz, der mit Bezug auf seine äußere Gestalt mustergültig genannt werden konnte, und kein Blatt von der Verbreitung des „Herald“ hat jemals einen so geringen politischen Einfluß ausgeübt, wie gerade er.

Es kam vor, daß der „Herald“ factisch in einer Woche die Farbe drei- und viermal änderte. Was kümmerte es Bennett, ob vor seinem Locale ein patriotischer Volksauflauf das Herausstecken einer Unionsfahne auf der „Herald“-Expedition verlangte? Warum sollte er nicht den bunten Lappen an die Lüfte setzen, den Jene sehen wollten, weil er in seinen letzten Nummern mit aller Macht gegen den „Bruderkrieg“ gedonnert hatte? Hoch flatterte die Fahne, und am nächsten Morgen erschien der „Herold“ mit einem patriotischen Artikel, der fantastisch das Gegentheil von dem verlangte, was erst gestern den Volksauflauf verursacht hatte.

Bennett, der Tribun des wetterwendischen Volkswillens, hatte mit nichts angefangen. In einem Kellergewölbe begann er seine Laufbahn; dort schrieb er seine eigenen Leitartikel; dort war er sein eigener Berichterstatter und Laufbursche; dort verrichtete er auch alle Geschäftsarbeiten selbst auf einem improvisirten Ladentische, der aus einem Brett bestand, das über zwei umgestülpte Fässer gelegt war. Er erwarb sich mit seinem Systeme ein Vermögen von über fünf Millionen und hinterließ seinem Sohne ein Blatt, das, wie man allgemein behauptet, eine jährliche Revenue von 700,000 Dollars abwirft.

Ein anderer als Bennett war Greeley, der Besitzer der „New-Yorker Tribune“; er starb als ein verhältnißmäßig armer Mann; denn sein ganzes Besitzthum wird nicht über einige hunderttausend Dollar werth gewesen sein, als er das Zeitliche segnete, und doch, ja vielleicht deshalb war er bei Weitem der größere Mann von den Beiden; ein weites, edles Herz schlug in seiner Brust; er fühlte mehr den Beruf, in der Welt zu wirken, als den, Geld zusammen zu scharren, und er hat seinen Beruf erfüllt. Es dauerte lange, ehe er nur die große Bedeutung begriff, welche die schnelle und zuverlässige Veröffentlichung von Tagesneuigkeiten für sein Blatt, „Die Tribune“, haben mußte, und ehe es ihm klar wurde, daß das Publicum nicht in erster Reihe tiefgedachte Abhandlungen wünsche, sondern daß es ihm um das Neueste und Interessanteste zu thun sei. Dabei war Greeley mindestens ebenso selbstbewußt und herrisch in der Führung seiner Zeitungsredaction, wie Bennett es nur je sein konnte. Wenn er früh in seinem Redactionslocale erschien, mit welcher kreischenden Wuth rief er da manchmal, indem er das Redactionswerk des vorhergehenden Tages in seinem Blatte las:

„Wer ist der verdammte Narr gewesen, der einen solchen infernalischen Blödsinn in mein Blatt geschrieben hat?“

Bei solchen Anlässen trat oft seine zwar bedeutende, aber auch schroffe Persönlichkeit empfindlich in den Vordergrund. Jeder Spalte des Blattes war sie in unverkennbarer Weise aufgeprägt, und dies mußte bei einer Tageszeitung von dem Umfange der seinigen eine Einseitigkeit herbeiführen, die den Leser ermüdete, abgesehen davon, daß unvermeidlicher Weise seine persönlichen Schwächen und Launen dabei ebenso wohl zum Ausdrucke kamen, wie seine großen und erhabenen Eigenschaften. Seine Liebe zur Menschheit steigerte sich wie diejenige des älteren Mirabeau zu einer ausgebildeten Schwärmerei; sie schwang sich über die Köpfe seiner kleinlichen alltäglichen Umgebung hinweg, gegen die er oft herrisch und hart erschien, auch wo sie es nicht verdiente, und dies führte ihn jener Lebensaufgabe entgegen, in der seine Menschenliebe sich ganz ideal bethätigen konnte, der Aufgebe der Befreiung des Negers von den Fesseln der Sclaverei. Er kämpfte für den Gedanken und nur für den Gedanken dieser Negeremancipation mit einer Kraft, Zähigkeit und Unermüdlichkeit, die endlich alle wahrhaft menschlich gesinnten Elemente der Union mit sich fortriß. Hierin, wie in seinem ganzen Wesen als Redacteur, war er mehr ein Volksheros, mehr ein Tribun, als ein gewöhnlicher Zeitungsmann. Er blieb auch als solcher stets derselbe freimüthige Vorkämpfer des Ideals und trieb seinen rücksichtslosen Feuereifer oft allzu weit, sodaß der vorsichtige Lincoln gewiß nur in seinem und des Staates Interesse Greeley’s Wunsch, in eine höhere Staatsstellung einzutreten, nicht erfüllte. Und war es nicht eine Rechtfertigung dieses Lincoln’schen Vorgehens, ist es nicht bezeichnend für Greeley’s Charakter, wie für seine ideale Größe, daß er seinen Namen unter die Bürgschaftsurkunde für den Ex-Präsidenten der Conföderation, Jefferson Davis, setzte und dadurch seine gegründete Aussicht auf den Posten eines Senators für den Staat New-York in den Wind schlug? Wahrlich, mit solchen Köpfen ist sicherlich gut Kirsche essen – aber schlecht regieren.

Dasselbe Urtheil, wie Lincoln, hat übrigens das amerikanische Volk über diesen seinen gefeiertsten Tribunen jener Tage gesprochen, als es sich darum handelte, Greeley zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu wählen. Was waren aber auch diesem Manne, der durch ein Jahrzehnt von seinem unscheinbaren Redactionstische aus das Schicksal der Union lenkte, was waren ihm Geld und hohe Stellung? Was hätte er seinem Kranze an Ehren noch für ein Blatt hinzufügen können, er, mit seiner Tribunennatur, umlauert von den Intriguen des Weißen Hauses? Besser für ihn, er ruhte auf seinem lauteren Ruhme, der seinen Namen untrennbar mit einer der größten Epoche der amerikanischen Geschichte verknüpft; denn wer weiß, ob sein Ruhm so lauter geblieben wäre, wenn er in das Staatsleben direct eingegriffen hätte! Es schlummerten aber in seiner Seele Leidenschaften, die Keiner aus seinen ruhigen, freundlichen und vorwiegend liebenswürdigen Zügen herausgelesen hätte. Mit dem idealen Sinne verband er einen gewissen Grad praktischer Klugheit und feurigen Ehrgeizes, und dieser Ehrgeiz hätte dem Staatsmann gefährlich werden können. Uebrigens war [868] er ein Geist von ausgezeichneter Art und zeigte oft eine humoristische Ader von genialer Frische und Liebenswürdigkeit.

Raymond, der Letzte des großen Zeitungstriumvirats der Stadt New-York, war, so zu sagen, aus Greeley und Bennett zusammengesetzt, aber er besaß weder des Einen noch des Anderen große Eigenschaften und war weniger selbstständig als seine beiden Vorgänger. Seine ursprüngliche Idee, als er mit seiner „New-York Times“ auftrat, war, dieses Blatt wie einen Keil zwischen die Blätter Greeley’s und Bennett’s hineinzutreiben. Er wollte weniger dem Irrthum unterworfen erscheinen als Greeley und würdiger dastehen als Bennett. Nicht ohne politischen Ehrgeiz, jedoch ohne die große ideale Anschauung Greeley’s, suchte er sein Glück für und für in der Geschicklichkeit, mit der er seine Stellung behauptete und seine Sache führte, und kam dadurch in die Gefahr des Seiltänzers, der ohne Balancirstange seine Kunst ausübt; er erregte mehr Staunen und Bewunderung, als daß er sich dauernde Sympathien zu erwerben vermochte. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, war eine so schwierige, daß seine größte That darin bestand, daß er ihr nicht unterlag. Der kleine energische Mann, der unermüdlich wie eine Infusorie zwischen den beiden Riesen hin- und herfuhr, dessen unermüdliches Bestreben es war, sich mit der größtmöglichsten Gewandtheit durch die Klippen, welche ihn bedrohten, hindurchzuwinden, erwarb sich daher bei seinen Zeitgenossen den Beinamen „das kleine Ungeheuer“. Auch ihm glückte es nie, zu einer Staatsstellung zu gelangen, obschon er darnach begehrte, und zwar in noch höherem Muße als Greeley. Er starb, wie Letzterer, verhältnißmäßig arm, obschon die Zeitung, welche er geschaffen hatte, ein werthvolles Besitzthum vorstellte. Aber er wie Greeley sahen sich genöthigt, die Hülfe des fremden Capitals in Anspruch zu nehmen, um mit den Ereignissen und den gesteigerten Anforderungen der Zeit Schritt zu halten, während der nur auf den Gelderwerb bedachte Bennett bis zu seinem Tode alleiniger Redacteur und Besitzer des „Herald“ blieb.

Erst nach Raymond‘s Tode stieg der Glücksstern der „Times“ plötzlich empor, indem eines Tages James O’Brien, Ex-Sheriff von New-York County, sehr gelegen in den Redactionszimmmern mit einer Zusammenstellung der erschreckendsten Zahlen erschien, welche jemals der Welt vorgelegt worden sind. Er war von dem berüchtigten, später erschossenen Tweed (vergl. Nr. 1, 1874) in seinen eigenen Plänen hintergangen worden und suchte Rache und eine Belohnung von fünftausend Dollars für seine Enthüllungen. Diese Enthüllungen enthoben die „Times“ mit einem Schlage der Sorge um ihre weitere Existenz.

Aber nicht Alles, was in den drei großen Zeitungen erschien, war die Arbeit der drei eigenthümlichen Männer, welche ihnen die Seele einhauchten, Es gab in den Redactionsbureaus eines jeden derselben Unterredacteure, aus deren Federn viele der Leitartikel flossen, die den Ruhm der Blätter begründen halfen; namentlich Bennett überließ in seinen späteren Jahren einen großen Theil der Führung seines Blattes jüngeren Kräften, und nur in finanzieller Beziehung behauptete er bis zuletzt seine autokratische Selbstherrlichkeit.

Greeley, in Allem sein Gegenstück, bewahrte sich indessen seine intellectuelle Oberherrschaft unwandelbar bis zuletzt und überließ umgekehrt nur die finanzielle Leitung den Actionären seines Blattes. Mochten sie darin im Sinne ihrer Parteizwecke nach Gutdünken schalten!

Beide Herren, Bennett und Greeley, zogen sich später, müde und überarbeitet, auf’s Land zurück. Es giebt in der Welt eben kaum einen Beruf, der so aufreibend wäre, wie die Redactionsführung eines großen Blattes – andauernde Aufregung und stets angespannte Geistesarbeit verzehren frühzeitig auch eine eiserne Kraft.

Soviel über die drei Tribunen der amerikanischen Presse! Die Zeit der allmächtigen Triumvirn im amerikanischen Zeitungswesen ist heute, wo das Capital sich der Publicistik in Amerika bemächtigt hat, dahin – mit ihr auch die Möglichkeit, daß ein einzelner Mann, wenn auch noch so vielseitig befähigt, im Stande wäre, wie Greeley, durch die Presse die Macht eines Imperators auszuüben. Das Gebiet des Tribunenthums ist heute nicht mehr die Presse, sondern vorwiegend das Parlament. Hermann Riotte.     


Ein Friedensstörer.

Erzählung von Victor Blüthgen.
(Schluß.)


„Es ist doch wohl besser,“ meinte der glückliche Bräutigam, „Anne-Marie spricht zunächst mit Onkel und ich vermeide vorläufig, ihm unter die Augen zu treten. Er könnte im ersten Zorn wieder Entschlüsse fassen, welche alles verderben, da ihm sein Starrsinn nachher nicht erlaubt, sie zu widerrufen. Ich werde mit Ihrer Erlaubniß wieder den Parkweg wählen, Herr von Pannewitz, und Ihre Mittheilung im Garten abwarten.“

Man stimmte zu, und Herr von Pannewitz verfolgte mit Anne-Marie den Weg allein weiter.

„Hurrah, Papa bringt Anne-Marie!“ rief Hedwig am offenen Fenster. Das schrumpflige Gesicht des alten Barons erschien, und er bog sich weit heraus.

„Ist es gut abgegangen? Mein liebes Anne-Marieken, nun sieh mal, das ist mir doch ’ne rechte Herzensfreude.“

„Wo ist Curt?“ fragten die Frauen oben, Herrn von Pannewitz bei Seite nehmend.

„Alles gut!“ sagte der augenzwinkernd.

„Ja, wo ist die Pogge, Pannewitz? Hast Du sie nicht gefunden? Hat sie der Teufel geholt? Ich hätte da nichts dawider.“

„Leider ist sie heil und gesund, Franz, und nun denk Dir mal, was der Kerl angestiftet hat: der hat sich mit Anne-Mariechen – verlobt.“

Wie eine Bombe fielen diese Worte in den Kreis. Die Mädchen schrieen laut auf, faßten die glühende Anne-Marie um und erstickten sie beinahe mit Zärtlichkeiten. Der Baron aber wurde aschfahl; nur die Nase hielt Farbe. Er stierte Herrn von Pannewitz wie ein Gespenst an. Mit heiserer Stimme rief er:

„Fritz, auf Ehre und Gewissen: das ist nicht wahr.“

„Das ist doch wahr, Franz –“

„Onkel, lieber Onkel, ich habe ihn lieb – ich konnte doch nicht anders. Ich wäre vielleicht doch gestorben ohne ihn“.

Anne-Marie lag vor dem Alten auf den Knieen und bedeckte seine runzlige Hand mit Küssen. Aber er entriß ihr dieselbe und bedeckte die Augen.

„Mein Anne-Marieken nimmt doch den Kerl!“ sagte er mit unverstelltem Schmerz. „So ’nen Kerl, der sich nicht mal mit mir duelliren will! So ’nen Hasenfuß! Nun hat mir der Hund auch noch mein Anne-Marieken gestohlen.“

„Onkel!“ schrie Anne-Marie verzweifelt, „stoße mich nicht fort, mache mich nicht unglücklich –“

Der Baron befreite seine Kniee von ihren Händen, rauh, wie er nie gegen sie gewesen. Dann stiefelte er unsicher zur Thür hin. Herr von Pannewitz winkte beruhigend zurück, ehe er, ihm auf den Hacken, das Zimmer verließ.

„Pannewitz, hast Du ’ne Stube für mich? Mir ist schlecht zu Muthe,“ sagte der alte Herr draußen.

„Natürlich, alter Freund! Komm’, und laß uns ein vernünftiges Wort reden! Wir wollen mal zusehen, was wir mit dem Kerl anfangen.“

„Nein, Fritz; das muß ich erst mit mir allein abmachen.“

Herr von Pannewitz schloß ihm schweigend ein Fremdenzimmerchen auf und wollte gehen. Der Alte stand verlegen, wie mit einem Entschluß ringend.

„Bleib mal hier, Fritz! Sieh mal, Du bist mein alter Freund, und auch ’n Edelmann. Mir ist meine ganze Ehre abgeschnitten von dem Kerl, und er will sich nicht mal mit mir schießen. Du hast von Brandow’n so schöne lütte Pistolen gekauft Es wäre ja doch möglich, daß er sich noch mit mir schösse und da möchte ich so ’n bischen Uebung abhalten. Gieb mir eine in die Stube hier! Das knallt ja nicht sehr.“

„Lieber Franz,“ meinte Herr von Pannewitz ernst, „ich glaube Du könntest Dich mal verschießen und machen, daß Dir selber was passirte, und unser Herrgott will davon nichts wissen.“

[869]

Die himmlische Weihnachtspost.
Original-Zeichnung von Paul Heydel.

[870] „Ja, wenn ich Dir denn das offen sagen soll: ich will und will das nicht überleben. Ich bin ein alter Kerl –“

„Aber, alter Freund, damit thust Du ja den Teterowern den größten Gefallen! Nachher sitzen sie in Pelchow als Herren.“

„Das ist wahr – da hast Du Recht,“ knurrte der Baron, aber dann fiel er wieder in seine elegische Stimmung zurück. „Ja das hilft doch nichts, Franz; wenn der Kerl sich nicht mit mir duelliren will, ist meine Ehre abgeschnitten, und das darf ich als rechtschaffener Edelmann nicht überleben.“

„Dann ist Anne-Marie zeitlebens unglücklich. Das arme Ding hat Dich so lieb –“

„Aber die verfluchte Pogge ist dann auch unglücklich!“

„Ja, das ist bei jungen Leuten nicht anders. So ’n alter Junggeselle, wie Du versteht das nicht –“

„Das sage nicht, Fritz!“ fiel der alte Heer eifrig ein; „als ich noch jung war, da war ich ein Schwernothskerl mit den Mädchen, und da bin ich auch verliebt gewesen, zum Beispiel in die jüngste Maltzan, von den Prebitzer Maltzan’s, die nachher fortgezogen sind in’s Mecklenburgische: das war ’n lütter Teufel, und ich hätt’ sie auf ein Haar zu meiner Braut gemacht; ich glaube aber, sie hat mich nur zum Besten gehabt; denn nachher hat sie sich mit ’nen Lieutenant verlobt.“

„Nu, wenn nun aber Dein Vater nicht gewollt hätte, daß Du sie heiratetest?“

„Nein, Fritz, so was hätte bei mir gar nicht aufkommen können; ich hatte ’nen harten Kopf schon dazumal und war höllisch scharf auf das Mädchen.“

„Das sind eben Anne-Marie und Deine Pogge auch auf einander.“

Der Baron starrte vor sich hin.

„Er langt aber nichts, und er hat mir meine Ehre abgeschnitten und ist ’n Duellflüchter.“

„Geh’ mal hinein, Franz,“ sagte Herr von Pannewitz kurz entschlossen, „und halt Dich mal ’ne Weile drinnen! Ich komme gleich wieder.“

Er nickte dem Baron zu und stieg in den Garten hinab, wo er Curt auf einer Bank zwischen Tarushecken fand, wie er eben mit besserem Verbinden der zerschrammten Rechten fertig geworden. Sein Auge hob sich gespannt und fragend; er sagte aber nur:

„Ich möchte Sie nachher um Leinzeug und Schwamm bitten; ich kann mich so vor Ihren Damen nicht sehen lassen.“

„Alles sollen Sie haben, aber zuerst hören Sie etwas Anderes! Der Alte ist also von der Verlobung unterrichtet, gerieth erst völlig aus dem Häuschen, wurde dann gänzlich lebensüberdrüssig, bis ich ihn besänftigt habe, und nun steht die Sache so: wenn Sie sich entschließen können, sich mit ihm zu duelliren, haben wir meiner Ansicht nach gewonnenes Spiel.“

„Aber wie kann ich das, Herr von Pannewitz!“

„Thun Sie’s, auf meine Verantwortung! Es hilft, und daß er es ernstlich auf Sie absehen wird, glaube ich nicht. Er meint es seiner Ehre schuldig zu sein, ein paar Kugeln mit Ihnen zu wechseln, und ist augenblicklich nur darüber wüthend, daß Sie ihm Satisfaction verweigern.“

„Nun meinethalben!“ lachte Curt. „Ich habe mich nie vor einem Duell gefürchtet. – Aber,“ setzte er ernster hinzu, „bedenken Sie, daß ich Bräutigam bin!“

„Schon gut!“ rief Herr von Pannewitz im Abgehen. „Das ist Ihr sicherster Schutz.“

Oben berichtete er sehr ernsthaft dem Baron, Curt bedauere die Duellverweigerung und wolle Genugtuung geben. Der alte Herr, welcher die ganze Zeit über in schwerer Herzensnoth vor sich hingebrütet hatte, athmete auf.

„Nun, siehst Du, Fritz, das freut mich von dem Menschen; er ist denn doch nicht so schlecht, wie ich gedacht habe. Nun wollen wir das aber bald anstellen – morgen früh, damit daß die Frauensleute nichts gewahr werden; denn die Art ist mit ihren Nerven auf so was nicht eingerichtet. Wenn unser Herrgott will, daß einer von uns Beiden todt bleibt, dann werden sie ja das auch noch immer zeitig genug merken. Mein Testament hab’ ich gemacht. Nun wollte ich blos noch eins sagen, Fritz. Bleibe ich todt, dann will ich nicht ausgezogen werden; das habe ich mir nie von ’nem anderen Menschen thun lassen, ausgenommen, als ich noch in den unvernünftigen Jahren war. Die Blumen und das grüne Zeug will ich auch nicht haben; ich mag nicht als ’n ausgeputzter Schweinskopf auf der Schüssel liegen; das ist mir zuwider. Jochen soll mich bei Nacht nach Langsdorf zum Herrn Pastor fahren und da können mich drei oder vier Menschen einpuddeln, daß nicht so ’ne Affaire mit Weinen und Geschrei gemacht wird, indem daß mir das schon bei Lebzeiten ein Gräuel gewesen ist. Und was aus meiner Verlassenschaft übrig bleibst das kriegt das Anne-Marieken.“

„Na, nun laß nur gut sein, Franz! Es wird schon so abgehen. Wenn Einer den Anderen todt schösse, dann wäre der einzige Mensch, der unglücklich würde, das Anne-Mariechen; das wißt Ihr ja wohl alle Beide. Willst Du Deinen Neffen heute sehen? Er ist unten im Gärten und getraut sich nicht herauf.“

„Sieh, er hat doch ’n bischen Respect vor mir,“ meine der Baron geschmeichelt, und in seine Leichenbitter-Miene stahl sich ein Schmunzeln. „Ein verfluchter Kerl ist er doch, Fritz; er hat den Boddin’schen Kopf, und das Gut hat er höllisch im Zuge. Aber ich mag noch nichts von ihm wissen, indem daß er mir die Ehre abgeschnitten hat, was noch nicht reparirt ist.“

„Vielleicht geht er selber lieber erst noch mal nach Pelchow und sieht zu, wie’s da mit dem Winde abgegangen ist.“

„Das wär’ wohl das Beste; Du kannst ihn ja auf den Gedanken bringen.“

Als Herr von Pannewitz das Zimmer verlassen hatte, schritt der Baron auf seinen kurzen Beinchen sporenklirrend auf und nieder. Die Aussicht, daß er sich am nächsten Morgen duelliren solle, gab ihm eine höchst gewichtige Haltung; er runzelte die Stirn, war aber offenbar in zufriedener Stimmung. Einmal blieb er stehen, bohrte die Blicke in den Teppich und sagte plötzlich:

„Nein, mein liebes Anne-Marieken, ich will da nicht schuld d’ran sein, daß Du unglücklich wirst. Ich für mein Theil nicht.“ Und nach langer Pause setzte er hinzu: „Und er ist ja wohl auch ’n ganz guter Kerl sonst. – Aber daß er mich hat aus meinem Hause mit zwei solchen – das werde ich Pannewitzen sagen, das muß er mir erst abbitten.“

Alsdann bückte er sich energisch, hob den Teppich auf und drückte ihn unter den Tisch, worauf er über die blanke Diele hin seinen Marsch fortsetzte. – –

Am nächsten Morgen stunden sich die beiden Gegner in der That ganz früh gegenüber. Niemand außer Herrn von Pannewitz war noch zugegen. Der Ort war einer der Windbrüche von gestern.

Bevor Herr von Pannewitz das Zeichen gab, senkte der Baron plötzlich die Pistole und rief hinüber:

„Sag mal erst, mein Sohn: willst Du mir auch das abbitten, daß Du Deinen leiblichen Onkel mit zwei Kerlen vom Gericht aus seiner Wohnung gesperrt hast?“

In Curt’s Gesicht zuckte es, aber der Ernst behielt den Sieg, und das war gut; denn der Alte beobachtete ihn scharf.

„Das will ich, Onkel, aber erst nach dem Schießen vorausgesetzt, daß ich am Leben bleibe.“

„Das ist Dein Glück. Nun los, Fritz!“ Die Schüsse knallten. Sie waren beide in die Luft gezielt worden. Mit gravitätischem Gesicht lud Herr von Pannewitz noch einmal; endlich zum dritten Male. Die vier Schüsse hatten dieselbe Richtung, wie die ersten.

„Bist Du zufrieden Franz?“ fragte Herr von Pannewitz.

„Jawohl, Nun komm mal her, mein Sohn, und gieb Deinem alten Onkel die Hand. So! Du bittest mir also ab?“

„Seien Sie vernünftig, Herr von Boddin!“ mahnte der Zeuge drüben zu Curt hin.

„Ich will meinetwegen abbitten, aber nur unter der Bedingung, daß Sie ruhig bei uns in Pelchow bleiben und mich wirthschaften lassen, wie ich muß, damit Sie die Demminer Juden vom Halse bekommen.“

„Will ich, mein Sohn – will ich,“ nickte der alte Baron. „Aber das sage ich Dir: bei meinem Anne-Marieken bedankst Du Dich; denn wenn das Kind nicht wäre, dann wäre das ganz anders gekommen. Daß Du nicht besonders schießen kannst, habe ich nun gemerkt, und es ist ja gut wegen des Kindes, daß Du mich nicht getroffen hast. Ich aber, ich habe ’n Bischen daneben gezielt, indem daß ich Dich schonen wollte. Und nun reden wir nicht mehr davon.“

Sie gingen durch die Gräuel der Verwüstung zurück; der alte Herr wurde ganz vergnügt unterwegs und begann Schnurren zu erzählen. Heer von Pannewitz hatte Pistolenkästchen und Munition in seine Jagdtasche geborgen und schlenkerte diese nicht minder vergnügt [871] hin und her, zuweilen einen lustigen Blick mit Curt austauschend. Es war ein höchst gemächlicher Duellausgang.

Endlich fiel es dem Baron ein, zu fragen, wie es denn eigentlich in Pelchow stehe.

„Erträglich, Onkel. Auf der Windseite sind freilich die Strohdächer meist zerstört, und die Störche werden viel Arbeit dieses Jahr haben. Hinter der Koppel sind die letzten Pappeln gestürzt. Auch im Dorfe ist einiges beschädigt, aber im Ganzen können wir zufrieden sein.“

Das „wir“ schmeichelte dem Alten, und er nickte beifällig.

In Branitz mußten sie noch eine Weile warten, bevor die Damen sichtbar wurden. Der Baron benutzte die Zeit, um die Angelegenheit seiner „Compagnie“ zu ordnen. Von Amerika war nun keine Rede mehr; er wollte den Leuten noch eine Rede halten und sie feierlich an Curt verweisen, der ohne sonderliches Zuthun von seiner Seite von Minute zu Minute in der Gunst des alten Herrn stieg. Den Höhepunkt erreichte dessen gute Laune, als Herr von Pannewitz die Geschichte vom Eistanz auf’s Tapet brachte und weidlich belachte.

Später wurde förmlich Verlobung gehalten. Weder Curt noch Anne-Marie gab sich besonders zärtlich; nur ihre Augen hielten Zwiesprache, und zuweilen die Hände. Die heimlichen Fragen seiner Familie: wie die Versöhnung zu Stande gekommen, konnte Herr von Pannewitz endlich nicht umhin mit ein paar ebenso heimlich hingeworfenen Bemerkungen über das Duell zu beantworten; indeß führte das Munkeln schließlich doch zu einem offenen Bekenntniß gegen die Damen, welche nicht wenig erschraken. Anne-Marie blickte entsetzt vom Onkel auf ihren Verlobten, bis letzterer sie umschlang und ihr in’s Ohr flüsterte:

„Es war eine Komödie, liebes Herz!“

Der Baron indessen sagte überlegen:

„Mit seinem Schießen macht er keinen Staat, liebes Anne-Marieken, wohl weil er so kurzsichtig ist. Was mich anbetrifft, so habe ich denn auch ein paar Fuß höher gezielt, indem daß ich doch meinem Anne-Marieken ihren Schatz nicht wegputzen wollte. Na, es ist ja gut so, und es hat Jeder sein Recht, und ich will nun auch mit Euch zusammen auf Pelchow leben. Aber das sage ich Dir, mein Sohn: wenn ich zu Hause bin, dann spielst Du nicht auf Deinem Pianoforte; denn das ist ’ne höllisch dünne Musik, und ich habe was auf meinen Ohren, daß ich das nicht gut ausstehen kann. Und nun wären wir da durch, sagt Hewelmann, wie der Küster durch den Sonntag, Kinnings!“


Blätter und Blüthen.

Eine Fälschung vorhistorischer Steingeräthe. Die Geschichte der Naturwissenschaften weiß von einem deutschen Professor zu berichten, welcher sich eingehend mit Studien über Petrefacten (Versteinerungen) beschäftigte und dessen gutgemeinter Eifer von seiner lustigen studentischen Zuhörerschaft in witziger Weise zum Schaden seiner Katheder-Autorität ausgenutzt wurde. Die akademischen Bürger hatten Abdrücke verschiedenartiger ungeheuerlicher Thiere in Thon u. dergl. einbrennen lassen, gruben dieselben in die Erde ein und führten alsdann ihren Professor zu diesen „Fundstätten“. Nachdem sie ihn einmal in die Falle gelockt, trieben sie ihr tolles Spiel auf die Spitze und ließen nun Thonstücke mit hebräischen Buchstaben in die Erde eingraben. Nach der damals landesüblichen Anschauung hielt der biedere Herr alle diese Abdrücke thierischer Formen und auch die Buchstaben der Sprache, in welcher das Buch der Bücher ursprünglich geschrieben war, für Ueberreste mißlungener Versuche, welche der Weltschöpfer bei der Erschaffnug der Thierarten angestellt, also für stümperhafte Werke aus „Gottes Lehrjahren“.

Heute verzeichnet wiederum die Geschichte der Wissenschaft, in der, wie in allen irdischen Geschichten, der Ernst des Lebens mit dem Humor abwechselt, eine ähnliche Fälschung in ihren Annalen, aber der Schauplatz derselben ist nicht mehr Deutschland, sondern Frankreich; ihr Gegenstand sind nicht versteinerte Thiere und semitische Buchstaben, sondern vorhistorische Geräthe aus der Steinzeit, und ihr Zweck ist kein schlechter Witz, sondern, dem Geist der Zeit entsprechend, der materielle Nutzen.

Im vorigen Jahre fand man in der Umgegend von Beauvais beim Ausbeuten eines Steinbruchs eine große Anzahl anscheinend vorhistorischer Gräber mit verschiedenartigsten steinernen Waffen und Geräthen. Eine aus Alterthumsforschern des Landes zusammengesetzte Commission wurde sofort beauftragt, diese Grabstätten zu untersuchen, wie auch die in denselben gefundenen Gegenstände zu prüfen und zu bergen. Die Commission erfüllte sorgsamst ihre Aufgabe und legte das Resultat ihrer langwierigen Arbeit der französischen anthropologischen Gesellschaft vor.

Die Zahl der Fundstücke betrug mehr als tausend; ihre Anordnung in den Gräbern war wunderbar symmetrisch, und die Bearbeitung der steinernen Beile, Messer und Pfeilspitzen überstieg alles, was bis jetzt dagewesen. Sorgfältige Zeichnungen, welche die Commission angefertigt hatte, erklärten genau die Lage und Beschaffenheit der seltenen Grabstätte. Die anthropologische Gesellschaft theilte indessen keineswegs den Enthusiasmus der Herren aus der Provinz. Fachleute wendeten diese Prachtstücke aus der Vorzeit in ihren Händen nach allen Seiten um; der Eine behauptete, hier fehle etwas, der Andere dagegen meinte, dort sei es des Guten zu viel, bis schließlich die Erklärung abgegeben wurde, die prähistorischen Funde von Beauvais wären – gefälscht.

Aber die Archäologen von Beauvais dachten nicht im Geringsten daran, so leichten Kaufes den soeben erworbenen Ruhm fahren zu lassen. Sie forderten die Einsetzung einer neuen Sachverständigen-Commission, an welcher jetzt auch die Weisen von Paris theilnehmen sollten, und diese Commission brachte auch bald unter dem Vorsitze des Herrn de Mortillet die Wahrheit zu Tage: sie fand in der Umgebung von Beauvais nicht nur noch andere sehr antik angelegte Gräber mit den oben beschriebenen angeblich vorhistorischen Geräthen, sondern auch, was das Wichtigste war, den Menschen, welcher dieselben fabricirt hatte. Es war nunmehr kein Wunder, daß die Fundstücke im Vergleich mit anderen Geräthen aus der Steinzeit so auffallend künstlerisch gearbeitet waren; denn ihr Erzeuger war kein vorhistorischer Vorfahr der Einwohner von Beauvais, sondern ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, ein gewisser Polydore, ein Zuckerraffineur, welcher seine Muße zur Herstellung der oben erwähnten Steinwaffen benutzte. Den einen Theil seiner Fabrikate vergrub er in künstlich angelegten „alterthümlichen Gräbern“, um ihn dort durch die Gelehrten von Beauvais auffinden zu lassen, den andern und zwar weit größeren behielt er aber bei sich auf Lager in der Hoffnung, mit den berühmten „Beauvaiser Funden“ einst einen ergiebigen Handel betreiben zu können. Doch die Pariser Gelehrten haben sich findiger erwiesen als er und ihm das Handwerk gelegt.


Fürst Bismarck. Von Wilhelm Müller (Krabbe, Stuttgart). Das anerkennenswerthe Werk des bekannten Tübinger Geschichtsschreibers enthält eine eingehende Betrachtung der staatsmännischen Wirksamkeit des Reichskanzlers und stützt sich auf parlamentarische und diplomatische Actenstücke, die zum Theil bisher noch der größeren Publicität entbehrten. Das Bild Bismarck’s als Abgeordneter, als Botschafter in Frankfurt, Petersburg und Paris, als Ministerpräsident, Bundeskanzler und Reichskanzler – kurz ein Gesammtbild der Wirksamkeit des großen Staatsmannes wird dem Leser hier in lichtvoller Darstellung vorgeführt, und wenn dabei die persönlichen Verhältnisse des seltenen Mannes hinter der Würdigung seiner politischen Thätigkeit zurücktreten, so lag dies von vornherein in dem Plane des Buches, welches eben, gegenüber den bisher erschienenen Biographieen des Fürsten, mehr den Staatsmann als den Menschen zu seinem Gegenstand macht. Dieses Lebensbild Bismarck’s stellt sich würdig neben die vor einigen Jahren erschienenen und mit so großem Beifall aufgenommenen Biographieen des Kaisers Wilhelm und des Grafen Moltke aus der Feder desselben Verfassers, ein Lob, das wir ihm freudig ertheilen, wenn wir auch nicht in allen Punkten den Standpunkt des Werkes theilen können, namentlich nicht in Bezug auf die Würdigung der letzten und allerletzten Maßnahmen Bismarck’s in inneren Fragen der Reichsregierung. Am Schlusse des Buches hat der Verfasser einen „Historischen Rückblick“ gegeben, in dem die Zustände des „heiligen römischen Reiches deutscher Nation“ und diejenigen des neuen deutschen Reiches in Parallele gestellt werden, womit dem Gegenstande des Werkes ein passender Hintergrund geschaffen wird.


Aufruf für den „Deutschen Schulverein“. Ueber den Ursprung des „Deutschen Schulvereins“ in Oesterreich haben wir Seite 742 des vorigen Jahrganges der „Gartenlaube“ unseren Lesern alles Wesentliche mitgetheilt und sie schon damals zu werkthätiger Theilnahme an demselben aufgefordert. Um den patriotischen Beistand, den wir unseren von allen nichtdeutschen Nationen des Kaiserstaats an der Donau bedrohten Stammesgenossen schuldig sind, in feste Bahnen zu leiten, gründeten deutsche Männer am 15. August dieses Jahres zu Berlin den „Allgemeinen deutschen Schulverein“. Wenn nun auch die Bemühungen desselben nicht ohne Erfolg blieben, so entsprechen sie doch in keiner Weise Dem, was die deutsche Nation in der Gegenwart bedeutet und was man von den Bürgern des „deutschen Reichs“ verlangen kann. Eben deshalb erläßt der Vorstand des bezeichneten Vereins in Berlin abermals einen Aufruf zur praktischeren Organisation dieser keiner politischen Partei, sondern nur der Vaterlandsliebe dienenden Bestrebungen. Die sieben Berliner Herren, bei welchen der Beitritt angemeldet und durch die das Statutenheft bezogen werden kann, sind: Dr. Falkenstein, Vorsitzender (NW, Louisenstraße 45), Dr. Richard Böckh (Charlottenburg, Hardenbergstraße 11b), Dr. Vormeng (W, Köthenerstraße 31), G. Kolb (W, Mauerstraße 65), Dr. Bernard (C, Kurstraße 34 und 35); Professor Dr. Wattenbach (W, Königin-Augustenstraße 51) und Professor Dr. Zupitza (SW, Kleinbeerenstraße 7).

Es ist ein wahrhaft empörender Vernichtungskrieg, der namentlich in Ungarn und Siebenbürgen gegen das Deutschthum geführt wird. Es ist, als ob einzig von der Entnationalisirung der etwa zwei Millionen Deutscher der Fortbestand des Magyarenthums abhinge, ein Rassenkampf, dessen Ende noch Niemand absehen kann.

Um so mehr aber sollten wir Alle, die wir uns des Segens deutscher Bildung erfreuen und sie mit Stolz unseren Kindern bewahren, auch Alles aufbieten, nur den deutschen Geistesschatz unseren Stammesgenossen außerhalb des Reichs nicht rauben zu lassen. Wir sind leider noch immer nicht gewohnt, unsere nationale Größe zu fühlen und darnach unsere Opferpflicht zu bemessen. Erheben wir uns für den vorliegenden Fall auf den uns gebührenden Standpunkt! Die Statuten werden Jedermann belehren, daß das verlangte Opfer wirklich nicht so groß ist und daß leicht an jedem Ort im Reich ein Zweig des großen allgemeinen Vereins zu pflanzen und zu gedeihlicher Blüthe zu bringen wäre. [872] Johnston’s „Chemie des täglichen Lebens“ hat durch Fr. Dornblüth eine Neubearbeitung in deutscher Sprache erfahren und ist in dieser Form geeignet, ein Familienbuch im besten Sinne des Wortes zu werden. Der Titel entspricht eigentlich nicht vollständig dem Inhalte; denn die mit 118 Abbildungen geschmückte Schrift enthält die wichtigsten Capitel aus der Physiologie und giebt zugleich eine Lehre von den Nahrungs- und Genußmitteln aber nicht blos von ihrer chemischen Zusammensetzung, sondern auch von ihrer ganzen Beschaffenheit, ihrer Wirkung auf den Menschen, ihrer Bereitungsweise, ihrer Geschichte, ihren Verfälschungen etc. Die Schrift ist durchaus in wissenschaftlichem Sinne gehalten, aber so geschrieben, daß jeder Gebildete sie zu verstehen vermag. Es ist dringend zu wünschen, daß sie wirklich populär werde.




Die himmlische Weihnachtspost. (Seite 869.) Endlich ist eine der größten Schöpfungen der Neuzeit, nicht nur der That, sondern auch dem Namen nach, Wahrheit geworden. Konnten wir früher nicht umhin, beim Anblick jenes Namens bedenklich das Haupt zu schütteln, weil Derjenige, welcher ihn erdacht, das Wort der Welterschaffung: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ ganz vergessen zu haben schien, so fühlen wir uns durch den Anblick unseres Bildes von jedem Zweifel geheilt: wie zur Welt Himmel und Erde gehören, so ist durch die außerordentliche Thatsache unserer Illustration nun auch das bisher nur an der Erde klebende Riesenunternehmen zu dem erhöhet worden, was sein Name besagt, zum wahrhaftigen und wirklichen Weltpostverein.

Wir freuen uns, unserm hochverehrten Generalpostmeister Stephan zuerst unsern Dank für diese reizende Vollendung seines großen Gedankens aussprechen zu können, und sind ihm noch besonders dankbar dafür, daß er in Paul Heydel den rechten Mann gefunden, der uns diese himmlische Weihnachtspost so getreu nach dem Leben darzustellen vermochte: nach dem Leben muß ja das Bild gezeichnet sein; denn alle diese Postengel vor, hinter, neben und auf dem Christbescherungsschlitten sprechen uns mit so freudestrahlenden Augen aus den lieben Gesichtchen an, daß wir nur Bekannte wiederzusehen glauben, die einst von uns gegangen sind.

Möge ihre Post in dieser fröhlichen Weihnachtszeit unzählige Freuden auf Erden bereitet haben!



„Cultur- und Literaturgeschichte der französischen Schweiz und Savoyens, in ihrer selbstständigen Entwickelung zum ersten Male dargestellt“. Unter diesem Titel läßt H. Semmig (bei Trübner in Zürich) ein Werk erscheinen, welches geeignet ist, eine längst gefühlte Lücke auszufüllen. Es will ein Wegweiser durch die Literatur und Geschichte der französischen Schweiz und Savoyens sein und führt ebensowohl in das geistige Leben wie in den geschichtlichen und landschaftlichen Charakter jener Gegenden ein. In erster Linie wird es allen Denen, welche die französische Schweiz und Savoyen im Sommer besucht haben oder zu besuchen gedenken, eine willkommene Unterlage zu den nöthigen Reisestudien bieten. Wir gedenken demnächst etwas eingehender auf das Werk zurückzukommen.




Die Ringtheater-Katastrophe. Soeben, kurz vor Schluß dieser Nummer (9. December), geht uns die telegraphische Nachricht von dem entsetzlichen Brandunglücke zu, welches so tiefe Trauer, so schweres Elend über das herrliche Wien gebracht hat. Wenn diese Zeilen in die Hände unserer Leser gelangen, haben die Organe der Tagespresse Schilderungen der Einzelheiten jener schrecklichen Katastrophe und Beleuchtungen ihrer Folgen längst in alle Welt getragen. Es kann nicht unseres Amtes sein, auch unsererseits die herzbewegenden Schreckensbilder zu entrollen, welche das beklagenswerthe Brandunglück in Scene setzte. Eine Erwägung aber ist es vor allem, welche die erschütternde Kunde von Wien neben tief gefühltem Antheil an dem unaussprechlich schmerzlichen Ereignisse in uns wach ruft, die Erwägung: es muß im Interesse der gefährdeter Menschheit etwas Eingreifendes geschehen zur Verhinderung ähnlicher Massenunfälle, und die Presse ist es vor allem, welche hier zu richten, zu rathen und anzuregen hat. Wir hoffen, in Kürze nach dieser Seite hin unsere Pflicht thun zu können. D. Red.     


Kleiner Briefkasten.

K. Sch. in Titelshof. Der englische „Mastiff Prinz“ war unter Nr. 405 in der Hunde-Ausstellung zu Cleve von Herrn A. Laymann in Aachen, Hotel „Zum Elephanten“ verkäuflich ausgestellt und erhielt den zweiten Preis. Auch wird Herr Rudolf Müller in Draunfels diese Hunde entweder besitzen oder doch nachweisen können.

G. L. in L. Ihrem Zwecke dürfte am besten ein kleines Buch dienen, das unter dem Titel „Aus dem Zauberland, Märchen von Tantchen Ungenannt“, eine Reihe frisch und farbig erzählter Geschichtchen für die Kinderwelt enthält. Kleinmichel und Bartsch haben zu diesen Märchen anmuthige Illustrationen geliefert. Das Buch ist durch jede beliebige Buchhandlung gegen verhältnißmäßig geringen Preis zu beziehen.

F. B. 20 in Fr. und Frieda. Wie oft sollen wir wiederholen, daß wir auf eingesandte Gedichte eine Antwort nicht ertheilen können? Senden Sie nichts weiter!

Abonnent in Afrika. Dr. F. A. Petermann in Lauenstein (Erzgebirge).

G. R. M. Ungeeignet. Das Manuscript steht zu Ihrer Verfügung.

H. K. in Astrachan. In der Empfindung und Stimmung sehr ansprechend – eine hübsche Talentprobe! Trotzdem wegen des bekannten embarras de richesse nicht verwendbar!

Wanda S. in Riga. Wir bedauern, Ihnen ein derartiges zuverlässiges Bureau nicht nennen zu können.

Erich B. in Ch. Sie finden die gewünschte Auskunft in jedem Conversationslexicon.

B. L. Die von Ihnen erwähnte Section der drei in Paris gestorbenen Eskimos hat ergeben, daß die Gehirne derselben von dem europäischen Typus merklich verschieden sind. Weniger entwickelt waren bei ihnen vor allem die vorderen Partien. Das Gehirn der Eskimofrau näherte sich dagegen mehr dem europäischen Typus als die Gehirne der beiden Männer.

Abonnent in Be. Communale Sparcasse!




Als Festgeschenke empfohlen!




„Gedichte“ von Albert Traeger.
Vierzehnte, neuvermehrte Auflage.0 In gepreßter Decke elegant gebunden. 0 Preis 5 Mark 25 Pfennig.

Unter den neueren Lyrikern ist nur wenigen die Gunst des Publicums in dem Maße zu Theil geworden, wie Albert Traeger; denn fast jedes Jahr bringt eine neue Auflage seiner Poesien. In Traeger’s Versen gehen mit der melodischen Form die Innigkeit des Gefühls und die Wärme der Ueberzeugung Hand in Hand; die Liebe, besonders die zur Mutter, hat dem Dichter die am tiefsten empfundenen Lieder dictirt. Aber auch für die Armen und Unterdrückten hat er ein mitfühlendes Herz, und dem Vaterlande huldigt er in schwungvollen Gesängen.




„Gedichte“ von Ernst Scherenberg.
Zweite Auflage.0 Elegant gebunden mit Goldschnitt. 0 Preis 5 Mark 25 Pfennig.

Scherenberg’s Gedichte haben sich durch ihre freisinnige Tendenz zahlreiche Freunde und Verehrer erworben. Politik und Vaterlandsliebe, Lenz und Liebe und was sonst das menschliche Herz bewegt – all die alten Themata der Poesie erhalten hier in dem Spiegel einer fein angelegten Dichternatur einen neuen ansprechenden Ausdruck, der nicht verfehlen konnte, in der deutschen Leserwelt ein starkes Echo zu erwecken.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig. 




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal des laufenden Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.




Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere. Die Verlagshandlung. 



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: emanicipiren