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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[673]

No. 41.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Das Krüppelchen.
Erzählung von Karl Theodor Schultz.


(Fortsetzung.)


3.

Wie die Trakehner jagten und der leichte Schlitten flog! Schneegeflock darüber und ringsum und hinterher; dann und wann auch ein lustiger Peitschenknall von der Pritsche nieder, wenn Ludwig dachte, die Braunen könnten scheuen oder gar ausbiegen wollen. Förster selbst fuhr: er starrte nur vor sich hin und hielt die Zügel mechanisch fest.

Mit welchem Träumen im Herzen er hier noch vor einer Stunde gefahren war, nur auf Weichstes, Bestes sinnend für Else und Rudi, für sich wie – die Mutter! Wie würde es die kränken, die immer so für Else gesprochen hatte! Wie schön diese aber gewesen! Bestrickend schön! Und als sie sich verrathen! Wenn ihr ganzes Widerstreben nichts wäre, als das eifersüchtige Gefühl, Niemand neben sich dulden zu können, auch das Kind nicht?

Er lachte auf und sah um sich. Da stand die vom Blitz getroffene Pappel. Mit dieser hatte sich Rudi, als sie kürzlich hier spazieren gefahren, auf’s kindlich Lebhafteste beschäftigt: das fiel dem Vater natürlich ein, und seine Gedanken erhielten damit eine andere Richtung. Nicht mehr dem, was gewesen – allein der Zukunft wandten sie sich zu. Und da löste sich nach und nach aus einem Gewoge von Gefühlen, ja Qualen, etwas unerbittlich los, vor dem jedes selbstsüchtige Hoffen schwinden mußte – die Nothwendigkeit, sein Glück der Pflicht zum Opfer zu bringen. Der Vater gehörte zuerst dem Kinde, gerade diesem Kinde, das so ganz auf seine Liebe angewiesen, dessen Leben sich überhaupt nur im Bereiche des Vaterhauses leidlich gestalten ließ. Welche Herbigkeit, welche Härte des Charakters also, etwas an sich schon so Unglückseliges von da, wo sich sein kümmerliches Dasein noch am leichteste trug, vertrieben wissen zu wollen! Und weshalb vertrieben? Weil der Anblick von Leide die gute Laune trüben konnte! – Zwar meinte sie, dabei nur an ihn zu denken. Wie lebensgern hätte er aber auf alle Laune und Geist verzichtet, hätte sie nur nach der einfachen Stellung in seinem Hause getrachtet, die sie so verachtungsvoll einem Dienstboten zugewiesen! Konnte er ihr wirklich etwas sein, von Herzen sein? Ihr offenbares Kämpfen mit sich, selbst ihr jähes Erröthen, als ihre Eifersucht hervorgebrochen – schienen sie nicht auch nur Beweise dafür zu sein? War sie nicht eine durch und durch egoistische Natur? Es war also zu seinem Glücke, daß sie sich in ihrer Herzensarmuth schon jetzt gezeigt, wo er noch zurücktreten konnte. Und das hätte er gleich thun müssen. Warum noch der Aufschub? Würde sie bei ihrem Fordern bleiben, dann gäbe es keine Lösung. Was sollte sie aber davon abbringen? Daß sie nun vielleicht ahnte, welch eine Entsagung sie ihm auferlegen wolle? Dieses kalte, eigenwillige Naturell verhärtete sich wohl eher und erstickte noch das Wenige von Interesse, das er ihr eingeflößt hatte.

Er hob den Kopf, als ob er Luft entbehre. Ein paar tiefe Athemzüge brachten ihn dann auch völlig zu sich, und als er bald darauf die erleuchteten Fenster seines Hauses sah, überkam ihn sogar das warme, sichere Gefühl, wie Großes ihm noch geblieben sei. Die Mutter – seine Kinder! Und Else hatte recht gesehen: ob er Hans auch väterlich liebte, dem armen Rudi gehörte ein Stück seines Herzens.

Als der Schlitten hielt, warf Förster dem Kutscher die Zügel zu, besichtigte aber nicht die Pferde, wie gewöhnlich nach einer Ausfahrt, sondern eilte gleich die Freitreppe empor. An der geöffneten Hausthür stand, wie immer, wenn der Vater zurückkam, Rudi und stapfte ihm nun in seiner unbeholfenen Weise entgegen. Mit einem Schmerzenslaut nahm Förster das Kind in die Arme und drückte es so heftig an sich, daß es seine Krücke fallen ließ, die polternd auf den Fliesen ausschlug. Hans, der eben kam, sah den Vater erschrocken an; dieser achtete jedoch auf nichts und preßte Rudi nur immer wieder an sich. Mit ganz großen Augen, die sich nach und nach mit Thränen füllten – ob vor Schmerz über die stürmische Zärtlichkeit, oder schon in dem Ahnen, daß seinem „Vaterchen“ etwas fehlen müsse, – sah das Kind unverwandt auf den erregten Heimgekehrten.

Im Hausflur trat ihnen Frau Förster entgegen und suchte gespannt die Blicke ihres Sohnes; als dieser nur flüchtig winkte und mit Rudi nach seinem Zimmer, nicht dem Wohnzimmer ging, wußte sie, daß etwas Anderes gekommen wäre, als sie gedacht hatten. Nur nicht abgewiesen! Ihr Bernhard abgewiesen! Es war ja undenkbar: was konnte aber sonst dazwischen getreten sein?

Doch kein Grübeln half. So öffnete sie nach einer Weile die Thür zu ihres Sohnes Zimmer und fragte hinein:

„Bist Du noch nicht umgezogen? Ich ängstige mich.“

„Komme nur!“ antwortete dieser.

Während sie hereintrat, ließ er Rudi mit einem letzten Kuß von den Knieen nieder und brachte ihn bis auf den Flur, wo er von Frau Hannisch in Empfang genommen wurde.

Die Mutter hatte sich wie erschöpft auf dem Sopha niedergelassen; Förster setzte sich zu ihr und sagte, indem er ihre Hände in die seinigen nahm:

[674] „Du brauchst Dich nicht zu ängstigen. Ich hoffe bereits überwunden zu haben.“

„Sie konnte Dich wirklich –“

„Nicht mir gerade,“ siel er ein, „galt die Absage – unserm Kleinen.“

„Das verstehe ich nicht,“ versetzte Frau Förster, rathlos zum Sohne aufblickend.

„Ist im Grunde auch nicht so einfach!“ erwiderte derselbe bitter. „Besonders von einem Weibe nicht! Sie glaubt, Rudi nicht ertragen zu können.“

„Bernhard!“

Dieser war bei seinen letzten Worten aufgestanden und ging nun im Zimmer auf und nieder:

„Ja, ja! Das habe ich hören müssen: Dieses Kind nicht zu ertragen! Und wüßte sie, welche Fülle von Liebe trotz all seiner Leiden gerade in dem kleinen Herzen Raum hat! Nicht wahr? – Aber es ist wohl besser, gar nicht mehr darüber zu sprechen; die Thatsache ändert sich doch nicht.“

„Noch weiß ich ja von gar nichts,“ klagte die Mutter.

„Verzeihe!“ rief Förster, vor ihr stehen bleibend. „Mit ihren eigenen Worten denn: sie vermöchte nie mit Rudi zusammen zu leben. Denke es nur: ich müßte das Kind aus dem Hause stoßen, Margarethe’s Kind. Nein! Wir bleiben zusammen. Wer weiß, ob sie sich überhaupt in unseren einfachen Verhältnissen je glücklich gefühlt hätte; ihr Kopf ist von allen möglichen Ideen erfüllt.“

Frau Förster hatte die Hände im Schooße gefaltet und sagte nur, vor sich hinnickend:

„Es war mir schon gestern so, als hätte sie kein Herz für Rudi.“

„Und er nicht für sie. Ich konnte ihn gar nicht in’s Zimmer bekommen.“

Die Mutter sah den Sohn an, schien dabei aber auch irgend einen Gedanken zu verfolgen. Er strich ihr über den weißen Scheitel und sagte mit herzlichem Vorwurf:

„Sieh mich doch nicht so erbarmungsvoll an! Zu helfen ist nichts; da heißt es darüber eben fortzukommen: das wird Einem aber viel leichter, wenn man die gewohnte resolute Mutti vor sich sieht. Habe heute mit lauter verkehrter Welt zu thun! Statt daß ich gleich beide Hände bereit fände, wie Du so bestimmt wußtest, gab es eine Bedingung, ja statt wenigstens von Bedenkzeit gesprochen zu bekommen, mußte ich davon sprechen, und nun –“

„O, dann ist es also noch nicht ganz zu Ende?“ rief Frau Förster mit einem Ausdruck der Freude, welcher etwas Rührendes hatte.

Der Sohn vermochte sich dieser Empfindung am wenigsten zu entziehen und sagte in demselben weichen Tone wie bisher:

„Bedenkzeit hatte ich freilich genommen: es kam Alles so unerwartet, und lieb, sehr lieb war sie mir einmal. Ob es auch wohl bloße Schwäche gewesen – ich konnte ihr trotz der Grausamkeit nicht hart, oder wenn Du willst, nur gerecht begegnen. Nun liegt Alles hinter mir – ich werde gleich schreiben.“

Die Mutter erhob sich hastig und bat, seine Hände ergreifend:

„Nein, Bernhard, das thust Du mir nicht an! Ich weiß am besten, was Dir geschehen: Else ist aber jung, und Jugend ist selbstsüchtig. Wenn Tage darüber vergehen, so kommt sie wohl zur Erkenntniß.“

Er schüttelte den Kopf.

Die Mutter ließ jedoch nicht davon ab:

„Glaube mir, wenn wir Frauen erst wissen, daß uns Einer so recht lieb hat, da ändert sich gar Manches in uns. Du hast es ihr doch offen gezeigt? Bist nicht zu scheu gewesen? Du sprichst eben nicht gern von –“

„Ich habe Alles gesagt, was nöthig war.“

„Nur was nöthig war?“ wiederholte sie vorwurfsvoll.

„Sollte ich betteln? Sollte sie mich noch verachten lernen?“

„Nicht doch, mein Sohn, wie könnte ich das fordern! Eins mußt Du mir aber versprechen, nur das Eine: nicht heute zu schreiben, auch nicht morgen – wir wollen damit bis nach meinem Geburtstag warten. Du brauchst mir dann auch nichts weiter zu schenken.“

Er konnte nicht mitlächeln.

„Das wären noch über vierzehn Tage.“

„Eine anständige Bedenkzeit, wie sie hier in meiner Jugend allgemein im Gebrauch war, darf nicht viel kürzer sein. Auch Deine Mutti hat sich fast so lange bedacht, obgleich sie mit Freuden sofort ‚Ja‘ gesagt hätte. Du sagst nun auch ‚Ja‘?“

Förster kämpfte mit sich; endlich erwiderte er, die Stirn runzelnd:

„Wir thun etwas Falsches.“

„Ich übernehme alle Verantwortung,“ beschwichtigte die Mutter. „Durchaus möchte ich Else nicht blos vertheidigen, die Wahrheitsliebe und Offenheit des Charakters aber, die sie heute gezeigt hat, nimmt mich, je mehr ich darüber nachdenke, nur mehr für sie ein. Und nach der Art, in welcher sie sich an den beiden Tagen, wo ich sie längere Zeit gesehen habe, gab – danach möchte ich an ein wirkliches Nichtkönnen glauben. Auch daß ihr Reichthum gleichgültig ist, gefällt mir. Sie hat nur eine sehr bescheidene Rente; hundert andere Mädchen in ihren Verhältnissen würden viel schlimmere Dinge als Rudi in den Kauf nehmen, um sich in’s Burgsdorfer Schloß zu setzen. Das müssen wir mindestens ehren, und also verdiente sie’s schon, um Bedenkzeit angegangen zu werden. Einen Tag aber nennt man keine Bedenkzeit – darum! Ist es nicht recht häßlich von Dir, die alte Mutti so bitten zu lassen? Du hast Niemand etwas vorzuwerfen – auch das ist verkehrte Welt.“ Sie wandte sich schmollend ab, und ihre schwere Seidenrobe rauschte und wogte gleichsam mitentrüstet hinter ihr her.

Alles, was sie eben betont hatte, war Förster so noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen, und doch mußte er der Mutter im Grunde Recht geben, es sogar in einer Art von Freude thun, welche ihm das Blut in’s Gesicht trieb. Oder war das Scham über seine Schwäche? Trotzdem ging er ihr nach und gab das Versprechen, jede Antwort bis nach ihrem Geburtstag hinauszuschieben. – – –

Wenn Frau Förster wirklich gehofft hatte, daß bei so langer Frist von Barten her irgend eine Annäherung ausgehen würde, so hatte sie den Eigenwillen Else’s unterschätzt. Alles blieb stumm; nicht einmal zufällig, wie sonst in der Regel, waren sich die beiden Männer begegnet. Darüber schien das Mutterherz endlich zu zürnen; gelegentliche Bemerkungen über Else wurden schärfer, und Förster nahm im Stillen an, daß die Mutter es wohl schon bedauerte, seinem anfänglichen Entschluß entgegen gewesen zu sein. Aber das schien nur so, lag nur wie ein verhüllender Reif über dem, was nach und nach in Frau Förster keimte. Zu solchem Ausbruch von Unzufriedenheit kam es eben blos, wenn ihr bei irgend einer Gelegenheit das Aussehen ihres Sohnes, sein offenbares Leiden Sorgen wachrief, welche dieser Zustand der Ungewißheit doch allein verschuldete.

So waren die beiden Wochen fast vergangen. Die Mutter hatte gerade in den letzten Tagen dem Sohn gegenüber mit keiner Silbe mehr das Kommende erwähnt, wurde von ihm aber in steten Unterredungen mit Rudi’s Kinderfrau betroffen. Das fiel ihm allerdings auf; da sich Frau Hannisch jedoch zu einer halben Freundin des Hauses herangedient hatte, so nahm er einfach an, daß sich seine Mutter, um ihn nicht noch mehr zu erregen, zu dieser aussprach. Das war auch der Fall; Frau Förster war eine zu resolute Natur, um blos unthätig klagen zu mögen und die Hülfe vom lieben Gott ohne eigenes Zuthun zu erwarten.

Heute hatte sie, wie stets vor ihrem Geburtstage, Einkäufe in Königsberg gemacht, und diesmal auch Rudi nebst Frau Hannisch mitgenommen; theils, wie sie gestern zum Sohne gemeint, um dem Kinde eine Freude zu machen, theils um es gleich wieder dem Doctor vorzustellen, der ja längere Zeit nicht zu ihnen herausgekommen wäre.

Eben führ der Schlitten in den Hof; Förster half seinen Lieben selbst aus den Fußsäcken und Pelzen heraus und schritt nun mit Rudi auf einem Arme, der Mutter am anderen, zum ersten Male seit der ganzen bösen Zeit wieder lachend dem Wohnzimmer zu. Rudi plauderte ununterbrochen, hatte Hans wie Väterchen immer noch Neues zu erzählen und mußte schließlich beinahe mit Gewalt zur Ruhe gebracht werden.

Als die Kinder gegangen, rückte sich Frau Förster einen Stuhl dicht an den ihres Sohnes und sagte ohne weitere Vorrede: „Ich habe mir in Königsberg eine Wohnung gemiethet.“

Erstaunt drehte sich der Sohn um, sie fuhr aber, scheinbar ohne ihn zu beachten, fort:

„Eine recht hübsche Wohnung in der Münzstraße; zwei Treppen, drei Zimmer nach der Fronte, zwei nach hinten. Und wir können schon am ersten März einziehen.“

[675] „Wir? Jetzt wolltest Du nach der Stadt? Ich bin freilich – – Aber habe ein wenig Geduld, es soll nun wieder besser werden.“

„Das hoffe ich – viel besser! Unter dem ‚wir‘ verstand ich übrigens nur mich, die Hannisch und Rudi.“

Förster sah sie mit weit offenen Augen all. Sie begann unbeirrt von Neuem:

„Entschuldige, daß ich so auf eigene Faust gehandelt, doch Dr. Harder ist auch sehr dafür, das Kind eine Weile beobachten zu können. Die Hüfte ist wieder geschwollen – es muß endlich etwas Ernstliches geschehen.“

„Mutter!“

Ein Zittern war in seiner Stimme, sprechender als die beredtesten Worte. Sie nahm seine Hand und sagte blos, indem sie dieselbe streichelte :

„Das ist also abgemacht.“

„Nein!“ rief Förster aufspringend. „Ist Rudi hier auch nicht unter den Augen eines Arztes, so sind wir doch um ihn, und Dr. Harder versicherte mir selbst, das Kind könnte sich in keiner besseren Pflege befinden. Ich danke Dir ja zu tausend Malen: Deine große Güte! Glaube nicht, daß ich nicht Alles begriffe, nicht glücklich bin, solch eine Mutter mein zu nennen!“ Er beugte sich über ihre Hände. „Das Opfer aber nehme ich nicht an, weil sie dessen nicht würdig –“

„Bernhard,“ flehte sie, „mein Sohn, nie mehr ein solches Wort! Du dachtest nur an mich – deshalb überlegtest Du nicht. Jedes Opfers ist Else würdig; denn sie hat Charakter. Und heute, wo nirgends von einem Festhalten an seiner Ueberzeugung die Rede ist, wo sich die Liebe verkauft wie alle andere Waare, da ist jeder Charakter doppelter Ehre werth. Ich muß Else achten, darum gönne ich ihr meinen Bernhard, und Dein Gemüth, Dein liebes Gemüth wird ihr mit der Zeit geben, was ihr noch fehlt. Auch um das Opfer, das ich etwa bringe, sorge nicht! Man gewöhnt sich an Vieles, und außerdem, wenn eine Mutter etwas für ihr Kind thun kann – das verstehst Du trotz Deiner Vaterschaft nicht – so bedeutet selbst das Schwerste gar nichts für sie. In die Stadt zu ziehen und dabei Rudi um sich zu haben, ist aber noch lange, lange nicht das Schwerste.“

„Was willst Du aus mir machen?“

„Etwas sehr Schönes, woran Gott und die Menschen Freude haben – einen so recht glücklichen Ehemann. Und sieh, wäre die alte Mutti nicht immer zur Hinterthür hinausgegangen, wenn vorn das junge Frauchen einzog? Sogar früher, damit die Junge hier Alles auch jung und hübsch fände. Muß ich Dir darum nicht eigentlich danken, wenn Du Dich von etwas so Liebem trennst, um es mir zur Gesellschaft mitzugeben? Fass’ es doch so! Es kommt gar viel darauf an, wie man sich etwas zurecht legt Ein Dutzend Jährchen, denke ich, stehen Einem wohl noch zu. Und wenn mir nicht, so doch wohl der Hannisch – dann ist Rudi erwachsen. Wollte mich aber Schwester Anna bei sich haben – das Kleeblatt ist unzertrennlich.“

Er sah der Mutter tief in die Augen – da zog es ihn mit Allgewalt vor ihr nieder. Und sie legte die Hand wie segnend auf sein Haupt, und ihre Lippen bewegten sich leise – im Gebete.



4.

Auch über Barten hatte in all der Zeit Schwüle gelegen. Zwar sprach Hemmingen über das Vergangene nicht; gerade sein Schweigen aber und ein leicht hervorbrechender Ton von Gereiztheit bei an sich geringfügigen Veranlassungen bewiesen seiner Gattin, wie wenig er mit dieser Wendung der Dinge einverstanden sei. Die Schwester hatte Else gegenüber kein Geheimniß daraus gemacht; auch fühlte diese bald selbst, welche andere Aufnahme jetzt ihr scheinbar sich immer gleich gebliebener Uebermuth fand. Früher stimmten Schwager wie Schwester in Alles gern ein, erhöhten eher noch durch lauten Beifall die Temperatur der Unterhaltung; nun schien der Ernst besonders von Hemmingen’s Gesicht nicht fortzuscherzen. So hatte auch sie nach einigen Tagen vergeblichen Bemühens, die gewohnte Art und Weise festzuhalten, ihrem Wesen Zwang aufgelegt, wodurch vor Allem die Abende in Barten kaum mehr den Abglanz ihres bisherigen Reizes boten. Man war plötzlich daran gewöhnt, sich früh zu trennen, las auch selten noch zusammen oder hörte wenigstens bald wieder auf; kurz, es existirte eigentlich nichts mehr von dem sonstigen harmlosen und doch immer von Neuem anregenden Verkehr.

Else litt am meisten darunter: von den Gatten hatte jeder seine Geschäfte und müßigte sich eben nicht wie früher ganze Stunden der Erholung ab. Dennoch war Else gerecht genug, Niemand als sich die Schuld beizumessen – wenn es Schuld heißen konnte, seiner innersten Ueberzeugung zu folgen. Sie vermochte es einmal nicht, das Ganze anders anzusehen, hatte noch immer denselben Widerwillen davor, jene schwere Pflicht auf sich zu nehmen – so trug sie lieber, was daraus auch entstehen sollte, und wäre das, wenn ihr Hemmingen nicht vergeben konnte, selbst ein Verlassen ihres Asyls. Viel eher in die Fremde, als an eine Stelle, welcher sie sich nicht gewachsen wußte!

Der Kampf wurde ihr nicht leicht. Ihr Zimmer sah manches ruhelose Auf- und Niedergehen bis in die Nacht hinein, ein gleichsam ewiges Erwarten und ein Stillwerden, erst wenn der Tag zur Rüste ging.

Einer Jagd wegen war eines Tages wieder später gegessen worden; man saß noch mit mehreren benachbarten Gutsbesitzern beim Nachtisch, als Else bemerkte, daß Hemmingen etwas gemeldet wurde. Mit einem, wie es ihr schien, freudigen Blick nach ihr hinüber stand er auf und eilte hinaus. Sie hörte nun doch nicht, welche besondere Fährlichkeit ihr Nachbar als Johanniter in Frankreich bestanden hatte, obgleich sie gefällig lächelte – ihre Blicke blieben unverwandt auf die offene Thür gerichtet. Das Pochen des Herzens schien ja zu wissen, es wäre eine Botschaft von Förster oder er selber.

Und da winkte Hemmingen aus dem Nebenzimmer. Sie vermochte vor Erregung kaum ihm zuzunicken – hörte aber noch die Geschichte des Nachbars zu Ende: fassen mußte sie sich erst, bevor sich ihr Schicksal entschied – so oder so.

Nach ein paar Minuten verließ sie den Tisch und ging in ihr Zimmer; da stand sie dann mitten in dem Raum, die Hand an die Brust gedeckt, und erwartete, daß es an der Thür klopfe. Schon? Nein! Doch jetzt – ruhig und fest!

Ebenso ruhig klang ihr „Herein“.

Mit dem ersten Blick auf Förster erkannte sie, daß Veränderungen an demselben vorgegangen waren. Die Augen schienen wie umrändert; ein unruhiges Feuer lohte darin; um die Lippen hatten sich Züge voll Schärfe eingestanden. Dennoch kam er ihr schöner vor – noch männlicher als sonst.

In seiner angenehmen Würde trat er auf sie zu und sagte mit nur leichtem Vibriren der Stimme:

„Hoffentlich zeihen Sie mich ein wenig der Ungalanterie, die mir gewährte Bedenkzeit so hinausgedehnt zu haben?“

Else hatte Alles eher, als solchen halben Scherz erwartet; so fand sie augenblicklich kein passendes Wort der Erwiderung und schlug verwirrt die Augen nieder. Diese bei ihr seltene Hülflosigkeit machte auf Förster den Eindruck, als fühle sie sich gekränkt. Er fügte darum rasch hinzu:

„Sie mißverstehen mich nicht? Was Sie mir aufgegeben hatten, forderte die ganze Kraft des Mannes heraus – und allein wäre die Probe auch kaum bestanden worden, wenigstens von mir nicht“

Sie sah zu ihm auf. Er nickte leicht und fuhr fort: „Ich habe eine Mutter.“

Nochmals hielt er inne, während er vor sich hin, doch gleichsam in die Weite blickte.

„Hätten Sie die Liebe solcher Mutter gekannt, Sie hätten es mir wohl nie so schwer gemacht, an Ihre Neigung zu glauben. Ich wage nicht von Liebe – – Fräulein Else! Sie werden heute schon vergeben müssen, wenn Liebe mit Schmerz wechseln; noch vermag ich beide kaum zu trennen. Doch nein! Nun ich Sie wieder vor mir sehe, deren Anblick ich entbehrt, entbehrt wie noch nie etwas auf Erden, nun glaube ich dennoch, wenn Sie mir ein wenig Zeit ließen, dürfen Sie wahrlich nicht fürchten, je das Geringste zu vermissen – denn ich muß Sie ja lieben, und was hätte vor der Liebe Bestand? Die Mutter nimmt Rudi zu sich – so ist mein Haus gerüstet, Sie zu empfangen. Else, habe ich genug gethan? Darf ich nun sagen – meine Else?“

Sie überließ ihm ihre Hände; er zog sie leidenschaftlich an die Brust, und ihr seit Wochen gequältes Herz entlud sich in einem Thränenstrom. Glückselig sah er auf sie nieder, küßte ihr immer voll Neuem die Stirn, das Haar: bald auch ein Stammeln von [676] Liebeslauten – ganz Hingebung, kein Hauch der Reue mehr, nur voller, süßester Besitz.

Else löste sich endlich aus der Umarmung und sagte mit glücklichem Lächeln:

„Sie böser Mann!“

„Noch immer ‚Sie‘? Habe ich mir denn die reine Walküre erkoren?“ rief er mit komischem Pathos. „Am Ende ist auf das liebe, ehrliche, holde ,Du’ auch noch eine Bedingung gesetzt? Sprich, sprich! Ich bin auf Alles gefaßt. Wenn der Mann einmal angefangen hat sich zu ergeben findet er so leicht keine Grenze darin.“

„Und Sie glauben – Du könntest glauben,“ verbesserte sich Else leise, „daß ich nach solchem grenzenlosen Manne Verlangen trüge? O nein! Nur das, wovon ich tief innen fühlte, daß es mir nicht gegeben – das mußte ich Dir doch vorher eingestehen. Du hättest ja eine ganz Andere in Dein Haus geführt, als die Du erwähltest. Täuschen kann ich nicht, aber fügen, nun mich in Alles fügen, was Du über uns bestimmst, das kann ich, weil – weil ich Dich grenzenlos liebe, und Dir heute und immer nur vergelten will, was Du mir zum Opfer gebracht hast.“

Eine Wahrhaftigkeit, eine Hoheit war in ihrer Haltung, daß Förster nur ihre Hände an die Lippen führen und ihr mit stummem Blick danken konnte. Der Blick legte ihr freilich sein Herz zu Füßen.


5.

Die nächsten Wochen brachten für die jungen Brautleute nichts als jenes Glück, das schier so alt wie die Menschheit ist - mindestens die deutsche Menschheit. Förster fuhr beinahe an jedem Nachmittage nach Barten hinüber, und Else überschüttete ihn mit Allem, was ihr von Laune und Zärtlichkeit und sinnigen Capricen zu eigen war. Sie blühte in dieser neuen, nun jedes Zwanges freien Atmosphäre, gleich einer Blume über Nacht – auf einmal auf; ihr Wesen schien oft wie verkörperter Duft: dann schwer, dann nur von Hauches Stärke, jetzt war sie ganz Seele, gleich darauf trotzte sie auf ihr Recht, ihren Willen. Förster nahm Alles mit Entzücken hin und hatte selbst fern von ihr kaum einen andern Gedanken als sie, kaum einen anderen Wunsch, als daß die Stunden beflügelt würden, die ihn täglich von ihr trennten.

Auch seine Mutter theilte voll, natürlich in weniger erregter Weise, sein Glück und fand nun das tiefste Genügen darin die Liebe des Sohnes so richtig beurtheilt zu haben. Bei ihrer Herzensgüte quälte sie momentan eigentlich nur die eine Sorge, wie sie ihn am leichtesten über die Trennung hinwegzuführen vermöchte: dieses Scheiden mit seinen unerbittlichen Consequenzen fürchtete sie seit Tagen.

Doch ob in Glück, ob in Sorge – die Stunden gehen und gehen; so wurde es denn auch im Burgsdorfer Schlosse einmal sehr früh lebendig; der erste März war da, und der mächtige Möbelwagen, der bereits am Abend vorher aus Königsberg angekommen, fuhr an der Freitreppe vor.

Förster erwachte dadurch aus einem Traume, der ihm Else am blauen Meere der Adria gezeigt hatte. Anfangs, da es im Zimmer noch dämmerig war, vermochte er sich durchaus nicht klar zu werden, was das viele Gehen bedeutete. Das Oeffnen von Thüren so früh am Morgen? Dann fiel es ihm plötzlich auf’s Herz: sie geht ja heute, die Mutter – Rudi.

Wie wenig er den Kleinen in letzter Zeit gesehen! Wenn er heimgekommen, hatte er allerdings schon geschlafen: doch den Vormittag über? War es wirklich möglich gewesen – hatte er des Kindes bereits vergessen können? jetzt schon? Und Rudi? Ob er das nicht empfunden?

Mit seltsam gemischten Gefühlen, ganz anderen als in den jüngsten Tagen, stand er rasch auf, zog sich ebenso hastig an und ging nach dem Wohnzimmer. Die Mutter empfing ihn mit ihrem wärmsten Blicke und machte ihm sogar scherzhafte Vorwürfe, warum er so früh aufgestanden wäre, da er ja nirgends helfen sollte. Er kam sich trotzdem wie ein Schuldiger vor; sonst hat er der Mutter schon bei der einfachsten Packerei für einen Bade-Aufenthalt oder irgend einen Besuch geholfen – gerade dabei waren sie stets so heiter gewesen, und diesmal, wo es eine Umwälzung des ganzen Hausstandes galt, hatte er sie völlig sich selbst überlassen?

„Wie schnell ist dieser Erste herangekommen!“ sagte er gleichsam zur Entschuldigung.

„Das findest Du!“ lachte die Mutter herzlich auf. „Wir Uebrigen unterschrieben es kaum. Das ist aber immer so; wirst es auch dereinst erleben, wenn der Hans den Kopf von gewissem Anderem voll haben wird; da sehen eben die Alten nach dem Rechten. Wozu wären die sonst noch da? Hier!“ sie stellte eine Tasse Kaffee vor ihn hin. „Werde Dir lange keine mehr einschenken.“

Ihre Stimme war auf einmal sehr weich geworden, bekam jedoch beim Fortfahren wieder ihren Polterton, den sie immer hatte, wenn Frau Förster gerührt war und es nicht zeigen wollte.

(Schluß folgt.)

Aus der Zeit August’s des Dritten.

Unter Kanonendonner und Glockengeläute hielt im Jahre 1697 der Kurfürst Friedrich August von Sachsen seinen feierlichen Einzug in die polnischen Lande, zu deren Kronenträger er nach dem Tode des heldenmütigen Johann Sobieski erwählt wurde. Wohl staunten die zu seiner Begrüßung an der schlesischen Grenze erschienenen adeligen Deputationen über die ritterliche Erscheinung des Mannes, der später in der Geschichte den Beinamen des Starken tragen sollte, und über die verschwenderische Pracht seines königlichen Gefolges. Von Ohr zu Ohr pflanzte sich rasch die wunderliche Nachricht fort, daß die Kleidung, welche der neue König trug, als er zum ersten Mal den polnischen Boden betrat, allein auf eine Million Thaler geschätzt wurde. Und bezeichnend war diese erste Erscheinung des Fürsten sowohl für seine eigene Regierung, wie für die seines Sohnes, der nach ihm als August der Dritte den polnischen Thron bestieg; denn Verschwendung ist das charakteristische Merkmal, welches sich diesen beiden Herrschern gegenüber dem Geschichtsforscher aufdrängt.

Dem sächsischen Volke kostete die Königscaprice seines ehrgeizigen Fürsten, welcher wegen des fraglichen Machtzuwachses zum Katholicismus übergetreten war, Millionen, und auch Polen mußte dieselbe theuer bezahlen; denn seine inneren Angelegenheiten versanken unter jenen sächsischen Königen immer tiefer in Anarchie, und nach außen hin gerieth es in eine vollständige Abhängigkeit von seinem östlichen russischen Rivalen.

Nach einem kurzen fruchtlosen Versuch, den polnischen Adel durch Gewalt der Botmäßigkeit der Krone zu unterwerfen, beschloß August der Starke, die Nation durch Sittenverderbniß und höfischen Prunk einzuschläfern und seinen Plänen gefügig zu machen. Dasselbe System befolgten auch später die Minister und Rathgeber, welche im Namen seines Nachfolgers das Land regierten, und so lebte der polnische Adel trotz der kostspieligen Kriege, welche das Land verwüsteten und Sachsen allein gegen 100 Millionen Thaler kosteten, Jahrzehnte lang in einem unaufhörlichen Festjubel, zu dem der elende Zustand des polnischen Bauers und die Hungersnoth im Erzgebirge einen grellen Gegensatz bildeten.

Für die beiden sächsischen Könige und ihre Minister war es überhaupt keine schwierige Aufgabe, die ihrer Natur nach leichtlebigen Polen auf die abschüssige Bahn der Ausschweifung und der Prunksucht zu führen. Das damalige Königreich Polen durfte wohl gegen 10 Millionen Einwohner zählen, von denen sich nur eine halbe Million, der Adel, im Genuß staatsbürgerlicher Rechte befand. Der in früheren Jahrhunderten geführte Kampf zwischen dem Adel und der Krone artete schon vor August dem Starken in einen völligen Sieg der unter einander gleichberechtigten Adeligen aus, und es begann nunmehr eine neue Entwickelungsphase der polnischen Geschichte, in welcher nicht der Reichstag und die einzelnen Landtage, sondern mächtige Magnaten tatsächlich im Lande die Herrscherrechte ausübten.

Ein Blick in das persönliche Leben dieser Potentaten dürfte nicht uninteressant sein. Die stolzesten und angesehensten polnischen Adelsgeschlechter hatten in dem damaligen südlichen Polen, in dem eigentlichen Ruthenenlande, ihre viele Quadratmeilen umfassenden

[677]

Herrschaften auf Reisen zur Zeit August’s des Dritten von Polen.
Nach dem Oelgemälde von J. Chelminski.

[678] Besitzthümer. Auf den üppigen Weiden von Podolien, Wolhynien und der Ukraine tummelten sich unzählige Rinderheerden, die seiner Zeit vielgepriesenen polnischen Ochsen, und jeder Magnat hielt etwas darauf, ein großes Gestüt edler Rosse zu halten, um die ihn noch heute mancher europäische Fürst beneiden würde.

Der Wohnsitz des Edelmanns wurde im Gegensatz zu dem bäuerlichen Gehöfte der „adelige Hof“ genannt. In früherer Zeit zeichnete sich derselbe durch Einfachheit aus, wurde aber später zu einem Abbilde des in Warschau residirenden königlichen Hofes; war doch nach den im Lande üblichen Begriffen der König nur der Erste unter den gleichgestellten Adeligen (primus inter pares), und was später der Dichter Slowacki in einem seiner epischen Gedichte sagte, das fühlte und befolgte man wohl zu August’s des Dritten Zeit:

„Was der König von Polen hat, das kann sich auch der Edelmann leisten.“

Zu der großen Machtentfaltung der einzelnen Magnatenhöfe trugen auch die politischen Verhältnisse des Landes Vieles bei. Die Ukraine, welche der Verfasser von „Schloß Krakau und das letzte Turnier“ so treffend mit dem Namen „das Scheideland“ in’s Deutsche übertrug, lag ja dicht vor dem damaligen Ausfallsthor der asiatischen Horden; sie bildete die erste Station, auf welcher die plündernden und sengenden Tataren, wenn sie gegen Europa aufbrachen, ihre Rast hielten.

So ward jahrein jahraus der Horizont dieses Scheidelandes zwischen der europäischen und asiatischen Welt von der blutigen Lohe brennender Dörfer erhellt, und jahraus jahrein wurden die Einwohner des von der Natur reichgesegneten Landes in ihren Hütten und Höfen von den wilden Reiterschaaren der Mongolen überrumpelt und in den „Jassyr“, in die tatarische Gefangenschaft, getrieben.

Wer sollte da diese äußersten Grenzmarken des Landes hüten? Das sogenannte polnische Kronheer war nicht besonders stark und nicht immer zur Hand, bevor aber das bunte Aufgebot der adeligen Streiter aus allen Woiwodschaften des Königreichs an der Grenze erschien, waren die tatarischen Horden mit ihrer Kriegsbeute längst in der nogaischen Steppe verschwunden. Unter solchen Umständen galt es, an diesen Ostmarken sich selbst zu helfen, und so wurden die adeligen Höfe zu kleinen Burgen, auf welchen stets eine Anzahl waffentüchtiger Männer lag.

Es ist nun leicht begreiflich, daß, je größer der Besitzstand eines Magnaten war, er auch desto mehr schützende Hände bedurfte, und so erwuchsen dort kleine Herren, die ihre eigenen Truppen besaßen, im Kriege mit denselben dem Feinde trotzten, im Frieden aber ihre Mannen nicht selten zu ihren Privatzwecken auf den Landtagen verwendeten.

Bald ahmte auch der reichere Adel Westpolens diese Hofhaltung seiner „Herren Brüder“ im Osten nach, und so wimmelten die adeligen Schlösser von einer Menge kleinerer Beamten, die im Dienste der Magnaten standen. Die arme Adelsclasse, die nur wenige Morgen Land ihr Eigen nannte, lieferte zu diesen Diensten ein unerschöpfliches Contingent, und während der reiche Adelige als Kämmerer oder Truchseß beim Könige fungirte, hatte er in seinem Hause gleichfalls seinen kleinen Kämmerer oder Hofmarschall.

Dieses Personal, welches sich in der Sonne des Reichthums wärmte, wurde noch durch den gemeinen Troß der Kosaken, Haiduken, oder wie diese Leute sonst hießen, verstärkt.

Ging nun ein solcher Herr auf Reisen, so zog wenigstens ein Theil des Hofes in seiner Begleitung mit. Das figurenreiche Bild (S. 677), welches dieser flüchtigen Skizze beigegeben, stellt uns eine solche Herrschaftsreise zur Zeit August’s des Dritten trefflich dar. Die damals modischen sächsischen Trachten zeigen uns freilich nur die Dienstleute; denn die beiden jungen Herren, welche neben dem Wagenschlage reiten, tragen die altpolnische Kleidung, welche der Edelmann allen Modewandlungen zum Trotz niemals ablegte. Wir sehen ferner einen Wagen, den sogenannten Küchen- oder Bagagewagen, und einige Diener der Herrschaft folgen. Der Vorreiter dagegen, mit einer Laterne in der Hand, giebt das Zeichen, daß soeben eine Fuhrt zu passiren sei.

Die großen Herren von Lithauen und Kleinrußland reisten oft mit noch größerem Gefolge. Einem Radziwill, Sapieha, Potocki oder Lubomirski folgten förmliche Wagenkarawanen von Ort zu Ort, und zogen erst die Herren auf den Reichstag oder gar zur Königswahl nach Warschau, so begleitete sie ein förmliches Heer ihrer Clienten und der gewaltige Troß, der für die leiblichen Bedürfnisse eines solchen kleinen Hofes zu sorgen hatte.

Auf diesem gesellschaftlichen Boden mußte das vom Hofe aus gegebene Beispiel der Verschwendung eine unbeschreibbare Nachahmungslust erwecken, und, im fortwährenden Rausche des Genusses befangen, ging Polen unter den Königen aus dem sächsischen Hause mit rascheren Schritten, denn jemals, seinem Untergange entgegen; wir brauchen nicht daran zu erinnern, daß dieser äußere Prunk die tiefsten inneren Schäden überall durchblicken ließ.

Die religiöse Toleranz, deren sich Polen früher rühmen durfte, machte einem religiösen Fanatismus Platz, da der größte Theil des Adels von dem Jesuitenorden mit dem todbringenden Netze der geistigen Stumpfheit umgarnt wurde. Die Verkäuflichkeit der Aemter, das Zerreißen der Reichstage durch den Einspruch eines einzigen Landboten (das berüchtigte liberum veto) wurden zur Regel. Die kriegerische Tüchtigkeit und der staatsmännische Sinn der Nation waren im Erlöschen begriffen, während dem Lande ein Bürgerstand fehlte, um den überlebten Adel als Führer des Volkes zu ersetzen. Außerdem war Polen schon in jener Zeit, bevor es seinen Gegnern auf dem Schlachtfelde erlag, zum Spielball der Intriguen des im Osten heranwachsenden russischen Riesen geworden.

Mit dem Untergang des Reiches verschwand auch die äußere Pracht des Magnatenthums, von dem wir in den vorstehenden Zeilen ein flüchtiges Bild entworfen haben.




Die Wisbyfahrt des Hansischen Geschichtsvereins.

Reisefertig und seetüchtig lag am 23. Juli dieses Jahres der schmucke dänische Dampfer „Heimdal“ in dem Hafen der alten Hansastadt Lübeck vor Anker. Er trug ein prächtiges Festkleid, einen vielfarbigen Flaggenschmuck; denn diesmal galt es nicht, eine prosaische Geschäftsreise zu machen; das Ziel seiner Fahrt bildete vielmehr die einstige Beherrscherin der Ostsee, die halbvergessene Hansastadt Wisby auf Gottland, und die Passagiere, auf die er wartete, waren Künstler, Gelehrte und Schriftsteller, geladene Gäste des Hansischen Geschichtsvereins.

Die von diesem Verein angeregte Idee, unter hanseatischer Flagge eine Fahrt über’s Meer zu den alten deutschen Culturstätten in der Ostsee zu unternehmen, wurde mit Recht von allen Seiten mit aufrichtiger Freude begrüßt. War doch die Aufmerksamkeit der deutschen Leserwelt erst vor nicht langer Zeit durch das vortreffliche, preisgekrönte Werk des Professor Schäfer „König Waldemar und die Hansastädte“ auf die großartigen Städteruinen im Norden gelenkt worden, welche ein beredtes Zeugniß von der Größe der Kämpfe ablegen, die einst der deutsche Kaufmann um die Herrschaft über die Ostsee zu bestehen hatte.

So geschah es auch, daß am 23. Juli mehr Reisegefährten in Lübeck erschienen waren, als man ursprünglich erwartet hatte; es herrschte bei der Einschiffung ein buntes, verworrenes Treiben in den Räumen des „Heimdal“, der die Schaar der Gäste kaum zu beherbergen vermochte. Aber bald legte sich die Aufregung; Jeder hatte sich ein Plätzchen erobert und sich behaglich eingerichtet. Das Comité der Fahrt ging dabei hülfebietend und energisch zugleich vor. Die zahlreichen eisenbeschlagenen Koffer, Kisten und Kasten verschwanden aus dem Gesichtskreis an Deck; es klärte sich die Unordnung; die Hauptsorge um die Ruhe der Nacht war beseitigt, und Jeder erquickte zunächst seinen ermüdeten Körper an der geschmackvoll servirten Tafel unter dem luftigen Sonnenzelt, während sich die Anker aus der Tiefe hoben und das schöne Schiff uns langsam an den traumhaft an uns vorüber gleitenden Uferanlagen die Trave hinuntertrug. Man [679] freute sich der schönen Rundschau; die Stimmung an der Tafel wurde eine gehobene; das anmuthige Bild des Flusses erheiterte die Gemüther und so dampften wir unter günstigen Vorzeichen für einen angenehmen Verlauf der Wisbyfahrt an der mecklenburgischen Küste entlang, Stralsund zu.

Heiter und durch nichts getrübt verging der erste Tag in See. Beim anbrechenden Morgen sahen wir in unmittelbarer Nähe vor uns die so überaus malerisch, schroff und steil dem Meere entsteigende Küste von Rügen, die unter der aufgehenden Sonne in wundervoller Beleuchtung strahlte. Wir nahmen directen Curs auf Stralsund und passirten um neuneinhalb Uhr das unverkennbare Spuren eines würdevollen Alters tragende Rammpfahlwerk seines Hafens.

Die alte Hansastadt trug ein Festkleid; Fahnen und Flaggen sah man allerwärts wehen, und die Straßen waren mit frischem Laub und Blumen bestreut. Von den ehrwürdig auf uns herniederschauenden Thürmen der St. Nicolai- und Marien-Kirche verkündete Geläute erhebende Freude und feierliche Feststimmung. Es war gerade der Wallensteins-Tag, welchen die Stralsunder jedes Jahr zu feiern pflegen, zum Andenken des am 24. Juli 1628 erfolgten Abmarsches der Wallenstein’schen Belagerungsarmee. Dem stolzen Friedländer, welcher unverrichteter Dinge abziehen mußte, blies damals der Stadttrompeter von dem Thurme des Rathhauses ein höhnisches Marschlied nach, und auch heute erklingen an genanntem Tage dieselben höhnenden Töne vom Thurme.[1]

Eine sternenhelle Nacht hatte uns hinüber nach dem felsigen Wikinger-Eilande, Bornholm, geführt, dessen hohe zerklüftete Ufer mit ihren phantastischen Formen die Monotonie der Meeresfläche unterbrachen und uns zuerst den Zauber der nordischen Natur erschlossen. Es war früh am Morgen, als wir uns dem Hafen des Hauptstädtchens Rönne näherten, wo bereits eine Reihe von siebenzehn Wagen, mit kleinen muthigen Pferden bespannt, unser zu einer Fahrt über die Insel Bornholm harrte. Männer von Rönne boten uns zu der Uebersiedelung auf die Wagen hülfreiche Hand. Was waren das für Gestalten, welche Nacken und Arme! In der That, die Nachkommen der alten Wikinger sind immer noch ihrer Vorfahren würdig, und man muß selbst in ihrem Lande gewesen sein, um ihre milden Augen, ihren sanften und doch wieder so urmännlichen, entschlossenen Gesichtsausdruck verstehen zu können. Unser Weg führte uns mitten durch das Städtchen. Ein wahres Bild des Friedens stellte Rönne dar mit seinen langen wohlgepflegten Straßen, seinen schmucklosen, von einfachem aber biederem Sinne ihrer Bewohner sprechenden Häusern, mit den hübschen Anpflanzungen schöner Linden und Ebereschen und mit seinen alten, ehrwürdigen Marktplätzen. Aber nicht immer hatte in diesen Straßen solche friedliche Stille geherrscht. Es gab auch Zeiten, wo Rönnes und ganz Bornholms Schicksal nur blutig entschieden werden konnte; die Geschichte des freundlichen Eilands erzählt herzerschütternde Gräuel.

An reichen Gemüsegärten und Obstbaumanlagen vorbei, wie mitten durch üppige Wiesen und wogende Kornfelder fuhren wir in westlicher Richtung unserem Ziele, dem Jons-Dorfe, zu. Wir erreichten es nach einer dreistündigen genußreichen Fahrt und wanderten zu Fuße nach der sogenannten Jons-Capelle, auf welcher der Sage nach ein Mönch Jon vor den heidnischen Bornholmern gepredigt haben soll. Sie bildet den Endpunkt eines mächtigen Amphitheaters von steilen Klippen, welche den nördlichen Theil von Bornholm begrenzen. Ein fast senkrechtes Treppengewinde führte uns an mächtigen uralten Sandstein- und Schieferfelsen hinab zu einem vorspringenden Felsen, der sogenannten „Kanzel“.

Bis zur schwindelnden Höhe erhoben sich um dieselbe herum die gewaltigen Felsmassen, von den schäumenden Wogen umbrandet, lothrecht aus dem Meere. Wilde Rosen und Kreuzdorngestrüpp wucherten in üppiger Fülle zwischen den tiefen Spalten des Jahrtausende alten Gesteins; ein Teppich reichen Epheugeranks bedeckte zum Theil seine schlüpfrigen Flächen, während über die Rinnen Wasser hinab in die Brandung tröpfelte, die zischend den gewaltigen Grundbau dieses Sinn und Gefühl befangenden Naturwerkes bespülte.

Ein höchst anmuthig freundliches Bild bot hier unsere Gesellschaft selbst dar, die sich behufs einer photographischen Aufnahme seitens eines fahrenden Künstlers in Reih’ und Glied aufstellte. Das nahm sich inmitten dieser grotesken Natur interessant, originell und heiter zugleich aus, und in frohester Stimmung traten wir den Rückweg nach unserem Schiffe an.

In früher Morgenstunde des folgenden Tages sahen wir im Oelander Sunde die Thürme von Calmar sich am Horizonte erheben, und nach Besichtigung der Stadt sowie des alten Schlosses, Calmar-Huus, steuerten wir nach der Küste von Oeland hinüber, an der uns der Hafen des durch seine Schloßruine berühmten Borgholm aufnahm. Man nennt dieses Schloß „das nordische Heidelberg“; heute bildet es aber nur einen gewaltigen Trümmerhaufen, auf welchem Gras, Sträucher und Bäume gar üppig wachsen.

Trüb und regnerisch brach der Morgen des 27. Juli an, aber trotzdem waren die Hansafahrer vollzählig auf dem Deck des „Heimdal“ erschienen; denn in mattem Frühlicht tauchte ein blauer Streifen Landes, die malerische Küste Gottlands, aus dem Meere empor. Dort lag Wisby, das Ziel unserer Reise. Das Emporblühen seiner Macht reicht in ferne Zeiten zurück, in denen – vielleicht schon gegen das Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung – die deutschen Kaufleute den Hansabund zur Abwehr fürstlicher Anmaßung und ritterlicher Raublust begründeten. Die günstige Lage des Hafens bot den in der Ostsee von stürmischem Wetter überraschten Schiffen einen sicheren und leicht erreichbaren Schutz, und so ward die Stadt bald zum Vororte des deutschen Handels mit den an der Ostsee gelegenen Ländern. Von Wisby aus wurde auch die erste deutsche Handelscolonie im fernen Osten, der „Hof der Deutschen zu Naugard“ (dem jetziger Weliki-Nowgorod) in’s Leben gerufen, und bis in das vierzehnte Jahrhundert stand das „Siegel der deutschen Kaufleute, auf Gottland weilend“, in hohem Ansehen. Später begann Lübeck mit der Stadt um die Handelshegemonie zu wetteifern, und feindliche Uebermacht stürzte sie schließlich von ihrer Höhe in die Tiefen des Verfalls, aus dem sie sich nie wieder erhob.

Es war wiederum ein historischer Gedenktag, an dem wir die einstige stolze Metropole der Ostsee erblickten. Am 27. Juli des Jahres 1361 hatte nämlich der Dänenkönig Waldemar (Atterdag) der Vierte die Stadt erstürmt und geplündert. Damals nahm Dänemark den Anlauf, eine Großmacht des europäischen Nordens zu werden. Waldemar der Vierte mit dem Beinamen Atterdag („den andern Tag“ heißt das in deutscher Uebersetzung) überzog Schweden, unter dessen Botmäßigkeit Gottland stand, mit Krieg, und sein erster Angriff richtete sich gegen das reiche Wisby, welches damals etwa zwölftausend Kaufleuten in seinen Festungsmauern sichern Schutz gewährte.

Als Waldemar auf Gottland gelandet war, versuchten die Männer von Wisby, welche Schweden schmählich im Stiche ließ, ihr Glück in offener Feldschlacht, wurden aber auf’s Haupt geschlagen und verloren auch die Stadt nach einer kurzen Gegenwehr. Da ließ der Dänenkönig einen Theil der Mauer schleifen und hielt durch diese Bresche als Sieger seinen Einzug. An jenem Tage erlosch Wisby’s Stern für immer, und auch die Bresche in der Stadtmauer blieb bis auf den heutigen Tag, gleichsam als ein symbolisches Zeichen, daß die Macht der Hansastadt gewaltsam gebrochen sei.

Die riesigen Ruinen dieser gegen acht Meter hohen Mauer und ihre theilweise noch hochemporragenden Thürme fielen uns zunächst in’s Auge, bis allmählich, als wir uns dem Hafen näherten, die Stadt selbst, hart am Strande der See, sichtbar wurde.

Zur Rechten und Linken von ihr zog sich die sehr düster und kahl aussehende Kalksteindecke der Küste hin, während im Süden das wunderlich geformte, etwa fünfzig Meter hohe Felscap Högklint den Blick begrenzte. Im wehenden Flaggenschmuck fuhren wir in den Hafen ein, von brausenden Hurrahs der seit einer Stunde unser harrenden, Kopf an Kopf am Hafen stehenden Bevölkerung Wisbys – leider unter strömendem Regen – begrüßt.

Der herzlichste Empfang wurde uns hier zu Theil. Die in dem kleinen, 7000 Einwohner zählenden heutigen Wisby erscheinende „Gotlands Allehanda“ widmete uns an bevorzugtester Stelle einen langen Begrüßungsartikel unter der Ueberschrift „Die Deutschen, welche Gottland besuchen!“ und die aus der am Ufer dichtgedrängten Menge heraustretenden Herren im Frack und weißer Binde, die Spitzen der Stadt, sprachen uns im Namen Wisbys Gruß und Willkommen aus und boten sich uns dann zur Führung an.

Die dicht an dem Hafen liegenden Straßen bieten dem Auge [680] des Beschauers wenig; die Häuser sind unansehnlich im modernen Stil gebaut, und erst zwischen den schmalen Gäßchen, die nach der Landseite hin sich erstrecken, stoßen wir auf die zahlreichen Trümmerhaufen und alterthümlichen Bauten, die ehrwürdigen Zeugen der einstmaligen Größe Wisbys. Als wir vor Allem die gewaltigen finsteren Ruinen der Kirchen betrachteten, da begriffen wir das Zutreffende der Worte, welche kurz vorher Professor Dr. Bergmann (Director des Wisbyer Gymnasiums) an uns gerichtet hatte: „Wisby ist ein Stück Mittelalter, in einer Ecke des Nordens zurückgelassen, obgleich von Feindeshand und vom Zahne der Zeit zerstört.“

Achtzehn prachtvolle Kirchen, welche im Laufe von drei Jahrhunderten erbaut wurden, schmückten einst die Stadt. Sie wurden fast alle von den Deutschen erbaut, nachdem schon seit Anfang des dreizehnten Jahrhunderts das gothische Element der Stadtbevölkerung zurückgedrängt worden war. Stundenlang wanderten wir in ihren noch herrlichen Ueberresten umher, in den Ruinen der St. Nicolaus-, Gertrud-, Clemens-, Olof-, Drotten-, Lars-, Katharina-, Hans-, Goran- und der Heiligen Geist-Kirche, welche eigenthümlicher Weise zwei Stockwerke für die Andächtigen besitzt.

Die meisten dieser Ruinen zeigen den Rundbogenstil, welcher oft mit dem Spitzbogen gemischt ist, und St. Katharinen allein trägt die Merkmale der gothischen Bauart. Heute herrscht tiefe Grabesstille in diesen verlassenen Gotteshäusern, und nur von Zeit zu Zeit singt der Sturmwind, durch die durchbrochenen Gewölbe in die weiten Hallen hineinfahrend, sein wildes, grausiges Lied.

An dem „Burmeister’schen Hause“, einem im Jahre 1660 aus Holz aufgeführten und von altem Epheu vollständig bis zum Dache überrankten Gebäude, desten erster Eigenthümer ein aus Lübeck nach Wisby übergesiedelter Kaufmann war, vorüberschreitend, erblickten wir die Ruinen der Nicolai-Kirche, „eine der herrlichsten des ganzen Nordens“, wie der Wisbyer mit ebenso großem Stolze wie unbestreitbarem Rechte sagt.

Der westliche Giebel des malerischen Baues ist mit drei riesigen, schön geformten gothischen Fenstern geschmückt. In den Rosetten derselben waren einst, wie die Sage erzählt, kostbare Karfunkelsteine eingesetzt, welche taghell jede Finsterniß erleuchtet und wie ein Feuer erglänzt haben. König Waldemar Atterdag ließ bei der Plünderung der Stadt im Jahre 1361 diese Edelsteine ausbrechen, aber das Schiff, welches sie mit der anderen Beute nach Kopenhagen führen sollte, wurde von einem Sturme überfallen und scheiterte an den Karls-Inseln. Es ist dies eine Sage, die sich auch an andere Kirchen knüpft und auf den alten Gebrauch von Leuchtapparaten, die von der Höhe der Kirchen herab in Seestädten den Schiffern unser heutiges „Leuchtfeuer“ ersetzt haben mochten, zurückgeführt werden kann.

Auch hier war das hohe Gewölbe der Ruine vielfach durchbrochen, und Licht und Schatten wechselten mit einander malerisch auf den Steintrümmern ab. Ganz oben auf dem Gewölbe wucherte ein üppiges Pflanzenreich; es trieb, keimte und blühte wie in einem Garten. Von dort aus bot sich eine schöne Uebersicht über die ganze schweigsame Trümmerwelt, die sich tief zu unseren Füßen ausbreitete; das Meer umgab dieselbe mit einem weiten Rahmen, und es brandete dumpf in wildem Rauschen und fluthete unausgesetzt über den Strand – ein Bild des ewig Wechselnden, ewig Fließenden, neben dieser todten Welt der Vergangenheit.

Der folgende Tag sah uns auf einer frühen Wanderung zu dem Stadtthore hinaus nach den „Palissaden“, einer öffentlichen Promenade, von wo wir einen großen Theil der alten Stadtmauer übersehen konnten. Wir befanden uns vor dem alten Schlosse Wisborg, das, im Jahre 1411 von König Erik erbaut, lange Zeit ein Horst räuberischer Seeleute gewesen war. Später, im Jahre 1676, wurde es von den Dänen erobert und nach drei Jahren zur Ruine zersprengt.

Der riesigen Stadtmauer folgend, die, größtentheils noch erhalten, ihre einstige Massenausdehnung erkennen läßt, lenkten wir auf der südöstlichen Seite auf einem Fußpfade ab zu dem circa neun Fuß hohen Ringkreuze, dem Denkmale des Schreckenstages des Jahres 1361. Dasselbe ist aus einem einzigen Kalksteine gemeißelt und trägt eine lateinische Inschrift, die deutsch also lautet: „Am 27. Juli im Jahre des Herrn 1361 sind vor den Thoren Wisbys von dänischen Händen die hier begrabenen Gothen gefallen; betet für sie!“ Den Stamm des Kreuzes schmückt das ausgemeißelte Bild Christi am Kreuze mit einer über ihm befindlichen fünfblätterigen Rose. Hier war also die offene Feldschlacht gegen Waldemar’s Truppen geschlagen worden, und diese Grabstätte der tapferen Gothen war zugleich das Grab, in welches Wisbys Herrlichkeit für immer versank.

Noch ein Ausflug mit der neuen gottländischen Eisenbahn nach den schönen Orten Rema und Nanga, deren alte Kirchen ihre hervorragendsten Zierden sind, erfolgte am letzten Tage unseres Aufenthaltes auf Wisby, und dann hieß es, dem Programm gemäß, heimwärts zu steuern.

Der Abschied von den freundlichen Einwohnern der alten Stadt war überaus herzlich. Ritterliche schwedische Galanterie hatte die Damen unserer Gesellschaft mit Bouquets in reichem Maße bedacht, und unser Schiff glich, von der Commandobrücke aus gesehen, einer Blumenterrasse, als sich zu dem letzten Abschiede, die Damen im Vordergrunde, Alles nach der Bordwand drängte und hier die hohen und höheren Standorte einnahm. Aus der Dampfpfeife ertönte ein schriller Pfiff; die Schraube begann zu arbeiten. Ein donnerndes Hurrah erscholl als letzter Abschiedsgruß nach dem Lande hinüber, wo ein dreimaliges Hoch auf uns ausgebracht und schwedische Lieder von einem Gesangverein angestimmt wurden. Das Ufer beleuchteten bengalische Feuer, die uns noch lange in ihrem hellen Scheine das Wehen der Tücher, das Schwenken der Hüte zeigten, bis sich das Gestade im dämmernden Lichte des Abends unseren Blicken entzog. Mit directem Curs hielten wir auf die heimathliche Küste zu und trafen nach einer Abwesenheit von acht Tagen am 31. Juli Nachmittags wieder in Lübeck ein.




Zum Präsidentenwechsel in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika.

Nachdem der edle Garfield mehr als zehn Wochen mit den Folgen einer heimtückischen schweren Verwundung gerungen, erwies sich endlich die allbezwingende Gewalt des Todes mächtiger als alle Künste der ärztlichen Wissenschaft und erlöste den Präsidenten von seinen qualvollen Leiden. Die Trauerkunde, welche sich am 19. September mit Blitzesschnelle über Länder und Meere verbreitete, rief überall die Gefühle des tiefsten Schmerzes und der aufrichtigsten Theilnahme hervor, und die sympathischen Kundgebungen, welche an allen Orten der civilisirten Welt erfolge, sind nicht allein Ausflüsse einer freundschaftlichen Gesinnung, die man einer großen Nation in ihrem Unglücke um so nachdrücklicher bezeugt, sondern sie gelten diesmal in erster Linie dem edlen Manne, dessen Leiche nunmehr in dem schwarz ausgeschlagenen Saale des Capitols zu Washington aufgebahrt worden.

Die großen persönlichen und staatsmännischen Tugenden Garfield’s leben noch frisch in der Erinnerung unserer Leser; haben wir doch erst vor Kurzem, gelegentlich seiner Wahl zum Präsidenten der Republik, des dornenvollen Lebenslaufes dieses charakterfesten und tugendhaften Mannes mit warmen Worten gedacht; auch die elenden Triebfedern und verhängnißvollen Folgen des ruchlosen Meuchelmordes haben wir schon früher genügend gebrandmarkt, und so haben wir heute nur die schmerzliche Pflicht zu erfüllen, am Sarge des echten Republikaners einen Lorbeerkranz niederzulegen und um die mit ihm zu Grabe getragenen Hoffnungen des amerikanischen Volkes zu trauern.

„Ich will mir die Hütte nehmen lassen, welche meinen Theuren zum Obdache dient, will meine paar Rechtsbücher verbrennen, die mir bei der Ausübung meines Berufes behülflich sind – nur das Eine muß ich behalten und werde es vertheidigen, wie die Löwin ihr Junges, und sollte ich, angesichts der Nation, darüber zu Grunde gehen: meinen ehrlichen Namen.“

An diese flammenden Worte, die Garfield vor Jahren, als er der Betheiligung an einer Gründerarbeit beschuldigt wurde, im Unterhause des Congresses seinen Verleumdern entgegen schleuderte, erinnert uns heute die Presse. Nun wohl! Garfield hat sein Wort gehalten! Er ist angesichts der Welt zu Grunde gegangen, indem er nicht nur seinen eigenen ehrlichen Namen, sondern auch die Ehre der Republik gegen die Uebergriffe der schamlosen Beutepartei [681] vertheidigte, und dies allein sichert ihm den Ruhm der Unsterblichkeit, den Ehrenplatz nach Washington und Lincoln in dem Andenken der Völker.

James A. Garfield.

Aber wir Deutsche haben noch einen besondern Grund, Garfield’s frühzeitigen Tod zu beklagen: Uns ist in diesem edlen Manne ein treuer Freund unseres Vaterlandes verloren gegangen.

Ein gründlicher Kenner unserer Literatur und Geschichte, wußte er den idealen Zug des deutschen Nationalcharakters wohl zu schätzen, und mehr als einmal nannte er die Deutsch-Amerikaner „die treuen Verbündeten“, welche den gesitteten Führern des amerikanischen Volkes zum endlichen Siege über die corrumpirten Aemterjäger verhelfen würden.

Herzinnig war auch der Empfang, welchen Garfield der deutschen Deputation nach seiner erfolgten Präsidentenwahl zu Theil werden ließ, und wir begreifen wohl die Tiefe des Schmerzes, welchen Millionen unserer Brüder jenseits des Oceans bei diesem herben Verluste empfinden.

Gemäß den Gesetzen der nordamerikanischen Verfassung hat der [682] bisherige Vicepräsident der Vereinigten Staaten, Chester A. Arthur, nunmehr den Präsidentenstuhl bestiegen und bereits dem Volke den Eid der Treue geleistet.

Arthur wurde zu Albany im Jahre 1831, in demselben Jahre, in welchem auch Garfield das Licht der Welt erblickte, geboren. Auf dem Union College zu Schenectady zeichnete er sich als strebsamer Schüler in allen Unterrichtszweigen aus, bezog später die Albany Rechtsschule und wurde schon in einem frühen Alter zur Advocatur zugelassen. Während des Secessionskrieges war er Quartiermeistergeneral des Staates New-York, zog sich aber nach Beendigung des Feldzuges in das Privatleben zurück und ließ sich in New-York nieder, wo er bald zu den tüchtigsten Sachwaltern zählte.

Grant ernannte ihn im Jahre 1872 zum Zolleinnehmer des Hafens von New-York, und dieses Amt bekleidete Arthur bis zum 20. Juli 1878, an welchem Tage er durch den Präsidenten Hayes entsetzt wurde, weil er sich der von diesem beabsichtigten Civildienstreform widersetzte. In Folge eines Compromisses der republikanischen Parteien erhielt er bei den letzten Wahlen die Stelle des Vicepräsidenten der Vereinigten Staaten.

Chester A. Arthur stand bis jetzt in engen Beziehungen zu den Führern der Beutepartei, und auf ihn waren die Hoffnungen des verruchten Mordbuben Guiteau gegründet. Es ist aber zu erwarten, daß er, unter dem frischen Eindruck der verbrecherischen That und von dem erwachenden Gewissen des amerikanischen Volkes gedrängt, auf der ruhmreichen Bahn seines Vorgängers zum Heil der Republik das Staatsschiff lenken werde.




Riesengebirgs-Bilder.

„Die Sudeten, ein Theil des ungeheuren Bergzuges, welcher von der Lüneburger Haide bis zum schwarzen Meer Europa in zwei große Hälften scheidet, sind nach den Alpenzügen das höchste Gebirge Deutschlands; ihr Rücken erhebt gewaltige Koppen, nährt durch zahlreiche Bäche drei bedeutende Flüsse: Elbe, Oder, March, umschließt schauerliche Schluchten, finstere Gründe und sonnige Thäler, hegt eine reiche Pflanzenwelt und eine reine erquickliche Bergluft. Furchtbares, Gewaltiges, Erhebendes paart sich hier mit dem Anmuthigen und Freundlichen. Dazu kommt die regsame Belebtheit, welche die Sudeten der menschlichen Thätigkeit verdanken; denn selbst auf den höchsten Kämmen jodelt der Hirt und läutet das weidende Vieh; aus den dunklen Wiesengründen dampft die Glashütte und klirrt der Eisenhammer, und wie erst regt sich’s in den Thälern, wo Dorf an Dorf sich reiht und der Landmann der steilsten Lehne mühsam eine geringe Ernte abzwingt!“

Schon diese kurze Schilderung J. C. G. Berndt’s, der als einer der ersten die Sudeten ausführlicher beschrieben hat, ist gewiß geeignet, dieser von Deutschlands beliebteren landschaftlichen Reisezielen etwas abgelegenen Gebirgsgruppe lebhafteres Interesse als bisher zuzuwenden.

Der mittelste Hauptstock der Sudeten, das sogenannte „Riesengebirge“, mit dem wir uns hier zu beschäftigen gedenken, hat zwar weder malerische Kegelformen, noch eisbedeckte, himmelanragende Hörner, Nadeln und Firnen, aber es fesselt schon aus weiter Ferne durch eine gewisse Großartigkeit, die es zu dem Range eines alpinen Hochgebirges erhebt, während es in der Nähe zugleich durch Lieblichkeit und Anmuth besticht. Die Mitte seiner Granit-, Porphyr- oder Basaltberge umrauscht ein stolzer Waldgürtel; weiter hinauf bekleidet die Hänge nur noch eine zur Erde gebogene Zwergkiefer, die den charakteristischen Namen „Knieholz“ trägt und sich ausgezeichnet zu dauerhaften Schnitzarbeiten eignet, hoch oben aber decken nur Moos und dürftige Kräuter den Boden. Dort finden wir auch eine Anemone, deren Frucht unter dem Namen „Teufelsbart“ bekannt ist, sowie ein wohlriechendes Moos, nach welchem die damit bedeckten Steine „Veilchensteine“ genannt werden. Die gewaltigen Trümmermassen, welche die Oberfläche dieses Gebirgskammes bedecken, wie die von kleinen Hochseen oder Schneemassen erfüllten muldenartigen Zerklüftungen desselben, sind die Zeugen einstiger großartiger, zerstörender Ereignisse, die verwitterten Ueberreste eines früheren Alpengebirges.

Auch der Volksschlag, welcher auf diesen Höhen sich friedlich niedergelassen, zeichnet sich durch manche eigenthümliche Sitten und Bräuche aus. Originell ist vor Allem das bereits im Jahrgange 1861, S. 763 ff. der „Gartenlaube“ von Rudolf von Gottschall geistvoll geschilderte Leben und Treiben in den sogenannten „Bauden“, wie hier die von ganzen Familien bewohnten größeren Sennhütten genannt werden; Leierkasten, böhmische Harfenmädchen und die jetzt großentheils aus Hirschberg importirten, also bedenklich imitirten Ungarweine gehören zu den unentbehrlichen Requisiten dieser eigenartigen Sennhütten. In früheren, hier noch nicht durch Culturmiasmen inficirten Zeiten klang dem ermüdeten Bergwanderer aus diesen „Bauden“ manche jener gesunden, anmuthig-schlichten schlesischen oder böhmischen Volksweisen entgegen, aus denen z. B. Karl Maria von Weber für seinen „Freischütz“ so genial geschöpft hat. Ab und zu findet man in diesen Bauden wohl auch noch jenes, seltsam genug, einst durch Matrosen hierher gebrachte, mit nur einer schnarrenden Saite bespannte cello-artige Instrument unter dem originellen Namen „Trompetermarin“ (Marinetrompete).

Daß schon die alten Römer zu dem Riesengebirge mit keineswegs geringem Respect hinaufblickten, beweisen die ihm von denselben beigelegten Namen Montes gigantei und niviferi, welche sich in den Benennungen „Riesengebirge“ und „Schneekoppe“ erhalten haben.

Die „Schnee- oder Riesenkoppe“, welche sich gegen 1600 Meter über dem Meeresspiegel erhebt und überhaupt die höchste Spitze des deutschen Mittelgebirges bildet, wird von den Touristen sehr häufig besucht, und ihre Besteigung ist besonders dann sehr lohnend, wenn man das Glück hat, dort einen schönen Sonnenunter- oder -aufgang zu erleben, wobei der Kegel groteske Schatten weit in das Land hineinwirft. Leider tritt dieser Fall selten ein, da die Koppe namentlich früh fast stets durch Wolken verhüllt wird. Ihr einem ungeheuren Steinhaufen gleichender Granitkegel[WS 1] erhebt sich noch nahe an 280 Meter über den Koppenplan und ist auf dem Gipfel mit Gneis oder Glimmerschiefer bedeckt. Schauerlich großartig ist von hier der Blick tief in den über 600 Meter fast senkrecht abfallenden „Riesengrund“ hinab. Auf ihrem Gipfel errichtete 1688 ein Gotsche Schof (ein Vorfahre der jetzigen Grafen Schaffgotsch) dem heiligen Laurentius aus Steinen eine sehr große, starkgewölbte Wallfahrtscapelle, welche später in derselben primitiven Art wie bis vor Kurzem auch die besseren Bauden den Bergwanderern als Herberge diente, indem man direct aus dem unteren, als Speisesaal, Küche und Umkleidezimmer zugleich verwendeten Raume mittelst einer Leiter auf den als gemeinschaftlichen Schlafsaal benutzten Heuboden stieg. Endlich erbaute 1850 Gastwirth Sommer das erste gasthausähnliche Hospiz in Blockhausform, welches mehr als 150 Personen Quartier bietet. Das 1868 auf der böhmischen Seite des Gipfels erbaute Concurrenzhospiz befindet sich jetzt mit ersterem als dessen Dependenz in einer Hand. Großartig sind von der Schneekoppe oder einem der anderen Kegel des Riesengebirges Gewitter an heißen Tagen anzusehen, die sich bald in der oberen, bald in der niederen Region erzeugen, und ein wunderbares Schauspiel gewährt es, den Kampf der Elemente in den Thälern oder am Fuße der Berge zu beobachten, während die Gipfel in reinem Sonnenlichte prangen, den Donner in der Tiefe zu hören, tausendfach widerhallend aus Schluchten und Abgründen, während der Blitz die zusammengeballten Wolkenmassen plötzlich für einen Augenblick in ein gelbes Feuermeer taucht. Die unserm Artikel beigegebene Illustration zeigt uns die Schneekoppe, wie sie sich dem Auge des Beschauers von der auf böhmischem Gebiet liegenden Riesenbaude aus darbietet.

Noch lohnender für den Freund erhebender Hochgebirgsbilder sind jedenfalls die Partien an den Abhängen und Vorbergen des Riesengebirgskammes: der „Ziegenrücken“, die „Kesselkoppe“ (böhmisch Krkonosch: Halsträger), die „Tafelfichte“ sowie der „Hock- oder Hochstein“, von dem man theils die reizenden Elbgründe und das Thal von St. Peter, theils die Niederungen der Lausitz übersehen kann.

Auch die schlesische Seite des Gebirges ist reich an schönen Aussichtspunkten. Zunächst erreicht man von Schreibershau leicht und bequem die „Bismarck-Höhe“ und die „Moltke-Höhe“ bei dem am Zackenbach sich lang hinziehenden und wohlhabenden Petersdorf, ferner den „Hochstein“ sowie die „Bibersteine“, eine über 600 Meter hohe, ganz wildromantische Felsenpartie, von welcher besonders [683] die freundlichen Städte Greiffenberg und Friedeberg nebst dem Greiffenstein das Auge fesseln. Auf letzterem, fast 450 Meter aus der Ebene aufragenden Basaltkegel thronte einst eine der großartigsten Burgen, deren Rinne trotz aller Zerstörung durch Elemente und Menschenhände, malerisch mit vielen Erkern, Bildwerken und hohen Bogenfenstern geziert, noch immer majestätisch auf die schlechten Neubauten an ihrem Fuße herabblickt. Weiterhin zeigt sich uns die sagenumwobene Ruine des „Kynast“; fast 600 Meter hoch über dem Meeresspiegel liegend, aus prachtvollen Waldungen hervorblickend, überragt sie majestätisch das an ihrem Fuße sich langhinstreckende, durch Sommergäste höchst belebte Hermsdorf. Der Südabfall des Burgberges ist sehr steil und wild, und man hat ihm den Namen „Hölle“ oder „Höllengrund“ beigelegt. Auf diesem Felsenneste thronte einst, wie die Sage erzählt, die schöne Kunigunde, welche, als viele edle Ritter um ihre Gunst warben, übermüthig erklärte, nur demjenigen Freier ihre Hand schenken zu wollen, der hoch zu Roß die Burg hart an deren steiler, in den Höllengrund abstürzender Mauer umreiten würde. Und es fanden sich der Tollkühnen genug, welche den gefährlichen Ritt wagten, aber regelmäßig in den Abgrund stürzten und ihre verlorene Liebesmüh’ mit dem Tode büßten. Da meldete sich eines Tages ein nicht mehr jugendlicher Ritter an dem Burgthore und erklärte sich bereit, das kühne Reiterstück zu vollbringen. Die ernste, würdige Erscheinung des Ritters schien Liebe in dem Herzen der schönen Kunigunde geweckt zu haben, und sie bestürmte den Fremden mit zärtlichen Bitten, sein Leben zu schonen und von seinem Vorhaben abzusehen. Aber sie bat umsonst; er vollführte die von der Burgherrin gestellte Bedingung. Mit glühenden Wangen begrüßte ihn jetzt Kunigunde und bot ihm Herz, Hand und Schloß an, er aber lehnte kalt ihre Gunstbezeigung ab und „verließ sie zur selbigen Stunde“, da er die muthige That nur vollbracht, um Andere vor Unglück zu behüten.

Noch viele andere ähnliche Sagen von Rittern, die hier in der Gefangenschaft schmachteten, und von Edelknappen, die aus Liebesweh ihren Tod in dem Höllengrunde suchten, knüpft das schlesische Volk an diese Ruine, von deren Ursprung die Geschichte Genaues nicht zu berichten weiß.

Von dem Kynast gelangt man leicht nach Warmbrunn, einem der bekanntesten schlesischen Bade-Orte, der außerdem durch die werthvolle gräfliche Bibliothek mit 40,000 Bänden, zahlreichen Urkunden für böhmische und schlesische Geschichte und arabischen sowie chinesischen Manuscripten berühmt ist. Die in der Nähe der Stadt liegenden Anhöhen gewähren ziemlich weite und schöne Aussicht; unter ihnen sind besonders die „Hausberge“ hervorzuheben, von deren Spitze man nicht nur die gleich Spielzeughäuschen an ihrem Fuße malerisch ausgebreitete Stadt und das Hochgebirge bis zu den durch ihre Form fesselnden Falkenbergen, sondern auch die Boberschlucht überblickt.

Unter dem in früheren Zeiten wegen eines süßen berauschenden Bieres stark besuchten Stonsdorf erhebt sich der durch abenteuerlich gruppirte groteske Felsen und Höhlen geognostisch interessante kleine „Prudelberg“, während den Botaniker der nahe gelegene wohlgepflegte „Kreuzberg“ fesselt. Am anziehendsten aber ist in dieser Gegend unstreitig der Blick aus den Fenstern und vom Thurme der „Heinrichsburg“, eines aus schönem Hochwalde sehr einladend hervorblickenden Jagdschlosses des Fürsten Reuß.

Von hier gelangen wir zu drei landschaftlichen Perlen des weiten Hirschberger Hochthales: Erdmannsdorf, Buchwald und Fischbach. Nicht nur ihre höchst ausgedehnten, mit malerischen Schlössern reichgeschmückten Parkanlagen strotzen von Fruchtbarkeit, herrlichem Baumwuchs und einer fast alpenartigen Hochgebirgsflora, sondern auch die zu ihnen bergauf bergab führenden Fahrwege laufen meilenweit durch einen einzigen großartigen Park, wie ihn in solcher Ausdehnung vielleicht kein anderes Gebirge besitzt.

Bei Erdmannsdorf bot Friedrich Wilhelm der Vierte den in Tirol wegen ihres Glaubens hartbedrängten lutherischen Gemeinden in den Colonien „Ober-, Mittel- und Nieder-Zillerthal“ ein schönes fruchtbares Asyl. Wohl sind die von ihnen erbauten malerischen Tiroler Häuser noch Zeugen seiner menschenfreundlichen Absicht, jedoch die hiermit Bedachten verstanden es nicht, durch Wirthschaftlichkeit und Respectirung der dortigen Verhältnisse ihren neuen Wohnsitz zu einem segensreichen zu machen, und so bieten diese Colonien mit ihren Aeckern und Heimstätten heutzutage keinen erfreulichen Anblick dar.

Die hier vorhandenen Aussichtspunkte bieten im Grunde dasselbe Bild. Wer die kraftvolle Frische reicher Waidgründe oder die ernste Großartigkeit alpenartiger Schluchten, romantische Felsen- und Wasserpartien vorzieht, der findet in dieser vielseitigen Urgebirgsgruppe ebenfalls reiche Befriedigung.

Die bequemste, anmuthigste Partie ist unstreitig von Petersdorf aus eine Fahrt zu den beiden Glashütten der Grafen Schaffgotsch und Harrach („Josephinenhütte“ und „Neuwald“ oder „Neuwelt“) auf der mehrere tausend Fuß ansteigenden vortrefflichen Poststraße, die mit ihren zahlreichen Wendungen fortwährend neue Bilder bietet. Aehnlich wie der Sandstein z. B. in der sächsischen Schweiz, ist hier der Granit zu Felsenmauern und anderen grotesken Formen ausgewaschen, sowie mit üppigstem Schwarz- und Laubwald überwachsen, über weichen als großartiger Hintergrund das Hochgebirge herabblickt, während der zahlreiche Glasschleifereien und Sägemühlen treibende, formenreiche Zackenbach rauschend über Felsgeröll stürzt. Die „Josephinenhütte“ liegt in schönen Tannenwald eingebettet über dem fast 600 Meier hoch gelegenem weithin zerstreuten, beinahe 4000 Einwohner zählenden Schreibershau oder Marienthal. In der Nähe bilden zwei Zuflüsse des Zacken, Kochel und Zackerle, kleine Fälle, welche aber nicht als Wasserfälle, sondern vielmehr durch ihre malerische Wald- und Felsenumgebung das Auge des Beschauers fesseln. Unfern der Hütte überrascht auf dem Fußwege zum Kochelfall ein weiter Aussichtspunkt.

Weiter nach Osten, gegen die böhmische Grenze hin, beginnt die Landschaft besonderen Reiz zu entfalten. An den Quellen der Mettau, eines Nebenflusses der Elbe, tritt plötzlich der Quadersandstein in großer Mächtigkeit auf und erscheint hier als die vier Kilometer lange Gruppe der Adersbacher Felsen, die ursprünglich eine einzige große Felsmasse bildeten, bis dieselbe durch die fortwährenden Witterungseinflüsse in die einzelnen, jetzt wildromantisch an einander gereihten Theile zerklüftet wurde. Eine Fortsetzung dieses „Felsenwaldes“ findet man in geringer Entfernung bei Weckelsdorf. Diese durch ihr zauberhaftes Echo berühmte Felsenpartie, welche auf unserm heutigen Bilde theilweise wiedergegeben ist, war lange Zeit hindurch selbst den Einwohnern der Umgegend unbekannt. Erst im Jahre 1824 legte ein großer Waldbrand die Zugänge zu dieser „Felsenstadt“ offen, und seit 1847 wurden sie zu einem der beliebtesten Ausflugsorte der in den schlesischen Bädern weilenden Gäste.

Vor „Neuwelt“ führt durch schönen Laubwald, durch Harrachsdorf ein vom Grafen Harrach ausgezeichnet angelegter Reitweg im Thale der Mummel bei einem kleinen Falle derselben vorbei und steigt zum staubbachähnlichen Pantschefall und zum Elbfall hinauf. Die Pantsche ist ein kleiner Bach, der in der sumpfigen Pantschenwiese seinen Ursprung hat, und über den Felsrand stürzt, um in die unten vorbeirauschende Elbe sich zu ergießen. Der Höhenabstand zwischen der Elbe und dem oberen Felsrand, wo der Wasserfall beginnt, ist sehr bedeutend; denn er beträgt gegen 250 Meter.

So würde der Pantschefall, dank der romantischen Felsenumgebung, alle Vorbedingungen erfüllen, um der großartigste Wasserfall der Sudeten zu sein, wenn ihm nicht eine einzige dieser Bedingungen fehlte: das nöthige Wasserquantum. Man hilft sich aber, so gut es eben geht, sammelt oben das Wasser in einigen Reservoirs und läßt es auf Verlangen der unten harrenden Touristen durch Oeffnung einer Schleuße in größeren Massen herabströmen. Aehnlich verhält es sich auch mit dem gegen 55 Meter hohen Elbfall, welcher im Sommer durch Schleußenanlagen geregelt werden muß, um ein wirklich ergreifendes Naturschauspiel zu bieten. Hier wie bei Wurzelsdorf zeichnen sich die Thäler der Elbe und Iser durch hohe landschaftliche Reize aus; die mit Unrecht wenig besuchte Thalschlucht der Kleinen Iser am Südabhange der Kesselkoppe aber wetteifert in rauher, schauerlicher Wildheit unzugänglicher Felsenwände mit den drei „Schneegruben“ auf der Nordseite. Um letztere richtig zu würdigen und wahrzunehmen, wie bedeutende Schneemassen sie bergen, muß man möglichst tief in eine derselben hinabsteigen Riesengroße Granitkegel erheben sich thurmgleich aus furchtbarer Tiefe empor, von den Wänden einst durch Hitze und Frost abgesprengt; zugleich durchziehen höchst merkwürdige schmale Basaltadern den Granit in so enger Verbindung, wie sie bei diesen Urgesteinarten im ganzen übrigen Europa nirgends vorkommt.

Unser heutiges Bild stellt noch einen der nahe bei einander am

[684]

Bilder aus dem Riesengebirge. 0 Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

[685] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [686] Nordabhange des Hochgebirgskammes in tiefen Schluchten liegenden Teiche dar. Der Anblick dieser Teiche ist mehr wild und erhaben als pittoresk. Das nördliche Ufer des ganz fischlosen großen oder schwarzen Teiches bildet ein gewaltiger Damm mächtiger Felstrümmer, von dem man eine schöne Aussicht auf die Riesenkoppe hat. – Am kleinen Teiche starrt dagegen der Abhang des Kammes in einer Höhe von 200 Meter wahrhaft alpenartig schroff empor. Um den beengend düsteren und einsamen, großartig ernsten Eindruck seiner Ufer voll auf sich wirken zu lassen, versäume man nicht, rund um ihn herum zu gehen. Zwischen ihm und der Koppe befindet sich eine merkwürdige Verengung des Hochgebirgswalles auf dem hier über 1000 Meter hohen Koppenplan zwischen den schauerlichen Schluchten des „Melzergrundes“ und des „Riesengrundes“. Letzterer beginnt in Böhmen eigentlich schon bei den wohlhabenden, sauberen und freundlichen Ortschaften Freiheit und Marschendorf. Je weiter man aber vordringt, desto mehr entfalten sich immer größere Schönheiten, desto mächtiger steigen die Berge empor. Oberhalb des schönen Dorfes Groß-Aupa scheint das enge Hochthal völlig abgeschlossen zu sein. Plötzlich aber öffnet sich dem Auge ein Durchgang, und man steht, ringsum von schroffen Felswänden eingeschlossen, in dem fast senkrecht 600 Meter abfallenden Grunde vor der aus wahrhaft erhabener Höhe herabblickenden Riesenkoppe.

Leider lassen gerade hier, in den schönsten Gebirgsgegenden, die Fahrwege, mit Ausnahme der Poststraßen durch Schreibershau, sowie von Landeshut nach Schmiedeberg, noch immer viel zu wünschen übrig, oder sind noch gar nicht vorhanden.

Auch der Bau von zwei in dem ungemein breiten und ebenen Hochthale fast ohne alle Schwierigkeiten herzustellenden Secundärbahnen, von Hirschberg einerseits nach Schmiedeberg, andererseits nach Petersdorf, scheiterte bis jetzt an kleinen Sonderinteressen. Ueberhaupt bleibt noch so Manches für die Hebung des ganzen Gebirges zu thun. Jene früheren nahezu patriarchalischen Zustände, wo man im ganzen Hochgebirge nichts zu essen und trinken bekam als Milch, Butter, Käse und Schwarzbrod nebst Enzian- oder Ebereschschnaps, wenn es sehr hoch kam, Ungarwein, Kräuterliqueur, Weinsuppe, Eier und schlechten Schinken, wo man beim besten Willen den ganzen Tag nicht mehr als höchstens fünfzig Pfennig zu verzehren vermochte und zur Nacht bei Beleuchtung eines Kienspanes gemeinschaftlich auf den Heuboden kletterte – haben allerdings großentheils aufgehört; vorläufig stagnirt jedoch die dortige Aufnahme und Verpflegung fast durchweg noch in jenem Zustande beschränkter Mittelmäßigkeit, die den für Viele so romantisch-poetischen Reiz idyllischer Naturwüchsigkeit verdrängt hat, ohne das empfindlichere Gefühl verwöhnterer Gäste zu befriedigen.

Hier bleibt für intelligente Concurrenz noch ein weiter Spielraum. Durch eine Besserung der Verpflegungszustände wie durch Eisenbahnen und gute Wege wird sich wohl auch die frühere Wohlhabenheit der Gebirgsstädte, auf deren einstigen Metallreichthum die Namen „Goldberg“, „Silberberg“, „Kupferberg“, „Schmiedeberg“ beredt genug hinweisen, von Neuem heben. Schon jetzt besteht ja in diesen Gegenden eine ziemlich lebhafte Glas-, Leinen-, Holz- und Spielwaaren-Industrie.

Im Aussterben begriffen sind dagegen die sogenannten „Laboranten“, welche sich mit dem Sammeln der köstlichen heilkräftigen Kräuter des Hochgebirges beschäftigen, und die seit langer Zeit das Privilegium hatten, daraus Arzneien und Liqueure zu bereiten. Unter ihnen wie auch unter den Gebirgsführern findet man originelle, anziehende, treffliche Leute, welche mit Treuherzigkeit gesunden Mutterwitz und scharfen Blick verbinden.

Von ganz eigenem Reiz gerade in diesem Gebirge ist eine Winterpartie; denn während gewöhnlich in den Herbstmonaten ein besonders reiner, sanftblauer, von keinen Wolken oder Nebelzügen getrübter Himmel über den grünen Bergen ruht, bedeckt oft schon wenige Stunden darauf eine mächtige Schneemasse den ganzen Kamm. Dann gewährt es ein ganz besonderes Vergnügen, an einem hellen klaren Wintertage in kleinen sicher geleiteten Handschlitten mit rasender Geschwindigkeit von den Bergen herabzufahren und das herrlichste „Alpenglühen“ zu genießen, wenn den fröhlichen Reisenden nicht „Rübezahl“, der mit vielen originellen Sagen umkleidete neckische Berggeist dieses Gebirges, mit seiner gefürchteten Koboldslaune einen Querstrich macht.

Dr. Z–f.




Am Strande.

Es keucht der Wind; die Möve schreit
      Um die felsigen Uferhöh’n;
Die Woge liegt blau und endlos weit,
      Und weiße Segel weh’n. –

5
            Nicht leben hier,

            Nicht streben hier
      Möcht’ ich zwischen Meer und Gestein,
            Doch im Küstensand
            Am weißen Strand

10
      Möcht’ ich begraben sein.

Da sänge der Sturm seinen ewigen Sang
      Mir um das todte Haupt,
Und trotz der donnernden Brandung Klang
      Würd’ nicht die Ruh’ mir geraubt. –

15
Durch die Buchen zöge der Vollmondschein;

Er zuckte am grauen Runenstein;
Dort stiegen Geister empor zur Nacht
Und hielten beim Göttermahle die Wacht;
Sie sängen ein altes, uraltes Lied,

20
Das grollend über die Düne zieht.

Doch weht vom Meere die Morgenluft,
Da stiegen sie wieder in ihre Gruft;
Um meinen Hügel wär’s wieder still,
Wie’s Einer braucht, der schlafen will. –

25
Und käme des Weges ein Wandersmann

Und früge: „Ihr Fischersleute, sagt an,
Wer fand am Strande hier die Ruh’?“
Dann spräche wohl Einer und nickte dazu:
„Weiß nicht, welch’ Namen man ihm einst gab;

30
’s ist eines deutschen Sängers Grab.“
Anton Ohorn.




Um die Erde.

Von Rudolf Cronau.
Vierter Brief: An der Spitze der Nation.[2]

Die Blicke der ganzen civilisirten Welt hängen seit Wochen mit ängstlicher Spannung an einem Hause, in dessen Mauern, von frevler Mörderhand getroffen, einer der edelsten Männer unserer Zeit mit dem Tode rang, Garfield, der Präsident der Vereinigten Staaten. Hat die „Gartenlaube“ es auch schon zu Beginn dieses Jahres unternommen, in knapp gefaßten Umrissen ein Bild des Erwählten der amerikanischen Nation zu entwerfen, so dürfte es dennoch nicht ohne Interesse sein, im „Weißen Hause“ selbst eingeführt zu werden, um zu beobachten, wie hier die Präsidenten des freiesten Volkes der Erde seit Jahren ihrer Amtsthätigkeit zu walten pflegen. – Wir müssen etwas weit ausholen.

Washington, die „Stadt der schönen Entfernungen“, ist in ihrer äußeren Erscheinung ein Städtebild der allernaivsten Art, einzig und ohne Gleichen in der ganzen Welt, aber durchaus das echteste und charakteristischeste Spiegelbild der amerikanischen Nation. Wie diese, so zeigt auch sie die größten Widersprüche und die schärfsten Extreme; Alles befindet sich hier in einem Stadium, wo Vollendetes und Halbes, Erhabenes und Unbedeutendes neben einander stehen. Nach einer Wanderung durch die ruhmreichen Avenues mit ihren zahlreichen, gleich Enak’s Söhnen über das Gewirre der unbedeutenden Backsteinbauten hinausragenden Marmorpalästen, in deren Architektur die gesunkenen Tempelbauten des classischen Griechenthums in schönster Weise ihre Auferstehung feiern, gelangt man in Stadttheile, auf deren wüstem Schutt- und Rasenwerk [687] höchstens ein paar armselig zusammengeleimte Negerbaracken sich in stagnirenden Sümpfen und Gräben wiederspiegeln. Und während das Capitol seine in der Lichtfluth der Sonne in fast überirdischer Schönheit strahlende Prachtfaçade einer bis vor Kurzem nur auf dem Plane befindlich gewesenen, neuerdings erst in Angriff genommenen Stadthälfte zuwendet, dehnen sich beim Weißen Hause die Niederungen des Potomac aus, Brutstätten malarischer Fieber, die schon manchem Bewohner des Regierungssitzes die Präsidentschaft arg verleidet haben. Die jetzige Präsidentenfamilie weiß namentlich ein böses Lied davon zu singen.

Abgesehen von diesem Uebelstande, der gewiß durch Regulirung des Flusses und Drainirung der Sümpfe gehoben werden könnte, hat das Weiße Haus eine reizende Lage und leuchtet aus dem dunklen Grün der schattigen Bäume weit in’s Land hinaus. Es ist durchaus kein anspruchsvoller Bau, und kein Mensch würde in diesem einfachen, weißgestrichenen Sandsteingebäude, dem nur ein von ionischen Säulen getragener Porticus ein charakteristisches Gepräge verleiht, den Sitz der Regierung eines großen und mächtigen Volkes vermuthen. Ein besonderes Interesse erwecken augenblicklich die drei letzten oberen Fenster des rechten Flügels auf der unserm heutigen Briefe beigegebenen Abbildung; denn sie geben dem Zimmer Licht, in welchem Garfield auf dem Schmerzenslager seine unverdienten Leiden so standhaft erträgt.

Viel gewichtiger als das Weiße Haus schauen die Ministerialgebäude drein, welche die Gartenanlagen des Präsidentensitzes umschließen und in ihrer fast überreichen Ausschmückung mit dem bescheidenen Aeußeren des Weißen Hauses lebhaft contrastiren. Wollen wir in die Anlagen und das mitten inne gelegene Gebäude eintreten, so ist Niemand da, der es uns verwehren würde; nirgends erblicken wir einen Posten oder eine Wache, deren vorgehaltenes Bajonnet uns ein: „Bis hierher und nicht weiter!“ entgegenwirft. Ungehindert durchschreiten wir die durch eine Glaswand abgetheilte Vorhalle, deren Wände die Portraits früherer Präsidenten zieren; wir wandeln durch den beständig geöffneten Empfangssaal, durch das grüne, blaue und rothe Gemach, durch den prächtigen Staatsspeisesaal, durch das seltene Blumen in Menge bergende Gewächshaus etc. und haben zu Ende unserer Wanderung den Eindruck, als hause hier ein Mann, der so ziemlich „gut ab“ sei und in behaglicher Ruhe sich des hart erkämpften Gutes freue.

Ungleich anders aber gestaltet sich das Bild, wenn wir in das im ersten Stockwerke am östlichen Ende des „Weißen Hauses“ gelegene Amtszimmer des Präsidenten treten. Es ist erst zehn Uhr Morgens, und schon finden wir in den ansprechend, für europäische Begriffe aber prunklos ausgestatteten Gemächern eine Anzahl von Secretären, Senatoren, Congreßmitgliedern und sonstigen Vertrauten, die, ohne sich viel um die Würde des Ortes zu kümmern, in ungenirtester Weise der Unterhaltung pflegen und auch in ihren ungezwungenen Stellungen durchaus kein hofmäßiges Benehmen verrathen. Ueberhaupt herrscht ein reges, lautes Leben in diesen Empfangsgemächern: Menschen kommen und gehen, plaudern mit einander laut lachend und sitzen oder liegen in den sehr behaglichen Stellungen, die, eine eigene Erfindung der Yankees, nur diesen in so ausgebildeter Weise zu eigen sind, auf Stühle und Sophas hingestreckt, geduldig der Zeit harrend, wann auch sie ihre Anliegen dem Präsidenten vorbringen können.

Von irgend einem ceremoniellen Costüm, Cylinderhut, Leibrock, oder Handschuhen ist hier nichts zu sehen; der Amerikaner ist über solchen Tand erhaben; er ist ja selbst souverain; das Volk besteht aus lauter Königen. Dort der Mann mit der silberweißen Löwenmähne um das markirte Kriegergesicht ist ein Senator und angesehener General, und Niemand wird ihn etwa wegen seines fadenscheinigen, ausgefranzten Ueberziehers oder seines von Wind und Wetter gebräunten Schlapphutes geringer achten. Ein Jeder kann halt kommen, wie ihn sein Schneider gemacht hat. Und der Präsident? Nun, er empfängt seine Besucher nicht etwa im beengenden Amtsrock, nein in seinem äußerst bequemen und wohlsitzenden Jaquet; er tritt mit dem einen Besucher in die Fensternische, den andern aber, mit welchem wichtigere und geheimere Dinge zu berathen sind, führt er in ein anstoßendes Gemach; kurz, von Ceremonie und Hofetiquette ist hier keine Spur. Jeder Senator, jeder Congreßmann hat das Recht, unangemeldet den Präsidenten in seinem Amtszimmer während der Morgenstunden zu besuchen, und der Präsident muß ihn empfangen.

Nach Erledigung der Conferenzen mit den Vertretern der verschiedenen Regierungskörper oder vielmehr Verwaltungszweige kommt die Zeit, wo der Präsident Jedermann Audienz ertheilt. Theils haben diese Besucher persönliche Wünsche vorzutragen; theils kommen sie aus purer Neugierde oder um mit dem Präsidenten „Hand zu schütteln“. Dieses Handschütteln ist eine nur den Vereinigten Staaten eigenthümliche Sitte und findet vielleicht nur in dem Küssen des päpstlichen Pantoffels einen ähnlichen Act des Ausdruckes der Ehrerbietung, mit dem Unterschiede freilich, daß der Pantoffelkuß einen ergebenen, unterwürfigen, das Handschütteln hingegen einen nur die Achtung beweisenden, mannhafteren, ich möchte sagen collegialen Charakter an sich trägt. Wenn ich das Wort „collegialen“ gebrauche, so geschieht es im Rückblick auf den Umstand, daß jeder in Amerika geborene Bürger der Vereinigten Staaten, weß Ranges er auch sein mag, die Anwartschaft auf den Präsidentenstuhl in der Tasche trägt, gerade so, wie weiland jeder Soldat der napoleonischen Armee den Marschallsstab in seinem Tornister klappern hörte.

Das Handschütteln ist nicht allein in den besagten Audienzen, sondern namentlich an den allwöchentlich stattfindenden allgemeinen Empfangsabenden, wo Jedem das Recht zusteht, den Präsidenten zu besuchen, die Hauptaufgabe des Letzteren. Da schüttelt er all den Tausenden, die an solchem Abende von ihrem Rechte Gebrauch machen den „Großen Vater“ zu besuchen, die Hände und begrüßt mit gleicher Aufmerksamkeit seine weißen Gäste wie Chinas schlitzäugige Söhne, den schwarzen, sonntäglich herausgeputzten Dockarbeiter wie den im vollen Kriegsschmucke prangenden Häuptling eines fern entlegenen Indianerstammes. So bunt die amerikanische Nation aus den verschiedensten Bruchstücken aller Völker der Erde zusammengesetzt ist, so bunt ist die Versammlung, die an den Empfangsabenden durch die weit geöffneten Thüren in die hell erleuchteten Säle strömt.

Bestände die große Zahl der Besucher des Präsidenten nur aus seinen Beamten und den von Neugierde geplagten unschuldigen Leuten, so wäre Alles schön und wohl, da existirt aber eine Classe von Menschen, die jeder Präsident nun einmal als systematisches Uebel mit in den Kauf nehmen muß: die Aemterjäger, Leute, welche Ansprüche an den Präsidenten geltend zu machen sich berechtigt glauben. Ihre Zahl ist, wie ein amerikanisches Blatt meinte, groß genug, um mit ihnen einen Krieg gegen Mexico erfolgreich durchführen zu können. Der „Cincinnati Commercial“ will mit geeigneter Unterstützung in den Stand gesetzt sein, nachzuweisen, daß 1960 Leute behaupten, mit Garfield zusammen die Schule und das College besucht zu haben, 329 sich rühmen, den großen Mann als kleines Kind auf dem Schooße gehalten zu haben, 430 ihm gute Rathgeber, 82 seine Retter vor dem Tode des Ertrinkens gewesen sein wollen, 13 das Verdienst, ihn aus einer Senkgrube herausgezogen zu haben, beanspruchen, 140 ihm Pferde geborgt zu haben, damit er nach der Kirche reite; er behauptet ferner, daß 8330 ihn als Knaben gekannt und 7329 die Prophezeiung gemacht hätten, daß er eines Tages Präsident der Vereinigten Staaten werden würde. Außerdem, berichtet das genannte Blatt ferner, haben sich 22 Capitaine von Canalbooten gefunden, unter denen Garfield beschäftigt gewesen sein soll, während 932 mit ihm zusammen gearbeitet; 850 Redacteure endlich beanspruchen den Ruhm, ihn zuerst für die Präsidentschaft vorgeschlagen zu haben. Die Zahl derer aber, die Garfield Geld geliehen haben wollen, ist Legion, aber trotzdem treten beständig neue Leute auf, deren verschiedene Ansprüche unter die genannten Rubriken fallen. Und alle diese Leute sind von ihren Verdiensten so eingenommen, daß Jeder zum Mindesten mit einer Postmeister- oder Zolleinnehmerstelle von etwa 4000 bis 5000 Dollars Gehalt belohnt sein will. Gleich nach der Inauguration eines Präsidenten pflegen sich diese politischen Aasgeier zu Tausenden in Washington einzustellen. Mit einer Unverschämtheit und Hartnäckigkeit, die sonst nur den Musquitos eigen ist, dringen diese Candidaten auf das Staatsoberhaupt ein; man empfindet geradezu Mitleiden mit dem armen, geplagten Manne.

Für diese habgierigen Leute giebt’s keine officiellen Empfangsstunden; unter den Fittichen irgend eines einflußreichen Senators, dem sie sich anzuhängen wußten, erreichen sie den Präsidenten jeder Zeit, und dann setzen sie ihm klar und deutlich aus einander, daß er seinen Wahlsieg in dem und dem Orte oder Staate nur ihrer aufopfernden Thätigkeit zu verdanken habe. Sie bitten, und wenn Bitten nichts erreichen, werden sie dringender und setzen ihm [688] schließlich, die Aufkündigung ihrer Freundschaft androhend, gleichsam den Revolver auf die Brust. Ein echt charakteristisches, durchaus aber nicht einzig dastehendes Stück solcher Unverschämtheit ist der bekannte Brief des Menschen, durch den der jetzige Präsident, das Muster eines Ehrenmannes, auf den Tod verwundet wurde, in welchem er um den Gesandtschaftsposten in Wien nachsuchte, besonders hervorhebend, daß durch ihn, der im Begriffe stehe, eine reiche Erbin zu heirathen, die amerikanische Nation jedenfalls „würdig“ vertreten sein werde. Eine zweite, von demselben Attentäter verfaßte Note, an den Secretär Blaine gerichtet, trägt noch mehr den Stempel bodenlosester Unverfrorenheit und widerlicher Vertraulichkeit. Sie lautet:

„Lieber Blaine! Garfield überläßt die Geschichte gänzlich Ihren Händen. Er setzt das vollste Vertrauen in Ihre Discretion. Wenn Kasson Wien nicht verlassen will, so will ich auf meinem Gesuch um seine Stelle nicht weiter bestehen. Ich begnüge mich mit dem Generalconsulat in Paris.

Ihr
Charles J. Guiteau.“

Ein Washingtoner Journalist berichtet sogar von einer sehr wohlhabenden Dame, die ganz einfach dem Präsidenten schrieb:

„Ich verlange von Ihnen den Platz in Brüssel für meinen Mann.“

So bereitet der Ruhm, an der Spitze der amerikanischen Nation zu stehen, wie jede Auszeichnung, dem Träger desselben manche bittere Enttäuschung; denn kaum auf irgend etwas läßt sich das Wort: „Wer bauet an der Straße, der muß sich meistern lassen“, besser anwenden, als auf die Stellung eines Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er hat einen harten Stand gegenüber der Oeffentlichkeit, besonders aber gegenüber seinen politischen Gegnern. Für alle Fehlgriffe, die während seiner Administration von den Beamten begangen werden, wird er verantwortlich gemacht, und die Organe der feindlichen Partei befleißigen sich bei derartigen Gelegenheiten eines Verdammungsstiles, der ohne Gleichen und an dem nur das wunderbar ist, daß er nicht schon mehr Menschen den Kopf verdreht und nicht mehr ruchlose Subjecte zu politischen Verbrechen verleitet hat.

Das „Weiße Haus“ in Washington.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.

Kann es unter solchen Umständen verwundern, daß es einige Staatsleiter gegeben hat, die sich während ihrer Amtsdauer aller Zeitungslectüre enthielten?

Endlich kommt aber der Tag, an welchem der Präsident, nachdem er vier Jahre hindurch das Staatsschiff durch Sturm und Ungewitter geführt, seinen Ehrenposten einem Nachfolger einzuräumen hat. Der Tag des Abschiedes vom „Weißen Hause“ ist sicher der melancholischeste im Leben des Präsidenten, nüchtern und kalt; der Jubel des Volkes draußen, er gilt nicht ihm; er gilt dem neuen Präsidenten. Sein Einfluß ist erloschen; Niemand beachtet ihn mehr; spurlos, ohne irgend welche Auszeichnung taucht er in das Meer der Allgemeinheit zurück. Von dieser Regel giebt es nur seltene Ausnahmen, und diese gelten nur Männern, welche sich um die Größe des amerikanischen Volkes in hervorragender Weise verdient gemacht haben.




Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)
27.

Als Margarita Seeon am 20. März die Augen aufschlug, war sie siebenzehn Jahre alt geworden. Das Geburtstagskind blinzelte den Tag an, der zum unverhangenen Blumenfenster hereinströmte, lachte plötzlich vor sich hin und huschte aus dem Bette. Die erste Morgentoilette junger Mädchen wird gewöhnlich flink abgethan, heute nahm sich Margarita aber Zeit. Nebenan im Erkerzimmer, das noch zu ihrem eigenen Bereich gehörte, gingen Schritte aus und ein; das weckte ihr eine Stimmung, wie die eines Kindes am Weihnachtsabend; sie summte eine Melodie, während sie das kastanienbraune Haar in zwei dicke Zöpfe flocht und aufnestelte. Inzwischen war bereits ein funkelneues Negligé von weißem Wollenstoff mit lichtblauen Aufschlägen entdeckt worden. Wie kam das nur herein? Gestern Abend beim Schlafengehen war nicht die Spur davon vorhanden. Sie schlüpfte in das weiche Gewand, welches sich der fein aufgebauten Gestalt kleidsam anschmiegte, eilte dann zum Fenster und ließ so viel Morgensonne und kühle Morgenluft herein, als da wollte. Heute konnte es gar nicht frisch und hell genug sein.

Drunten lag der Garten, an Wiesenland grenzend, das ein heller Bach durchfloß. Schon waren einige warme Tage über das Land gegangen, noch hatte aber die Sonne der schlummernden Erde keinen grünen Keim entlockt. Die Erlen am Saume des Baches entfalteten aber schon ihre dunkelrothen Kätzchen. Im Garten war in aller Frühe der Springbrunnen von seiner Winterhülle befreit worden, und nun warf er seinen Tropfenbüschel der Sonne zu, welche ihn wie in voller Neuheit blitzen ließ. Hoch in der blauen Luft jubelte die Lerche.

Margarita drückte ihre kleinen Hände in einander und sagte ganz leise:

„O Gott, wie geht es mir doch so gut!“ Das war heute ihr Morgengebet; es flog der Lerche nach, gerade in das Himmelblau hinein. Nun begann das Mädchen lieblich zu singen: Schumann’s Lied vom Sonnenschein.

Ein leiser Finger klopfte an ihre Thür.

„Fertig?“

„Gewiß, Mama!“

Das Kind flog an der Mutter Hals. Ottilie ließ den Sturm von Liebkosungen ungehemmt über sich ergehen; der Reiz dieses Jugendübermuthes, all das Freie, Schöne, Gute, das ihr aus den glücklichen Augen ihres Kindes entgegenleuchtete, berührte sie warm. Sie betrachtete ihre Tochter, als sei diese erst über Nacht erblüht, und bei diesem Mutterblick färbte das leicht bewegliche Blut die zarten Wangen tiefer. Margarita glitt mit einer ihrer vogelleichten Bewegungen auf die Kniee und küßte feurig der Mutter Hand.

„Auf!“ sagte die Gräfin und strich leicht über die glänzenden Flechten; „der Geburtstagstisch wartet. Willst Du nicht schauen, was Dir bescheert ist?“

Das junge Mädchen blickte zögernd nach der Thür:

„Papa?“

„Hat Dienst und kann erst gegen Mittag zurück sein; er wollte nicht, daß Dein Tischchen so spät erst gedeckt würde. Komm nur!“

Sie zog des Mädchens Arm in den ihren und führte sie nach dem Erker des zierlich ausgestatteten Mädchenzimmers. Breite Palmenblätter, leichte Akazienzweige nickten über den Tisch hin, den ein dicker Kranz umgab. Margarita’s Augen blitzten in heller

[689]

In der „Garderobe“ der fahrenden Leute.
Nach dem Oelgemälde von L. Knaus.

[690] Freude beim Anblick einer Fülle von Liebesgaben; sie meinte, nie so reichlich beschenkt worden zu sein.

Das meinte sie bei jedem Anlasse gleicher Art; denn bei der Innigkeit ihres Wesens fühlte sie sich schon dann beglückt, wenn es für etwas zu danken gab, wenn der Quell von Freude frei ausströmen durfte. Den reichen Gaben der Eltern hatten sich allerlei Sendungen von Verwandten und Freundinnen zugesellt – eine ganze Schatzkammer, deren Reichthum sich gar nicht auf einmal übersehen ließ. Zwischen Stoffen und Büchern, Schmucksachen und Briefen lag auch ein Notenheft mit tiefblauer Decke, welche Margarita’s Initialen in geschmackvoller Ausführung trug. Sie schlag neugierig den Deckel zurück und ward schnell roth.

„Genzianen.
Comtesse Margarita Seeon
in Verehrung zugeeignet von Siegmund Riedegg.“

stand in schöner Fracturschrift auf dem ersten Blatte.

Sie hob das Heft ein klein wenig in die Höhe und tippte mit dem Finger auf ihren Namen:

„Gesehen, Mama?“

„Natürlich,“ sagte die Gräfin gelassen. „Lieutenant Riedegg bat mich um Erlaubniß, Dir seine Composition auf den Flügel legen zu dürfen. Ich ersuchte ihn aber, mir das Heft zuzustellen; vielleicht findest Du im Laufe des Tages Zeit, die Sachen durchzunehmen, und kannst die Artigkeit vergelten, indem Du heute Abend eine der Nummern vorträgst.“

„Margarita Seeon zugeeignet,“ murmelte das junge Mädchen entzückt, Ottilie sah ihre Tochter einen Augenblick aufmerksam an.

„Du wirst Dich hoffentlich nicht für einen musikalischen Stern halten, weil Dir musikalisches gewidmet worden?“ fragte sie mit kühlgewordenem Lächeln. „Auf solche Aufmerksamkeiten junger Leute, denen Zutritt im Hause vergönnt wird, ist überhaupt kein Gewicht zu legen; dergleichen gehört zum guten Ton. Lieutenant Riedegg hat Tact und wählte deshalb gerade die Form, welche seine Stellung zu uns bezeichnet.“

Die zartgeschweiften Lider des jungen Mädchens senkten sich. Weder in den Worten noch im Tone der Mutter lag Unfreundliches, aber dennoch war ihr Entzücken auf einmal wie ausgelöscht. Sie trat unwillkürlich vom Tisch zurück und folgte, ohne etwas zu erwidern, der Gräfin hinab in das Speisezimmer, wo sie die respectvollen Glückwünsche des Dienstpersonals etwas zerstreut in Empfang nahm. Ottilie schien auf diesen Stimmungswechsel gar nicht zu achten und besprach während des Frühstückes einige Vorbereitungen für den Abend, wobei Margarita ihre Munterkeit schnell zurückgewann.

Die Geburtstagsfeier sollte sich mit einer Art von Abschiedsfest vereinigen, da mit diesem Abende die winterlichen Donnerstage ihren Abschluß fanden und der General eine größere Reise vorhatte. Des Familienfestes wegen sollte heute der Kreis der Gäste erweitert, vor Tische ein wenig musicirt, nach dem Essen getanzt werden. Margarita freute sich namentlich auf diesen letzten Theil des Programms. Wer sie nur gehen sah, mußte begreifen, wie gern sie tanzte; denn diese Bewegung war für sie ein lebendig geworbener Rhythmus. Ihre feine Gestalt blieb den ganzen Tag über in einer Art von Tanzschritt, dem es an begleitender Melodie nicht fehlte – treppauf, treppab flog das Geburtstagskind, leise singend, überall schmückend, sie selbst der beste Schmuck für das feiertägige Haus.

„Wissen Sie, was ich möchte?“ sagte Margarita zu Lieutenant Riedegg, als der Contretanz sich auflöste, bei dem er ihr Partner gewesen.

„Nun?“

„Ich möchte für mein Leben gern einmal den C-dur-Walzer von Schubert tanzen können, den wir vierhändig spielen. Den giebt es aber wohl gar nicht für zwei Hände, und der gute Mann, der heut bei uns aufspielt, brächte ihn keinenfalls heraus. Schade!“

Siegmund lächelte zu ihr nieder. Ihr bei Tage wie von schwachem Goldschimmer überhauchter Teint hatte bei Licht eine Perlenfarbe, deren Schmelz durch einen kostbarer Schmuck, den sie an Hals und Armen trug, heute noch gehoben wurde. Die feinen Löckchen bewegten sich leicht auf ihrer etwas gewölbten Stirn, und unter den schmalen sehr dunklen Brauen ruhten die schöngeschnittenen Augen mit dem goldig braunen Stern im bläulichen Weiß Das weiche Oval des Gesichts, der thaufrische Mund waren so kindlich.

„Möchte jeder Ihrer Wünsche so leicht in Erfüllung gehen wie dieser!“ sagte er herzlich und sah sich um. „Max, auf einen Augenblick!“

Lieutenant Friesack nahm sich kaum Zeit, der Tänzerin, die er eben zurückführte, eine Abschiedsverbeugung zu machen. „Sie befehlen?“

Die Frage ward zwar nicht an den Rufer, sondern an Margarita gerichtet, wurde aber von Siegmund beantwortet:

„Comtesse Seeon wünscht den nächsten Walzer mit Dir zu tanzen.“

Das junge Mädchen sah etwas erstaunt aus; Max verbeugte sich mit strahlendem Gesicht, während Siegmund an Beiden vorüber zu dem in eine tiefe Nische des Saales gerückten Flügel ging, welchen der für heute engagirte Spieler eben verlassen hatte; er setzte sich an denselben und intonirte den eben bezeichneten Walzer.

Da glitt sie vorüber, vom besten Tänzer geführt, wie losgelöst von der Erde, so ganz Jugend und Freude, daß es genügte ihr nachzuschauen, um jede Sorge zu vergessen Siegmund wünschte jedoch keinen Augenblick mit seinem Freunde zu tauschen; hier am Flügel, während er die Melodie spielte, die ihren unschuldigen Wunsch befriedigte, während ihr süßes Gesicht vor Freude leuchtete, fühlte er sich ihr näher als Max, dessen Arm ihre leichte Gestalt umschlang. Auch blieb sein Lohn nicht aus. Er hatte kaum den letzten Accord angeschlagen und seinen Platz noch nicht verlassen, als Margareta unerwartet neben ihm stand und ihm lieblich die Hand entgegenbot:

„Viel, viel Dank!“

„Da kämen wir aus dem Bedanken heute gar nicht heraus,“ scherzte er und erhob sich, „mein Gehorsam bedeutete ja meinen Dank – Sie wissen wofür.“

„O!“ erwiderte sie schnell. „Das, offen gesagt, das hat Mama mich geheißen. Ich that es nicht einmal gern; wär’ es nach meinem Sinne gegangen, so hätte ich keines von Ihren Liedern vor all den fremden Leuten zuerst gespielt. Die übrigen sollen Sie auch nur zu hören bekommen, wenn wir wieder einmal ungestört zusammen musiciren. Ich habe Ihnen noch nicht einmal so recht sagen können, wie froh es mich macht, daß so Köstliches mir gehört! Froh und sehr stolz.“

Ein rasches Wort drängte sich auf Siegmund’s Lippen; der unbefangene Blick, welcher seinem Auge begegnete, ließ ihn aber verschweigen – was verschweigen? Kaum war er sich darüber klar; er empfand nur, daß dieser freie Blick nicht damit übereinstimmte. Und schon sprach sie neckisch weiter:

„Weil Ihr Geschenk mich unter allen Angebinden am meisten freute, trage ich heut seine Farbe! Das haben Sie wohl gar nicht bemerkt? Mama meinte, ich solle Rosen tragen, ich kämpfte aber muthig für mein Blau. Gentianen freilich hatte ich nicht, Kornblumen tragen aber wenigstens die gleiche Uniform. Uebrigens war es recht schelmisch von Ihnen, den Fußfall einer kleinen Dame vor zwei jungen Herren auf solche Weise zu verewigen. Ich sehe ohnehin ja kein Blaublümelein, ohne so roth zu werben, wie es blau ist.“

Der letzte Satz dieser Scherzworte ging nicht mehr so fröhlich von den Lippen wie ihr Anfang; denn während Margarita vom Rothwerden sprach, tauchte sich ihr Gesicht, wie ihr seiner Hals in tiefe Gluth, und die Wimpern senkten sich vor dem stillen Blick, der auf ihr ruhte.

„Der Tag, an dem ich Ihnen zuerst begegnete, Comtesse, traf mit einer Wendung meines Geschicks zusammen“ sagte Siegmund leise. „Sie ließen mir eine Ihrer Blüthen zurück; ich bewahre sie noch; denn sie hat mir Glück gebracht. Deshalb nannte ich diese Lieder ohne Worte ,Genzianen’.“

Er hatte das ganz einfach hingesprochen, ohne nur zu wissen mit welcher Innigkeit. Ein scheuer, tiefer, warmer Blick flog zu ihm auf, um sich rasch wieder zu verhüllen. Sein Herz begann heftig zu schlagen; ein plötzliches Gefühl von Freude wuchs in ihm auf und sprang als übermütiges Scherzwort von den Lippen, die eben noch so verborgenen Dinge verrieten

„Sie kämpfen für unser Blau!“ sagte er in ganz verändertem Tone. „Und so tapfer kämpften Sie, daß Sie sogar eine Generalin besiegten! Mit welchen Waffen aber? Darf ich fragen?“

[691] Der beinahe furchtsame Zug, von dem ihr Lächeln verdrängt worden, wich sogleich; sie hob den Arm und zeigte ihr kostbares Armband:

„Mit diesen! Urgroßpapas Türkisenschmuck stimmte so gut zu meinen Kornblumen, und weil er ein Geburtstagsgeschenk ist, durfte ich ihn heute tragen.“

„Ihr Urgroßpapa?“ fragte Siegmund erstaunt.

„Mein Urgroßpapa. Sie brauchen sich nicht zu wundern, wenn ich Ihnen von dem noch nichts erzählt habe; denn ich kenne ihn kaum. Er schickt mir immer schöne Sachen; dann muß ich Briefe schreiben, auf die er nie antwortet. Er ist schon ganz, ganz alt und mag sich nicht lieb haben lassen; sonst müßte er doch Verlangen nach meiner Mama haben, die seine einzige Enkelin ist. Jeder Besuch genirt ihn; deshalb waren wir nicht mehr in Riedegg, seit ich ganz klein gewesen bin.“

„In Riedegg?“ wiederholte Siegmund.

„Nun ja, das Stammschloß von Mamas Familie.“

„Die Frau Gräfin hieß – wie ich?“

„Das wissen Sie nicht?“ fragte Margarita erstaunt. „Aber davon war ja schon die Rede, noch ehe Sie hierher kamen. Es ist blos eine Namensvetterschaft, sagt Mama; wir sind gar nicht mit einander verwandt. Unsere Riedeggs stammen von drüben, jenseits des Brenner; Graf Riedegg, mein Urgroßpapa, ist der Letzte seines Geschlechtes.“

„Hältst Du hier heraldische Vorträge, statt Dich um die Fräuleins zu bekümmern, welche Deine Gäste sind?“ fragte Gräfin Seeon, die herangetreten war, ohne von den beiden in ihr Gespräch Vertieften bemerkt worden zu sein. „Lieutenant Riedegg wird Dich Deiner Pflicht als Wirthin nicht länger entziehen wollen.“

Sie streifte Siegmund mit eisigem Blick, während Margarita erschrocken hinwegschlüpfte. Zum ersten Male war er diesem Ausdruck beleidigenden Hochmuths begegnet, welcher der Gräfin so vielfach zum Vorwurf gemacht wurde, gegen den er sie so oft vertheidigt hatte. Von Gedanken der verschiedensten Art bestürmt, war er in diesem Moment weder willig noch fähig, auf den indirecten Vorwurf, der ihm gemacht worden, etwas zu erwidern; auch blieb ihm dazu keine Zeit; denn die Generalin trat in den Saal zurück, ehe er sich noch zu einer schweigenden Verbeugung bewegt hatte. So blieb er neben dem Flügel stehen, während ein herbes Empfinden erkältend auf seine eben noch so sprühende Stimmung fiel.

Es mochte nicht ganz passend gewesen sein, dachte er bei sich, daß er mit der Tochter des Hauses hier so lange gesprochen – gerade die Gunst näheren Verkehrs, die ihm zu Theil geworden, hätte sein Tactgefühl schärfen und ihm sagen müssen, daß die Art, wie Margarita ihn aufgesucht, wie er sich mit ihr in einem abgesonderten Raume in längeres Gespräch vertieft hatte, den Fremderen unter den Anwesenden auffallen und der Gräfin unlieb sein konnte.

War diese Unüberlegtheit aber hinreichend, um ihn, der gutes Recht hatte, sich dem Hause als näher stehend zu betrachten, mit Blick und Worten abzustrafen? Oder hatte die Gräfin ihn und ihre Tochter beobachtet und vielleicht am Inhalte ihres Gespräches Anstoß genommen? Er besann sich auf die letzten zwischen Margarita und ihm gewechselten Sätze, welche die Gräfin mit angehört haben konnte. Während er darin nichts fand, was ihm plötzliche Ungnade zuziehen durfte, frappirte ihn Das, was er eben vernommen hatte, von Neuem. Diese Namensgleichheit war ihm überhaupt merkwürdig, doch fiel ihm weit mehr auf, daß derselben in monatelangem Verkehre nie gedacht worden, sei es auch nur als Motiv eines Scherzes. Dies schien ihm mehr zu bedeuten als bloßen Zufall, da mußte eine Absicht zu Grunde liegen. Gar nicht verwandt – hatte Margarita gesagt – natürlich nicht! Er wußte sich von bürgerlicher Herkunft.

Das Hinzutreten des Clavierspielers störte ihn aus der unerquicklichen Träumerei auf; ein neuer Tanz begann. Siegmund war engagirt; er mußte seine Tänzerin holen, sich zusammennehmen. Bald darauf ging die Gesellschaft aus einander, ohne daß er Gelegenheit suchte und fand, sich den Damen des Hauses anders zu nähern, als durch eine Abschiedsverbeugung. Graf Seeon, der als artiger Hauswirth jeden Einzelnen an der Thür mit liebenswürdigem Worte entließ bot ihm heute freundlich die Hand, wie immer.

Den getroffenen Arrangements und der ziemlich frühen Stunde entsprechend, zu der sich die Gesellschaft zusammen gefunden, war es kaum Mitternacht, als dieselbe aus einander ging. Die jüngeren Männer fanden es zu früh, um sich nach Hause zu begeben; und ein Vorschlag, noch ein Stündchen im Casino zu verplaudern, traf animirteste Zustimmung. Siegmund, der einsilbig neben den Anderen herging, entschuldigte sich mit Kopfschmerz und kehrte in seine Wohnung zurück. Er wußte selbst nicht, wie ihm war; eine Schwermut, aber zugleich etwas wie ein Freuen war über ihn gekommen; beide Empfindungen verschmolzen sich und schufen ihm die wunderlichste Stimmung. Zunächst wußte er nur, daß er allein sein wollte.

Er fand seine Zimmer erhellt; Jana, die allen Eigentümlichkeiten ihres Mannes Rechnung trug, hatte auch dessen alte Liebhaberei adoptirt, bei Nachhausekommen Licht vorzufinden. Ob der junge Hausgenosse spät oder früh sein Zimmer betrat, stets brannte dort eine Lampe. Diese Aufmerksamkeit, welche ihm sonst ziemlich überflüssig vorkam, that ihm heute wohl. Er machte es sich bequem, ging dann in seinem traulichen, geräumigen Zimmer umher, streifte mit den Augen an all den Bildern und kleinen Besitztümern vorbei, die jedem Raume etwas so Heimathliches aufprägen, und wurde ruhiger. Als er sich in den Sessel vor seinem Arbeitstische warf, fiel sein Blick auf einige lose Notenblätter – das Concept der Lieder, welche er Margarita gewidmet und gestern mit der Copie verglichen halte.

Er saß eine Weile, ohne sich zu regen, die Arme gekreuzt, den Kopf zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen. Was in ihm vorging, war so neu und so süß. Ein Mädchenbild glitt an ihm vorüber; er wußte auf einmal, daß er liebte. Ob er wieder geliebt werde – danach fragte er sich nicht. Sie war ein Kind. Da sah er aber das furchtsame Lächeln wieder, den scheuen raschen Blick, wie in dem Momente, als er ihr vom Bewahren der Blume gesprochen, und zugleich stand die Mutter neben ihr mit der Rüge in Wort und Blick.

Das brach den Zauber, und die Gedanken fingen wieder an weiter zu spinnen, was vorher abgerissen worden; sie spannen verworrene Gewebe um den Mittelpunkt eines Namens. Viele Namen giebt es von gleichem Klang, deren Geschlechter nichts mit einander gemein haben, der seine aber war ein seltener Name mit adeligem Klang. Alles Einzelne, was ihm aufgefallen, ohne daß er es zu deuten gewußt, reihte sich an einander, alles Seltsame, Fragwürdige, das ihm während der letzten Monate zu denken gegeben. Die wiederholten Fragen der Gräfin über seine Mutter, eine Anzahl von Kleinigkeiten, die ihn selbst betrafen und über die er sich stets gewundert hatte, daß sie beachtet wurden, der Vorzug sogar, den Seeons ihm seither gegönnt – Alles weckte in ihm die Ueberzeugung eines Zusammenhanges dieser gleichen Namen. Wie wenig wußte er noch heute von seiner eigenen Abstammung, wie wenig von der Person seines Vaters! Nie war von einem Verwandten desselben die Rede gewesen – er konnte doch nicht vereinzelt in der Welt gestanden haben. Weil er sich der Mutter Unlust, seine Fragen über den schon Verstorbenen zu beantworten, als Trauer ausgelegt, hatte er davon abgelassen. Jetzt reute ihn das. Zu wem gehörte er? Fremde hatten eintreten müssen, da es die Leitung seiner Erziehung galt, da es galt Bürgschaft für seine Identität zu leisten, als bei seinem Eintritt in das Regiment kein Nachweis über seine Geburt vorgelegt werden konnte. Zum ersten Male durchzuckte ihn ein Gedanke, eine Angst, die ihn erschauern ließ.

Es war ihm, als sollte er ersticken; er sprang aus und bewegte die Arme, wie man im Schlafe thut, wenn sich der Alp um die Kehle legt. Dann ergriff er plötzlich die Lampe und trat vor sein Bett, über dem seiner Mutter Bild hing. Sie hatte es ihm geschenkt, als Beide das letzte Mal beisammen gewesen. Das schöne stolze Gesicht schien zu leben; die unerforschlichen Augen blickten ihn ruhig an. Langsam kehrte das Blut in seine Wangen zurück, und als er hinweg trat, war sein Schritt fest; die Hand, welche die Lampe niederstellte und sein Schreibzeug heranschob, zitterte aber noch und verriet ihr Beben in den Zeilen, die er nun auf ein Briefblatt warf.

„S., 20. März 1876.
Meine theure Mutter!

Heute komme ich zu Dir, um Fragen an Dich zu richten, an denen meine Ruhe hängt. Ich schrieb Dir von meinen Beziehungen zur Familie des Grafen Seeon; Du erwidertest nichts hierauf. War das Zufall oder Absicht? Weißt Du, daß Gräfin Ottilie Seeon eine geborene Gräfin Riedegg ist? Sind unsere Familien verwandt?

[692] Sobald ich Deine Antwort habe, sage ich Dir mehr. Heut bitte ich nur um Wahrheit. Du weißt, ich bin kein Knabe mehr, dem man verhüllt, was ihn angeht. Zürne nicht, daß ich mich auf diese Zeilen beschränke, und beruhige bald

Deinen Siegmund.“

Er überlas den in fliegender Eile niedergeschriebenen Brief langsam, Wort für Wort, gab dem Couvert die gewohnte Pariser Adresse und versiegelte dasselbe. Dann warf er den Mantel um und trug den Brief auf die Post, damit er vom Frühzug befördert würde. Als er ihn in den Briefkasten gleiten ließ, schlug es eben zwei Uhr Morgens.

Die Nacht war kühl und bewölkt; über den dunklen Massen der Häuser, die alle gleich stumm und lichtlos dastanden, hob sich die Citadelle kaum in schwachen Umrissen vom Himmel ab. Mit dem Gefühl großer Müdigkeit kehrte Siegmund in sein Zimmer zurück.




28.

Der Anfang des April war in diesem Jahre besonders mild und schön. Alle Welt war unterwegs, die vorzeitig warmen und jedenfalls kurz zugemessener Tage zu genießen

Das schöne Wetter gab Oberst Friesack den Gedanken ein, seinen Bekanntenkreis zu einem Ausfluge nach dem unfern gelegenen weitberühmten Gebirgssee anzuregen. Dieser Vorschlag hätte raschen Anklang gefunden. Sechs offene, größtenteils mit Damen besetzte Wagen rollten an einem ganz im Sonnenschein gebadeten Morgen durch die freie Thalöffnung dem Ziel entgegen Eine Cavalcade von Officieren umgab die Wagen oder folgte ihnen.

Unter ihnen war Einer, dem diese Landpartie sehr erwünscht kam: Siegmund. Er sehnte sich nach einer Begegnung mit den Damen Seeon, welche er seit dem Geburtstagsabend nur flüchtig wiedergesehen, ohne doch zu der Annahme berechtigt zu sein, daß man ihn absichtlich fern gehalten hätte. Als nun aber Tag um Tag verging, ohne daß er zu Seeons citirt wurde, sagte er sich doch, daß so lange Pausen seines Verkehrs mit den Damen sonst nicht vorgekommen, und verfiel um so mehr der eigentümlichen Nervosität, welches vergebliches Warten erzeugt, als auch noch kein Lebenszeichen von seiner Mutter eingetroffen war. Mit besonderer Schärfe empfand er wieder die Hemmung directen Verkehrs mit ihr; der letzte ihrer Briefe war aus Ancona datirt, während er nach Paris hatte adressiren müssen; Gott mochte wissen, wie lange es dauern konnte, bis Antwort in seine Hände kam.

Heute sollte sich wenigstens ergeben, ob die neuliche Kälte der Gräfin Seeon gegen ihn mehr war als momentane üble Laune. Sie fuhr mit ihrer Schwägerin und dem Ehepaar Friesack in ihrem Landauer, welchem der von Margarita und zwei jungen Freundinnen besetzte Jagdwagen des Generals vorausrollte. Siegmund benutzte die erste Gelegenheit, zur Begrüßung der Generalin heranzureiten, und fand sich mit derselben Freundlichkeit empfangen, die ihn Monate lang beglückt hatte. Sie stellte ihn ihrer Schwägerin sogar in auszeichnender Weise vor, und er ward sich in diesem Moment lebhaft bewußt, wie hoch ihm die Gunst dieser Frau galt. Nicht als Mutter des Mädchens, das er liebte; – es war ein ganz persönlicher, starker, sympathischer Zug, der ihn mit ihrem Wesen und Sein verband, ihr Urtheil über ihn zu einem Werth erhob, der ihm unschätzbar schien. Während er im Gespräch mit den Insassen des Wagens längere Zeit neben dessen Schlage ritt, erhob sich seine Stimmung unter dem Strahl von Wohlwollen, der aus den festblickenden blauen Augen der Gräfin auf ihn fiel; keine Spur von Schwere blieb zurück.

Es giebt glückliche Stunden, wo es nicht einmal eines besonderen Einflusses bedarf, um plötzlich alle Nebel zu verscheuchen, Jugend und Sonnenglanz unaufhaltsam vordringen zu lassen. Die Heiterkeit des klarblauen Morgens, das Flimmern der Luft, der reizvolle Weg, welcher nun durch waldige engbegrenzte Auen führte, zwischen deren knospenden Laubgänger verstohlene Quellchen zu Tage rieselten – hundert Spuren des Frühlings spiegelten sich in frohen Augen, angeregten Worten und Geberden. Volles Jugendgefühl überkam Siegmund; er fühlte sich elastisch, wie springend im Geiste, abgelöst von allen Zweifeln und Fragen. Margarita’s blauer Schleier wehte vor ihm her; zuweilen wandte sie den Kopf nach dem Wagen der Mutter zurück, und dann sah er einen Moment ihr entzückendes Gesicht. Als das Ufer des von riesigen Felswänden umthürmten Sees erreicht war und die ganze Gesellschaft von Wagen und Rossen niederstieg, da gab es ein allgemeines Begrüßen; während der Oberst und sein Sohn als Leiter der Partie dafür sorgten, ein Schiff auszuwählen, mischte sich die Gesellschaft, und jetzt näherte Siegmund sich Margarita. Als er sie ansprach, empfand er sofort eine leise Veränderung in ihrem Wesen, etwas Befangenes, Unfreies, doch fühlte er deutlich, daß darin kein Abwenden lag. Es schien nur, als sei ein neuer Zug in ihr Gesicht getreten, ein sinnender, träumerischer Zug, der besonders merklich ward, wenn die Lider ihren warmen Blick verhüllten.

Das Schiff war bald mit Ruderern bemannt und zur Abfahrt bereit, ein geräumiges, von hohem Baldachin zum Schutz gegen die Sonne überdachtes Fahrzeug, das die ganze Gesellschaft bequem aufnahm.

Die Fahrt dauerte lange. Es war feierlich still auf dem smaragdgrün schillernden See; nur ein einziges Boot begegnete den fröhlich Fahrenden; es glitt seeabwärts, nur von wenigen Personen besetzt; so dicht fuhr es vorüber, daß sich vom Schiffe aus die Züge der darin Sitzenden deutlich unterscheiden ließen.

„Wenn nun da drüben Einer wäre, und bei uns Eine, die eigentlich zusammengehörten,“ phantasirte eine junge Frau, „und Die führen hier so an einander vorbei, nachdem ihr Schicksal sie getrennt – wie müßte Denen jetzt zu Muthe sein?“

Die leichthin gesprochenen Worte trafen Siegmund mitten in das Herz hinein und löschten all seine Freude plötzlich aus. Er wendete unwillkürlich den Kopf und sah Margarita an, die schräg vor ihm saß; viel hätte er darum gegeben, jetzt ihren Augen zu begegnen; ihr Gesicht neigte sich aber dem Wasser zu, in dem ihre Hand spielte.



(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüthen.


In der „Garderobe“ der fahrenden Künstler. (Mit Abbildung, S. 689.) Sie wandelt und begräbt alles, die unerbittliche Cultur. Ja sie richtet selbst charakteristische Menschentypen, die sich Jahrhunderte lang im Kampfe um’s Dasein erhielten, unbarmherzig zu Grunde. Wir hatten schon oft die Gelegenheit, unsern Lesern originelle Repräsentanten gewisser Erwerbszweige in Bild und Wort vorzuführen die früher wie Sand am Meere unter den Völkern der Erde verbreitet waren, heute aber nur in entlegenen, von der Cultur noch nicht aufgesuchten Erdwinkeln ihr kümmerliches Dasein fristen und gewissermaßen als Ruinen einer längst verschollenen Zeit in das Jahrhundert des Dampfes und der Elektricität hineinragen. Solche auf den Aussterbe–Etat gesetzte Menschentypen sind die Meister der ehrbaren Zünfte der Kesselflicker, Rastelbinder und Herrgottsschnitzer, die wir jüngsthin in Wort und Bild zur Anschauung brachten, und auch Goldmann’s „alter Gelehrter“ (vergl. Nr. 38) gehört gewissermaßen zu dieser Kategorie.

Heute kommen wir wieder mit einem solchen Stück Herrlichkeit aus der guten alten Zeit, da wir den Lesen in die Garderobe einer fahrenden Künstlertruppe, hinter die Coulissen eines vom luftigen Himmelszelt überdachten Volkstheaters führen. Die Zeit ist noch nicht so weit entlegen, in welcher die Märkte und Plätze unserer Städte und Städtchen zu jeder Messe und zu jeden Jahrmarkte oder Ablaßfeste durch die Buden der Kasperletheater, der Magier, Zauberer, Seiltänzer und anderer Komödianten ihre eigenartige Ausstattung erhielten.

Jetzt freilich werden diese Schaubuden immer seltener; denn das Volk von heute ist anspruchsvoller geworden in der Wahl seiner Genüsse und findet bei zunehmender Bildung an besserem Theater Gefallen, die Polizei aber sitzt dem vagabondirenden Künstler hart auf dem Nacken. Nun, wir brauchen uns wahrlich darob nicht zu grämen. Ein Blick hinter die Coulissen dieser Bretterwelt genügt vollständig, um uns zu belehren, welchen Jammer dieser elende Flitterkram nothdürftig dem Auge der Außenwelt verbirgt. – Meister Knaus hat es verstanden, ein Bild des bunten Lebens fahrender Künstler vor unseren Augen zu entrollen und neben den matten Lichtseiten die tiefen Schatten desselben zu markiren. Wir lachen beim ersten Anblicke des Bildes, lachen über den zerstreuten Flitterkram und den alten Bajazzo, der die Pflichten einer Kinderfrau erfüllt, aber schon nach kurzer Betrachtung der Scenerie weicht der Humor dem Ernst, und die tiefe sittliche Verkommenheit drängt sich auf, welche an solchen Stätten der „Kunst“ ihre beste Pflanzstätte findet.

Ludwig Knaus ist aber bekanntlich nicht allein in der Genremalerei ein vollendeter Meister: er zeichnet sich auch im Portraitfache in hervorragender Weise aus. Wir hoffen bald Gelegenheit zu finden, unsere Leser mit den genialen Schöpfungen des Meisters auch nach der letztgenannte Richtung hin bekannt zu machen.





Kleiner Briefkasten.


Präsident H. Wozu ein „Fechtclub“ mit „Paradeschläger, Fechtparadestulp und Couleursmütze“! Eines ziemt sich nicht für Alle. Sie sind junge Kaufleute – da werden Sie am Besten thun, zur Kräftigung ihrer Gesundheit einem der bewährten Turnvereine ihrer Stadt beizutreten.

B. u. Z. in M. Durch die Benda’sche Verlagshandlung in Lausanne.



  1. Für manchen unserer Leser dürfte es interessant sein, zu erfahren, daß dieser historische Friedländer-Marsch unter dem Titel „Hohnblasen“ von R. Fischer für Clavier übertragen wurde und durch die Buch- und Musikalienhandlung von W. Bergholz in Stralsund zu beziehen ist.
  2. Dieser Artikel wurde vor dem Ableben Garfield’s verfaßt, ging uns aber erst am Tage desselben zu. D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Granikegel