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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[473]

No. 29.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Meinhard hielt sein Pferd an.

„Welcher Friede!“ sagte er tiefaufathmend. „Hier müssen alle Stürme schweigen“

„Weißt Du schon, daß der Platz uns jetzt zu eigen gehört?“ fragte Ottilie.

„Wie das?“

„Ja,“ sagte sie mit dem herben, geringschätzigen Klange, dessen ihr helles Organ mitunter fähig war. „Lichtenwerde’s dachten in allem Ernst daran, die Ruinen ihres Stammhauses an den nächsten Besten zu veräußern. Als Großpapa erfuhr, daß ein Unterhändler ihnen im fremden Auftrage ein Angebot auf den Platz gethan, und daß sie Willens wären, sich darauf einzulassen, kam er durch eigenen Ankauf jeder Möglichkeit unberufener Nachbarschaft zuvor. Diesmal wäre übrigens auch sonst nichts daraus geworden; Lichtenwerde’s hatten mit jenen Leuten sofort abgebrochen, als sie Näheres erfuhren. Es waren Protestanten.“

„Deshalb abgebrochen?“ sagte Meinhard mit Betonung.

Ottilie sah ihn erstaunt an.

„Man wird doch nicht zugeben. daß sich Protestanten hier ansässig machen?“

Ein rasches Wort zuckte auf seinen Lippen, doch sprach er es nicht aus. Wie hatte ihn befremden können, was er wußte, zu gut wußte? Er war in Tirol! Die Farbe kam und ging in seinem bewegten Gesicht. Schweigend ritt er dem Kirchlein zu, um dort abzusteigen und sein Pferd an den Baum festzubinden.

Der Reiter war eben im Begriff aus dem Sattel zu springen, als sich die Kirchenpforte unversehens von innen öffnete und eine unförmliche Gestalt auf deren Schwelle erschien. Das Pferd stutzte, bäumte sich hoch auf und wendete sich jäh. Ein Aufkreischen durchschnitt die Luft. Der lose gehaltene Zügel war der Hand des Reiters entfallen; das Pferd, von dem schrillen Laute, der so unmittelbar vor seinen Ohren ertönte, noch mehr erschreckt, bäumte sich abermals. Meinhard glitt aus dem Sattel; sein Haupt schlug im Niederstürzen gegen einen Baumstamm und sank schwer zu Boden, während sein linker Fuß noch im Bügel hing. Das aufgeregte Thier schleifte den widerstandslosen Körper zwei, drei Schritte weit, stand darauf still, senkte den Kopf zu seinem Herrn nieder und beschnoberte dessen Gesicht.

Es war das Werk eines Momentes. Ottilie starrte dorthin, als zöge ein furchtbares Traumbild lähmend an ihren Sinnen vorüber. Erst dann, als gellendes Gekreisch von Neuem an ihr Ohr drang, überkam sie das Bewußtsein eines Wirklichen, und löst die Starrheit ihrer Glieder. Wie durch einen Nebel sah sie, während sie von ihrem Maulthier niederglitt, ein altes Weib die hochaufgethürmte Luft frischgemähten Grases vom Rücken abwerfen und mit fortwährenden Jammerrufen den Fuß des Unglücklichen aus dem Bügel befreien. Ottilie stürzte hinzu, warf sich neben dem Regungslosen zu Boden und schloß einen Moment die Augen, als sie aus den todtblassen Schläfen Tropfen um Tropfen niederrinnen sah. Nur eine Secunde lang ließ sie sich vom Entsetzen überwältigen; in der nächsten schon faltete sie mit fliegender Hand ihr Tuch und band es über Gras und Blätter, womit die Alte das Blut zu hemmen suchte. Nicht das leiseste Lebenszeichen antwortete ihrem erstickten Zuruf, ihrem Druck der schlaffen Hände. Als der nothdürftige Verband befestigt war, hob das Kind das stumme Haupt des Vaters in ihren Schooß und mühsam drang der erste verständliche Laut aus ihrer zusammengeschnürten Kehle:

„Hülfe, holt Hülfe!“

Die Alte nickte nur; wußte sie auch kaum, daß sie selbst die unheilvolle Ursache des Geschehenen gewesen, so war sie doch ganz fassungslos. So eilig ihre zitternden Beine es vermochten, humpelte sie den Fußpfad entlang, der dem nächsten Einödhofe zuführte.

Als sie zwischen den Tannen verschwunden war, regte sich nichts mehr. Ottilie blieb allein mit dem Vater. Sollte wirklich nie mehr ein Hauch des Lebens die Lippen bewegen, welche eben noch zu ihr gesprochen? Dieses Auge, dessen heller Strahl des Kindes Herz erwärmt hatte bis in seine Tiefen, sollte es dem ihren nie mehr begegnen? Jammer und Grauen überwältigte die junge Seele; ihr war sterbensbange, und zum ersten Male begriff sie den Tod. Die Mutter war ja gleich einem Schatten durch das Leben gegangen, gleich einem Schatten auch aus dem Leben verschwunden. Sie beugte den Kopf und drückte die Wange gegen das geliebte, blutüberströmte Haupt. Sie saß regungslos, den Rücken gegen die Kirchenmauer gelehnt, vom Laub der Kastanie überschattet, an deren Stamme ihr Theuerstes zerschellt worden. Ihre Augen hingen unverwandt an dem in ihrem Schooße gebetteten Haupte; das Ohr spannte sich bis zum Schmerze im Lauschen auf einen schwachen Lebenshauch, den es, ach! nicht vernahm.

Rings war es still, die Thiere grasten, kein leisester Laut weit und breit – so still ist’s im Grabe. Da begann eine Amsel dicht über der Verlassenen zu schlagen, und plötzlich stürzte ihr ein Strom von Thränen aus den verzweiflungsvollen Augen. Glühende Tropfen sanken auf Meinhard’s Lider und, als hätte der innerste [474] Quell aller Schmerzen etwas von der Kraft jenes sagenhaften Wassers des Lebens, schlug er die Augen auf.

Elektrisch zuckte es über Ottilie hin, ein Jubellaut brach halb erstickt aus ihrer wildklopfenden Brust, so groß war aber bereits die Gewalt, welche das Kind sich abzugewinnen vermochte, daß ihr selbst in diesem Moment grenzenloser Freude das Bewußtsein blieb, sich still, ganz still verhalten zu müssen. Sie preßte nur ihre Lippen auf des Vaters blasse Stirn und athmete:

„Du lebst.“

Er sah sie traurig an. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Ton ward vernehmbar. Namenlose Unruhe schien ihn zu bedrängen; die verängstigten Augen sprachen Worte, welche sich den Lippen versagten; schwach hob er die Rechte, als wollte er Ottilie näher zu sich ziehen. Sie neigte ihr Ohr zu den sich immer von Neuem bewegenden Lippen und lauschte, als sollte sie des Vaters Seele in sich trinken. Während ihre Augen in die seinen tauchten, ganz Liebe und Jammer, drangen endlich schwache, halb verwehende Worte an ihr Ohr:

„Du hast einen Bruder!“

Der Mund verstummte; der Blick sprach weiter mit jener unaussprechlichen Beredsamkeit, welche dem, der begreift, mehr sagt als tausend Worte, dem Nichtwissenden über nur eine Welt voll Angst ausdrückt. Alles, was noch von Leben in Meinhard war, sammelte sich zur letzten Kraftanstrengung; er richtete sich einen Moment auf; im nächsten sank sein Haupt zurück, und sein Kind wußte, er würde es nie wieder erheben.

Von heiligem Instinct geleitet strich Ottilie leise, ganz leise über die gebrochenen Augen hin, und die Lider schlossen sich. Jene Verklärung, die von anderen Welten predigt, ging in dem stillen Antlitz auf. Ein Zittern flog über das Mädchen hin; ihr Herz schrie zu Gott empor:

„Hast Du mich verlassen?“

Ihr zu Häupten klang fort und fort der melodische Amselruf wie eine Stimme vom Himmel.

Etwa eine Stunde mochte vergangen sein, als der Einödbauer mit seinen Knechten zur Stelle kam, um den Verunglückten, je nachdem, auf seinen Hof oder nach dem Schlosse zu schaffen. Da kein Fahrweg vom Einödhofe nach den Ruinen führte, war in der Eile aus Leitern und Tannenzweigen eine Tragbahre hergestellt worden. Bestürzt standen die Leute Angesichts eines Todten. Der Erbe weit ausgedehnte Besitzes, der letzte Sohn des Mächtigen, der, gleich einem regierenden Fürsten, selbst Solchen, die ihm nicht unterthänig, Gesetze vorschrieb und bei Allen Gehorsam fand, ward auf die armselige Bahre gehoben und zog nun, ein stummer Gast, dem Vaterhause entgegen, das ihm vor einer kurzen Woche Triumphpforten aufgerichtet.




5.

Wohl niemals widerstrebt unser Herz mehr der grausamen Herrschaft einer von außen wirkenden blinden Naturgewalt, wohl niemals unterliegt es derselben schmerzlicher, als wenn ein geliebter Todter auf der Bahre ruht. Wie erhaben, wie großartig ist der Tod! Feierliches Schweigen fordert er, und uns ist, als dürften nur unsichtbare Flügel das Haus umrauschen, in das er eingekehrt – und doch drängt sich gerade Angesichts des Todes nur allzu viel Gefälligkeit auf, drängt sich selbst Gemeines herzu und läßt sich nur durch Abwehr fern halten. Diese Abwehr kennt, im Grunde genommen, aber nur der Arme; der Reiche, der Hochgestellte liegt hier, wie auch sollst im Leben, in den Banden einer rücksichtslosen Tyrannei der Sitte; denn im Hause des Vornehmen wohnt der dem Erhabenen fremdeste Gast: die Etiquette.

Was auch in der verschlossenen Seele des kinderlosen gräflichen Greises vorgehen mochte, er vergaß nicht, jede Vorschrift solcher Etiquette anzuordnen. Reitende Boten gingen und kamen. Durch das vom Morgen bis zum Abend geöffnete Schloßthor strömte schon am nächsten Morgen nach dem Unglückstage die gesammte Nachbarschaft herein, den prunkvoll Aufgebahrten zu beschauen. Wohl mischte sich in die Neugier mancher rührende Zug; denn alle Grund- und Hofbesitzer des Bezirkes hatten den stillen Mann da auf der Bahre schon als Knaben gekannt und gern gehabt – und nun sollten sie sein Antlitz zum letzten Male schauen. Still ward es erst am dritten Tage um den Todten her, als er seine letzte Reise antrat.

Vom Schloßgesinde und einer großen Anzahl von Landvolk geleitet, bewegte sich der Wagen, welcher Meinhard’s Leiche der Ruhe entgegentrug, langsam bergab. Ueber das gefurchte Gesicht des alten Kutschers, der dem Hause seit Jahrzehnten gedient, tropften große Thränen, und der lange Flor seines Hutes bewegte sich wie eine Trauerfahne im Morgenwinde. Kein Laut als die Tritte der Geleitenden störte die Waldesstille; nur zuweilen klirrte leise ein Rosenkranz, oder ein stärkerer Lufthauch trug das sonore Glockengeläute von der kleinen Dorfkirche gedämpft herüber an Ohr und Herz der Leidtragenden. Die hohen Wipfel der Bäume schwankten, als wollten sie dem Heimgegangenen einen letzten Gruß zuwinken, und stumm schwirrten die aufgescheuchten Vögel von Ast zu Ast. Aus dem leicht umwölkten Himmel brach hin und wieder ein Sonnenstrahl, drang durch das duftende Laub und vergoldete den letzten Weg eines Vielgeliebten, der eine Stunde später in derselben stillen Dorfkirche seine Ruhestätte fand, über deren Taufstein dereinst sein hoffnungsreiches Dasein eingesegnet worden.

Es war spät am Abend. Graf Raimund saß einsam in seinem Schlafgemach. Er sah alt und verfallen aus, und über seinem festgemeißelten Gesicht lag es wie Schatten äußerster Müdigkeit. Das im südwestlichen Eckthurm befindliche Gemach, welches den ersten und letzten Strahl der Sonne empfing, trug um diese Stunde einen düsteren Charakter; und die auf dem Tische brennende Lampe erhellte nur ihren nächsten Umkreis, in allen Winkeln lagerten tiefe Schatten. Die strengen Linien altdeutscher Bilder dämmerte von den Wänden nieder. Vor dem Grafen lag eine geöffnete Brieftasche, und einige Papiere waren über den Tisch hingestreut, darunter ein Brief, welchen der Greis jetzt zur Hand nahm und entfaltete. Noch ehe er dessen erste Seite beendigt hatte, schlug er das Blatt um und sah nach der Unterschrift; dann stützte er den Kopf auf die Hand und begann noch einmal das Schriftstück von Anfang an aufmerksam zu durchlesen. Die freien, festen Züge waren von Frauenhand.

„Mein Geliebtester!

Siegmund schläft. Ich saß an seiner Wiege, bis es dunkelte, und schaute ihn an. Wenn das Kind schlummert, gleicht es Dir Zug um Zug; nur die Augen mögen sein Muttererbe sein. Während ich unseren Sohn behüte, fühle ich mich Dir plötzlich seltsam nahe – der Gedanke dringt unaufhaltsam bis in Dein Zimmer, ich sehe Dich dort umhergehen, das lächelnde Auge zu den alten Reimen aufgeschlagen, die, wie Du mir erzähltest, im Schlosse Deiner Väter die Wände schmücke; deutlich vernehme ich den Klang Deiner Stimme; sie liest eben einen der Sprüche und trifft mein Ohr so vernehmlich, daß mein Herz merklich höher schlägt.

Meinhard, ich denke Deiner mit jedem Athemzug – nicht nur weil ich Dich liebe, mehr noch, weil im Bewußtsein, daß alles Licht, alle Wärme nur von Dir ausgehen, mein ganzer Himmel liegt. Erst seit ich Dein bin, seit unser Kind die Augen aufgeschlagen, weiß ich, daß Liebe das Heiligste aus Erden ist. Geheiligt sind fortan all meine Freuden und Leiden. Wäre es möglich, daß ich Dich je verliere könnte, so ginge mehr zu Grunde als Glück und Leben; der Gott in meiner Brust müßte sterben – aber die Götter sind unsterblich; ich kann Dich nie, niemals verlieren! Der bloße Gedanke daran ist ein Verbrechen – vergieb ihn mir! Seit zwei Tagen quält mich namenlose Unruhe; selbst die Liebesworte Deines Briefes konnten sie nicht einschläfern Bleischwer lasten die endlosen Stunden des Fernseins. Wir hätten bei einander bleiben sollen. Keine thörichte Ungeduld, kein Drängen spricht aus mir, nur Sehnsucht, die mich zuweilen anfällt fast wie körperlicher Schmerz. Seit Stunden schon tobt um die Moosburg heftiger Gewittersturm; es grollt von Berg zu Berg, und der Himmel steht meilenweit in Blitzen. Aber hier im Schlafzimmer ist es so todtenstill und öde – ich höre jeden Federstrich.

Gute Nacht! felicissima notte – weißt Du noch, wo Deine weiche Stimme den Gruß des Südens zuerst vor mir sprach? Es war in Sorrent. Schlaf wird bei mir so bald noch nicht zu Gaste komme, um weiter zu schreiben bin ich aber zu ruhelos. Im Erkerfenster, aus dem wir so gern zusammen in’s Thal niederschauen, will ich noch ein Weilchen dem Toben der Elemente lauschen und Deiner denken. Gute Nacht!

Deine Genoveva.“

Graf Raimund las mit zusammengezogenen Brauen langsam bis zu Ende.

[475] „Deshalb also!“ murmelte er und preßte die schmalen Lippen fester auf einander.

Im Begriff, das Blatt niederzulegen sah er dessen letzte Seite mit einigen Strophen von Meinhard’s Hand beschrieben. Er zuckte die Achseln, doch las er auch diese:

„Wie der Sturmwind brausend die Wolken trägt,
Nimmt der Donner auf Schwingen mein Herz
Und wühlt es mir auf und hat’s mir erregt,
Daß es dunkelt und grollt und Blitze schlägt –
Weiß nicht, ob in Glück oder Schmerz.

Da träum’ ich mir einen feurigen Traum
Wie ich, ein zuckendes Wolkenkind,
Mich stürzen will durch den sausenden Raum,
So schnell, daß den Himmel ich streifte kaum,
So schnell, wie kein Blitz sich’s ersinnt.

Wo die Ferne aufhört, da hielt’ ich ein –
Ich weiß, wo die Ferne hört auf!
Und glühend strömt’ ich den Flammenschein
In Dein Herz mit zündender Kraft hinein,
Bis es feurig loderte auf.“

Des Greises Lippe lächelte ironisch. Selbst in diesem Augenblick, wo Grabesodem ihn umgab, regte sich sein Skeptizismus. Er faltete den Brief bedächtig zusammen, schob ihn zurück in das Couvert, welches ihn umschlossen hatte, und notirte dessen Absendungsort. Dann fuhr er fort, die vor ihm liegenden Papiere sorgfältig durchzusehen. Aus einem derselben fiel ihm eine lange dunkle Locke entgegen, um welche als Knoten feine lichtblonde Kinderhärchen geschlungen waren – ein Frösteln überlief den Grafen.

Schneidend empfand er die herbe Ironie des Geschickes: mit der Hälfte seiner Habe, ja mit dem Preise seines eigenen Lebens hätte er sich einen Enkelsohn erkaufen mögen – und dieser Enkel lebte und athmete nun – vielleicht ihm zum Unheil, statt zum Heile. Grollend dachte er des Weibes, des Kindes, deren Liebe sich Meinhard im Verborgenen gefreuet, und der zertrümmerte Wille knirschte gegen jene Macht, die der Greis nur als blinde Schicksalsmacht anerkannte, aber deren immer neue Schläge ihm widerwillig die Ahnung eines leitenden Verhängnisses in die Seele drängten.

Ein Pochen an der Thür scheuchte ihn aus finsterem Brüten auf. Ueberrascht sah er Ottilie eintreten, die schweigend und befangen auf der Schwelle stehen blieb und leicht zusammenschreckte, als er ihr nicht ohne Unzufriedenheit entgegenrief:

„Wie, noch nicht zur Ruhe?“

Sie näherte sich.

„Ich muß Dir etwas sagen, Großvater. Tags über konnte ich es nicht – auch wollte ich damit warten, bis – bis – ihre Stimme erstickte in Thränen.

Der Graf betrachtete sie schweigend. Sie war überaus blaß, und zum ersten Male zuckte der Gedanke, daß auch dieses Kind sterblich sei und den Andern nachsinken könnte, durch Haupt und Herz des alten Mannes, der ihr im Grunde seiner Gedanken nie verziehen hatte, daß sie ein Mädchen war. Er legte leise die Hand auf ihren Scheitel und sagte gütiger:

„Und was hättest Du mir heute noch zu sagen, Ottilie?“

Sie stand mit niedergeschlagenen Augen vor ihm – ihre Brust hob und senkte sich, und erst nach einer Pause sagte sie sehr leise:

„Etwas – etwas von meinem Vater – er sagte mir – im letzten Augenblicke seines Lebens vertraute er mir –“ Ihr Gesicht bedeckte sich mit heißer Röthe – sie neigte sich dicht zum Ohr des Greises nieder und athmete: „Ich habe einen Bruder.“

Ueberrascht sah er ihr in die Augen

„Das weißt Du?! Nun, ich weiß es auch. Hat Dir Dein Vater etwa Aufträge hinterlassen?“

Sie schüttelte den Kopf. Abermals brachen ihre Thränen unaufhaltsam hervor.

„Nichts! Nur die paar Worte – und ich komme, um Dich zu bitten – Großvater, ich bitte Dich flehentlich –“

Er unterbrach sie rasch:

„Du magst Dich beruhigen. Ich bin über die Sache bereits orientirt; es wird für alles Nöthige Sorge getragen werden.“

„Aber auch ich, Großpapa – ich möchte erfahren – möchte selbst –“

„Laß das ruhen!“ sagte er kalt. „Es ziemt Dir nicht, Deine Gedanken hiermit zu beschäftigen Du weißt, daß Dein Vater nicht vermählt war. Diese Angelegenheit zu ordnen steht nur mir zu, und daß es in allgemeiner Weise geschehen wird, darfst Du voraussetzen; damit begnüge Dich! Und nun genug davon! Nimm Platz – es ist mir angenehm, daß Du gekommen bist; auch ich habe Dir etwas zu sagen, und es könnte sich dazu keine ungestörtere Zeit finden, als die gegenwärtige.“

Das junge Mädchen setzte sich mechanisch ihm gegenüber; ihre kummervolle Seele irrte noch um den ihr eben verbotenen Gedanken. Dennoch horchte sie auf, als der Graf ruhig fortfuhr:

„Ich habe beschlossen Dich für die nächsten zwei Jahre nach Wien zu den Damen des sacre coeur zu senden. Eine zweite Ehe Deines Vaters würde mich vielleicht veranlaßt haben, diesen längst gefaßten Beschluß aufzugeben, aber jetzt muß er ausgeführt werden. Mademoiselle genügte bisher, nun wird es aber hohe Zeit, daß Du Dich in angemessener Umgebung bewegen lernst. Nach dem, was wir erleben mußten, erscheint mir räthlich, hiermit nicht zu zögern; denn eine Ortsveränderung für Dich ist nothwendig – je eher, desto besser! Die Luft eines Trauerhauses ist keine gesunde Luft, und deshalb wirst Du spätestens übermorgen unter Mademoiselles Schutz abreisen. Ich selbst folge bald und werde mich persönlich überzeugen wie Du Dich einlebst.“

Ottilie hörte den Worten welche sie so nahe angingen, ohne Bewegung zu. Ihr Gram um den erlittenen Verlust brannte so heiß, daß ihr Alles gleichgültig erschien, was nicht unmittelbar damit zusammenhing, und wurde sie sich während der Ankündigung, daß und in welcher Weise über sie verfügt worden, irgend einer schwachen Regung bewußt, so war es zu Gunsten eines Beschlusses, der sie wenigstens der grauenhaften Oede des Schlosses entführte. Dennoch sprach ein Klang des Heimathgefühls aus der Frage: „So bald schon?“

Der Graf erhob sich und trat zu ihr. Ein bei ihm so seltener Blick der Zärtlichkeit traf sie aus seinen müden Augen.

„Ja,“ sagte er, indem er sie einige Augenblicke schweigend betrachtete, „bald! Am liebsten schon morgen! Du wenigstens sollst mir bleiben, und auf Riedegg – pflegt man zu sterben“




6.

Etwa eine Woche war vergangen, seit Meinhard in die Gruft seiner Ahnen gebettet worden. Stunden und Tage hingen bleischwer über Schloß Riedegg, von welchem mancher vorüberkommende Wanderer den Eindruck einer menschenverlassenen Stätte mit hinwegnehmen mochte – so lautlos bewegte sich die Dienerschaft innerhalb der Höfe und Gänge, so selten erschien ein Menschenantlitz an den Fenstern oder unter den Pforten. Graf Raimund verließ sein Schlafgemach nur, um im Königinzimmer die Papiere des Archivs zu sichten und persönliche Schriftstücke abzuändern. Mit Ottilie war der letzte Schimmer von Jugend und Freude aus den weiten Hallen von dannen gezogen, und bereits rüstete sich der Graf, ihr nach Wien zu folgen; er wartete nur noch auf das Eintreffen seines vertrauten Kammerdieners, welchen er den Damen als Geleite mitgegeben und zugleich mit der Mission betraut hatte, auf der Rückreise in discreter Weise die Schreiberin jenes Briefes an Meinhard zu ermitteln. War auch nur ihr Vorname unterzeichnet, so gaben die Station der Absendung und die dem Datum beigefügte Bezeichnung der Moosburg hinreichende Anhaltspunkte. In welcher Weise für die von seinem Sohne Hinterlassenen zu sorgen sei, behielt sich Gras Raimund nach Maßstab der erwarteten Auskunft vor, und die Stimmung des eigenen Verlustes, das Mitwissen Ottiliens hatten ihm eine Angelegenheit, welche er unter anderen Umständen wahrscheinlich frivol behandelt haben würde, der Art vertieft, daß er sie erledigt wünschte, ehe er Tirol verließ, um ein etwa wünschenswertes persönliches Eingreifen nicht zu erschweren.

Die Nachmittagssonne brannte heiß, und ermattende Schwüle lag über Berg und Thal. Dennoch war Graf Raimund bereits seit einer Stunde im Erkerthurm des Archivzimmers ernsthaft beschäftigt. Die antike Maske, welche den Deckel eines Schreibzeuges von Bronze bildete, dessen ausgezeichnete Arbeit Cellini zugeschrieben wurde, war zurückgeschlagen, und langsam aber sicher bewegte sich die Feder des Greises. Er war im Begriff, den neuen Entwurf eines Testaments aufzusetzen, welches er bei seinem Notar in Wien vollziehen zu lassen dachte.

[476] Der letzte Federstrich war geschehen; bedächtig streute der Graf Sand über das Blatt und überlas noch einmal, was er geschrieben. Er war so sehr bei der Sache, daß ihm das immer näher kommende Rollen eines Wagens entging. Nun schallte es dicht an den Fenstern des Schlosses. Der Graf blickte auf. Besuch? Seit die Condolenzen des benachbarten Adels, welche sich in den ersten, Tagen förmlich drängten, überstanden waren, hatte Schloß Riedegg vor Besuchern Ruhe gehabt. Wer mochte heute vorsprechen? Er faltete das Blatt zusammen, legte es in ein Fach des Pergamentschrankes und schloß dessen Thüren; das durch die Fenster hereinströmende Sonnenlicht brach sich im Schimmer des Metall- und Perlmutterglanzes. Die Augen des Grafen hafteten zerstreut auf den Blumen und Arabesken des kostbaren alten Geräthes. Es war eines jener Besitzstücke, auf die er Werth gelegt – heute war ihm die ganze Welt und Alles, was sie an Besitz für ihn umschloß gleichgültig.

Die erwartete Meldung blieb nicht lange aus, war aber sichtlich unerwarteter Art:

„Gräfin Riedegg wünsche den Herrn Grafen zu sprechen.“

„Wer, Joseph?“

„Die Gnädige ist mir unbekannt,“ sagte der Alte respectvoll. „Da Störung untersagt war, führte ich die Frau Gräfin in den kleinen Salon, glaubte aber doch Meldung machen zu sollen, weil Hochdieselbe Excellenz gleich zu sehen wünschten.“

„Gut! Ich komme hinüber.“

Als der Diener sich zurückgezogen, zögerte Graf Raimund noch einen Moment. Der Umstand, daß sein alter Kammerdiener eine Dame, welche den Namen Riedegg trug, nicht von Person kannte, fiel ihm auf; denn es gab wenige Frauen in der Familie. Mit unbestimmter Vorahnung neuen Unheils durchschritt der alte Herr die Gallerie, welche den Eckthurm mit dem andern Flügel verband, und als er die Schwelle des Salons überschritten hatte, blieb er staunend stehen.

Eine hohe, jugendliche Gestalt, deren marmorblasses Gesicht aus wallendem Trauerschleier blickte, trat ihm entgegen. Die Falten des schwarzen Gewandes glitten an königlich schönen Formen nieder, und während sich die Augen Beider begegneten, mischte sich in das unverhohlene Befremden, welches der Blick des Grafen aussprach, ein schärferer, gespannter Zug. Es war ihm, als habe er dieses schöne Gesicht bereits früher gesehen. Alles in ihm setzte sich gleichsam im Voraus zur Wehr gegen die Ahnung, welche in ihm aufzudämmern begann. Zur ganzen Höhe seiner Hünengestalt aufgerichtet, trat er einige Schritte vor.

„Was verschafft mir die Ehre?“ fragte er, indem er sich leicht verbeugte, mit eisiger Höflichkeit.

„Sie haben nach mir gesandt, Herr Graf.“

„Nach Ihnen gesandt?“ fragte er, und sein Blick traf sie scharf wie Stahl. „Also – in der That? Sie, Fräulein von Meillerie, waren meines Sohnes – Freundin?“

Sie wurde weiß bis in die Lippen, und ein glühender Strahl flammte in ihrem Auge auf, um sogleich wieder zu erlöschen.

„Meinhard war mein Gatte,“ erwiderte sie, beide Hände gegen die Brust gepreßt, stolz und feierlich.

„Vor Gott, wie man zu sagen pflegt,“ erwiderte der Graf gelassen. „Nehmen Sie Platz, Mademoiselle! Ich bin wahrlich nicht geneigt, um Worte mit Ihnen zu streiten. Sie finden mich bereit, Ihnen in jeder Weise entgegenzukommen, sowohl in Betreff Ihrer selbst wie Ihres Sohnes dessen Graf Meinhard vor seinem Abscheiden erwähnte.“

Genoveva’s mit allem Aufgebote ihres Willens gesammelte Kraft wankte plötzlich. „Vor seinem Abscheiden!“ dieses Wort, hier in Meinhard’s Heimath, von seinem Vater ausgesprochen, traf sie, als erführe sie nun erst, daß der Heißgeliebte ihr wirklich verloren, daß Liebe und Wonne auf ewig hin, ihre Sonne untergegangen war. Was sie zu sagen, zu fordern gekommen, verschwand ihr vor dem ungeheuren, unfaßbaren Schmerze, der sich vernichtend um ihre Seele klammerte und sie niederwarf. Eine Fluth von Thränen stürzte ihr aus dem Herzen in die Augen, und ohne des Grafen zu achten, warf sie sich vor dem Sessel, welchen er ihr zugeschoben, auf die Kniee und drückte ihre strömenden Augen gegen die Polster.

Graf Raimund betrachtete sie einige Minuten, ohne sie zu stören. Ein anderer Moment, in welchem er sie früher gesehen, stand vor seinem Gedächtnisse – damals strahlte sie in erster Jugend, von duftigen Ballgewändern umwallt, wie heute vom Trauerschleier, bestrickend gleich einer Willy im Reigen der Tänzer. Ja, das Weib war schön, und er begriff, wie sie Meinhard, gerade Meinhard hatte fesseln können; denn jeder Zug, den die Natur in Diesem nur gleichsam angedeutet, war hier zur reichsten Vollendung gediehen. Er trat einen Schritt näher, berührte die Schultern Genoveva’s und sagte mit jener vollkommenen Höflichkeit, die unter Umständen der Herzlichkeit etwas abzuborgen versteht:

„Ich bitte dringend, stehen Sie auf, Mademoiselle!“

Mademoiselle! Er nannte sie abermals: Mademoiselle? Wie eine schrille Dissonanz fiel dieses Wort in Genoveva’s heiligen Schmerz. Hier galt es nicht dem Todten, sondern dem Lebenden. Die junge Frau erhob den Kopf, strich, sich besinnend, das Haar aus der Stirn und stand ihm hoch aufgerichtet gegenüber. Noch einen Augenblick blieb sie stumm, und als sie dann sprach, bebte das jäh zurückgedrängte Schluchzen noch aus ihrer Stimme:

„Sie nennen mich Mademoiselle, Herr Graf, und sagten doch zuvor, Meinhard hätte unserer Ehe erwähnt?“

„Eines Sohnes, der ihm lebte, ja! Es war dies sein letztes Wort. Das Ende kam zu rasch, als daß er Aufträge hätte hinterlassen können, doch betrachte ich solchen Auftrag als gegeben und angenommen. Sprechen Sie sich frei über Ihre Wünsche aus! Ihre und Ihres Sohnes Zukunft soll meine angelegentliche Sorge sein.“

„Ohne es zu wissen, Herr Graf, fahren Sie fort, mich schwer zu beleidigen! Schon die Andeutungen Ihres Boten ließen mich befürchten, daß Ihnen auch jetzt noch unbekannt geblieben, was Sie längst erfahren haben sollten.“ Sie hielt inne, blickte ihn mit den mächtigen Augen voll an und sagte sanft und fest: „Meinhard war mir durch den unauflöslichen Segen der Kirche verbunden. Unser Sohn ist der rechtmäßige Erbe seines Namens.“

Der alte Graf wankte. Sein Gesicht wurde todtenfahl. Mit unwillkürlicher Geberde, als wolle er einen Angriff auf sein Leben abwehren, hob er die Rechte.

„Das dürfte schwer zu beweisen sein, Gnädige.“

„Der Beweis muß sich in den Papieren finden, welche Meinhard bei sich führte,“ sagte Genoveva gelassen. „Nicht hierum handelt es sich, sondern einzig darum, ob Sie das theure Erbe, welches ich Ihnen bringe, in der Weise willkommen heißen wollen, wie das Ihrem Enkel vor Gott und der Welt gebührt.“

(Fortsetzung folgt.)




Bilder heimischer Meisen.[1]

Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
2. Das Leben der Meisen im Nadelwalde.

Der Frühling hat das Machtwort zur Vogelwelt gesprochen: löset euere im Herbste geschlossenen Gesellschaftsverbände auf, und schließet euch paarweise enger an einander an zur Gründung des abgesonderten Haushaltes und zur Theilnahme an den Freuden, Mühen und Sorgen des Familienlebens! Und das Zaubergebot wird mit dem siegenden Odem des Auferstehungskündigers hineingeweht in Thal und Schlucht, in Flur und Forst. Unter dem lösenden Zuge des Südwest hebt sich Halm und Strauch, dehnt und streckt sich der Wald dem Sonnenlichte entgegen. Auch in die Düsterkeit des Nadelwaldes dringt der verjüngende Hauch und Strahl und die befiederten Bewohner begrüßen die milde Segenskunde mit Tönen der Lust und des Entzückens. Laut und wiederholt vernehmen wir daß melodische „Zipürr“ der Haubenmeise, des Vertreters einer eigenen Untersippe unserer Meise (Lophophanes).

Die fahle, mehr oder weniger in’s Röthlichbraune spielende Farbe der Oberseite dieser Meise und die grauweiße der Unterseite

[477]

Bilder heimischer Meisen: 2. Haubenmeise, Tannenmeise. – Goldhähnchen.
Originalzeichnung von Adolf Müller.

[478] bieten zwar nichts Besonderes, aber die staffelförmig gebildeten schmalen Haubenfedern mit nach vorn sich biegenden Schäften, schwarzer Hauptfarbe und weißen Kanten, denen die gleichgefärbten Wangen entsprechen, geben dem nur 12,5 Centimeter großen Vogel doch eine markante Erscheinung. Dazu kommt ein Zügelstreifen, der sich durch das Auge zieht und sich dann in Sichelform nach vorn abwärts neigt; ferner ein daran grenzendes breiteres, weißes Band und ein schwarzer, vom Oberkopfe bis zur Kehle reichender Streifen, sowie ein gleichfalls schwarzes von der Kehle zum Nacken krausendes Band, was Alles zur Auszeichnung des Vogels beiträgt. Die dunkelgraubraunen Schwingen und Steuerfedern zeigen hellere Säume. Die braunen Augen, der schwarze, an den Scheiden hellere Schnabel und der lichtblaue Fuß vollenden die Farbenzeichnung.

Als eine treue Bewohnerin unserer deutschen Fichten-, Kiefern- und Tannenwälder wählt sich die Haubenmeise vorzugsweise solche Brutorte aus, die an Dickichte grenzen. Hier verfolgt zur Paarungszeit das Männchen in Stangenorten und im Hochwalde das Weibchen. Es ist ein anmuthiger Anblick, wie der bewegliche Liebeswerber sich hoch emporrichtet, unter leisem Gezwitscher. bald die Haube weit nach vorn stellend und die Gefährtin förmlich umtanzend, bald wieder die bewegliche Kopfzierde nach hinten senkend.

Neben dem Minnetrieb macht sich jedoch alsbald der Ernährungstrieb geltend. Das geübte Vogelauge erspäht und prüft nun die lose sitzenden Rindenplättchen der Stämme und Aeste, unter denen Kerbthiereier und Larven verborgen sind, und sogleich ist der geschäftige Schnabel bereit, die Schuppen auszuhämmern oder ganz loszuhacken, um an den verdeckten Fund zu gelangen. Bald untersucht die Meise in seitlicher, bald in hängender, bald in aufrechter oder übergebogener Stellung die beuteversprechenden Zweige mit schnellen und geschickten Wendungen, und ein reicher Fund beliebter Nahrung wird hastig ausgebeutet und fesselt den Vogel länger an eine Stelle, als es ihm sonst die angeborene Unruhe erlaubt. Freude und Wohlbehagen an solchen Entdeckungen offenbart sich in dem Tonausdruck „Zit“, der sich während der eifrigen Aufnahme von Leckerbissen öfters wiederholt und zugleich vom Gefährten als Aufforderung zur Theilnahme an der Mahlzeit begrüßt wird. Abwechselnd macht Eins dem Andern Platz an der gedeckten Tafel. Von da aus geht’s nun weiter vorwärts und zurück, hinaus in die Kronen der Bäume und dann wieder zum Stamm, zur bloßgelegten Wurzel und selbst auf den Boden oder in das angrenzende Dickicht, und sobald die Meise auf freiem Zweige erscheint, sträubt sie die Haube und läßt unter koketten Wendungen ihre Rufe lauter erschallen.

Nachdem nun von dem Weibchen in aller Schweigsamkeit und Heimlichkeit die Wahl des Nistplätzchens getroffen worden, sammelt es kleine Partien Flechten von den Bäumen, zerrt Moosbündelchen von Steinen und Felsen los und trägt dieses Material unter Begleitung des ihm folgenden Männchens zur Errichtung des gröberen Nesttheils entweder einer Baumhöhle in höherer oder tieferer Lage oder einer Wandung des verlassenen Eichhorn- oder Elsternestes zu, in welch letzterem es sich selbst eine entsprechende Höhle hergerichtet hat. Nach Vollendung des äußeren Nestes sucht sich die Meise zur Auspolsterung des Innern an Gesträuch und Gestrüpp, sowie auf dem Waldboden abgestreifte Haare des Wildes, wie auch auf Waldwegen Kuhhaare und Schaf- und Pflanzenwolle. Alsdann beginnt sie zu legen – das vollendete Gelege besteht aus acht bis zehn kleinen weißen Eiern, welche rostroth punktirt sind und in dreizehn Tagen ausgebrütet werden.

Doch versetzen wir uns in die Zeit der Minne unseres Vogels zurück und beobachten wir Wandel und Wesen der nachbarlichen Verwandten! Da ist zuerst die Tannenmeise. Gewandtheit, Munterkeit, Keckheit und Zanksucht sind Meisencharakterzüge, welche auch ihr eigens sind. Auch sie hat ihren besonderen Gesang; ihre Größe theilt sie mit der Haubenmeise, ihre Färbung aber ist düster, dem schattenreichen Nadelwalde mehr entsprechend. Kopf und Hals, Kinn und Kehle der Tannenmeise sind schwarz, weiß die Backen und die Halsseiten von den Mundwinkeln an, und ein Nackenstreifen ist von gleicher Farbe; die übrige Oberseite erscheint aschgrau, die Unterseite schmutzig grauweiß mit bräunlichen Flanken. Auf den Flügeln stehen zwei weiße Binden. Die Iris ist tiefbraun, der Schnabel hornschwarz und der Fuß bleigrau.

Diese mit großer Anhänglichkeit an den Nadelwald gefesselte Meise wählt gewöhnlich ihre Niststätte in tieferer Lage, als die Haubenmeise; man findet sie vielfach in hohlen Baumstümpfen, in Spechtlöchern, Felsenspalten, nicht selten auch in Erdhöhlen, alten Mäuse- und Maulwurfsgängen. Ich habe an dem Ufer eines Teiches mehrere Jahre hindurch die Nester von zwei Paaren in den Astlöchern alter Weiden gefunden. Beide waren regelmäßig aus Erdmoos erbaut und mit Federn ausgepolstert, während andere mir bekannte nur Pferdehaare enthielten. Die Durchschnittszahl der Eier eines Ende April oder Anfangs Mai vollendeten Geleges beträgt sechs bis acht, während das Gelege der zweiten Brut, wie beiden Vögeln überhaupt, stets weniger zahlreich ist.

Die Grundfarbe der zartschaligen, spitzgeformten Eier der Tannenmeise zeigt reines Weiß, diejenige der Flecken Rostroth; Doch lassen wir das Weibchen – das Männchen betheiligt sich nur wenig daran – das Brütgeschäft während eines vierzehntägigen Zeitraumes besorgen, und versetzen wir uns wieder in die letzten Tage des März oder die des April! Da begegnen wir denn den treuen Begleitern der Meisen, unseren Goldhähnchen, von denen das feuerköpfige einen ziemlich lauten Gesang hören läßt, der aus den rasch auf einander folgenden Lauten: „Si–si–si–si…“ und einem den Schluß bildenden melodischen Triller besteht und von Nachbarmännchen regelmäßig beantwortet wird.

Während das gelbköpfige Goldhähnchen als Standvogel zur Zeit des Winters in Begleitung der Meisen kleine Wanderungen durch Wald und Gärten des Heimathsgebietes unternahm, verbrachte das feuerköpfige die rauhe Jahreszeit unter südlichem Himmelsstrich in der Fremde und ist erst Ende März wiedergekehrt. Wie doch diese kleinsten europäischen Vögelchen die Unruhe mit den Meisen theilen! Wie sie flink und ewig beweglich gleich ihnen die verschiedenartigsten Stellungen einnehmen! Wahrhaft prächtig entfaltet das minnende feuerköpfige Goldhähnchen seine Kopffedern. Dann wird das dunkel orangefarbene, über Scheitel und Hinterkopf laufende Längsfeld sichtbar, welches durch das breite schwarze Band über dem weißen Augenstreifen und das schmale ebenfalls schwarze Band des Vorderkopfes in seiner Wirkung noch gehoben wird. Auch die olivengrüne Oberseite des Vögelchens hebt die Decoration des Kopfes. Die übrigen Merkmale der Färbung bestehen in den orangegelben Halsseiten, dem rostbräunlichen Rande der Stirn über der Schnabelwurzel, dem schwarzgrauen Augenstrich und Augenrand, dem weißen Strich unterhalb des Auges, welcher von dunklem Bartstreifen begrenzt wird, dem olivengrauen Ohrfelde, den olivenbraunen Schwingen und Steuerfedern mit gelblichgrüner Säumung, der oberen schwarzen Querbinde und den unteren lichten Querlinien über den Flügeln. Dunkelbraun ist das Auge, schwarz der Schnabel und bräunlich der Fuß.

Mit entschiedener Vorliebe bewohnt das feuerköpfige Goldhähnchen die Fichtenwälder, während das gelbköpfige Vetterchen die Kiefernbestände bevorzugt. Indessen durchwandern beide Arten da, wo Laubholzbestände oder gemischte Holzarten an ihren Wohnort grenzen, diese täglich, von Zweig zu Zweig dahin eilend, bald in hängender, bald in flatternder, bald in vorgebeugter Stellung sich die verschiedenartigsten Kerbthiere und deren Larven aneignend, keineswegs aber auch die feineren Sämereien verschmähend. Sie erweisen sich durch ihren scharfen Spähsinn als gründliche Säuberer der Nadelbäume von schädlichen Räupchen, Käferchen, Puppen und vorzüglich Kerbthier-Eiern. Auch dem fliegenden Insect eilen sie nicht selten auf kurze Strecken nach, um es zu erhaschen, und wenn sie die Kerbthiere in ihren verschiedenen Entwickelungsstadien nicht zur Befriedigung ihres eigenen Bedürfnisses, sondern zum Zwecke der Fütterung aufnehmen, so sammeln sie gewöhnlich eine größere Anzahl, insbesondere Kerbthier-Eier, im Schnabel an und fliegen dann erst dem Ort ihrer Bestimmung zu.

Doch kehren wir zu dem Hauptgegenstand dieser Schilderung zurück, und besuchen wir zur Zeit, wo die jungen Hauben- oder Tannenmeisen der ersten oder zweiten Brut ausgeflogen sind, die Heimstätte derselben! Da nehmen wir wahr, daß die Tannenmeisen ihre eigene Nahrung wie diejenige für ihre Jungen nur dem Nadelwalde in der Gestalt von Eiern und Larven nicht blos der Kerbthiere, sondern auch kleinerer und größerer Fliegen entnehmen, während die Haubenmeisen auch dem Laubdickicht zufliegen, um ihren Jungen grüne Räupchen zur Atzung zuzutragen.

Es lohnt der Mühe, auch einen Blick in die kunstvoll gebauten Nester der Goldhähnchen zu werfen, aber ich will das bewunderungswürdige Bauwerk nicht eingehend schildern. Dies würde mich hier zu weit führen. Wohl aber möchte ich durch kurze Andeutung eine Beobachtung zur weiteren Kenntniß bringen, die ich durch [479] fortgesetzte Erforschung des Lebens dieser Vögel gemacht habe: ich möchte aufmerksam machen auf die sich vielfach im Neste der Goldhähnchen findenden Pferdehaare. Diese schlingen sich nämlich um Hals und Flügel der Jungen, und Erdrosselung ist nicht selten die Folge. Das nur nebenbei!

Wenn es Herbst geworden ist und der Wald in mannigfachem Colorit prangt, dann kommt in die vereinigten Familien der Hauben- und Tannenmeisen ein rastloseres, ungestümeres Leben. Wohl behaupten sie noch immer ihre Lieblingsplätze innerhalb eines gewissen abgegrenzten Districtes, aber wir nehmen täglich mehr regelmäßige Streifzüge der Gesellschaft wahr, als dies bei den Paaren und Familien im Sommer der Fall gewesen, und oft sind sie zu ganz bestimmter Tagesstunde an demselben Orte anzutreffen.

Beide Meisenarten werden während der rauhen Jahreszeit zur Ausbeute der samentragenden Zapfen der Nadelbäume bewogen, was die Thierchen auch aus den zusammenhängenden Nadelholzbeständen zu nicht fernen, einzeln stehenden kleinen Nadelholzwäldern führt, die dann täglich wiederholt durchstreift werden. Nur flüchtig durchziehen die Haubenmeisen Laubholz oder gemischte Bestände, und überfliegen sie gar eine kleine Blöße – größere vermeiden sie ganz – so geschieht es sichtlich ungern und eiligst.

Bei Ereignissen, welche in das Vereinsleben der befiederten Gesellschaft eingreifen, macht sich sofort allgemeine Aufregung geltend; die vereinigte Genossenschaft zeigt alsdann nicht blos durchgehendes Verständniß, sondern auch übereinstimmende Gemüthsaffection. Wie die Wetterlaune, die rasch wechselt, so ist auch die Vogellaune, eben heiter, im nächsten Augenblick getrübt, unmittelbar daraus wieder gehoben.

Allgemeines gegenseitiges Verständnis; ist in Tönen und Geberden ohne Frage in der Gesammtheit vorhanden, und zwar nicht blos in Bezug auf Schrecktöne und Zeichen, sondern auch nach anderer Seite hin: sie mahnen einander zum Ausbruche, laden zur Rast ein, benachrichtigen sich gegenseitig, wenn eine erfreuliche Entdeckung gemacht wird oder eine Erscheinung Mißtrauen, Neugierde oder Lust zur Neckerei und Verfolgung erweckt.

So erregt ein urplötzlich dahersausender Sperber Schrecken und Angst; kopfüber stürzen die Hauben- und Tannenmeisen mit scharfen Schrecktönen in das Dunkel der Nadelholzzweige, und mit raschem Einschwung verbergen sich die angsterfüllten Goldhähnchen unter einem weitragenden Zweigdache. Doch kaum ist die Gefahr vorüber, so kommen auch schon wieder die vergeßlichen sanguinischen Kinder der Gegenwart zum Vorschein, und es wird der unterbrochene sorglose Wandel von Ast zu Ast fortgesetzt; das Hämmern der Schnäbel ertönt wieder, und die friedlichen Laute der Behagen verkündenden Vogelsprache zeugen von der wiedergekehrten glücklichen Gemüthsstimmung.

Mag auch der gefürchtete, Entsetzen und Tod bringende Räuber einen Gefährten aus den Reihen der Ahnungslosen in dem würgenden Fang davontragen, der Eingriff wird im Augenblick der That zwar mit Theilnahme an dem Wehgeschrei des Unglücklichen begleitet, aber dem Grabgesange folgt unmittelbar das „Gaudeamus igitur“.

Karl Müller. 


Vater und Sohn.
Von Heinrich Kruse[2].

Arglos saß er, ruhmbedeckt als Sieger,
In der Kampfgenossen frohem Kreis.
Sieh, da naht sich ihm ein alter Krieger,
Flüstert ihm in’s Ohr, verwirrt und leis.
„Laut! Was hast Du, Friedrich, mir zu sagen?“
„Ich verschwieg’ es General, Euch gern,
Doch ich kann allein es nicht mehr tragen:
Sie vermissen unsern jungen Herrn.“

Und er hört nicht mehr den Jubel, schreitet
Blaß und schweigend durch den lauten Schwarm,
Sprengt, vom treuen Diener nur begleitet,
Auf das Schlachtgefild in stummem Harm.
Ruft den theuren Namen immer wieder.
Lauscht umsonst; denn keine Antwort schallt.
Aechzt es wo und steigt er hoffend nieder,
Ist ihm fremd die blutende Gestalt.

So verstrich die Nacht, und wieder röthet
Sich der blasse Streif im Osten schon;
Endlich, von Ermattung fast getödtet,
Fand er, ach, als Leiche! seinen Sohn.
Wie vom Blitz getroffen stürzt’ er nieder,
Und er weinte nicht, er schrie vor Schmerz,
Küßte seinem Knaben Wang’ und Lider,
Und ihm brach beinah das tapf’re Herz.

„Daß Gott walte“ sprach der fromme Alte,
Der schon Freund ihm mehr als Diener war.
Zwar er schluchzte selbst, doch sprach: „Gott walte!“
Das war Trost für Beide, wunderbar.
Ja, in einer solchen schweren Stunde
Ist der Glaube unser einz’ger Stab.
Schweigend blickt der Feldherr in die Runde,
Holt ein Grabscheit von dem nächsten Grab.

„Kann ich nichts mehr, nichts mehr thun auf Erden
Für den Liebling, o, so soll er doch
Nur von meiner Hand begraben werden;
Diese letzte Pflicht erfüll’ ich noch.
Camerad aus alten guten Zeiten,
Hilfst Du mir?“ Der drückt ihm stumm die Hand,
Und an’s Werk die ernsten Männer schreiten,
Deren Herzen Zagen nie gekannt.

„So! Wir haben tief genug gegraben.
Camerad, nun naht der Augenblick,
Wo Du Nachsicht mit dem Freund mußt haben,
Wenn ihn überwältigt sein Geschick. –
Eh’ wir in Dein frühes Grab Dich legen,
O, mein einz’ger heißgeliebter Sohn,
Diesen Thränenstrom und meinen Segen
Nimm als aller Lieb’ und Treue Lohn!

Ja, das sind die guten, lieben Züge,
Die uns Eltern in der Wieg’ entzückt,
Welche, nie entstellt durch Haß und Lüge,
Lebenslang unsäglich uns beglückt.
Mochten noch so sehr ihn Alle loben,
Still bescheiden ging er vor sich hin,
Aber bei der Wälschen frechem Toben,
Schwang sich sternenhoch empor sein Sinn.

Für sein Vaterland das Leben wagen
Wollt’ er und beschützen unsern Rhein,
Doch der Mutterblick wird mich verklagen,
Schuld an unsers Lieblings Tod zu sein.“
„Hat denn Eure Gattin nur verloren,“
Spricht sein Camerad, „ein theures Kind?
Manche Wittwe, die umsonst geboren,
Weint um Mitternacht die Augen blind.“

„Wär’ es das nur!“ hört man leis ihn klagen,
„Wär’ es das nur!“ — „Und was quält Euch noch? —“
„Freund, was Gott uns schickt, das laßt sich tragen,
Eigne Schuld drückt uns als schlimmstes Joch.
Sechszehn Jahr’ erst zählt er, und zum schweren
Dienst der Waffen war er noch zu schwach.
Nein, ich durft’ ihm nicht den Wunsch gewähren,
Doch dem Krieger-Ehrgeiz gab ich nach.

‚Ferme Moscou zu stürmen! Alle rücket
Aus im Laufschritt — falle, wer da fällt! —
Bis Ihr Eurem Feind in’s Auge blicket!
Dann, hurrah! das Bajonnet gefällt!‘
So befahl ich meinen Kriegerschaaren,
Ich, der Feldherr. Und in vollem Lauf
Stürmten sie, nicht achtend der Gefahren,
In den ersten Reih’n mein Sohn, hinaus.

Doch er kennt nicht Kriegsgebrauch und Regel,
Sucht nicht Deckung, wie er vorwärts dringt.
Aufrecht steht er, als, ein Flammenkegel,
Die Granate über ihm zerspringt.
Ich, ich führte, daß er Ruhm erwerbe,
Unsern Knaben in die Männerschlacht.
Ja, die ganze Zukunft war sein Erbe,
Und ich hab’ ihn, ich, darum gebracht.“

Und der greise Vater sinkt zur Erde.
„O, verzeihe mir und sprich, mein Sohn,
Daß ich nicht des Wahnsinns Opfer werde,
Mir verzeihend, ach, nur einen Ton!“
Armer Greis! Schon lange mußt’ er irren
Ohne Nahrung durch das Todtenfeld,
Bis sich seine Sinne jetzt verwirren
Und er auf das Grab bewußtlos fällt.

Auf dem Schlachtfeld, wo in tausend Schmerzen
Sich die Menschheit windet und verzagt,
Gleicht doch nichts dem armen Vaterherzen,
Das verzweiflungsvoll sich selbst verklagt.
Da, als Ohnmacht ihn und Schlaf begraben
Und dem Erdenjammer hat entrückt,
Ist es ihm, als hört’ er seinen Knaben,
Der mit sanftem Trost ihn hold erquickt:

„Laß nicht Deine lieben Augen thauen,
Bester Vater! Betend vor der Schlacht,
Hab’ ich mit dem kindlichsten Vertrauen
Mich dem Herrn der Schlachten dargebracht.
In den Tod hast Du mich nicht gesendet;
Denn Du lenktest nicht das Fluggeschoß.
Schmerzlos hab’ ich, rasch und süß geendet,
Da mein Blut für Deutschlands Rettung floß.

Eben spielt’ ich noch der Knaben Spiele,
Warf den Ball und tummelte das Roß,
Rang mit Freunden oder schwamm zum Ziele,
Kannte nicht den Krieg und sein Geschoß.
Und nun ruh’ ich schon im Heldengrabe;
Auf dem Sieg’sfeld schlummert mein Gebein,
Und mir wurde, was gewünscht ich habe,
Denn ich hielt, auch ich! die Wacht am Rhein.“

[480]

Land und Leute.

45. Hammerfest, die nördlichste Handelsstadt der Welt.

Die Zeit der friedlichen Welteroberungen des Geistes ist noch nicht abgeschlossen. Erst vor wenigen Jahren gelang es dem kühnen Nordenskjöld in den dunklen Fluthen des gefahrvollen Eismeeres einen neuen Handelsweg zu finden, aus welchem die Producte Nordasiens den europäischen Völkern billiger zugeführt werden können, als auf dem mühseligen Karawanenwege der russisch-asiatischen Steppen, und so folgt schon heute der unternehmungslustige Kaufmann den Spuren des gelehrten Entdeckers; hörte man doch vor mehr als Jahresfrist mit Staunen, daß Weizenladungen aus Sibirien nach Bremen angelangt wären, daß asiatisches Korn mit gutem Gewinn auf dem europäischen Markte verkauft und daß sibirisches Getreide zum ersten Male als Nahrungsmittel auf deutschem Boden feilgeboten worden. Mit großer Spannung warten wir jährlich auf Nachrichten über die im Sommer nach den Mündungen der Lena, des Ob, des Jenissei abgehenden Handelsexpeditionen, und mehr denn je wendet sich jetzt das allgemeine Interesse den früher nur wenig beachteten Polarländern zu.

Und so führen wir auch heute unsere Leser auf unsern Wanderungen durch fremde Länder nach dem hohen Norden, um dort das eigenartige Treiben in der nördlichsten Handelsstadt der Welt kennen zu lernen. Von den zahlreichen Reisenden, welche alljährlich die Wunderwelt Skandinaviens besuchen, gelangen nur Wenige bis in jene von den kalten Fluthen des Eismeeres umspülte Gegend norwegischen Landes, wo auf der etwa drei Meilen großen Kvalö-Insel unter 70° 39′ 40″ nördlicher Breite das stille Hammerfest liegt, und so dürfte unsere heutige Beschreibung den Meisten unter unsern Lesern neu und willkommen sein.

So lange die dänische Zollgesetzgebung den freien Verkehr selbst in diesem schwer zugänglichen Gebiete hemmte, befand sich an der Stelle, wo wir jetzt den Kirchturm der Stadt erblicken, nur eine einzige Handelsfactorei. Kaum war jedoch seit 1787 der Handel in den Finnmarken freigegeben worden, so begann auch in dieser Gegend ein reges Leben, und schon im Jahre 1880 hatte der Ort 77 Einwohner; die Zahl derselben stieg aber immerwährend, sodaß sie jetzt über 2000 beträgt.

Die Stadt liegt rings um eine kleine, fast kreisrunde Meeresbucht auf einem Vorgebirge, dessen äußere oder westliche Seite so unregelmäßig geformt ist, daß es scheint, als wollten sich die schroff-abfallenden Felsen jählings in die See stürzen. Steigt man auf die Höhe dieses Vorgebirges, so hat man gegen Westen eine Aussicht über die zwei Meilen breite Meeresenge nach den kahlen, mit Schnee und Gletschern bedeckten, etwa 1000 Meter hohen Gebirgszügen der Sörinsel und des Seilandes, während man in geringer Entfernung von der Stadt die kahle Felseninsel Haajem, zu deutsch: Helminsel erblickt. Unsere Abbildung zeigt diese Insel im Vordergrunde, die Sörinsel und das Seiland dagegen weiter abwärts.

Zu unseren Füßen liegt die Stadt mit ihrem zwar kleinen, aber tiefen Hafen, welcher den Schiffen guten Schutz gewährt, da er nur den vom Norden her anstürmenden Winden zugänglich ist. Längs der Bucht laufen parallel die Hauptstraßen mit großen und schönen Privathäusern und einigen öffentlichen Gebäuden, der Zollbude, dem Rathhause, dem Schulhause, der Post- und Telegraphenstation etc. Dicht am Meere erblicken wir dagegen die großen Packhäuser und Speicher der Kaufleute, während die ziemlich neue Kirche auf einer Anhöhe liegt. Wenn man mit dem Dampfschiffe von Süden nach Hammerfest kommt, ist ihr schlanker Thurm schon von weitem sichtbar.

Lappische Volkstypen aus Hammerfest.

Auch ein Erinnerungszeichen an die Großthaten der Wissenschaft erhebt sich in der Nähe der Stadt, die nördlichste Meridiansäule Europas, welche den Endpunkt der großen norwegisch-schwedisch-russischen Gradmessung bezeichnete (vergl. Abbildung auf S. 481). Diese mühselige und für die Geographie unendlich wichtige Arbeit begann bekanntlich im Jahre 1816 bei Ismail an der Donau und fand 1855 bei Hammerfest ihren Abschluß. Die Inschrift der Säule ist durch rauhe Stürme fast gänzlich zerstört, aber ohne Wehmuth geht der Wanderer an ihr vorüber; denn er weiß es wohl: die Thaten der Wissenschaft werden mit unvergänglichen Lettern in das Buch der Weltgeschichte eingetragen, und die Werke der freien Forschung überdauern alle Denkmäler aus morschem Steine.

Doch lassen wir unsere Blicke weiter schweifen! Dort an dem Storvand, einem kleinen Landsee, haben mehrere Kaufleute der Stadt schöne Landsitze errichtet. Hüten wir uns aber, einen Vergleich anzustellen zwischen diesen nördlichsten Landhäusern Europas und den schmucken Villen des Südens, die aus grünenden Gärten hevorschauen! Wüst und öde ist die Landschaft des Nordens. Höchstens ein verkrüppelter Birkenstrauch bildet hier und dort auf einer kleinen Halde die ganze Vegetation; nur wild zerklüftete Felsen und bald schäumende, bald krystallklare Gewässer sind überall zu schauen; hin und wieder springt ein aufgescheuchtes Renthier über das kahle Plateau, oder es fliegt ein einzelner Rabe über dasselbe hinweg; nur das schrille, von der Küste hertönende Geschrei der Möven unterbricht die tiefe Stille der wie erstorben liegenden Landschaft. Das ist ein Sommerbild der Umgebung von Hammerfest, welche während des langen, langen Winters durch die tiefe bleiche Schneedecke dem menschlichen Auge verhüllt wird.

Um so anmuthiger erscheint uns während der kurzen Sommerzeit das bunte Bild, welches uns der Hafen von Hammerfest bietet. Dampfer und Segler aus England, Holland und Deutschland bringen der Stadt allerlei Waaren, Erzeugnisse unserer Industrie; da liegen kornbeladen russische Schiffe aus Archangelsk vor Anker, und nordländische Jachten fahren hinaus und herein und flattern mit ihren weißen Segeln. Für alle ist aber die Zeit ihres Aufenthaltes in Hammerfest nur kurz bemessen; denn ehe der Sommer rasch verfliegt und der eisige Winterhauch die See mit festem Eiswalle verschließt, muß die Ladung an Thran und gedörrten Fischen geborgen sein, muß die weite Reise nach den Häfen Englands, Deutschlands und des mittelländischen Meeres angetreten werden. Und geschäftiger als anderswo ist aus diesem Grunde hier der Geschäftsmann. Mit raschen Tritten schreitet auf seinem Schiffsdecke der russische Kaufherr einher, von einem norwegischen Händler begleitet; rasch wird der Kaufpreis bestimmt; ungeduldig streicht der Russe dann und wann seiner langen Bart; denn soeben laufen einige Seelappen in ihren offenen Booten in den Hafen ein, und jetzt gilt es, an sie heranzukommen und ihnen die Ladung, die bald aus gedörrten Fischen, bald aus thrangefüllten Tonnen besteht, abzuhandeln, ehe ein unerwünschter Concurrent erscheint und den Preis erhöht.

Der Seelappe sitzt an dem Ruder in seinem weißen bordirten Wammse von „Wadmel“ (eine Art dicken wollenen Zeuges) und [481] richtet in seiner weichen Sprache Befehle an seine Ehefrau, welche den Kopf mit der hellgrünen, in eine Spitze zurückgezogenen Haube aufmerksam gegen das Land wendet, ebenso erfahren in den Kunstgriffen des Segelns wie ihr Ehemann. Auf den Schiffsbrücken und in der Zollbude herrscht viel größere Regsamkeit, und oft beleuchtet noch die Mitternachtssonne ein äußerst bewegtes Handelstreiben; es ruht nimmer, so lange die Sonne wärmend vom Himmel Finnmarkens strahlt, und es gleicht in der That einem Bergstrome, der in unaufhaltsamem Brausen vorwärts stürzt, wie von der Ahnung des nahenden Frostes getrieben, der ihm Erstarrung und Stocken bringt.

Die Meridiansäule bei Hammerfest.

Die Kaufleute Hammerfests rüsten jährlich auch viele Fahrzeuge aus, um in der Gegend von Spitzbergen und Nowaja-Semlia den Walrossen, Seehunden und Renthieren nachzujagen. Die Besatzung dieser Schiffe besteht fast ausschließlich aus nach Hammerfest übergesiedelten Finnen. Die meist rohen, unerschrockenen und widerborstigen Gesellen sind wie gemacht für die rauhe Härte jener Eisgegenden, wo sie die Hälfte des Jahres in stetem Kampfe mit großen Beschwerlichleiten und Gefahren aller Art zubringen. Auch auf den vielen Jachten, die von den Handelsleuten der Stadt zur Jagd nach dem „Haakjorring“ ausgerüstet werden – einer Art großen Haifisch, der zwischen Spitzbergen und Beeren-Eiland um seiner Leber Willen gefangen wird, die einen vorzüglichen Thran giebt – besteht die Besatzung aus Finnen. Hammerfest ist der Sitz des Amtmanns von Finnmarken; es wohnt daselbst auch der Polizeimeister, der Richter und der Arzt. Die meisten europäischen Staaten sind daselbst durch Viceconsuln vertreten, und es werden zu diesen Aemtern Kaufleute der Stadt ernannt; nur Rußland hat einen hierher gesandten Consul mit festem Gehalt.

In Hammerfests Straßen und Umgebung bietet sich den Reisenden Gelegenheit, mit den Lappen, dieser alten Bevölkerung Finnmarkens, deren Kopfzahl gegenwärtig etwa 1700 beträgt, Bekanntschaft zu machen. Je nach ihrer Lebensart und ihrem Aufenthaltsort werden sie Seelappen oder Berglappen genannt. Die letzteren leben von ihren Renthierheerden und streifen als Nomaden umher, die Seelappen sind dagegen am Meere ansässig, treiben Fischfang, auch ein wenig Viehzucht und wohnen in Erdhütten, den sogenannten Gammen, oder bauen sich ein gezimmertes Haus, wenn ihr Vermögen dies gestattet. Die Seelappen sind eigentlich nur verarmte Berglappen, die sich aus Mangel an Renthieren als solche nicht ernähren konnten und deshalb allmählich nach der Seeküste hinabzogen. Soll ein Berglappe als selbstständiger Mann von seiner Renthierheerde leben, so muß diese mindestens 200 Stück zählen.

In Betreff der Lappen herrschen im Auslande die seltsamsten Vorstellungen. Geht man auch nicht mehr so weit als vor 100 Jahren, wo Knud Leems in seiner Beschreibung erzählte, es gäbe Leute, welche glauben, die Lappen Finnmarkens seien ganz behaarte Menschen und hätten nur ein Auge inmitten der Stirn, so finden sich gewiß doch noch Viele, die sich diesen Theil der norwegischen Bevölkerung als

Hammerfest am Nordcap.
Nach einer Photographie auf Holz übertragen.

[482] einen überaus häßlichen und unwissenden Volksstamm denken. In Wirklichkeit aber findet man bei denselben nicht selten männliche und weibliche Individuen von besonderer Schönheit; denn die früher allerdings vorhanden gewesenen Merkmale der vorstehenden Backenknochen, der etwas plattgedrückten Nase, der dünnen Lippen und schiefliegenden Augen sind durch zahlreiche gemischte Ehen zwischen Norwegern und Lappen mehr oder weniger verschwunden. Will man echt lappische Gesichter sehen, so muß man dieselben schon im schwedischen Lappmarken, unter norwegischen Berglappen und den Lappen im Stifte Drontheim suchen. Der niedrige Wuchs, sowie der Mangel an Reinlichkeit hat unzweifelhaft dazu beigetragen, die Lappen in den Ruf der Häßlichkeit zu bringen; dazu kommt noch ihre wenig schöne, aber der Beschaffenheit des Klimas sehr angemessene Kleidung, obwohl die Eigenthümlichkeit derselben ein gewisses malerisches, den harten und rauhen Umgebungen entsprechendes Gepräge nicht vermissen läßt (vergl. Abbildung auf S. 480). Das wichtigste Kleidungsstück ist ein geräumiges meist weißgräuliches Wamms von „Wadmel“ mit emporstehendem Kragen, zugeschnitten wie ein Mannshemd; der Langschnitt desselben ist an der Brust mit Borden gefärbten Tuches besetzt.

Zum Putzen werden auch blaue, grüne, braune und hochrothe Wammse von feinem Tuche getragen, die an den Säumen und Schultern immer ausgestickt und an den Händen sowie den unteren Theilen mit anderfarbigen Tuchstreifen, meist gelben oder blauen und rothen, geschmückt sind. Unter dem Wammse tragen sie im Winter einen Schafpelz mit der Wolle nach innen, unmittelbar am Leibe; denn Leinwand gebrauchen sie nur selten. Das Ganze wird von einem breiten, ledernen Gürtel umspannt, der das Wamms etwas emporhebt, so daß es oben in Falten über den Gürtel hinausfällt; an diesem hängen sodann auch die Schlüssel und das Messer, welches auch als Handaxt gebraucht wird. Die Beinkleider sind ebenfalls von ungefärbtem „Wadmel“, unten eng und so lang, daß sie in die sogenannten „Komagen“, eine Art Halbstiefeln, eingebunden werden können. Diese Komagen werden für den Sommer und den Fischfang von Kuhleder, für den Winter aber von dem Kopffelle des Renthieres genäht und mit einem selbstgewebten langen und breiten Wollenbande so fest zusammengebunden, daß kein Wasser eindringen kann. Auch die Beinkleider werden um die Hüften mit einem Bande zusammengeschnürt. Da die Lappen keine Strümpfe gebrauchen, werden die Schuhe mit einer Art Gras gefüllt, das eigens dafür eingesammelt und präparirt wird, um es geschmeidig und weich zu machen. Auf dem Kopfe tragen sie eine Mütze mit einer Quaste und einer rothen oder gelben Tuchborde geziert. Die Mütze hat in den verschiedenen Gegenden eine andere Form, bald läuft sie spitz nach oben aus, bald ist sie mit viereckigem Hutkopfe, wie eine polnische, versehen. Um den Hals haben sie ein leinenes Tuch, dessen Enden zu einem Beutel zusammengenäht sind, in dem sie kleine Dinge aufbewahren, z. B. das Feuerzeug, den Geldbeutel etc., während größere Sachen in den Busen und in die Falten des geräumigen Wammses gesteckt werden. Zur Wintertracht und auf Reisen sind sie mit Pelzen von Renthierhäuten versehen.

Der Lappe ist freundlich und gutartig von Gemüth; er ist auch nicht ohne geistige Anlagen, wie sich denn auch die meisten Lappen in den Seedistricten über Alles, was zum täglichen Leben gehört, in der norwegischen Sprache ausdrücken können. Unbekannt mit den meisten Lebensgenüssen, von einer unbezwingbaren Natur umgeben, in Armuth versunken, besitzen diese Menschen jenen tief-stillen Sinn, der selbst die schwersten Mühen und Entbehrungen mit unerschütterlicher Ruhe auszuhalten vermag. Im Uebrigen genießen sie denselben Schulunterricht wie jeder andere Norweger und lernen die norwegische Sprache in der Schule.

Thomas von Westen war es bekanntlich, welcher bei den Lappen die letzten Ueberreste des Heidenthums ausrottete, indem er zu diesem Zwecke (1714 bis 1722) mehrere Reisen nach Finnmarken unternahm, Lehrer und Missionäre einsetzte und die Götzenbilder entfernte. Der Religionsunterricht wurde sodann bis 1774 in lappischer Sprache, von dieser Zeit ab norwegisch ertheilt und hierauf in den nächsten fünfzig Jahren das Norwegisiren fortgesetzt. Die Missionswirksamkeit hörte nun auf, aber das allmähliche Verschwinden der lappischen Bücher war der religiösen Entwickelung dieses Volkes nicht günstig, weil es nicht verstand, was es in der ihm fremden norwegischen Sprache las. Man kam daher seit 1837 wieder auf den Unterricht in lappischer Sprache zurück, aber es leben noch ältere Männer und Frauen, die bei dem erstmaligen norwegischen Jugendunterricht vollständig unwissend geblieben sind. Kein Wunder daher, daß es vor nicht langer Zeit sogar noch einen heidnischen Lappen gab, freilich ein alleinstehendes, aber immerhin interessantes Beispiel inmitten des neunzehnten Jahrhunderts.

Von diesem europäischen Heiden, einem Berglappen, wird erzählt, daß er vor etwa dreißig Jahren in einer nicht weit von Hammerfest befindlichen Pfarre lebte und am Gestade einer Bucht einen aufrecht stehenden Stein als seinen Götzen verehrte. Alljährlich, wenn er mit seinen Renthieren vom Hochgebirge nach den Inseln an der Küste gezogen kam, brachte er dem Steine in vollem Ernste auf alte heidnische Weise Opfer dar, in der Ueberzeugung, der Götze könne ihm Glück oder Unglück in Bezug auf die Renthierzucht bringen.

Dieser Berglappe hieß Rastus, und es ist möglich, daß er noch lebt. Wie alle Lappen war er in seiner Jugend getauft und in der ihm unverständlichen norwegischen Sprache confirmirt worden. Nach der Confirmation warf er sein Buch weg und opferte seinem Götzen. Nun war es in jener Zeit den norwegischen Berglappen noch erlaubt, ihre Heerden im Winter über die Grenze auf das russisch-finnländische Gebiet zu treiben. Wenn nun Rastus im späten Frühjahre wieder von dort nach der norwegischen Küste übersiedelte, wo sein Götze stand, kaufte er jedesmal vorher etwas Butter und Branntwein, darin bestand das darzubringende Opfer; denn mit der Butter salbte er zuerst den Kopf des Götzen, und goß dann über denselben den Branntwein aus, weil er wahrscheinlich aus eigener Erfahrung wußte, daß ein Schnaps nach fetter Speise etwas Angenehmes ist. Längere Zeit hindurch war denn auch Rastus Alles nach Wunsch gegangen; der Götze schien zufrieden; denn die Renthiere warfen oft Zwillinge und die Heerde nahm zu.

Da ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Als Rastus einst im Frühjahr wiederum mit seiner Renthierheerde gegen die Küste kam, hatte er entweder keinen Branntwein aus Finnland mitgebracht oder der Versuchung nachgegeben und ihn selber getrunken. Das wäre durch die Mühseligkeiten dieser Wanderungen erklärlich, auf denen die Berglappen oft Weib, Kinder, Renthierkälber und kleine Hunde über die großen, eiskalten und reißenden Bergströme tragen müssen. Genug, der Götze sollte sich diesmal mit dem Buttertractamente begnügen. Er rächte sich aber für diese Vernachlässigung grausam genug; denn als Rastus nach vollbrachtem Opfer seine Heerde an einem steinigen Abhange dahintrieb, ganz nahe dem Berge, an dessen Fuße der Götze stand, zog plötzlich ein Gewitter herauf. Der Blitz schlägt in die Bergspitze, und eine Lawine herabrollender Steine zerschmettert zwei der besten Renthiere. Nun gehörte Rastus nicht zu den sanften Charakteren, sondern war sogar berüchtigt wegen seines heftigen Gemüths. Daß ihn der Götze eines elenden Schnapses wegen so furchtbar strafen wolle, das hieß dem Rastus mehr bieten, als sein Fleisch und Blut vertragen konnten. Von unbezwinglicher Wuth ergriffen, riß der Rasende die Ueberreste seiner Thiere aus dem Steinhaufen hervor und schlug die blutigen Fleischstücke dem Götzen in’s Gesicht, indem er schrie: „Da hast Du, was Du selbst geschlachtet hast, aber von diesem Tage an sollst Du nimmermehr Opfer von meiner Hand kosten.“ Dies geschah, wie gesagt, vor etwa dreißig Jahren. Vielleicht hat das Ereigniß dazu beigetragen, Rastus so weit zu bekehren, daß er als Christ sterben wird oder gar schon gestorben ist, und also jener Götze der letzte gewesen, dem ein Lappe seine Anbetung gewidmet hat.

Der Reisende, welcher in der Sommerzeit nach Hammerfest kommt, unterläßt es meistens auch nicht, das Nordcap zu besuchen, das nördlichste Vorgebirge Europas. Das Nordcap liegt auf der Magerinsel, die durch einen engen Sund von dem festen Lande getrennt ist. Seine Entfernung von Hammerfest beträgt etwa fünf Meilen, und von hier gehen wöchentlich mehrere Dampfschiffe zum Nordcap.

Das Vorgebirge fällt fast senkrecht in’s Eismeer ab und kehrt trotzig seine harte Wand gegen die tobenden Wellen, welche der Nordwind ihr entgegenpeitscht. Wer hier einsam steht, den unendlichen Spiegel des Eismeeres vor Augen und das dumpfe Dröhnen der Brandungen unter den Füßen, der wird mächtig ergriffen von einem ernsten, fast überwältigenden Gefühle der Größe und Erhabenheit dieser sonst so notdürftigen und kargen Natur.



[483]

Das deutsche Reich und die öffentliche Gesundheitspflege.[3]

2. Die Bedeutung der Epidemien im modernen Staat.

Von Seiten Derjenigen, welche sich herausnehmen, ihren Göttern eine menschliche Sprache zu verleihen und sich von ihnen sagen zu lassen, was sie selbst am liebsten hören, wird die im Folgenden geltend zu machende Auffassung der Volksseuchen stets Angriffen und Zweifeln ausgesetzt bleiben. Wenn noch in den jüngsten Tagen ein so feiner und tiefer Denker wie Graf Moltke ernstlich Worte findet zur Stütze der Meinung, daß „der Krieg ein notwendiges Glied in der göttlichen Weltordnung“ sei, so unterliegt es keinem Zweifel, daß schwächere Köpfe in großer Anzahl sich noch heute bei dem Gedanken behaglich fühlen, daß auch die großen Volkskrankheiten Gottesschickungen seien, bestimmt, „die Welt nicht in Fäulniß gerathen, sie nicht im Materialismus sich verlieren zu lassen und die menschlichen Tugenden zu stärken“.

Wer aber das tausendfältige Elend einer längeren Epidemie jemals durchlebt hat, der mußte mit Trauer wahrnehmen, daß die sparsamen Tugendblüthen, welche durch diese Geißeln der Menschheit gezeitigt werden, vollkommen unter einer Masse schlimmster Leidenschaften ersticken; denn in den Tagen der Epidemie wächst die Eigensucht übermächtig, und es wendet sich der Nächste vom Nächsten, der ihm den Todeskeim zu überliefern droht, kalt und mit Grausen ab, oder er erhebt gar zur Abwehr gegen ihn die brudermörderische Hand.

„Laßt uns sorgen,“ so konnten sich die Regierungen aller Zeitalter nach dieser oder jener Epidemie zurufen, „daß die Ueberlebenden bald wieder zu Menschen werden.“

Trotzdem gehört das Aufrechterhalten der Meinung, daß die epidemischen Krankheiten direct göttlichen Ursprunges seien, nicht zu den Unbegreiflichkeiten, wenn man im Auge behält, daß es gewissen Verkündern angeblich göttlicher Weltordnungen von jeher mehr auf den Erfolg als auf den Beweis ihrer Behauptungen ankam. Die Staatenlenker älteren Stils konnten eben nur dieser einen Beschwörungsformel die Kraft zutrauen, aufgeregte Massen zu beruhigen und ein entsetzt aus einander fliehendes Volk zusammen zu halten. Wie in andern Fällen so unendlich oft, so bekleidete sich auch diesem inneren Feinde gegenüber die bankerotte Staatskunst mit dem Deckmantel der Religion.

Zürnende, beleidigte Götter mußten es sein, welche die menschenmordenden Seuchen auf lästig gewordene Völker herabsendeten; die gegen das Gebot der Priester und Propheten ungehorsamen Sterblichen waren selbst schuld daran, wenn der glühende Rachepfeil zugleich mit dem Frevler auch den Unschuldigen niederstreckte. Durch Buße, Umkehr und völlige Unterwerfung allein – so will es der Autoritätsglaube noch heute, wie zur Zeit der ägyptischen Plagen – wurde die Hoffnung gegeben, den göttlichen Zorn von sich und den Seinigen abzulenken.

So geängstigt, lernte der Mensch die ungeheuere Ungerechtigkeit des Massensterbens zwar nicht begreifen, aber doch ruhig dulden. Er begrub, was seines Lebens Freude gewesen war, und nagte an dem selbstsüchtigen, elenden Trost: „Wen's trifft, den trifft's.“

Auf die Dauer aber konnte die staatspriesterliche Weisheit sich doch nicht mit der Versicherung ganz abfinden, daß jener Wille, ohne welchen kein Sperling vom Dache und kein Haar vom Haupte fällt, nicht blos der Wille eines mächtigen, sondern auch der eines weisen und liebenden Wesens sein sollte.

Nun mußte das „böse Princip“, mußte der fratzenhafteste Fatalismus, der ganze astrologische Wust des Orients herbeigezogen werden, um den Widersinn mit dem Charakter absolut unabwendbarer, mystischer Naturerscheinungen zu umhüllen.

Dieses und jenes große Vieh- und Menschensterben war eingetreten, als Sonne und Mond sich verfinstert hatten; – böse Fieber entvölkerten ganze Inseln, während gleichzeitig ihre erloschenen Vulcane aus neuen Kratern zu arbeiten begannen; – der grause „schwarze Tod“ zog über die ganze alte Welt, als in China wochenlang die Erde gebebt und verderbenschwangere, giftige Dünste sich über Länder und Meere verbreitet hatten. Kometen und Meteore, vulcanische Erscheinungen, Stürme, Regengüsse und Flußaustretungen wurden mit größerer oder geringerer Genauigkeit gebucht und mit dem Ausbruche epidemischer Erkrankungen in unmittelbare Beziehung gebracht.

Wir müssen aber dabei dem Mißverständnisse vorbeugen, als sei mit dem Hinweise, daß die neuere Wissenschaft den Seuchen gegenüber ihr Hauptaugenmerk auf andere Punkte richtet, gleichzeitig auch die Bedeutungslosigkeit jener Naturvorgänge ausgesprochen. Noch lange wird die Entscheidung darüber ausstehen ob mit der Erforschung der uns vor Augen liegenden Verhältnisse des Kranken und seiner nächsten Umgebungen Alles erklärt sei, ob in dem Zusammenhange kosmischer Erscheinungen mit den Massenkrankheiten kein Korn objectiver Wahrheit gesucht werden dürfe.

Erst durch das im Zusammenwirken der Meteorologie mit der Medicin und der Landwirthschaft, durch die Ausdehnung der wissenschaftlichen Beobachtungsstationen, wie von Alex. von Humboldt sie für einzelne Zwecke begründet und durchgesetzt hat, über die ganze Erde erst durch diese und andere Mittel wird es künftigen Geschlechtern möglich sein, den ursächlichen Antheil, welchen die außerhalb des Menschen sich abspielenden Vorgänge etwa an der Entstehung der Epidemien haben, richtig zu würdigen

Das wichtigste Untersuchungsobject auf dem Gebiete der Epidemiologie bleibt aber einstweilen der Mensch als Einzelwesen und sein Zusammenleben in Genossenschaften. Die Frucht der Erkenntniß, daß in erster Reihe wir Erdbewohner selbst die Schuld um Ausbruch voll Massenkrankheiten tragen, reifte langsam, und der Boden, auf dem sie wuchs, wurde reichlich mit unschuldigem Blute gedüngt. Als den feindlichen Göttern und Götzen ihre unheimliche Macht entglitt, als der Mond und die Planeten, die Sonne und das Erdinnere nur noch einen bedingten Antheil an der Seuchenerzeugung haben sollten, da waren es zunächst die Brunnenvergifter und Beschwörer, die Hexen und Juden, die für Rinder- und Menschenpest, für Epidemien von Fiebern, Blattern und englischen Schweiß mit Leib und Leben zu büßen hatten. Es war ja durchaus staatsklug, gerade diese Theorie zu begünstigen den gehorsamen und gläubigen Theil der Menschheit, vor allem aber die Machthaber selbst von aller Mitschuld freizusprechen und dem mit dem Teufel im Bunde stehenden Gesindel um so eifriger und massenhafter den Proceß zu machen, als für manche etwas großartigere Epidemien die Zahl der Verdächtigten noch viel zu klein erschien. Besonders grell traten dergleichen Mißverhältnisse hervor zur Zeit von Kriegs- und Hungersnöthen. Mit dem Sprüchwort:

„Krieg, Pestilenz und theure Zeit,
Ist das eine da, ist das and’re nicht weit“ –

trösteten sich resignirt die Völker; Jahrhunderte hindurch fiel es Niemandem ein zu fragen, ob es sich hier um Ursachen und Wirkungen handelte, und ob der Krieg, der Hunger oder die an sie gebannten Seuchen mehr Opfer forderten

Aus der Neuzeit fehlen uns nun genauere Angaben über diese Verhältnisse nicht ganz, und sie lehren zunächst, daß es noch keinen Krieg gegeben hat, an dessen Zerstörungswerk die ansteckenden Wundkrankheiten und der Kriegstyphus, die Ruhr, der Skorbut nicht einen bedeutenderen Antheil genommen hätten als die raffinirtesten Verbesserungen der Feuerwaffen. Im Krimkriege verlor die französische Armee ein Drittel ihres Gesammtbestandes: von diesen 95,615 Mann, welche ihr Leben einbüßten, fielen nur 10,240 vor dem Feinde; etwa ebenso viele Verwundete erlagen in den Hospitälern; über 75,000 aber starben an epidemischen Krankheiten. Schreckenerregend ist auch noch das Zahlenverhältniß von 97,000 Todesfällen auf den Schlachtfeldern gegen 184,090 durch Seuchen und Krankheiten, wie es sich im amerikanischen Secessionskriege herausstellte. – Ist es aber Angesichts dieser Zahlen noch möglich zu leugnen, daß die Bedingungen derartiger Epidemien überwiegend menschliche sind, wenn wir erfahren, daß während unseres letzten französischen Feldzuges aus 17,572 vor dem Feinde gefallene und 10,710 an Wunden nachträglich erlegene nur noch 12,253 durch Krankheiten und Seuchen hingemordete Soldaten kommen? Hier liegen Beweise vor, daß ein Staat, dem seine Armee genügend viel werth ist, durch ein gutes Sanitätswesen die epidemischen Gräuel früherer Kriege wenigstens abschwächen, wenn auch leider nicht verhindern kann.

Noch viel versöhnendere Vorstellungen erregt uns die Thatsache, [484] daß selbst in weiteren Kreisen das Interesse an der Verhütung sonstiger Nothstandsepidemien sich stark zu regen beginnt. Den Erfahrungen gegenüber, die Deutschland gelegentlich seiner letzten Hungerseuchen (1848 in Oberschlesien, 1852 im Spessart, 1868 in Ostpreußen) zu machen hatte, dürfen wir darauf stolz sein, daß es im vorigen Jahre möglich war, die öffentliche Aufmerksamkeit rechtzeitig auf die ernst bedrohten Kreise der schlesischen Provinz zu lenken und durch thatkräftige Maßregeln den Ausbruch des Hungertyphus zu verhüten Im Schooße eines geeinigten, zu Mitleidsspenden willfährigen Volkes, im Gebiete eines, wenn auch nur in einzelnen Theilen wohlhabenden, aber von Eisenbahnen durchzogenen Staates darf das massenmordende Gespenst des Nothstandstyphus nicht mehr beobachtet werden.

Man hat sich längst darüber geeinigt, daß die Regierungen für das Hereinbreche der sogenannten großen Wanderseuchen – der Pest, des Gelbfiebers und der Cholera – verantwortlich zu machen sind. Freilich gestaltet sich die Aufgabe, diese zu bekämpfen oder ein Gemeinwesen vor ihnen zu schützen, für die Staatsbehörden ganz anders, als das Publicum im Augenblick der Gefahr sich denkt.

Man kann nicht Krieg führen, ohne einen auch zur Friedenszeit dauernd und unablässig arbeitenden Generalstab; man kann keine Seuchen bekämpfen, ohne Vorbereitungen und durchdachte Pläne.

Hierin wird die Auffassung des weitsichtigen Staatslenkers sich am deutlichsten von der des simplen und sorglosen und von dem unklugen Gebahren des gemeinen Mannes unterscheiden. Während der Letztere in seiner Angst verlangt, daß man die ganzen heimgesuchten Städte und Dörfer, ja wo möglich die Kranken selbst vernichte und verbrenne, muß ihm erwidert werden können, daß man längst Mittel zur Zerstörung des Krankheitsgiftes mit gutem Erfolge gesucht und erprobt habe; während Jener den Boden, den er bewohnt, den Brunnen, aus dem er trinkt, die Luft, die er athmet, beim Herannahen der Cholera in feiger Flucht verlassen will, muß schon der Beweis zur Hand liegen, daß man seit Jahre seine Sorglosigkeit überwachte und die schlimmsten Schädlichkeiten und Verunreinigungen beseitigte, daß er sicherer hier bleibt, als daß er anders wohin flieht. Wenn ferner der Einzelne verstört darüber grübelt, was er zum Schutze seiner Person thun und wie er den gefürchteten Ansteckungsstoff von sich fern halten soll – kann ihn eine allgemein durchgeführte, einsichtsvolle Maßregel, wie jetzt schon vor den Blattern, so vielleicht in Zukunft auch vor anderen Seuche schützen. Und während endlich der Philister noch lärmend fordert, daß man die Landesgrenzen absperre und die Häfen schließe, lasse man ihn mit Beschämung lesen, daß bereits muthige und mit ihren Aufgaben vertraute Aerzte und Executivbeamte – die Eclaireurs dieser Kriege – im Seuchengebiet und an dessen Umgebung thätig sind und hier erfolgreicher wirken, als es eine Armee von Paßwächtern und ein ebenso kostspieliger wie nutzloser Militärcordon an der eigenen Landesgrenze thun können.

Um diese Aufgabe zu lösen, bedarf eine Nation allerdings nicht nur jenes weisen, allzeit thätigen Generalstabes im Inneren, sondern auch eines gewissen Ansehens nach außen. Es handelt sich hier aber um politische Aufgabe im edelsten Sinne, und es muß in den meisten Fällen trefflicher und ruhmvoller erscheinen, das Vaterland vor einer heranrückenden Pest- oder Cholera-Epidemie zu behüten, als in der Südsee ein paar armselige Seeräuber zu züchtigen oder irgendwo eine Flottendemonstration zu machen. Siegt indeß die Wanderseuche, wie es oft geschah und auch in Zukunft jeweilig geschehen wird, so drängen sich neue Aufgaben in den Vordergrund; zunächst wohl die des Prüfens neuer Abwehrmittel, die der Ergänzung oder des Ersatzes der als nicht ausreichend erkannten Kampfkräfte. Häufig auch wird ein durch das Nationalunglück geschärfter Blick in das Innere des Staatsgetriebes wunde und faule Punkte entdecken, die sonst noch lange unbemerkt geblieben wären. Friedrich Wilhelm der Vierte that im Jahre 1848 die gewiß nach mehreren Seiten merkwürdige Aeußerung: „Die Cholera erreichte immer in den Jahren ihre größte Heftigkeit und Verbreitung, wo die meisten Eide gebrochen würden.“

Man soll uns nicht damit beruhigen wollen, daß die nie ganz erlöschenden Epidemien – Masern, Scharlach, Croup, Diphtherie, Keuchhusten, Unterleibstyphus – in den Culturstaaten fast nie über zehn Procent der Todesfälle bedingen, und daß die außerordentlichen Seuchen unserer Jahrhunderte sich mit Bruchtheilen von Procenten der Bevölkerung zu begnügen pflegen. Nur der Wunsch, zunächst das Dringendste verständlich zu machen, hat uns bisher davon schweigen lassen, daß nicht blos die gewöhnlich besprochenen Epidemien zu den vermeidbaren Volkskrankheiten gehöre, sondern auch viele Schul- und Berufskrankheiten, wie z. B. die Sommerkrankheiten der Neugeborenen und vor allem auch die Lungenschwindsucht. Einer ideellen Auffassung werden die Ziele eines staatlichen Gesundheitsamtes – denn dieses verglichen wir mit dem weisen, immer thätigen Generalstabe dadurch nur anziehender und dankenswerther erscheinen, daß sein segensreiches Wirken für das allgemeine Wohl auch in den epidemielosen Friedenszeiten ein sichtbares und lohnendes sein kann.




Ungleiche Seelen.

Novelle von R. Artaria.
(Fortsetzung.)
5.

„Es ist doch wunderbar,“ sagte Erich, als er spät am andern Abend nach einem unruhig durchschweiften Tag an Bartels’ Seite eilig die Treppen zum Zimmer der kranken Matrone emporstieg, „wochenlang rückt das Leben nicht von der Stelle und dann macht es sich plötzlich an einem einzigen Tage mit den widersprechendsten Empfindungen so nachdrücklich fühlbar, daß man –“

Er hielt inne und biß sich die Lippen.

Der Alte warf ihm einen unfreundlichen Blick zu.

„Wirst wohl soviel Zeit von Deinem Minnedienst erübrigen können, daß Du die Frau da oben sterben sehen kannst,“ sagte er mürrisch. „Das Geschäft läßt sich nicht aufschieben. Und eine Nachtwache darf sie Dir wohl werth sein.“

Eine Nachtwache! Erich ballte krampfhaft die Hand; sein Herz hämmerte mit heftigen Schlägen; es war ihm verzweifelt zu Muthe. Von seinen Nächten, deren er gern manche um der Kranken und Ninettens willen durchwacht hätte, sollte er gerade diese einzige, ersehnte, unersetzbare hingeben, an der seine ganze Seele hing. Es war ihm, als müsse alles zu Ende sein, wenn ihn diese Stunde nicht an Leontinens Seite fand.

Aber die heißen Wellen seines Empfindens dämpften sich merklich, als die Beiden über die Schwelle des Krankenzimmers und in den Bannkreis des großen Räthsels traten, vor dem alles Irdische stille steht. Es war kühl und fast schon dunkel in dem großen Schlafgemach; allerhand seltsamer Hausrath stand darin gedrängt neben einander, alte schadhafte Prunkmöbel aus dem Vorderhaus mit verblaßtem Damast und geschwärzten Vergoldungen, dazwischen einfache Strohsessel und in der Ecke das große altersdunkle Himmelbett. Auf dem Lehnstuhl davor keuchten die halberstickten Athemzüge der armen gequälten Brust, die dort krumpfhaft nach Luft rang; Nina knieete im Schein der kleinen Lampe vor der Kranken und hielt sie verzweiflungsvoll in stützenden Armen aufrecht. Als müsse sie für die Mutter Luft schöpfen, so heftig und angstvoll hob und senkte sich ihr junger Busen, und ihre Augen standen voll Thränen, als sie jetzt den Kopf nach den Eintretenden wandte. Ein Blick voll leidenschaftlicher Beredsamkeit und stummflehender Bitte traf, Erich bis in’s Herz hinein; er eilte erschüttert näher, die abgezehrten Hände der Kranken mit den seinigen fassend.

Bei seinem Anblick ging ein Leuchten durch ihre Augen; sie versuchte, mit einem Verziehen der bläulichen Lippen, das Lächeln bedeuten sollte, zu verstehen zu geben, es sei nicht so arg, und litt es gerne, als Erich’s kräftige Arme sie empor und in eine bessere Lage hoben.

Nina, mit dem Hellsehen des Herzens, das ihrer liebevollen Natur in hohem Grade eigen war, und der sanften Grazie, welche Dienstleistungen in Liebkosungen verwandelt, ordnete rasch und geschickt die Kissen, und schmeichelte der Mutter ein paar Löffel

[485]

Der Maler auf der Studienreise.
Nach dem Gemälde von E. Stammel.

[486] kühlender Flüssigkeit ein; dann knieete sie wieder minutenlang vor ihr und beobachtete, während alle im Zimmer schwiegen, in athemloser Spannung, wie allgemach die Heftigkeit des Kampfes abnahm und die Brust sich leiser hob und senkte. „Es wird besser!“

Sie wandte den Kopf nach Erich und sah ihn mit einem freudig-staunenden Blick an, worin groß geschrieben stand, daß seine Gegenwart das Wunder gewirkt habe. Der Tod war für das Kind nur ein Wort; sie kannte seine Zeichen nicht und fühlte nicht seine unverrückbare Gegenwart. Die Hoffnung kam augenblicklich, um ihre Angstthränen zu trocknen – es war ja schon schlimmer mit der Mutter gewesen und immer wieder besser geworden.

Erich neigte sich über die Frau.

„Es geht vorüber, Donna Erminia,“ sagte er herzlich, „noch eine Viertelstunde, und Sie fühlen sich wohl!“

„Es geht vorüber,“ erwiderte sie man mit einem traurigen Lächeln, „vorüber – und auf immer. … Aber ich möchte Ihnen noch Etwas sagen, … Signor Enrico … noch einen Moment … dann kann ich wieder.“

Er drückte ihr die Hand: „Schonen Sie sich!“

Ninette stand leise auf und trat zu Bartels an das letzte Fenster; sie öffnete es weit und schlug die Jalousien zurück, daß die laue Abendluft eindrang; dann lehnte sie sich, der Mutter den Rücken drehend, gegen den Flügel und berichtete leise von der großen Todesangst der letzten Stunden.

„O, Signor Giovanni, wie sie auf einmal blau im Gesicht wurde und so angstvoll rief: Luft! Luft! und dann der Husten – und Blut auf den Lippen, viel, viel mehr als sonst! Armes Herz, wie es schlug, so, wie ein Hammer! Und ich allein mit ihr, und ich wollte nicht um Hülfe schreie, damit sie nicht noch mehr erschrecken sollte. Endlich – der Madonna sei Dank! – hörte die alte Barbara das Stöhnen und mein Schluchzen, und der liebe Gott gab ihr den Gedanken ein, daß sie gleich nach Ihnen und Signor Enrico lief. Als ich Sie mit einander kommen sah, ach –“ das Uebrige brauchte sie nicht auszusprechen; es lag deutlich genug in dem hellaufglänzenden Blick der Augen, mit dem sie die Hand froh aufathmend auf den Busen legte.

„Unsinn!“ sagte Bartels mit der sauertöpfischen Miene, welche bei ihm Theilnahme und Rührung ausdrückte. „Es ist ja schon wieder vorbei.“ Dann ging er zur Kranken hin, betrachtete ernsthaft ihre entstellten Züge und sagte, wieder zu Ninette gewandt:

„Da ich übrigens einmal hier bin, sehe ich nicht ein, warum ich nicht die Nacht vollends dableiben sollte. Du kannst Dich denn dort auf dem stelzbeinigen Sopha ein bischen ausstrecken und schlafen, Kleine!“

Das pflichtgemäße Dankbarkeitslächeln, welches alle Onkels von jungen Nichten einzuheimsen gewohnt sind, schwebte einen Moment um Ninette’s frische Lippen; dann wandte sie den Kopf ein wenig, und von den dunklen, gebogenen Wimpern halb verhüllt, flog ein warmer Sehnsuchtsblick zu Erich hinüber, der dort schweigend neben der Mutter saß.

Er hielt ihren Puls zwischen seinen Fingern und sah ernsthaft und wachsam aus; er bemühte sich auch, in diesem Augenblick nur praktischer Mensch zu sein; allein während seine Blicke mechanisch dem breiten blassen Streifen Mondlicht folgten, der trotz der kleinen Nachtlampe sein Recht behauptete und auf seinem Wege vom Fenster bis in die hinteren Tiefen des Zimmers bald einen alten Sesselknauf golden aus der Dämmerung schimmern ließ, bald die Umrisse und Verschnörkelungen der bocksfüßigen, spiegellosen Trumeaux mit schwache Lichtern säumte, während er die sämmtlichen helldunklen Studien allein zu beobachten glaubte, und sich vorerst aller andern Gedanken entschlagen wollte, um ruhig zu scheinen, bebte doch unausgesetzt in seinem Herzen die fibernde Erwartung, wo ihn heute der Glockenschlag Elf finden und welche der beiden Gewalten, Liebe oder Tod, die Stunde regieren werde.

Es kostete ihn riesenhafte Ueberwindung, seine Aufregung niederzuhalten und nur der Gedanke, daß eine unabweisbare Pflicht ihn vorerst hier festhielt, gab seiner tüchtigen Natur die nöthige Ruhe und Ergebung in die Situation

„Kommen Sie näher!“

Frau Erminia richtete sich halb in die Höhe und flüsterte leise in Erich’s Ohr:

„Ich muß Ihnen noch sagen … was mir schwer auf dem Herzen liegt.“ Sie holte tief Athem und sah ihn mit flehendem Blick an. „Nina! Was soll aus ihr werden? ... Ich hatte gehofft … es solle mit mir noch ein paar Jahre dauern … nun ist es am Ende … ach!“

Sie schüttelte den Kopf mit dem Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung.

„Regen Sie sich nicht auf!“ ermahnte Erich nochmals. „Und wenn es Sie beruhigen kann, so gelobe ich hier. Was mir möglich ist, werde ich für Nina thun; ich will nicht von hier weggehen bis ich sie in sicherer und guter Umgebung weiß; ich werde für ihr Wohl sorgen, so gut ich es vermag.“

Der Effect dieser Worte entsprach seiner Erwartung nicht.

„Ich werde sie unter Fremden lassen,“ seufzte die Mutter niedergeschlagen, „o das arme Kind, das an die Mutter so gewöhnt war … das nicht einen Tag lang sein kann, ohne Jemanden lieb zu haben! Ach, Signor Enrico …!“

Erich ahnte mehr; als er dachte, was die letzte Lebensangst jetzt der armen Frau auf die Lippen legen wollte, und er erhob sich rasch.

„Verlassen Sie sich auf mein Wort!“ sagte er, ihr herzlich die Hand drückend, „und jetzt ruhen Sie! Ich setze mich auch dort an’s Fenster; wenn es möglich ist, suchen Sie zu schlafen!“

Der Anfall war wirklich vorübergegangen. Eine Stunde noch saßen die Drei flüsternd am offenen Fenster, während die Kranke schlummernd lag. Ninette hatte das liebliche Haupt mit den schweren verschlungenen Flechten und den krausen braunen Stirnlöckchen auf den Arm gestützt; ihre Zähne schimmerten im Mondlicht hell durch die halbgeöffneten Lippen; die großen braunen Augen hingen unverwandt an Erich’s Angesicht; sie horchte selbstvergessen auf seine leisen, freundlichen Reden. Heute Abend war er wieder ganz der Alte, so lieb und vertraulich, wie vor Jahren, und im Gefühl ihres Glücks vergaß sie Sorge und Angst. Sie wußte freilich nicht, welches Hoffnungslicht mit der schimmernden Mondnacht zugleich in seiner Seele hell wurde und wie er den tiefen Schlaf der armen Kranken segnete.

Lange schon hatte er den ungeduldig nach der Westentasche zuckenden Fingern Gewalt angethan; nun endlich konnte die Uhr einmal gezogen werden. Zehn vorüber! Er stand leise auf.

„Ich gehe jetzt,“ sagte er, „da ich Ihnen nichts mehr helfen kann, Nina. In zwei Stunden komme ich wieder, um nachzusehen. Gute Nacht bis dahin!“

Er schüttelte ihr cameradschaftlich und mit dem warmen Blicke die Hand, der ihm so natürlich und einem unerfahrenen Herzen so gefährlich war.

„Ich bleibe hier,“ knurrte Bartels.

„Desto besser!“ dachte Erich erleichtert.

Nina stand einen Moment mit gesenkten Wimpern, während eine leise Röthe über ihr bräunliches Gesichtchen zog. Es war so viel rhythmische Schönheit in dieser sanften Beugung des Kopfes und dem Linienfluß der ganzen feingebauten Gestalt, daß Erich einen Moment überrascht auf sie hinsah. Doch da schlugen sich auch schon wieder die großen braunen Kinderaugen zutraulich auf und sie sagte weich und lächelnd:

„Tausendmal Dank, Signor Enrico – gute Nacht!“

„Glückseliges Omen!“ sagte er zu sich selbst.

Er trat in die laue Nacht hinaus, und ihr Balsamduft legte sich ihm berauschend um Kopf und Sinne. Er hob schweigend die Arme nach dem leuchtenden Firmament empor, und ein Strom von plötzlichem Entzücken überfluthete sein Herz, das er so lange in strenger Zucht gehalten. Er war wie im Traume: die nahe, sichere Gewißheit des Glückes nach so viel bebenden Angstgedanken und diese heftige Erregung erfüllten ihn mit einer so neuen Seligkeit, daß er nicht begriff, wie er früher ohne diese Empfindungen hatte glücklich sein können.

Er mußte sich gewaltsam fassen, um das Nächste zu überlegen. Dort war das Pförtchen, in dessen Nähe er sich zu halten hatte, bis Antonio das Zeichen gab; von dort führte der dunkle Lorbeergang nach seinem Atelier. Würde Sie ihm wohl dahin folgen, wo sie eine Stunde in ungestörter Sicherheit beisammen sein konnten, oder kam sie nur, ihn mit der Gondel zu holen? Wie er jetzt die Thür des hohen, stillen Raumes aufschloß und sein Blick über den mondhellen Estrich nach der tiefen Nische flog, wo im Dämmerlicht unter Brocatdraperien ein höchst anmuthiger Phantasiewinkel mit antiken Stühlen und einem großen, schwerfüßigen [487] Tisch aufgeschlagen war, da schien ihm schon Etwas von Leontinens Gegenwart durch den Raum zu schweben, jenes zauberhafte Parfum ihrer Nähe, an das er nur zu denken brauchte, um augenblicklich völlig im Bann seiner Liebe zu sein.

Leise und vorsichtig räumte er die große Staffelei bei Seite, der Mond schien so hell – Licht brauchte er nicht. Nur einen Strauß weißer Frühlingsblumen stellte er noch vom Fenstersims herüber auf den Tisch und einen Teller voll duftender Orangen; dann trat er hinaus und schloß die Thür hinter sich ab.

Nun hatte er höchstens noch eine Viertelstunde zu warten. Er setzte sich auf die tief im Schatten stehende Bank nahe der Thür und suchte sein ungeduldig klopfendes Herz mit allerhand tatsächlichen Vorstellungen zu beschwichtigen. Er malte es sich aus, wie dunkel das kleine Canälchen jetzt sein mußte, wo Antonio wartete, und wie stille schon das ganze Hotel, bis sich endlich das Seitenpförtchen öffnete und eine leichte Gestalt wie ein Schatten in das Schiff herniederglitt. Dann sah er dieses dunkle Schiff von fernher über die mondglitzernden Wellen kommen; er rechnete die Minuten aus und zählte sie an seinen Pulsschlägen, bis das Schiff da sein konnte; dann eilte er zum Pförtchen.

Alles still – der breite, schwarze Schatten der gegenüberstehenden Mauer deckte den Canal; nur von der Biegung her glänzte grell eine weiße Hauswand, scharf überschnitten von der schwarzen hochgewölbten Bogenbrücke.

Geduld! Sie konnte noch nicht abkommen. Wieder warf er sich aus seine Bank, den Kopf in die Hand gestützt, und sah zu der feierlichen Sternenwelt empor.

Ihr stiller Glanz und der weiche Dufthauch, zusammt seinen eignen überströmenden Empfindungen versenkten ihn bald in allerhand mystische Träumereien. Die ganze Ewigkeit stand ihm leuchtend zu Häupten, und sein eigenes Herz voll Liebe und Sehnsucht war Eins mit dem Weltall und allem Leben der Natur. Er gedachte der unzähligen Menschenaugen, die mit und vor ihm hoffend und wünschend zu den Sternen emporsahen, und in halben, träumerischen Vorstellungen, die in seiner Seele auftauchten und hinzogen, wie droben vor dem Mond die hellen Wolkenflocken, ging ihm der Sinn der alten Fabel vom Weltbildner Eros auf. Hier unter den dunklen Lorbeerzweigen, den heidnischen Mondesglanz vor Augen, der seine silbernen Zaubernetze über Gebüsche und Blüthenbäume warf, wie vor Jahrtausenden, war der rechte Ort dazu, und Erich bekannte sich von ganzem Herzen zu dem Cultus des schönen Gottes. Dies war des Gottes Stunde – –

Da – horch! Ein Ruder von ferne!

Er eilte nach der Thür und sah eben noch eine Barke um die Ecke verschwinden. Elf Uhr war es längst; nun mußte sie kommen. Rastlos und leise schritt er in dem Gange hin und her und rechnete sich es selber vor, daß sie nicht ausbleiben könne; sie hätte ihm ja sonst Nachricht senden müssen; sie wußte ja, daß er wartete – und mit welchem Herzen! Nein, es war unmöglich, daß sie nicht kam.

Mehr als eine Stunde war verstrichen; in Erich dämmerte eine böse Ahnung auf; der Mitternachtsschlag dröhnte dumpf von San Marco herüber, und alle kleinen Glocken wiederholten ihn im Chor; das Mondlicht begann aus dem Gärtchen zu weichen; die Schatten wurden tief und schwarz.

Plötzlich – was war das? Ein Rauschen, näher und näher – es hielt – er stürzte zur Thür.

„Antonio, Du allein? Wo ist die Signora?!“

„Das hat sie mir gegeben, nachdem ich beinahe zwei Stunden gewartet,“ sagte der Alte mürrisch und zog einen Brief aus der Brusttasche, „dann kehrte das Fräulein schnell wieder um und eilte in’s Haus hinein. Befehlen Sie sonst noch etwas, Signor?“

„Nein. Es ist gut; komme morgen früh wieder!“ sagte Erich tonlos und wandte sich ab. Die schlimme Gewißheit, ob auch noch so sicher vermuthet schlug ihn doch gewaltig nieder.

„Vielleicht ist es nur ein Aufschub auf morgen.“ Er raffte sich auf und eilte in’s Atelier, um Licht anzuzünden und den Brief zu lesen. Das Couvert war klein und zierlich; der wohlbekannte Duft entströmte ihm.

„Erich, Erich!“ rief in diesem Augenblicke Bartels vom Vorderhause her. Es klang dringend. Aber Erich hörte nicht; sein Blick haftete auf den wenigen, flüchtig geschriebenen Zeilen:

„Ich kann nicht mehr zu Dir kommen. Seit einer Stunde bin ich N.’s Braut. Es mußte sein und wäre unter allen Umständen so gekommen; nur heute hoffte ich noch frei zu sein. Du siehst, ich bin ehrlich – wirft Du mich nun hassen?

Lebe wohl und glaube, daß ich Dich allein auf dieser Welt geliebt habe.                     L.“

Wie vom Donner gerührt stand Erich ein paar Augenblicke da; es brauchte eine gewaltige Anstrengung, bis er sich von der Wahrheit dessen überzeugen konnte, was seine Augen lasen. Dann überkam ihn eine heiße Wuth; er schleuderte der Brief zur Erde und trat heftig mit dem Fuß daraus. Zorn und Scham über seine Einfalt stürmten in ihm und unsägliche Verachtung einer solchen Scheinseele – aber das war’s nicht allein, ein unerträglicher stummer Schmerz bohrte mit um so schärferen Qualen innerlich, je stärker und wilder er sich dagegen zur Wehre setzte.

„Daß es möglich ist – daß dies möglich ist, nach einer Stunde wie die von gestern … !“

Weiter drangen seine Gedanken nicht, und sie würden vielleicht noch lange von diesem Unbegreiflichen zurückgeprallt sein, hätten nicht rufende Stimmen sie gewaltsam verscheucht. Er unterschied die Klagelaute der alten Barbara, und ihnen voran trat Bartels eilfertig und aufgeregt über die Schwelle.

„Komm herauf“ rief er athemlos; „die Frau liegt im Sterben; sie verlangt nach Dir, eile! Was starrst Du mich so an? Komm, sage ich!“ Und im nächsten Augenblick war er wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Erich raffte sich gewaltsam zusammen

„Menschenloos!“ sagte er. „Es leiden Viele zugleich auf Erden!“

Er trat in das Gärtchen hinaus – theilnahmlos starrten die schwarzen Aeste in die Nachtluft, und vor dem Monde hing eine große finstere Wolke.

Dann stand er ober in dem düsteren Sterbezimmer, und jede persönliche Empfindung in ihm schwieg vor dem Jammer dieses letzten Abschieds. Das müde, eingesunkene Todtengesicht lag dicht an der weichen, warmen, von heißen Thränen überströmten Wange des Mädchens, das mit tausend stehenden Liebesworten die Mutter zu halten und den Tod abzuwehren suchte. Aber er hatte seine Beute sicher gepackt; ein letztes tiefes Aufathmen, noch ein flehentlich bittender Blick auf Erich, mit dem ihre Seele auf die Lippen trat – dann streckte sie sich lang aus, und es wurde ganz still im Zimmer, so schauerlich still, daß es eine Wohlthat gewesen wäre, die seufzenden Atemzüge wieder zu hören.

Mit einem herzzerreißenden Schrei fuhr Nina in die Höhe. Erich fing die Taumelnde in seinem Arme auf.

„Armes Kind,“ sagte er voll tiefen Mitgefühls, „wir sind Beide einsam. Ich will Dein Bruder sein und Dich nicht verlassen.“

Drei Tage später war das äußerliche Leben wieder in seine Geleise zurückgekehrt. Durch die geöffneten Fenster des Sterbezimmers strömte Sonnenschein und Frühlingsluft; die alte Barbara räumte und scheuerte und hatte dabei ein stetes Augenmerk auf „das Kind“ gerichtet, das blaß und still im schwarzen Kleide herumging. Nina sah traurig aus und müde vom vielen Weinen, aber in ihrem ganzen Wesen war schon wieder die besonnene Umsicht, zu welcher die Italienerin rascher zurückkehrt, als die Deutsche. Sie schien gewachsen und älter geworden, wie sie so ernsthaft und Alles bedenkend mit der Alten im Hause schaltete; schöner war sie auch geworden; man sah jetzt, wo das Kinderlächeln verflogen war, so recht den edlen Schnitt dieser sammetdunklen Augen unter der festen Stirn und den süßen Reiz ihrer feingeschweiften Lippen.

„Sie ist wirklich ein Engel!“ pflegte Bartels einige Male des Tages im Tone einer persönlichen Beleidigung zu Erich zu sagen, ohne doch dadurch den gehofften Zank provociren zu können; die wortkarge Geistesabwesenheit des „jungen Menschen“ blieb sich unabänderlich gleich, und wo er den Tag über steckte, konnte man auch nicht erfahren; so hatte es denn Johann Casimir Bartels endlich für zweckmäßig erachtet, mitten am Vormittage einen kleinen Recognoscirungsgang nach der Riva und deren Umgebung hin anzutreten. Von diesem kehrte er soeben mit einem äußerst pfiffigen und überlegenen Gesichte zurück. Da sah er mit großer Ueberraschung beim Eintritte in sein Atelier Erich stehen, der ihm den Rücken zuwandte und eben im besten Zuge war, ein künftiges Büstenpostament mit wuchtigen Schlägen aus dem Rohen herauszuhauen, daß die Splitter ringsum stoben.

Der Alte blieb stehen und nickte vergnügt mit dem Kopfe: „Er macht sich, er macht sich – sieh, sieh! Und nicht einmal [488] verhauen hat er den Block; er stellt sich ja ordentlich wie ein Mensch an.“ Dann trat er auf Erich zu, gab überflüssige Rathschläge und that unnütze Fragen, immer mit einem gewissen Augenzwinkern bis Jener ihn aus etwas unceremonielle Weise ersuchte, zum Teufel zu gehen. Statt diesen Rath zu befolgen, blieb Bartels gerade vor ihm stehen, sah ihm eine Weile starr in die Augen und fuhr endlich los:

„Weißt Du’s denn schon?“

„Was?“

„Daß sie sich verlobt hat?“

„Wer?“

„Nun, Deine Wassernixe, die schöne Melusine oder Helena oder unter welchem Namen diese Species sonst in der Naturgeschichte vorkommt.“

Erich legte den Schlägel hin und wandte ihm ein völlig gleichmütiges Gesicht zu.

„Ja, ich weiß es schon seit einigen Tagen.“

„Und daß sie gestern abgereist sind?“

„In der That?“

„Und – das ist Dir so ganz einerlei?!“

„Vollkommen. So, da ist Dein Block. Wenn ich weiter haue, verderbe ich ihn Dir am Ende.“

Erich verließ eilig das Atelier. Bartels sah ihm erstaunt nach. „Das ist doch die Möglichkeit – so sehen nun die redlichen Leute aus. Man soll doch keinem Menschen mehr trauen. Nun, die Hauptsache bleibt, daß es ihm ‚einerlei‘ ist. Aber ich gäbe Viel darum, wenn ich wüßte, was da vorgegangen ist.“


(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüthen.

Faure's Elektricitäts-Ansammler (Accumulator). Just im Beginne des April, wo man auch bei uns den Leuten allerlei Dinge vorredet, die nicht wahr zu sein brauchen, bedeckten sich eines schönen Morgens alle Mauern voll Paris mit großen Plakaten, welche dem Publicum das nahe Ende der Dampf- und Steinkohlenherrschaft und den Beginn des elektrischen Zeitalters verkündeten. Eine neue Erfindung, der Accumulator von Faure, ermögliche es – so hieß es –, beliebige Mengen von Kraft, da wo man sie billig haben könne, z. B. an großen Wasserfällen, in Form voll elektrischer Spannung „auf Flaschen zu ziehen“ und sie daraus nach Bedarf und Belieben zu entnehmen, um sein Haus zu beleuchten, seine Maschinen, Locomotiven, Wagen und Schiffe zu treiben, sodaß Steinkohlen und Pferdekraft überwundene Standpunkte seien. Wie es scheint, hatte man die Bildung einer großen Actiengesellschaft im Auge und gedachte nach amerikanischem Vorbilde eine Anzahl Gimpel anzulocken, die ihre Gelder einem Zukunftsprobleme darleihen sollten.

Im Uebrigen ist die Erfindung nicht uninteressant und möglicher Weise nach bestimmten Richtungen verwertbar. Sie gehört zu den sogenannten secundären galvanischen Batterien, die vor langen Jahren in Deutschland erfunden und durch den französischen Physiker Gaston Planté zu einer bedeutenden Leistungsfähigkeit gebracht worden sind. Diese Batterien bestehen im Wesentlichen aus Bleiplattenpaaren, die in angesäuertem Wasser hängen und mit einer Elektricitätsquelle verbunden werden. Die zuströmende Elektricität wird gewissermaßen all diesen Bleioberflächen durch chemische Veränderungen, die sie daselbst erzeugen, gebunden, oder richtiger gesagt, es wird durch den Strom eine neue Säule von sehr starker Spannung erzeugt, indem sich auf der einen Seite Bleihyperoxyd bildet, welches mit metallischem Blei einen starken Strom liefert. Das Endergebniß gleicht also einer Aufspeicherung des Stromes, die sich dabei auch in verstärkter Intensität wieder gewinnen läßt. Familie Fauré hat nun verstanden, den Bleiplatten der Planté’-schen Secundär-Batterie eine größere Aufnahmefähigkeit zu geben, indem er ihre Oberfläche mit einer Schicht schwammigen Bleies bedeckte, und auf diese Weise konnte er eine Elektricitätsmenge, welche eine Stunde hindurch die Arbeit eines Pferdes leisten kann, in einer Säule von 75 Kilogramm Gewicht aufspeichern. Man sieht, das ist kein besonders großes Kraftquantum für ein so schweres Magazin, aber Fauré hofft die Leistungsfähigkeit der Säule noch steigern zu können, und dann könnte sie ja wohl ein geeignetes Mittel werden, um z. B. eine elektrische Eisenbahn oder ein Schiff zu treiben. Der berühmte englische Physiker Sir William Thomson in Glasgow bestätigte in der „Times“ vom 9. Juni, daß Herr Fauré ihm in einem solchen Kasten von einem Kubikfuß Inhalt eine Million Fußpfunde Elektricität übersandt habe, welche Kraftmenge anscheinend auf der zweiundsiebenzig Stunden langen Reise voll Paris nach Glasgow keine merkliche Verminderung erlitten habe. Nichtsdestoweniger bleibt die Phantasie, in solchen Behältern die Kraft der Wasserfälle zu verfrachten, sehr utopisch: denn es würde augenscheinlich viel geeigneter sein, sie durch Metallstangen fortzuleiten und die Fabriken, wie wir es schon früher in der „Gartenlaube“ betont haben, so nahe als möglich bei den Wasserfällen anzulegen, wie es ja in Schaffhausen und Bellegarde bereits geschehen ist.





Der Maler auf der Studienreise. (Zu unserer Abbildung S. 485.) In dem zum kühlen Trunke einladenden feinsten Wirthshause eines unserer interessanten Gebirgsstädtchen ist ein seltener Gast abgestiegen – einer jener Zauberkünstler mit Pinsel und Palette, die mit wenigen Farben und Strichen die originellen Volkstypen der Umgebung in täuschender Aehnlichkeit auf dem Papier festzuhalten verstehen. Neugierige Augen ertappten ihn bei dieser Thätigkeit auf seinen Wanderungen durch Wald und Flur; geläufige Zungen trugen rasch diese Kunde von Haus zu Haus, und so hat auch des Wirthes Töchterlein den Herrn Maler durch schöne Worte veranlaßt, sie abzuconterfeien. So ein Maler auf der Studienreise arbeitet schnell; bald stand das Fräulein leibhaftig da auf dem weißen Carton. Draußen im Garten in der schattigen Laube wurden dem Bilde noch ein paar charakteristische Farben und Lichter aufgesetzt, und nun tritt der Künstler mit dem fertigen Werke in das Gastzimmer. Da wird die interessante Lectüre des „Stadt- und Landboten“ sofort unterbrochen und Alle – der Herr Oberförster, der Herr Pfarrer und der Herr Amtmann - blicken, wie gebannt vor Staunen auf das so schnell fertig gezauberte Kunstwerk. – So dachten wir uns die Situation, als wir das heute von uns reproducirte treffliche Bild E. Stammel’s zum ersten Mal erblickten, und die Phantasie des Lesers dürfte bei Betrachtung dieser Scene aus dem lustigen Künstlerleben kaum zu einem andern Resultate gelangen.




Kleiner Briefkasten.


E. D.-O. in Teplitz. Sie fordern uns zu einer Schilderung des in Kuchelbad bei Prag ausgeübten mörderischen Anfalls czechischen Pöbels auf deutsche Studenten auf. Inzwischen haben die Tagesblätter ihren Lesern Schilderungen jenes schmachvollen Vorganges so zahlreich geboten, daß wir unsererseits uns füglich ein Eingehen auf den Gegenstand ersparen können, dies um so mehr, als wir zu der Deutschen-Frage in Böhmen bereits in dem Artikel „Die Deutschen in Böhmen“ (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1880, Nr. 51) energisch Stellung genommen haben. Wir verfehlen aber nicht, bei dieser Gelegenheit noch einmal unserer tiefsten Entrüstung über die nichtswürdigen Attentate Ausdruck zu geben, welche das Deutschthum in Böhmen zu erleiden hat und welchen die jüngsten Vorkommnisse in Prag die Krone aufgesetzt haben. Es ist in der That weit gekommen in Oesterreich, einem durch deutschen Geist gegründeten und durch Jahrhunderte von diesem Geiste geleiteten Staate. In allen nichtdeutschen Ländern des Reiches der Habsburger ist der Teutsche und das Deutschthum den rohesten Verunglimpfungen und endlich in Böhmen sogar banditenhaften Anfällen ausgesetzt. Mit Recht weisen Sie in Ihrem Briefe auf die Notwendigkeit des engsten Bündnisses zwischen Deutschland und Oesterreich und auf die Gefahren hin, welche dem politischen Zusammengehen der beiden Staaten durch die unaufhörlichen Deutschenhetzen in allen slavischen, magyarischen und sogar in den rumänischen Bevölkerungen der österreichischen Monarchie drohen; denn woher soll die deutsche Nation das Vertrauen auf das Bündniß mit einem Staate schöpfen, der dem deutschen Namen so wenig Achtung zu sichern weiß, daß Ausschreitungen, wie die in Prag, überhaupt noch möglich sind, einem Staate, dessen Armee selbst unter diesem Gegeneinanderhetzen der nichtdeutschen und deutschen Volksteile an Kraft der Einheit einbüßen muß? Aber die Pöbeltumulte in Prag gewinnen noch an Bedeutung, wenn wir bedenken, daß sie sich in erster Linie gegen den Geist der überall so hochgeachteten deutschen Universitäten richteten, daß die Czechen durch dieselben einen Gewaltact rohester Art gegen die älteste Hochschule Deutschlands verübten. Schon spricht man in Zeitungen davon, daß der Aufenthalt der deutschen Studenten zu Prag in Zukunft ein Ding der Unmöglichkeit sein wird. So weit darf es nicht kommen. Die deutschen Hörsäle der ehrwürdigen Carolina Ferdinandina dürfen nicht leer bleiben. So viel an uns liegt, werden wir unsere Pflicht thun und unsere Landsleute all den durch Jahrhunderte blühenden Ruhm dieser Pflanzstätte deutschen Geistes erinnern sie ermahnen, muthig auf ihrem Posten auszuharren. Zu diesem Zwecke gedenken wir in nächster Zeit einen Artikel über die Bedeutung der deutschen Universität in Prag zu bringen. Bis dahin aber rufen wir den Gehetzten zu: Laßt euch durch Acte brutaler Gewalt nicht beirren! – In dem Kampfe der Völker siegen schließlich Bildung und Aufklärung.

Herm. G-ch in Dresden. Machen Sie gütigst die nötigen Angaben! Ihr Wunsch wird dann beim Abdruck der nächsten Liste Berücksichtigung finden. Freilich werden Sie sich noch längere Zeit gedulden müssen.

H. H. in Alexandrien. Wir schrieben Ihnen nicht, weil Sie uns Ihre nähere Adresse nicht angegeben hatten. Ihren Artikel acceptiren wir mit bestem Dank.

B. D. in Göttingen. Es freut uns, Ihnen raten zu können. Aus Anlaß der am 8. Juli dieses Jahres erfolgten zweihundertjährigen Gedächtnißfeier des Todes Georg Neumark’s ist im Verlage von Hermann Beyer und Söhne in Langensalza eine Festschrift „Georg Neumark nach Leben und Dichten“ von Franz Knauth[WS 1] erschienen. In dem Werkchen finden Sie die gewünschte Aufklärung über den Dichter.

Zwei Freunde. Dietrich!

M. M. in Leipzig. Wir bedauern sehr, Ihnen eine Auskunft nicht ertheilen zu können. Es giebt allzu viele Familien, welche die von Ihnen erwähnten Namen tragen.

Kl. Abonnentin in Schlesien. Die gewünschte Adresse lautet: Herrn Professor Emanuel Geibel in Lübeck.

C. M. in L.. Die Adresse ist Redactionsgeheimniß, soll Ihnen aber unter Discretion brieflich mitgeteilt werden, wenn Sie Ihren vollen Namen nennen.




  1. Vergleiche Nr. 18.
  2. Wir weisen unsere Leser bei dieser Gelegenheit auf zwei neuere poetische Veröffentlichungen des allbekannten, geist- und gemüthsvollen Autors hin: auf das der Geschichte der Hansa entnommene kraftvolle Drama „Raven Barnekow“ (Leipzig, Hirzel) und auf die zum Theil in unserem Blatte (Jahrgang 1873, Nr. 3 und Nr. 16) zuerst abgedruckten humor- und poesievollen „Seegeschichten“ (Stuttgart, Cotta). Heinrich Kruse’s eigenartiges Talent zeigt sich in diesen beiden Werken von seinen glänzendsten Seiten und empfehlen wir dieselben daher hiermit der Beachtung unserer Leser auf das Wärmste.
    D. Red.
  3. Vergleiche Nr. 25.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Anführungszeichen versetzt.