Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[797]

No. 49.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Dorette Rickmann.
Eine Stralsunder Geschichte von 1786.
Von C. v. Sydow.


1.

„Vetter, Ihr werdet doch nicht! Will der Hallunke sich vor des Thorschreibers kleiner Bude vorbeischmuggeln! Setzt Euch doch, Vetter! Dorette! Bring' Licht, Mädchen! Man lebt doch keinen Tag hin, daß nicht ein Wunder passirt, wenn man gleich noch so alt wird.“

Dies alles wird in dem freundlichsten Tone von der Welt gesprochen, während die kleine gebückte Gestalt des Thorschreibers bemüht ist, einen großen breitschulterigen Mann hinter sich her in’s Zimmer zu ziehen.

„Ja, Thorschreiber, der soll kein ehrlicher Kerl heißen, der's über's Herz bringen kann, Euer gutes altes Gesicht so links liegen zu lassen. War auch mein Ernst nicht, Alter! Jochen ist eine honnette Haut – ich gehe bis zur Freundschaft mit ihm um – den mag ich schon allein in die Stadt fahren lassen; wir laden doch nicht vor morgen ab.“

Dann wird das Fenster geöffnet, und es heißt: „Fahr' er man zu, Jochen.“

Und nun setzt sich der Inspector Strohmeyer von Ruschwitz dem Thorschreiber gegenüber an den Tisch, und Beide schütteln sich in der Abenddämmerung noch einmal herzhaft die Hände.

Einige Secunden später tritt des Thorschreibers Tochter mit dem gewünschten Lichte in das Stübchen.

„Guten Abend!“ sagt sie leichthin und wirft einen kurzen, scharf beobachtenden Blick auf Strohmeyer.

„Ja – und das ist nun meine Tochter, Strohmeyer!“ spricht der Thorschreiber, und blickt fast ehrfurchtsvoll auf das hübsche Mädchen, dem das zierliche weiße Häubchen so gut zu Gesicht steht.

Dorette ist nie übertrieben zärtlich zu ihm; sie ist wild und eigensinnig und führt eine lose Rede, aber sie ist sein einziges Gut – ist Alles, was ihm von seiner Familie geblieben, und er hat das geweckte Mädchen gut unterrichten lassen. Sie hat alles gelernt, was Johanne Seiler, die reiche Tochter des Bürgermeisters, und die Töchter des Kaufmanns, der dort drüben an der anderen Seite des Stadtthores wohnt, gelernt haben. Er hat seine sauren kleinen Ersparnisse hingegeben, um die wehmüthige Freude zu genießen, sich das Mädchen geistig über den Kopf wachsen zu sehen.

„Sieh, Vetter Thorschreiber, habt Ihr ein schlankes Dirning! Beinah so schön wie Eure Sel'ge war, Thorschreiber.“

„Ja, die Nase ist ihr ein Kleines zu lang gerathen und die Zunge ein Kleines zu spitz, Herr Strohmeyer, aber leidlich schlank mag sie, mit Ihnen gemessen, wohl scheinen,“ sagte Dorette etwas schnell hin und setzte sich neben den Vater.

„Ho, ho!“ lachte der Inspector. „Sieh mal den Krauskopf an! Und mit 'Herr' Strohmeyer bleib mir doch fein vom Halse; ich bin Deines Vaters leiblicher Vetter, der Inspector Strohmeyer von Ruschwitz, und mich dünkt, Niemand ist genöthigt, sich Bedenklichkeiten zu machen, wenn er mich 'Ohm' heißt. Das kommt aber davon, daß man nur alle Vierteljahrhundert von dem verdammten Ruschwitz herunterreist. Zuletzt kennt einen Niemand mehr in der Stadt im Angesicht. Aber für den 'Herrn' laß' Dich nun 'mal ordentlich ansehen, Doring!“

Dabei streckte der alte Inspector die braune Hand nach des Mädchens Arme aus und zog sie etwas näher zu sich heran.

„Hübsch genug zum Küssen, Herr Oheim?“ fragt das Mädchen nach einer Weile gegenseitigen Anstarrens spöttisch. „Weswegen Ihnen nicht in den Sinn zu fahren braucht, daß ich Lust hätte, Sie mit Küssen zu tractiren,“ setzt sie schnell hinzu, als Strohmeyer Miene macht, die Sache zu probiren.

„Ja, nun hör' mir einer das gottvergess'ne Kind an, solch gottvergess'nes Mädchen!“ meinte der Thorschreiber lächelnd.

„Ein Teufelskind ist sie!“ schreit der Inspector und schüttelt sich vor Lachen, als ihm Dorette jetzt gewandt entschlüpft. „Wär' ich dreißig Jahre jünger, kämst Du mir nicht so davon.“

„Gut für Sie, daß Sie’s nicht sind!“ sagte sie stolz.

„Hör' das einer an! Du hast wohl schon einen Galan und künft'gen Eheherrn? Hahahaha!“

Dorette antwortet nicht; sie krümmt nur etwas verächtlich die Lippen, und um ihre feinen Nasenflügel zittert es einen Moment wie Spott und seltsame Leidenschaftlichkeit; denn sie denkt eines gewissen Herrn Putzbach, den der Thorschreiber nicht ungern als Eidam sähe und dem Dorette auch unfehlbar ihre Hand reichen würde, wäre sie wie andere fromme Bürgermädchen, denen des Vaters Wunsch Befehl ist.

„Wenn ich mein Johannes wär',“ sagt der Inspector, „ließ ich Dir das nicht so kaltblütig hingehn.“

„Ja, Vetter, sagt doch 'mal: Euer Johannes!“ fängt nun der Thorschreiber an.

„Ja, ja, mein Johannes,“ spricht Strohmeyer schmunzelnd, halb vor sich hin, halb zum Alten ihm gegenüber, und die Freude giebt seinem breiten, sonst etwas schlauen Gesicht ein unschuldiges Ansehen. „Was glaubt Ihr, Vetter Thorschreiber? Eines Inspectors Sohn, des alten Strohmeyer’s von Ruschwitz Sohn und [798] in Paris gewesen! Hm, hm. Alle Quartal einen Brief geschrieben, wie ihn Euch ein Schreibmeister aus der Stadt nicht feiner zurechtstilisirt, und ein Witz drin, daß Ihr meint, frisch Brunnenwasser spritzt Euch in die alte Visage. Kann jeden Tag mit einem gnädigen Herrn Grafen zurückkommen. Und dann bleibt er in der Stadt und sieht sich im Orgelspiel um, und was sonst zum Geschäft gehört. Und dann – so sollt's doch mit zehn Teufeln zugehen, wenn unser Johanning nicht eine fette Stell' bekäm'.“

Dorette ist aufmerksam geworden, und ihre Blicke heften sich fest auf den sprechenden Alten: das Herz wird ihr groß, wenn sie an Reisen denkt.

„Na, Vetter,“ fährt Strohmeyer fort, „und wann mein Junge erst hier ist, nehmt Euch seiner an! Zwar ist er ein Mann und kein Kind, aber ich denke denn doch, er hat sein altes Insulanerherz wieder mitgebracht und wird seine Verwandtschaft nicht in dem bunten Sündengarten draußen vergessen haben. 's sollt mir doch lieb sein, zu denken, daß er öfter des Abends in des Thorschreibers Bude sitzt. Dann kann er Euch selber sattsam von Allem, was er erlebt hat, Bescheid abgeben.“

Der Thorschreiber nickt und sagt, daß es ihm zu großer Ehre und Freude gereichen würde, wenn der weitgereiste junge Mann mit seiner einfachen Häuslichkeit vorlieb nehme, und Dorette sieht den Vetter schon im Geiste vor sich am Tische sitzen und ihr von den Wundern der berühmten Franzosenstadt erzählen. Sie kennt ihn noch nicht; denn als er vor drei Jahren eines frühen Morgens als Secretär des Grafen auf der Hinreise nach Paris durch's Thor kam, hat sie noch geschlafen, und früher hat es sich auch nicht fügen wollen, daß sie seine Bekanntschaft machte.

„Es kann recht nett werden, wenn der Vetter Johannes öfter kommt,“ meinte sie bei sich selbst und trat schneller denn zuvor das schnurrende Spinnrad.

„Hui! Das fliegt ja, als ob's für Geld ginge oder andern Tags zur Aussteuer im Linnenschrank schimmern sollte,“ neckt der Inspector. „Nicht zu hastig, Mamsell! Das rasche Treten thut Dir Schaden.“

„Das langsame mehr!“ sagt das Mädchen und wirft den Kopf zurück, als wollte sie einen dummen Gedanken abschütteln.


2.

Es ist Tags darauf, als Dorette und einige andere Mädchen von des Bürgermeisters Tochter aufgefordert werden, mit ihr und ihrer reichen Muhme, der verwittweten Frau Consul Gerhard, einen Lustgang in den außerhalb des alten Festungswalles gelegenen großen Kaffeegarten zu machen.

Wie bestimmt worden ist, haben sich die „jungen Frauenzimmer“ beim Bürgermeister versammelt, um von hier aus ihre ältliche Beschützerin gemeinsam abzuholen. Zu diesem Zwecke machen sie sich soeben auf den Weg.

Man hat in diesem Frühjahr kaum einen schöneren Tag gehabt. Die Mädchen sind in bestem Putz und in fröhlichster Laune. Ach, endlich kann man wieder einmal des Sonntags hinaus in den Kaffeegarten! Aber auch durch die Stadt zu gehen, ist heute schon ein Vergnügen. Die alten Giebel sehen doch ganz anders aus, wenn die scheue Aprilsonne sie verheißungsvoll streift, als wenn sie Winters grau und todt mit ihren eisbedeckten Schnörkeln in die schmutzigen engen Straßen hinabstarren.

Und alle Menschen, denen man begegnet, sind so lustig; wenigstens meinen es die Mädchen; denn nicht nur, wie man in den Wald hineinruft, so ruft's heraus – auch wie man den Leuten in's Auge schaut, so schaut's wieder heraus.

„Mädchen, mir passirt heute was!“ ruft Dorette.

„Wenn Du nicht aufhörst, so toll zu sein, Dora, kann Dir's wohl passiren, daß Du wieder, wie im vorigen Jahr, etwas im Garten verlierst, und der arme Herr Putzbach drei Stunden suchen muß, um es Dir wiederzubringen,“ antwortet Johanne Seiler, Dorettens besondere Freundin.

„Ich würde ihm das Vergnügen gönnen!“ und Dorette lacht so spöttisch, daß es den Anderen leid thut.

„Warum bist Du so schlecht zu ihm, Dorette?“ sagt die Kleine mit den stark gepuderten Haaren und den großen, etwas schmachtenden Augen.

„Schlecht auch noch! Ich erlaube ihm, mir in jeder Straße dreimal hinter einander zu begegnen, mich Winters Schlitten zu fahren, mich Sommers zu rudern und mir Almanachverse vorzuleiern, daß es zum Herzbrechen ist – aber vor Lachen – nicht vor Weinen. Er liest wie abgerichtet; der reine Staarmatz! – Außerdem ist es eine gute Empfehlung für einen künftigen Commerzienrath, der seit drei Jahren hinter seines Herrn Vaters Comptoirbüchern sitzt, daß er noch nicht herausrechnen kann, daß er und ich keine runde Zahl machen.“

„Ich möchte wissen, Dora, wen Du noch mal nimmst,“ meint die Kleine mit den Schmachtaugen.

„So – da geht Dir's gerad' wie mir,“ ist die etwas zögernd gegebene Antwort.

Dann lacht Dorette hell auf, und die Anderen antworten ihr im Chor. So geht es über den großen Marktplatz am Rathhause vorbei, dessen Façade mit den spitzen Verzierungen und runden Steinaugen ganz festtäglich schimmert. Aus der unteren, stets nach beiden Seiten der Stadt zu geöffneten Halle, die allgemein als Durchgang benutzt wird, treten eben einige junge Kaufmannssöhne, von denen Zwei in Greifswald Gottesgelehrsamkeit studirt haben. Sie grüßen die Mädchen und sehen Doretten bewundernd nach, die ihnen mit freundlicher Eilfertigkeit zunickt, aber die kleinen purpurrothen Lippen lächelnd dabei aufwirft.

Jetzt geht sie mit ihren Gefährtinnen rechts um die Ecke in die kurze Fährstraße, welche nach der See hinabführt.

Als man an des Thorschreibers Häuschen kommt, zaudert Dorette eine Secunde, kaum aber hat ihr schneller Blick den Vater hinter den Scheiben entdeckt und bemerkt, daß er ruhig das Zeitungsblatt, welches ihm der Herr Bürgermeister wöchentlich einmal schickt, vor sich auf den Knieen hält und darüber hinweg auf's Thor blickt, als sie den Kopf kurz umwendet, wie um zu sagen: „Vorwärts! Es ist Alles in Ordnung!“

Und nun eilen sie durch das alte plump behäbige Fährthor, das sich, blickt man nach der sonnigen Stadt und ihren seit dem Frühling neu aufpolirten Häusern zurück, mit seinen tausend Rissen und Borsten ausnimmt wie ein altes unförmiges Großmütterchen, welches man dicht vor das lachende Haus in den Sonnenschein gesetzt hat, damit ihm die junge Frühlingsluft neckisch über die tiefen Runzeln fahre.

Von der See weht es frisch herauf als die Mädchen hinaustreten. Freundlich drängen sich die Schiffe im leuchtenden Hafen, und breit hat sich die Nachmittagssonne auf der alten Brücke gelagert, sodaß man jeden Spalt, jeden handfesten Nagel, der die braunen Bretter zusammenhält, erkennen kann. Die blauen Wellen plätschern leise durch den Bodden, und am Ufer liegt der Schaum glitzernd, wie aufgerollte Schlänglein.

Der Weg zum Kaffeegarten und zur Wohnung der Muhme Gerhard führt eine Strecke weit links am Ufer entlang, aber Dorette meint, man könnte sich ja zuvor noch einmal auf der Brücke durchsonnen lassen.

An einem der Pfeiler, die am weitesten vom Ufer entfernt sind, ist mit starkem Tau ein Boot befestigt, das verführerisch hin und her schaukelt. Die Mädchen klettern hinein und setzen sich zierlich kokett auf die Bänke; nur Dorette und Johanne Seiler schlendern etwas hinterdrein und wollen, wie es scheint, auf der Brücke bleiben.

Dorette hat ihren Arm nachlässig in den der Freundin geschoben; es sieht aus, als lehne sich ihre hohe, überschlanke Gestalt nicht aus Müdigkeit, sondern aus Träumerei an Johanne's breite Schultern. Träumen liegt sonst nicht in Dorettens Wesen. Möglich, daß es die Frühlingssonne ist, welche das Mädchen verführt, heute so anders zu erscheinen.

Wie sie jetzt hinaus über die Bucht sieht, liegt eine ängstliche Erwartung, eine unruhige Sehnsucht in ihren Augen. Ihre Lippen bewegen sich wie spielend, und wenn sie athmet, scheinen auch sie sehnsüchtig anzuschwellen.

Plötzlich ziehen sich ihre Brauen wie in heftiger innerer Bewegung zusammen: „Ich möchte wissen, wie die Liebe ist!“ denkte sie. – Sie lacht, und dann hört sie auf zu lachen, und lächelt nur mild und leise vor sich hin. Sie sieht, wie sie zu den Füßen eines Mannes sitzt und den Kopf senkt. –

„Halt! Eins, zwei, drei!“ und damit ist sie im Boot, nachdem sie sich mit hastiger Grazie durch das Geländer hindurch gewunden hat.

„Um Gottes willen, Dorette, uns so zu erschrecken!“ rufen die Mädchen. [799] „Ja, warum sitzt Ihr Alle mit solchen Milchgesichtern da, als wolltet Ihr Euch gewaltig amüsiren und kämt nicht dazu? – Ihr jammert mich.“

Ein großes Gelächter antwortet ihr, von der man sich gern Alles gefallen läßt.

„Kinder, Ihr seid nicht sehr verwöhnt!“ sagte sie mit einem flüchtigen Stoßseufzer und mehr bedauernd als spöttisch. „Ihr lacht, wenn ich nur was sage.“

„Aber nun kommt zur alten Gerhard und in den Garten! Sonst complimentirt uns der Bootseigenthümer hier am Ende heraus!“ meint sie einige Minuten später und blickt zerstreut auf.

Gleich darauf wirft sie stolz den Kopf in den Nacken und ein kecker Spott fliegt über ihr bewegliches Gesicht.

„Putzbach! Siehst Du ihn, Dorette?“ rufen die Gefährtinnen von mehreren Seiten zugleich.

Dorette zuckt halb ungeduldig, halb kläglich die Achseln, erhebt sich eilig und klettert, den Anderen voran, zurück auf die Brücke.

„Der frisch geflochtene Zopf hängt wieder in melancholischer Länge über den untadeligen Sonntagsrock herab,“ sagt sie halblaut und wirft über die Schulter fort einen belustigten Blick auf Putzbach.

„Seht nur, ob dieser Zopf nicht Charakter hat! – Früher hatte er ein anmuthig Selbstbewußtsein, seit einiger Zeit aber ist er in sich gekehrt und kleinmüthig und seine reputirliche Länge beängstigt ihn. – Schon in Ansehung dieses Zopfes lohnte sich's, Putzbach's Gemahl zu werden. – Was meint Ihr, es müßte ein artig Vergnügen sein, ihn alle Morgen zu drehen.“

Unter ähnlichen Reden geht es schnell vorwärts, bis Dorette zuletzt wieder nachdenklich und träumerisch wird.

Putzbach, der am Hafen entlang gekommen ist und jetzt noch eine große Biegung desselben zu umschreiten hat, kann es nicht mit der anständigen Bürgern vorgeschriebenen Gangart vereinigen, die Mädchen sofort einzuholen, und folgt ihnen in einiger Entfernung. Erst im Kaffeegarten, als die Mamsells sich bereits unter dem Schutze der Muhme befinden, gesellt er sich zu ihnen.

Es ist ein buntes Getriebe auf Haupt- und Nebenpfaden des beliebten Vergnügungsortes: schöne schwedische Officiere schlängeln sich an würdigen Rathsherren und anderen Vertretern der Stadtobrigkeit vorbei. Elegant gekleidete Damen der vornehmsten Stände mit Steifrock, hoher, gepuderter Frisur und überladen verziertem Seidenkleid sehen vornehm lächelnd auf die einfachere Tracht der Bürgersfrauen herab. Später im Sommer wird sich die Gesellschaft des Kaffeegartens wieder an einzelnen Tischen gruppiren, eine reiche Anzahl bunter, lebender Bilder darstellend, aber heute weht hier noch eine zu frische Küstenluft, als daß man sitzend den herrlichen Frühlingstag genießen könnte; deshalb wandelt man lachend und plaudernd, einzeln oder zu Paaren durch die breiten Gänge.

Putzbach steigt mit beklommener Miene an Dorettens Seite einher. Es sind nicht die klugen Aeuglein der sich von Zeit zu Zeit nach dem Paare umsehenden Matrone Gerhard, welche ihn verlegen machen; es ist die Kälte des Mädchens selbst, die ihm heute noch auffallender denn sonst entgegentritt. Sie duldet ihn neben sich, wie man einen treuen Hund neben sich duldet, den man nicht nach Hause schicken mag, weil das gute Thier nun einmal mit uns gekommen ist, aber ihre Gedanken gehen weit über ihn hinweg. Manchmal lacht sie nur, wenn er etwas sagt, und antwortet nicht einmal. Eine so klägliche Rolle wie heute hat er noch nie gespielt; das fühlt er selbst. Wußte er auch schon lange, daß die schöne Dorette Rickmann nicht glühend in ihn verliebt war, so meinte er doch wenigstens zu bemerken, daß sich ihre Mädcheneitelkeit durch seine Aufmerksamkeiten geschmeichelt fühlte: sie liebte es, ihn zu necken und zu chicaniren – und so lange sie sich wenigstens mit ihm abgab, lag die Möglichkeit nicht fern, daß sie den wohlhabenden Kaufmannssohn doch noch einmal heirathen werde.

Aber heute, heute würdigt sie ihn kaum eines Blickes. Im Innersten empört, ist Putzbach verschiedene Male im Begriff, sich zu verabschieden. Als er aber bemerkt, daß auch sein Zurückziehen nicht den geringsten Eindruck machen würde, fühlt er sich – aller Vernunft zuwider – von Neuem an die Seite des Mädchens gebannt und bleibt fernerhin ihr Begleiter.

Je länger sie mit einander gehen, desto ungeschickter und hastiger werden die Schritte des armen Putzbach. Zuletzt steht der helle Schweiß auf seiner Stirn, und immer wieder fährt es ihm durch den Sinn, daß er sich hier fortwirft und Dorette Rickmann heute so gleichgültig wie jeder Andere ist.

Wie jeder Andere? Luchsartig richten sich Putzbach's wasserblaue Augen plötzlich auf einen jungen Officier, der ihnen jetzt schon zum vierten Male begegnet. Derselbe kennt des Bürgermeisters Tochter und grüßt sie ehrerbietig, aber seine Blicke schweifen dabei mit unverhohlenem Vergnügen zu Dorette herüber, und Putzbach bemerkt, wie des Mädchens leuchtende Augen auch mit lachendem Wohlgefallen über die keineswegs schöne, aber immerhin vornehme und glänzende Erscheinung des jungen Mannes hinstreifen. Er sieht nicht, daß auch diese Beachtung, welche sie dem Officier schenkt, nur eine flüchtige, von augenblicklicher Eitelkeit hervorgerufene ist, und sein stiller Neid begleitet den Vorübergegangenen.

„Es ist nicht Alles Gold, was glänzt, Mamsell Rickmann.

„Ist auch gar nicht nöthig, Herr Putzbach! Wenn es nur glänzt, erfüllt es auch einen Zweck; es macht uns Vergnügen,“ erwidert Dorette, ohne im Geringsten ein spöttisches Lächeln dabei zu unterdrücken.

„Ja, Mamsell,“ antwortet Putzbach stotternd und wird glühend roth im Gesicht, denn er redet sich ganz in Eifer hinein; „das Vergnügen ist eine recht schöne Sache.“

„Wenn ich nur wüßte, warum Sie Ihre Rockknöpfe so maltraitiren!“ fährt Dorette dazwischen. „Haben diese Musterbilder von Ehrbarkeit auch etwas mit unerlaubtem Vergnügen zu schaffen?“

Putzbach läßt, etwas unbeholfen lachend, den gerade bearbeiteten Rockknopf fahren und nimmt seine Rede wieder auf:

„Das Vergnügen, meine ich, ist eine recht schöne Sache – aber es hat –“ hier nimmt seine Sprechweise einen Augenblick etwas Salbungsvolles an – „schlechten Credit, was sage ich? gar keinen Credit, Mamsell! Wer einen Hausstand gründen ...“

„Bitte, Putzbach, haben Sie endlich ein Einsehn! Von Leuten zu hören, die einen Hausstand gründen wollen, ist absonderlich langweilig!“

Putzbach blickt verblüfft zu Boden, und eine Weile sieht er aus, wie der Mann im Märchen, dem das Gesicht stehen blieb, als die Uhr schlug.

Endlich faßte er wieder Muth.

„Aber –“ beginnt er langsam.

„Ach Gott, nun fangen Sie wieder an zu 'abern'.“

„Aber in Ihrem Alter, Mamsell Rickmann,“ fährt der wiederum Unterbrochene unbeirrt mit leiser, etwas flötender Stimme fort; denn es überkommt ihn plötzlich das selig drängende Gefühl eines guten Einfalls, den er wie eine Art von Trumpf auszuspielen denkt: „in Ihrem Alter hat doch jedes Mädchen – gewisse – Wünsche.“

„O ja!“ ruft Dorette überlaut, daß sich Frau Gerhard erstaunt nach ihr umsieht, „ich habe auch gewisse Wünsche.“

Putzbach's Gesicht mit den weitgeöffneten Augen wendet sich so schnell seiner Begleiterin zu, daß sogar der melancholische Zopf in Bewegung geräth. Aber Dorette sieht es nicht.

„Und diese gewissen Wünsche sind?“ fragt er ängstlich flüsternd, während sein liebendes Jünglingsherz mit verstohlener Hast gegen das steife, zugeknöpfte Patricierkleid pocht.

„Daß ich reisen möchte – fremde Länder und fremde Menschen sehen möchte,“ ist die leidenschaftliche Antwort.

„Und – und – wo wollten Sie denn hin?“

„Ich?“ – Dorette zögert einen Moment; dann sagt sie schnell: „Nach Paris möchte ich,“ und ihre Augen funkeln seltsam, und ohne daß sie es selber ahnt, steigt glühendes Roth in ihre Wangen.

Putzbach stutzt, als hätte er eine Ohrfeige bekommen, und nicht lange danach verabschiedet er sich leise seufzend von seiner Göttin. Seine Geduld ist für heute zu Ende; er gesteht sich mit einiger Bitterkeit, daß es für eine künftige ehrsame Hausfrau ein mehr als verwegener Wunsch ist, nach Paris reisen zu wollen – und er nimmt schließlich die kindische Thorheit des armen Bürgermädchens, [800] das ihm heute – leider – leider schöner und vornehmer denn je erschienen ist, für eine persönliche Beleidigung.

Es ist schon gegen Abend, als die Mädchen am Strande entlang wieder zurückgehen. Es ist kühl geworden. Dorette hat ihren bunten Shawl fest umgeschlagen; dagegen ist ihr der große aufgeklappte Hut von der hohen Frisur, welche sie besonders geschickt, halb nach neuester Mode, halb nach eigener Phantasie zu ordnen weiß, herabgeglitten, und kleine ungepuderte Haare wehen ihr lose über die breite Stirn.

„Warum bist Du so eilig, Dora?“ fragt Johanne, die wieder an ihrer Seite geht.

„Weil ich kochen muß und der Abend nicht auf mich wartet,“ sagt sie hastig.

Die blaue Fluth trägt jetzt weithin einen rothen Widerschein; der Wind bläst mit heftigeren Athemzügen, daß die Wellen bewegt durch einander schwellen, und von der Stadt her blitzen die Thürme des Rathhauses und der Sanct Marie golden herüber. Die Wimpel der Maste wehen reiselustig an den ruhenden Schiffen, und die weißen Möven flattern darüberhin.

Ein anderer Frühlingsabend weht wohl jetzt in den lauen Parkgängen und stillen Wäldern des Binnenlandes, aber auch dieser stürmische Hauch, der um die alte Meerstadt flattert, ist voll Wonne und Lebensdrang, voll Kraft und Glanz und voll ahnungsvoller Jugend, und es ist fast, als deckten seine rauheren Schwingen eine desto tiefere, schwellendere Sehnsucht nach den Gluthen des Sommers.

Dorette athmet manchmal tief auf; denn ihr ist, als trüge sie etwas in ihrer Brust, das sich nun aufthun wollte.

O, der thörichte Frühling!

Eine feierliche Neugier überfällt sie. Ihr Herz klopft heftig, als stände sie vor einer verschlossenen Thür, die sie nicht öffnen darf, da diese nur von selber aufspringt. – Wann wird sie aufspringen? Was wird dahinter sein? Oder wird sie sich ihr überhaupt nicht aufthun?

Als sie durch das alte Fährthor gehen, bricht Dorette in ein übermüthiges Lachen aus und zwickt Johanne halb unbewußt so heftig in den Arm, daß diese verwundert fragt, was das heißen soll.

„Nichts!“ antwortet sie schnell mit spöttischem Gesicht, und setzt hinzu, in Ton und Geberde ihren geistlichen Herrn den Pfarrer von St. Nicolai, nachahmend: „Die Mamsell Dorothea hat heute ihren Raptus per excellentiam.“

„O Dora, schon wieder!“ schreit Johanne leise. „Das thut ja weh.“

„Soll's auch,“ sagte Dorette seltsam lachend; „ich möchte aus der Haut fahren.“

„Vor Frühling?“

„Nein, ich bin nicht gefühlvoll. – Gute Nacht, Johanne! Gute Nacht, Lisbeth und Greting! Und wenn Ihr Herrn Putzbach seht, sagt ihm meinen graziösen Empfehl und ich wäre verzweifelt, daß er uns heute so bald verlassen hätte. Im Uebrigen hätte ich gewisse Wünsche und wäre mit einem gewissen schwedischen Officier versprochen.“

Und mit geschmeidiger Wildheit, daß die Kleider ihr um die schmalen Füße fliegen, ist das Mädchen im Hause des Thorschreibers verschwunden.




3.

In dem verschlossenen Hausflur horcht sie auf und bleibt stehn, und als ihre Freundinnen schon längst die Straße hinaufgegangen sind, lauscht sie immer noch an der Thür. In des Thorschreibers Stübchen wird lebhaft gesprochen; ein Fremder redet mit erhobener Stimme zu ihrem Vater. Jetzt hört sie, wie drinnen die Worte „Herr Oheim“ laut werden.

Sie hat es gewußt, daß Johannes Strohmeyer heute kommen wird; es befremdet sie nicht.

Wie schnell ihr Athem geht! Sie wird jetzt einen Mann kennen lernen, der aus – Paris kam – der die Welt sah – und – der ein Mann ist.

Leise schleicht sie durch die Küche in die Kammer und ordnet vor dem Spiegel das Haar, und fragend bohren sich dabei ihre Augen in die Augen des Bildes, das sie von sich selbst erblickt. „Bin ich hübsch?“ fragen diese Augen. „Sind wir schön?“ fragen sie.

„Ja!“ blicken die großen dunkelgrünen Augen im Spiegel und glänzen verheißungsvoll und schillern so räthselhaft, wie das blaugrüne Wasser im Bodden, wenn die Morgensonne es unruhig durchfunkelt. Dann steckt sie das weiße Busentuch sorgfältig über einander, damit es sich geordnet ihrer Gestalt anschmiege, und setzt das blendende Mützchen gerade und zierlich auf die etwas kühn gerathene Frisur, sodaß es wie ein kleiner jesuitischer Heiligenschein von Anmuth und Hausfrauentugend auf den ungezügelten Jugendübermuth des feinen, blühenden Gesichtes herabschaut.

Warum sollte auch der Vetter die Pariser Demoiselles anmuthiger gekleidet finden als sie?

Eine Secunde steht sie noch, den Griff der Thür zögernd in der Hand haltend; noch einmal lauscht sie – dann öffnet sie rasch und tritt zu den Sprechenden.

„Da bist Du ja, Doring!“ sagt der Thorschreiber, und Johannes Strohmeyer erhebt sich, sie zu begrüßen.

Und wie er so vor ihr steht, groß und dunkelblond, mit blitzenden Augen und kräftigen, ebenmäßigen Gliedern, richtet auch sie sich unwillkürlich zu ihrer ganzen Höhe empor, und ein seltsames Gefühl überkommt sie, daß sie ihn mißt, wie ein Gegner den andern mißt, ehe die tödtlichen Waffen zwischen ihnen klirren. Wie man den Widersacher anblickt, der uns zum Zweikampf forderte, so blickt sie auf ihn: streng, hoheitsvoll, mit gleichgültiger Ruhe.

Endlich hört sie auf, Strohmeyer anzustarren; langsam wendet sie den Kopf, als suche sie etwas im Zimmer.

„Glück zu Ihrer Verrichtung in Stralsund, Vetter!“ sagt sie dann, sich wieder zu ihm wendend.

„Danke, Base!“

„Nachdem Sie so viel von der Welt gesehen haben, wird's schwer halten, daß es Ihnen hier gefällt.“

„Wenn mir Zuspruch bei Ihnen erlaubt ist, schöne Base, wird es mehr als leicht sein.“

„Wollen doch abwarten! – Für einen Mann von Welt urtheilen Sie vorschnell.“

„Nehmt doch wieder Platz, Johannes Strohmeyer!“ bemerkt der Thorschreiber dazwischen, und der junge Mann folgt des Oheims Aufforderung.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Gast aus dem fernen Osten.
Studie aus dem Berliner zoologischen Garten von G. Mützel.


„He! Holla!“ rief mir am Charfreitage 1878 mitten im Menschengewühl des Berliner zoologischen Gartens Director Bodinus zu, „versäumen Sie ja nicht den Tragopan!“

„Balzt er wieder?“

„Prächtig, prächtig!“ erschallte die Antwort, und der andere Morgen – es war am 20. April – fand mich um acht Uhr vor dem geräumigen Gehege der Vögel, auf welche die Aufmerksamkeit der Leser zu lenken der Zweck dieser Zeilen sowie des begleitenden Bildes ist.

Schon seit einer Reihe von Jahren war Temminck's Tragopan (Ceriornis Temminckii), der Hornfasan, wie Brehm ihn genannt in Europa eingeführt; in mehreren zoologischen Gärten waren Pärchen gepflegt und beobachtet worden, doch nirgends hatte man bisher eine Balz, das Werbespiel des liebedurstigen Hahnes gewürdigt. Selbst die Forscher, welche den Tragopan in seiner fernen Heimath auffanden und Mittheilungen über sein Freileben machen, schweigen vollständig über die im höchsten Grade merkwürdigen Veränderungen, welche sich bei dieser Gelegenheit in der äußeren Erscheinung des Vogels vollziehen.

Im Jahre 1876 beobachtete Dr. Bodinus zuerst den Balz-Act und machte mir Mittheilung davon, doch trotz eifrigen Bemühens konnte ich damals des mir als entzückend geschilderten

[801] 

Tragopane.
Nach der Natur gezeichnet von G. Mützel.

[802] Anblickes nicht theilhaftig werden. Ebenso ging mir's im nächsten Jahre, wo ich während vierzehn Tagen je mehrere Stunden auf der Warte stand. Meine im jahrelangen Beobachten lebender Thiere zum Zwecke bildlicher Darstellung derselben gründlich vorgeübte Geduld hatte eine harte Probe zu bestehen. Endlich belohnte jener Tag vor Ostern meine Ausdauer: von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends genoß ich zwölf Mal das bezaubernde Schauspiel – ich sah, staunte und malte.

Wie sehr übertraf die Wirklichkeit die begeisterten Schilderungen, die mir das Außergewöhnlichste in Aussicht gestellt hatten! Wie arm und schwach erwies sich die Phantasie gegenüber der Schöpferkraft der Natur! Dreimal mußte ich erst sehen, ehe mir der Verlauf der Sache klar wurde und ich Fassung gewann, zur bildlichen Darstellung zu schreiten.

Schon in seinem Alltagskleide ist unser Tragopan sowohl durch Färbung wie Gestalt von hervorragender Schönheit, und unbedingt gehört er mit seinen Vettern zu den prachtvollsten Gliedern der großen Familie der Hühnervögel. Von der schwarzen Stirn aus zieht sich ein gleichgefärbtes breites Band über die Augen, geht um den Hinterkopf und säumt die blaue warzige Haut des Gesichts und des Halses. Auf dem Scheitel leuchtet ein feurig-goldener, über den Nacken reichender Schopf, unter welchem sich zwei zurückliegende dünne fleischige hellblaue „Hörnchen“ verbergen. Das lebhafte Orange des Nackens geht auf dem Rücken in Blutroth, dieses aber auf dem Schwanze in Braun über; die ganze Unterseite prangt in hellleuchtendem Roth. Alle Federn tragen vor der Spitze perlgraue Tupfen, die auf dem Rücken schwärzlich umrandet sind, auf dem Bauche sich jedoch derart vergrößern, daß aus ihnen schöne Längsbänder entstehen. Die Füße sind korallroth; der Schnabel ist bleigrau. Diese ernsten und doch so reichen Farben verbinden sich mit der kräftigen, geschlossenen Gestalt voll anmuthiger Bewegungen zu einem edlen, wohlthuenden Ganzen.

Umsomehr mußte ich erstaunt sein, den Prachtvogel einen Hochzeitsschmuck entfalten zu sehen, auf dessen Vorhandensein nicht das Mindeste hindeutet und welcher seine stets zur Schau getragene Schönheit noch auf's Wunderbarste erhöht. Das ganze Gesicht des Tragopans ist nämlich mit einer blauen sammetartigen Haut bedeckt, welche an der Kehle einen krausen Beutel, hinter dem Auge eine herabhängende Falte und zur Seite des Halses eine oben mit Federn besetzte Querwulst bildet.

In der Balze werden nun durch vermehrten Zufluß von Blut sowohl die oben erwähnten Hörnchen zu circa acht Centimeter hohen Hörnern geschwellt und gestreckt, wie auch die Gesichts- und Kehlhaut sich zu einer hufeisenförmigen zwanzig Centimeter langen, siebenzehn Centimeter breiten Scheibe ausdehnt, deren Form und Fleckenzeichnung im höchsten Stadium der Entwickelung unser Bild zeigt. Die Färbung theilt diesen Schild in drei Felder, ein mittleres und zwei seitliche. Ersteres, aufgeblasen und daher gewölbt, ist von einem herrlichen saftigen Kornblumenblau, gemustert durch unzählige Spritz- und Tropfenflecke vom feinsten bezauberndsten Hellkobaltblau. Von derselben Farbe sind auch die Randfelder des Schildes; eine einfache großartige Fleckenzeichnung in glühendstem Blutroth verleiht jedoch dem Ganzen eine märchenhafte Pracht, die wohl kaum von irgend einer Erscheinung an einem anderen Thiere übertroffen werden dürfte. Die Farbenwirkung dieses Schildes, im Verein mit dem rothen graugeperlten Gefieder und dem saftigen Grün der Umgebung ist von berauschender Schönheit – doch um zur vollen Empfindung derselben zu gelangen, muß man Zeuge des ganzen Verlaufes des Liebesspieles sein, dessen festlichen Schmuck ich soeben schilderte.

Die guten Erfolge der Züchtung der Tragopane bei uns sind zweifellos in der Aehnlichkeit des Klimas ihrer Heimath mit dem unserigen begründet. Die Gebirge Asiens vom nordwestlichen Himalaya durch Nepal, Sickim bis China sind ihr Verbreitungsgebiet, dichte Wälder nicht weit unterhalb der Schneegrenze ihre Wohnplätze, die sich im Sommer noch über die Regionen der Birke und des Rhododendron hinaufziehen, im Winter jedoch bis in tief gelegene üppigere Waldungen verlegt werden. Gesellschaften von zwölf bis fünfzehn Stücken, durch Gewöhnung oder Verwandtschaft zusammengeführt, bewohnen gemeinschaftliche Gebiete von großer Ausdehnung und machen auf festbestimmten Straßen zusammen ihre Herbst- und Frühjahrsreisen, ohne sich gerade in eng geschlossenem Verbande zu bewegen, sodaß man in Bezug auf sie nur ganz allgemein von einem Volke oder einer Kette sprechen kann. –

Wie hier, so hört man auch in ihrer Heimath selten einen Laut von diesen Vögeln, da sie nur durch Verfolgung in Angst gesetzt ihre Stimme, ein meckerndes Gackern, welches nach und nach in ein zusammenhängendes Gekreisch übergeht, ertönen lassen, worauf der bisher durch Gestrüpp und Büsche schlüpfende Vogel sein Heil im Fluge sucht. Es ist das Geschrei meist ein Zeichen, daß der Vogel flieht; denn auch der auf einen Baum sich rettende läßt die Stimme erschallen, bis er sich in dem Gezweige versteckt hat. Die im Ganzen zutraulichen, in der Wildniß wenig scheuen Vögel fallen bald nach dem Auftreiben wieder ein – erst nach wiederholter Beunruhigung salviren sie sich in weitere Ferne, indem sie sich vorzugsweise in tiefergelegene Weideplätze flüchten. Ihr Flug ist durch ein ganz charakteristisches Schwirren ausgezeichnet, welches diese Wildhühner, auch wenn man ihrer nicht ansichtig ist, von allen anderen zu unterscheiden gestattet.

Daß die Tragopane dort, wo sie häufiger durch den Menschen Nachstellungen zu erfahren haben, sehr bedeutend an Vorsicht, Scheu und selbst Listigkeit zunehmen, ist wohl erklärlich und findet seine Analogieen in der ganzen thierischen Welt; die bloße Anwesenheit eines Menschen in ihrem Gesichtskreise veranlaßt solche gewitzigte Vögel schon, in den dichteste Kronen der Bäume den Schutz zu suchen, welcher sie vor den Anschlägen des gefährlichsten Feindes aller Thiere zu bewahren im Stande ist.

Sobald das Frühjahr herannaht, beginnen die Tragopane ihre Wanderung in die hoch gelegenen Sommerquartiere und lassen den Paarungsruf ertönen, der dem geschilderten Angstlaute sehr ähnlich klingt. Wie aber der Nestbau, das Brüten und die Aufzucht der Jungen vor sich gehen, das hat sich bisher noch den Blicken der reisenden Forscher entzogen, wie uns überhaupt eine eingehende Lebenskenntniß des wilden Vogels noch mangelt. Bei uns legt die Henne freiwillig selten mehr als sechs Eier; nur wenn man ihr die gelegten wieder nimmt, legt sie deren mehrere. Die Eier sind von schöner Form, haben starke Schalen und eine den Perlhühnereiern ähnliche Farbe: sandgelb, mit sehr feinen Fleckchen gezeichnet. Nach ungefähr sechsundzwanzig Tagen Brütens durchbrechen die Jungen die Schalen und werden von der Mutter, die sich schon dem Brutgeschäfte eifrig gewidmet hatte, sorgsam geführt.

Zum Theil vertauschen sie schon im ersten Lebensjahre das Jugendkleid mit dem der Erwachsenen; im zweiten Jahre sind sie völlig ausgefärbt und fortpflanzungsfähig, und von dieser Zeit ab bilden sie eine so hervorragende Zierde schattiger Parks, daß eine emsige Zucht des herrlichen Vogels höchst wünschens- und empfehlenswerth erscheint. „Leider,“ schreibt mir Dr. Bodinus, „kennt man in unserem Lande diesen schönen und prächtigen Vogel zu wenig, wiewohl seine Haltung und Fortpflanzung ebenso leicht durchzuführen sein dürfte, wie die des Perlhuhns. Er ist im höchsten Grade genügsam; eine zu gute Nahrung bringt ihm sogar den Untergang; viel Grünes, Beeren, Obst, gekochte Kartoffeln, etwas Sämereien, namentlich Buchweizen, Weizen, Mais erhalten ihn bei guter und dauernder Gesundheit; ja bei genügender Freiheit in einem Parke mit Rasen dürfte er kaum besondere Fütterung nöthig haben. Die Henne ist eine zärtliche Mutter; die Jungen sind bei einiger Sorge sehr leicht zu erziehen und bäumen bald auf. Ein frostfreier Raum genügt als Aufenthalt während des Winters, kurz, der wohlhabende Besitzer eines Parkes oder größeren Gartens würde, findet er sonst Freude an schönem Geflügel, den Erwerb eines so herrlichen Vogels nicht bereuen. Es würde nur nöthig sein, die Eier von einer Bauernhenne ausbrüten und die Jungen von ihr führen zu lassen, damit sie sich, auch nachdem sie selbstständig geworden, in ihrem Geburtsorte heimisch fühlen.“

Hoffen wir, daß diese Empfehlung von befugter Seite dazu wirke, daß in nicht allzu ferner Zeit der Tragopan wenigstens ebenso häufig in Parks und Geflügelhöfen getroffen werde, wie der Gold- und Silberfasan, der Pfau und die zarten Enten Chinas und Südamerikas!



[803]
Liederproben aus Ernst Ziel’s „Gedichten“.[1]


1. Am Abend.

Leise rauschend durch Ruinen zieht der Abendwind,
Flüstert alte, düstre Mären, die vergessen sind.

Von den Bäumen, herbstestraurig, sinkt nun Blatt auf Blatt,
Sucht in der Ruine Schweigen eine Grabesstatt.

Fallen wird auch sie, die trotzig manch’ Jahrhundert stand;
Ziehen werden, wo sie ragte, Nebel über’s Land.

„Märchenhaft ist dieses Leben,“ seufzt der Abendwind;
In der heißen Brust erglommen mir zwei Wünsche sind:

Meinem Leben eine Seele, die sich meiner eint,
Meinem Grabe eine Thräne, die die Liebe weint!


2. Lied vom Strande.

Im Seegras, fluthenbefeuchtet,
Der Bernstein schimmert und scheint,
Eine Thräne, die, schmerzdurchleuchtet,
Die ferne Vorzeit geweint.

Vor Zeiten auf einsamem Thule
Am wogenumbrandeten Strand –
Da wuchs auf dem Klippenstuhle
Eine Föhre im Küstensand.

Die Wellen rauschten ihr Lieder
Vom Süden so schön und so hehr –
Da neigte die Zweige sie nieder
Und weinte die Thräne in’s Meer.

Das Meer trug durch die Sunde
Geronnen die leuchtende hin –
Nun freut sich am köstlichen Funde
Nach tausend Jahren mein Sinn.

Verschollen im Fluthengeschwemme
Die Thräne der Vorzeit war –
Heut trägt sie als glitzernde Gemme
Mein Mädchen im schwarzbraunen Haar.




Die geschichtlichen Wandlungen der deutschen Frauenmoden.
Von Fr. Helbig.
I.
Die Mode als Spiegel der Zeit. – Das erste Kleid der Germanin. – Römische, dann byzantinische Einflüsse. – Das Princip der Erstarrung. – Das Idealgewand der Ritter- und Minnezeit. – Schnabelschuh und Gugelhaube. – Zuckerhutförmiger Aufbau. – Die Zottel- und Schleppentracht. – Kleiderordnungen. – Die Periode der Renaissance. – Rückkehr zur Natur. – Die Gretchen und Klärchen. – Gürtel und Mieder. – Die Periode der Barockrenaissance. – Spanischer Einfluß. – Schneppentaille. – Mühlsteinkrause. – Stuarthaube. – Reifrock mit Glocken- und Tonnensystem.

„Eine Geschichte der Frauenmode! Fruchtloses Beginnen. Die Mode ist ja bekanntlich launisch. Sie ist so unfaßbar, so unberechenbar, wie es eben Launen sind, und wäre es auch die Laune einer schönen Frau. Wie ist es möglich die Geschichte einer Laune zu schreiben?“ Sicher wird ein solches Räsonnement im Hinblick auf die Ueberschrift unseres Artikels laut werden! Nun läßt sich dem aber Folgendes entgegenstellen: Zwar in ihren Abzweigungen und Einzelbildungen launisch und regellos, hält die Mode doch in ihren Grundzügen zuerst ganze Jahrhunderte hindurch, später durch Drittel- und Vierteljahrhunderte und zuletzt mit dem beständig sich steigernden Tempo der Weltgeschichte noch Jahrzehnte hindurch vor dem Auge des Forschers Stand. Sie hängt dabei mit dem Wesen und Charakter der jeweiligen Geschichtsperiode auf’s Innigste zusammen. Sie bringt den Zeitcharakter gleichsam zu einer Art äußern Erscheinung, wie sie selbst auch wieder auf die Gefühls- und Handlungsweise ihrer Zeit bestimmend einwirkt. Eine Dame der Ritter- und Minnezeit im Corset würde mit dem historischen Charakter jener Zeit ebenso wenig in Einklang zu bringen sein, wie eine Dame der Neuzeit ohne jenen nun seit Langem eingebürgerten Regulator der weiblichen Aesthetik. Aehnlich knüpft sich an Perrücke, Zopf, Stelzschuh und Reifrock der feststehende Typus einer geistig starren Zeit. Unter diesen Gesichtswinkel gebracht, hängt die Entwickelungsgeschichte der Tracht zusammen mit der Geschichte der Menschen und Völker überhaupt. Da, wo die wogenden Plusschläge der Geschichte nicht hindrangen, in entlegenen Berg- und Walddistricten, in weitentfernten Dörfern, blieb daher auch die Tracht Jahrhunderte hindurch ein und dieselbe.

Wenn wir in Folgendem auch nur von der Frauentracht reden wollen, weil die Frau diesem Thema das größte stoffliche Interesse entgegenbringt, so können wir dabei doch nicht die Tracht der Männer unberücksichtigt lassen. Zwischen beiden, der Herren- und der Frauenmode, besteht eine gegenseitige Beeinflussung, und wie man überhaupt in der Geschichte männliche und frauenhafte Zeitperioden unterscheidet, so erscheint auch in der Geschichte der Mode einmal das weibliche und dann wieder das männliche Element als bestimmender Factor.

Die deutsche Frau in der ersten Zeit ihrer Geschichte trug ein langes leinenes Untergewand, das die Arme vollständig frei ließ. Trat sie aus der Umfriedigung des Hauses hinaus, so hing sie einen Mantel von Linnenstoff, im Winter von Fellen um, den eine einfache Fibel, oft nur ein Dorn über der rechten Schulter zusammenhielt. Vornehme Frauen säumten Kleid und Mantel mit einem Purpurstreifen. Bronzene Ohrringe und schmale Spangen waren der einzige Schmuck. Das Haar fiel in natürlichen Strähnen frei den Rücken hinab. Diesem einfachen natürlichen Gewande konnte die Mode, das Kind der Cultur, nichts anhaben. Da drängte sich mehr und mehr die römische Sitte in die deutschen Urwälder, und wie die Deutschen Jungfrauen den putzsüchtigen Römerinnen ihr langes goldblondes Haar als gesuchten Mode-Artikel lieferten, so vermachten ihnen diese dafür den modischen verfeinerten Schnitt ihrer Kleider. Bald gesellte sich zu dem einen Gewande ein zweites am Obergewand, in der Form einer römischen Tunika mit enganschließenden Aermeln. Das Oberkleid bestand aus besserem Stoffe, aus Wollen später aus Seide und Sammet. Jetzt trat nur auch als weiteres wichtiges Moment die Farbe hinzu und damit Wechsel und Mannigfaltigkeit, welche die Entstehung der Mode bedingen.

Als das römische Reich untergegangen war wurde dessen östlicher Abzweig, das byzantinische Reich, maßgebend für den künstlerischen Geschmack des Westens, sowohl in Betreff des Baustils wie auch in Betreff der Gewandung. Das Charakteristische dieser byzantinischen Tracht, welche im zehnten und elften Jahrhundert an den deutschen und fränkischen Höfen verbreitet war, lag in der Enge und dem durch dieselbe bedingten Mangel eines freien Faltenwurfs der Kleider. Besonders fiel der Rock, den ein breiter Gürtel eng an das Untergewand anschloß, schmal und glatt, einem Sacke ähnlich, herab. Es hat fast achthundert Jahre gedauert, ehe dieses Motiv, und zwar im Anfang unseres Jahrhunderts und in der neuesten Gegenwart, wieder zur Herrschaft gelangte. Auch in Bezug auf die Kleiderstoffe brachte der Orient eine Erweiterung in den gemusterten Stoffen, aus denen besonders das Oberkleid bestand, indeß das Untergewand meist noch einfarbig blieb. Die Muster bildeten sich aus Punkten und Linien zu künstlich verschlungenen Ornamenten, zu Nachbildungen von Thieren und Pflanzen heraus. Besonders bedeutsam wurde die Einführung der Seide in die Arena der abendländischen Moden. Ihre malerische Wirkung wurde zu jener Zeit noch gehoben durch schwere und breite Goldborden, die sich am Saume der Aermel und an den Rändern der Röcke und Mäntel hinzogen, oft noch reich mit Edelsteinen und allerhand metallenem Zierrath überdeckt. Ihre Schwere trug noch besonders dazu bei, die Gewänder straff zu ziehen und ihnen jedes Gelüst einer faltigen Entwickelung zu nehmen. Es war nur eine Consequenz dieser Bekleidungsform, daß die deutsche Frau jetzt das einst freigetragene Haar in lange [804] Zöpfe flocht und diese wieder mit Bändern umschnürte und mit Metallplättchen beschwerte. Wenn ihr auch die Buntheit der Farben eine gewisse malerische Wirkung nicht versagte, so fehlte dieser Tracht umsomehr die plastische. So haben die uns besonders in Grabdenkmälern überlieferten Frauenbilder aus jener Zeit des zehnten bis zwölften Jahrhunderts etwas Erstarrtes, Mumienhaftes. Aber auch das Leben selbst war besonders an den Höfen ein starres, durch Bräuche und Gesetzesformen eng gebanntes. Von den Edlen bis hinab zu den Hörigen und Unfreien bestand eine strenge, kastenmäßige Standestheilung.

Da brach die Zeit des Minnesangs, des Ritterthums, des klassischen Mittelalters herauf. Sie war eine eminent frauenhafte. Die Frau war die Sonne, um welche sich fast das ganze Handeln und Empfinden der Zeit planetarisch drehte und in einen förmlichen Frauencultus sich verdichtete. Um sich dieser Verehrung Werth zu machen und den herrschenden Einfluß zu wahren, mußte die Frau darauf bedacht sein, die Gewalt ihrer Reize auch äußerlich in der Kleidung zur

Erste Periode.       Minnezeit.       Byzantinische Tracht.
Deutsche Frauentrachten.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Geltung zu bringen, und zwar zu jener poetischen Geltung, welche der Cultus des Mannes ihr zugewiesen hatte. Da warf sie das bretterartige Oberkleid von sich und ließ in künstlerischer Freiheit, in freiem Gusse das Kleid vom Halse über die Brust und Hüfte zu den Füßen gleiten. Die übermäßige Last des Zierrathes schwand, bis auf den Schmuck des golddurchwirkten Gürtels. Das Untergewand endete in eine nicht zu lange Schleppe.

Das kürzere, meist ärmellose Obergewand wurde auf der linken Seite nach bestehender Sitte aufgerafft und durch die Hand oder im Gürtel festgehalten, so Gelegenheit bietend zu Entwickelung eines künstlerischen Faltenwurfes. Der Gürtel saß mehr auf der Hüfte, sodaß er den natürlichen Formenguß des Körpers nicht unterbrach; sein langes Ende fiel vorn auf dem Kleide herab. Der Mantel wurde nicht mehr auf der Schulter befestigt, sondern durch eine über die Brust herübergehende Borde oder Schnur, den sogenannten Fürgespann gehalten, den zwei am Rande der beiden Mantelhälften angebrachte Spangen oder Rosetten verknüpften. So legte er sich um das Bild des Leibes wie ein dessen Wirkung hebender Rahmen herum, während er denselben zum Theil sittsam wie ein Vorhang verdeckte. Das Haar, welches häufig ein Kranz schmückte, fiel wieder frei, aber nicht ungefesselt lose, sondern in langen Locken auf die Schultern.

Bei dieser Mode hatte sich zur malerischen noch die plastische Wirkung gesellt, und so wurde dieses mittelalterliche Costüm das eigentliche Idealcostüm der deutschen Frau. Zu ihm greift noch heute der Maler, wenn er in der weiblichen Erscheinung neben dem Erhabenen und Edlen das Nationale verkörpern will. Es ist die Tracht der Germania, welche die Zeit unserer großen nationalen Erhebung uns so vielfach bildlich verherrlichte.

Auch diese klassische Zeit verfiel nach dem Gesetze alles Irdischen. Schon mit dem vierzehnten Jahrhundert beginnt ihre Entartung. Mit dem sechszehnten Jahrhundert aber brach eine neue Zeit an; sie erwuchs aus einer Periode der Gährung, des Uebergangs, in der sich Altes und Neues theilweise in den wildesten Gegensätzen begegnete und bekämpfte. Neben dem ersterbenden Ritterthum der Burgen erhob sich das Bürgerthum der Städte mit ganz anderer Arbeit, ganz anderen Zielen als jenes. Da saß wilde Ausgelassenheit dicht neben frommer Askese und schwärmerischer Mystik. Die bisher in die Klöster gebannte Gelehrsamkeit trat auf den offenen Markt, errang sich in Schulen und Universitäten eine freie Stätte des Wirkens, aber steckte auch wieder tief in den Formen pedantischer Scholastik. Auch hier ist die Tracht ein Spiegel der Zeit; auch diesmal zeigt sich in den Costümen die charakterlose Zeitstimmung; die Tracht verfiel der Manier, der Uebertreibung, während sie auf der andern Seite auch wieder eine gewisse Würde bewahrte. Am grellsten tritt die Wandlung zunächst hervor im Costüm des Mannes, während die Frau wohl im Bewußtsein, daß sie damit nur gewinne, noch eine Zeitlang an der schönen und idealen Tracht der Minnezeit festhielt. Der Mann verkürzte den langen Rock, der sich von dem Frauenrocke nur durch die größere Länge unterschieden hatte, bis zur Jacke. Er huldigte dabei so in extravaganter Weise dem Grundsatze faltenloser Verengung, daß er sich zuletzt außer Stande sah, ohne fremde Hülfe in seine Kleider zu kommen. Da diese ihm nun nicht immer zu Gebote stand, so fing er an die Aermel und den Rock der Länge nach zu zerschneiden und den Schlitz dann wieder durch Knöpfe oder Schnuren zu verbinden – gewiß ein sehr charakteristisches Bild der ganzen zerfahrenen Zeit!

Weiter verlieh er dem Körper nach beiden Seiten hin, sowohl nach oben wie nach unten, durch Gugel- und Schnabelschuh eine drastisch komische Fortsetzung. Die Gugel war eine enganliegende Kapuze, welche in einen Schwanz auslief, der oft bis zu den Füßen hinabreichte. Sie wurde später die specifische Kopfbedeckung der Narren, ein Schicksal, das sie gründlich verdiente. Die Schnabelschuhe dagegen bildeten, in der Farbe des Beinkleides gehalten, gewissermaßen dessen Verlängerung, indem sie noch eine gute Länge, mitunter ein paar Ellen über den Fuß hinausgingen und beim Gehen, wenn sie nicht am Knie festgebunden waren, hin und her schlenkerten. Mit der Zeit konnte sich auch die Frau dem Reize dieser Mode und der Macht des Männlichen nicht entziehen. Auch sie verzerrte die sonst gerühmte Kleinheit des Fußes durch den diesen verlängernden Schnabelschuh. Auch sie stülpte eine unschöne Gugelhaube auf das sonst nur mit einem Kranze oder Goldreif gezierte Haar. Von diesen Gugeln sagt eine Chronik vom Jahre 1380 spöttelnd: „sie stunden vorn uff zu Berg über’m Haupte, als wenn man die Heiligen malt“.

Andererseits wuchs die weibliche Kopfbedeckung durch Tücher und Drahtgestelle zu einem zuckerhutförmigen Aufputze empor, dem Hennin oder Cornet, von dessen Spitze dann ein Schleiertuch herabwallte. Dieser Hennin erreichte oft eine Höhe bis zu sechszig Centimetern und hatte damit wenigstens das Eine für sich, daß er die Frauen Demuth lehrte; denn er nöthigte seine Trägerin unter den niedrigen Thüreingängen sich immer tief zu bücken. Damit er eine innere Stütze erhielt, wurde das Haar unter demselben figurenartig aufgebunden, und es galt damals wider alle ästhetische [805] Ueberlieferung eine hohe haarfreie Stirn als ein Merkmal der Schönheit. Auch der von der Männerwelt zur Geltung gebrachten Tendenz der Verengerung huldigte die Frau in dem oberen Theile ihrer Gewandung; um nun aber Schneider und Tuchmacher wieder zu entschädigen, oder um nur doch auch Etwas vor den Männern voraus zu haben, fügten die Frauen jener Tage an die Schultern oder die Ellbogen, außer den gewöhnlichen Aermeln noch, nach dem gang und gäben Ausdruck der Zeit, lange „Lappen“ oder „Zotteln“, die oft bis zum Boden herabfielen und sie wie flatternde Segeltücher umwallten.

Als folgerichtiges Seitenstück dazu liefen nun auch Mantel und Oberrock in langen Schleppen aus, ja es legte sich um die Füße herum eine solche Masse, von Stoff, daß die Frauen zur Vorwärtsbewegung außer den Füßen auch noch die Hände nöthig hatten, sei’s die eigenen oder die von Pagen. Das, was unsere lieben Frauen in der Entfaltung dieser „Zottel- oder Schleppentracht“ leisteten, war so weitgehend, daß sich sogar eine wohllöbliche Polizei in’s Mittel legte. So

XIV. und XV. Jahrhundert.       Spanische Tracht.       Renaissance.
Deutsche Frauentrachten.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

entstanden jene bekannten Kleiderordnungen, wahre Cabinetstücke für den Culturhistoriker. In einer solchen des Frankfurter Magistrats vom Jahre 1350 wird verordnet: „Die Lappen an den Ermeln der Kleider sollen nicht über eine Elle lang sein. Die Weiber sollen keine Kogeln tragen, die sein streifrecht, geteilet oder gestückelt, auch Kruseln und Hüllen größer denn von sechsfachem Zeug.“ Eine Polizeiordnung Kurfürst Ernst’s und Herzog Albert’s von Sachsen aus dem Jahre 1482 verbietet, Kleider zu tragen, die über zwei Ellen lang auf der Erde nachschleppen; andernfalls, hieß es in dieser wie in andern Verordnungen, daß man solche „bis auf den Fußboden schwelgende Schweife uff des Rathhaus antwurten, allda absneiden und zum rechten Maase kürzen“ werde. Da sich im Punkte der Mode Frauen nun einmal nichts beschreiben lassen, auch nicht von der Polizei, so hatten die Stadtknechte damals vollauf zu thun.

In dieser Periode fing man auch an die Taille von ihrem Sitzpunkte weg und zwar mehr nach oben zu verlegen. Dieses Hinauf- und Herabrücken der Kleidertaille bildet dann ein wesentliches Moment in der Entwickelungsgeschichte der Frauentracht.

Der Eintritt der Reformation, der zugleich auch den Eintritt einer ganz neuen Zeit markirt, übte natürlich auch einen regenerirenden Einfluß auf die Tracht. Mit der ernsteren Zeitstimmung schwanden auch die Extravaganzen und Thorheiten in der Kleidung. Die Zotteln und Schleppen fielen ab; die Taille rückte wieder auf ihren natürlichen Sitz. An die Stelle der unförmlichen Gugeln und Zuckerhüte traten zierliche Netze aus Goldfäden (Calotten) oder auch helmartig geformte weiße Häubchen, unter denen das Haar in gewundenen Zöpfen oder natürlichen Löckchen wieder hervorsah. Vornehme Frauen trugen außer dem Hause oder bei feierlichen Gelegenheiten über den Calotten noch Sammetbarette mit einem Kranze wehender Straußfedern.

Weiter tritt als die folgenreichste Wandlung jetzt zum ersten Male das Mieder auf, das in seiner Trennung von dem andersfarbigen Rocke eine Zweitheilung der ganzen Gestalt hervorruft, und als die Ahnmutter der Wespentaille, des Schnürleibs, der männlichen Weste und der weiter in dieses Fach einschlagenden Mode-Artikel zu gelten hat. Das Leibchen erscheint viereckig ausgeschnitten über einem weißleinenen Chemiset, das die Volkssprache als das eigentliche Mieder bezeichnet. An den engen glatt anliegenden Aermeln bilden weiße Ausbauschungen, unterbunden mit Sammetbändern oder Goldborden, eine malerische Unterbrechung. Ein Gürtel von Leder oder Metall fällt seitwärts auf die Hüfte nieder, und an ihm befestigt hängt eine Tasche zur Aufnahme von Scheere, Nadeln und Messer. Es ist die Zeit der Gretchen und Klärchen, die Zeit der Renaissance, die sich der besondern Gunst unserer Historienmaler erfreut. Die Tracht enthält – nicht zu ihrem Schaden – viele Reminiscenzen an die Tracht des ritterlichen Mittelalters, so in dem Aufraffen des Oberkleids zu einem anmuthigen Faltenwurfe unter gleicher Benutzung des Gürtels.

Da macht in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts, hervorgerufen durch den überall, besonders aber in Deutschland, breitmachenden spanischen Einfluß – die Tracht auf einmal wieder einen Sprung in’s Barocke. Die Herrschaft des freien Faltenwurfs geht dabei ganz wieder unter; das Costüm beginnt von Kopf bis zu den Füßen zu erstarren. Denn schon der Hals wird eingezwängt und verdeckt durch eine in die steifsten Falten gelegte mühlsteinförmige und schließlich auch mühlsteingroße Krause. Ein Kunst-Schriftsteller, Jacob von Falke, vergleicht sie ganz treffend mit der Schüssel der Herodias, auf welcher das Haupt Johannis des Täufers ruht. Die Taille sank wieder tiefer hinab und erhielt zum ersten Male eine Schneppe. Ja, sie verengte sich durch eine aus Stahlpanzer bestehende Maschine bis zur modernen Wespentaille. Oben schließt das Kleid eng an die Krause an, jeder Entblößung ängstlich wehrend. In’s ärgste Extrem gerieth aber dieses spanische Erstarrungsmotiv, das mit der steifen Etiquette des spanischen Hofes Hand in Hand ging, in dem an die Panzertaille sich anschließenden Rock. Anfangs wurde die Steifheit desselben durch Filz hergestellt. Das genügte jedoch nicht, und man erfand ein förmliches Gestell von eisernen Reifen, über das man das Kleiderzeug spannte. Hatte dieses Gestell im Anfang die barocke, aber immerhin noch nicht ganz unschöne Form einer Glocke, so fing es später an sich unten zu verengen und oben zu erweitern, sodaß die Dame unterhalb der Taille einer wandelnden Tonne oder Birne glich. Allem ästhetischen Gefühle Hohn sprechend und nicht einmal den Anforderungen gemeiner Zweckmäßigkeit genügend, bot diese Kleidertonne wenigstens den einen Vortheil, daß die Damen ihre Arme bequem darauf ruhen lassen konnten. Und dieses Motiv taucht jetzt wieder am Horizonte der Mode auf.

Dem Charakter der Tracht entsprechend, wurde nun auch das Haar wieder in die Höhe gekämmt und von einer Schneppenhaube umspannt, welcher die schöne unglückliche Königin von Schottland, Maria Stuart, den Namen und zugleich mit jenem Brauche, wie die Gegenwart lehrt, eine gewisse Unsterblichkeit lieh. Andererseits [806] wurde auch das Haar in die seitherigen Goldnetze aufgenommen, und diese wurden mit einem ganz winzigen Hütchen oder kokett zur Seite getragenen Käppchen bedeckt. Auch wider diese „mit Eisen oder sonst weit ausgesperrten Röcke“ kämpfte die Polizei lange vergeblich an; denn wir finden sie noch im Jahre 1619 in einer braunschweigischen Klosterordnung erwähnt. Selbst als am Ende dieser auch in der Kunstgeschichte als Barockrenaissance bezeichneten Periode Halskragen und Rock wieder auf ein ästhetisch erträgliches Maß zurückgegangen waren, zeigt sich das Barocke immer noch in den hohen Achselbauschen der Aermel, in den kurzen weit abstehenden Jacken und den tapetenartig gemusterten Streifen, die vorn an den Kleidern wie Schürzen herabliefen.

Soviel für heute über die Geschichte der Frauenmoden! Unser zweiter und letzter Artikel wird die Entwickelung der Frauentrachten bis in die Zeiten unserer Mütter und über dieselben hinaus dem Leser vorführen.




Nachdruck verboten.
Kaiser Josef.
Den Deutsch-Oestreichern zur Säcularfeier von Josefs Thronbesteigung gewidmet
von Johannes Scherr.
(Fortsetzung.)


3.

Mammon und Moloch, das goldene Kalb und der eherne Stier, Geld und Erfolg, das sind die einzigen Götter, an welche unsere Zeit mit Inbrunst glaubt. Auch eine unsittliche Geschichtschreibung, wie sie dermalen nur allzu sehr und namentlich in Deutschland obenauf ist, kniet und räuchert vor diesen Götzen. Sie thut groß damit, das ethische Princip aus der Geschichtewissenschaft verbannt zu haben. Sie hat es glücklich dahin gebracht, die Gegensätze von gut und bös, recht und schlecht, edel und gemein, hochherzig und niederträchtig in die „Harmonie wissenschaftlicher Objektivität“ aufzulösen und den Erfolg oder Nichterfolg als einzigen Werthmesser von Gedanken und Thaten, von Menschen und Dingen anzuerkennen und auszurufen. Sie vergiftet die Jugend, indem sie in den unerfahrenen Augen derselben den Unterschied von Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge, Freiheit und Knechtschaft als „wissenschaftlich unwesentlich“ erscheinen zu lassen sich bemüht und die jungen Leute förmlich zur charakterlosen Streberei verleitet und ermuntert. Sie hat in nicht geringem Grade die moralische Krankheit unserer Zeit mitverschuldet. Denn, des Gewissens ledig, wie sie ist, hat sie mittels ihrer ganzen Gebarung nach Kräften das Rechtsgefühl geschwächt, das Pflichtbewußtsein untergraben, die Begeisterung für das Ideale und den Haß des Schändlichen lahmgelegt, die Grundsatzlosigkeit für preiswürdig „objektiv“ ausgegeben, die Laxheit und Leichtfertigkeit der Anschauung und der Lebensführung gefördert.

Eine solche Auffassung und Darstellung der Geschichte kann dem Kaiser Josef nicht gerecht werden. Sie hat für ihn nur ein dünkelhaftes Achselzucken. Er beging ja die unverzeihliche Sünde, kein Glück, keinen Erfolg zu haben. Hätte er das gehabt, so würden die Pfaffen des ehernen Stieres „Josef den Großen“ unendlich behallelujahen, über alle seine Mängel und Mißgriffe „objektiv“ hinwegsehen und mit Napoleon singen und sagen: „Le succès justifie tout.“

Und hatte denn wirklich Josef keinen Erfolg? Ein Mann, der mehr Schärfe des Blickes und Urtheils, mehr geschichtlichen Sinn besaß als hundert schulweise Pedanten, Georg Förster, hat anders gesehen und geurtheilt. Sein bekannter Ausspruch: „Aus der Fackel von Josefs Geist ist ein Funke in Oestreich gefallen, der nie erlöschen wird“ – enthält eine Wahrheit, welche nur ganz Urtheilslose zu bestreiten sich versucht fühlen dürften. Allerdings nur ein „Funke“. Aber alles Licht, was seither in Oestreich aufgegangen, aus diesem josefinischen Funken ist es entsprungen. Ist das etwa kein Erfolg?

Josefs Beschreiten der politischen Bühne wird markirt durch seine im März von 1764 erfolgte Wahl zum „Römischen König“, d. h. zum bezeichneten Nachfolger seines Vaters in der deutschen Kaiserwürde, durch das Kurfürstenkollegium des deutschen Reiches. Im April fand seine Krönung zu Frankfurt a. M. statt, welche weitschichtige Haupt- und Staatsaktion, wie jeder weiß, Göthe aus den Erinnerungen seiner Knabenzeit ausführlich und anziehend in „Dichtung und Wahrheit“ beschrieben hat. Der Gekrönte selbst nahm dieselbe, wie sein Briefwechsel darthut, mehr von der heiteren als von der erhabenen Seite. Er muß in dem anachronistischen Krönungsornat mehr lächerlich als feierlich sich ausgenommen haben und fühlte das selber ganz gut[2]. Konnte er doch, so wie die Sachen im deutschen Reiche lagen, das ganze Krönungsspektakel nur für eine Maskerade ansehen. Das deutsche Reich, seit dem westfälischen Frieden ein sterbendes, war seit dem hubertusburger ein todtes. Josef hatte, als er nach dem unerwartet baldigen, im August von 1765 erfolgten Tode seines Vaters aus dem römischen König zum deutschen Kaiser geworden, ganz zweifellos die redliche Absicht, dem Reichscadaver neues Leben einzublasen. Aber da war alle Liebesmühe umsonst. In diesem Moder konnte keine Reformsaat mehr Wurzel schlagen. Josef mußte bald erkennen, daß seine deutsche Kaiserschaft nur eine ceremonielle Bedeutung hätte und höchstens dazu ausreichte, dann und wann einem der kleinsten und wüstesten unter den deutschen Duodez- oder Sedeztyrannen von damals einen heilsamen Schrecken einzujagen, und so wandte er denn Wollen und Thun der Staatsleitung von Oestreich zu.

Maria Theresia, welche die unruhige Neuerungslust ihres Sohnes gar wohl kannte und scheute, hatte denselben von einer thätlichen Betheiligung an den Staatsangelegenheiten bislang möglichst fernzuhalten gesucht und gewußt. Nun aber, durch den Tod ihres Gemahls, über dessen Flattereien sie großmüthig hinweggesehen, so tief gebeugt, daß sie ihren heiteren Sinn als Frau und ihren Muth und ihre Kraft als Herrscherin nie mehr völlig zurückgewann, suchte sie nach einer Stütze, und die nächste und naturgemäßeste war ihr Sohn Josef, welchen sie darum förmlich und feierlich zum Mitregenten annahm.

Das war ein unerquickliches und nicht selten geradezu peinliches Verhältniß von Anfang an, was sich sofort herausstellte, wenn der Mitregent Oestreichs seine Rolle ernsthaft zu nehmen Miene machte. Zugleich mit der Bekanntmachung des Mitregentschaftspatentes begann die heimliche Minirarbeit und das offene Widerstreben, welche mitsammen schließlich das Herz des Kaisers brachen und sein Werk vernichteten. Alles, was bisher von den Mißbräuchen der Staats- und Kirchenverwaltung gelebt und sich gemästet hatte, verschwor sich gegen den Neuerer Josef, welcher es wagte, in das ungeheure östreichische Drohnennest der Faulheit, des Schlendrians und des Wohllebens mit reformatorischer Hand hineinzugreifen. Alle die aufgestörten oder auch nur mit Aufstörung bedrohten bureaukratischen, hierarchischen und aristokratischen Drohnen wurden zu Wespen, zu Hornissen wider den Kaiser, der es versuchte, sie aus dem Halbschlummer träger Genüßlichkeit zum Denken und Schaffen für das allgemeine Beste, zur Arbeit, zum Fleiß, zur Pflichttreue zu rufen. Kanzlei, Sakristei und Kaserne verbündeten sich gegen ihn, und das Hofungeziefer aller Grade und Sorten kam mit den Nadelstichen giftiger Bosheit den Keulenschlägen zu Hilfe, welche Kamaschenhelden, Bonzen und Schreibstubenmatadore zu führen unternahmen. Den vereinigten Gegnern Josefs gelang es sehr bald, seine Mutter auf die doch immerhin sehr bescheiden und rücksichtsvoll gehandhabte Mitregentschaft ihres Sohnes eifersüchtig zu machen, und in Folge [807] dessen stand sie nicht an, Josefs Thätigkeit nach Möglichkeit einzuschränken, ja wohl auf gewissen Gebieten ganz brach zu legen. Mit Recht darüber ungehalten, zog er sich zeitweilig ganz von den Geschäften zurück oder suchte seinen Kummer auf Reisen zu vergessen. Allbekannt ist, welches Erstaunen die Einfachheit, Mäßigung und Lernbegierde des Grafen von Falkenstein – unter diesem Namen pflegte der Kaiser im Auslande zu reisen – im Jahre 1777 am Hofe von Versailles und in der schon dem großen Revolutionskrach sich zuschwindelnden pariser Gesellschaft erregten, sowie, daß er die Unbesonnenheit und Verschwendungssucht seiner Schwester, der Königin Marie Antoinette, ganz offen tadelte. Acht Jahre zuvor, 1769, war er in den Straßen von Rom vom Volke mit dem Rufe: „Evviva il imperatore!“ begrüßt worden und hatte den Kardinal Ganganelli als Papst Klemens den Vierzehnten aus dem Konklave hervorgehen gesehen.

In demselben Jahre 1769 hatte er seine berühmte Zusammenkunft mit Friedrich dem Großen zu Neisse in Schlesien, gegen welche Zusammenkunft der Groll Maria Theresia’s sich lange gesträubt. Hätten glücklichere Sterne über Deutschland gestanden, so würde sich aus dieser Begegnung der beiden Fürsten und aus einer zweiten, welche ein Jahr später zu Mährisch-Neustadt stattfand, wohl ein aufrichtiges Einvernehmen zwischen Oestreich und Preußen entwickelt haben. Es sollte nicht sein und hundert und etliche Jahre mußten noch vergehen, die furchtbarsten Krisen und Katastrophen, Kämpfe und Leiden mußten die beiden Staaten noch durchmachen, bevor ein solches Einvernehmen möglich wurde. Josefs Hast und Vorschnelligkeit wird deutlich aufgezeigt in den vertraulichen Berichten an seine Mutter über das Zusammentreffen mit Friedrich, welchen er zweifelsohne bewunderte und über den er dennoch sehr ungünstig urtheilte. „Der König“ – schrieb er – „hat uns mit Höflichkeit und Freundschaft überhäuft, aber alle seine Vorschläge lassen herausfühlen, daß man es mit einem Schelm zu thun hat. Ich glaube, daß er den Frieden wünscht, aber nicht aus gutem Herzen, sondern weil er sieht, daß er einen Krieg nicht mit Vortheil führen könnte.“

Friedrich seinerseits urtheilte viel besonnener und auch viel wohlwollender. „Ich bin“ – schrieb er im September von 1770 an Voltaire – „in Mähren gewesen und habe da den Kaiser besucht, der sich anschickt, in Europa eine große Rolle zu spielen. Er ist an einem bigoten Hofe aufgewachsen und hat den Aberglauben abgestreift; er ist im Pomp und Prunk auferzogen und hat einfache Sitten angenommen; er wurde mit Weihrauch großgenährt und er ist bescheiden; er glüht von Ruhmbegierde und opfert seinen Ehrgeiz der kindlichen Pflicht; er hat nur Pedanten zu Lehrern gehabt und besitzt doch Geschmack genug, Voltaire’s Werke zu lesen und zu schätzen!“

Von hochpolitischer, aber auch tieftrauriger Natur war die Reise, welche der Kaiser im Juni von 1780 nach Russland unternahm, um in Mohilew mit Katharina der Zweiten zusammenzutreffen, die persönliche Bekanntschaft der „Semiramis des Nordens“ zu machen, und, wenn immer möglich, die Zarin von dem Bündniß mit Preußen abzuwenden und zu einer Allianz mit Oestreich herüberzuziehen. Man muß der greisen Maria Theresia nachrühmen, daß sie ganz entschieden gegen diese Reise und gegen dieses Projekt war. Aber Josef brannte darauf und ließ sich nicht abhalten. „Ich kann nicht leugnen“ – schrieb er an Lascy – „daß ich neugierig bin, diese Bekanntschaft zu machen. Könnte ich dadurch die Galle des geliebten Friedrichs so aufregen, daß er daran umkommen würde.“

Ja, das war’s. Der unselige Dualismus zwischen Oestreich und Preußen, dessen einzelne Phasen und Metamorphosen Deutschland allzeit so schwer zu büßen hatte, regte sich wieder einmal mit seiner ganzen Schärfe. Josefs Reise nach Mohilew bezeichnete den Beginn vom Wettlauf des wiener Hofes mit dem berliner um die Gunst der Zarin, deren skrupellose, geradezu dämonische, infernalische Schlauheit Oestreich geradeso zur Förderung ihres „türkischen Projektes“ zu benützen verstand, wie sie Preußen zur Förderung ihres „polnischen Projektes“ vorzuspannen verstanden hatte. Es ist wahr, zu einer solchen fast kriechenden Unterwürfigkeit, zu einer so widrig-süßlichen Schmeichelei, wie Friedrich sie der Semiramis von der Newa gegenüber verschwenderisch bezeigte, hat Josef sich nicht entwürdigt. Aber doch ließ er sich von der Zarin mittels Vorspiegelung einer Theilung der Türkei zwischen Russland und Oestreich schließlich in einen Krieg mit den Türken hineingaukeln, welcher für ihn und für Oestreich so opfervoll und unglücklich wurde und nur den russischen Interessen diente.

Es ist nur zu gewiß und bildet eins der jammervollsten Kapitel der von solchen Kapiteln strotzenden Geschichte Deutschlands, daß die Wettbuhlerei des berliner und des wiener Hofes um die Freundschaft – gerechter Gott, die „Freundschaft“! – des Zarenthums dieses erst recht groß, mächtig, ländergierig und völkerfresserisch gemacht und jene lange und unselige Abhängigkeit unseres Landes von den Interessen, ja von den Launen dieses Zarenthums verschuldet hat, von welcher man jetzt annehmen darf, daß sie endlich aufgehört habe.

Daß Kaiser Josef in die gewissenlosen Tendenzen der Kabinettspolitik von damals mit leidenschaftlicher Hast eingegangen, das ist die schwärzeste Makel an ihm, eine Makel, welche nur Unwissenheit oder reptilische Geschichtefälschung zu vertuschen oder gar wegzuwischen sich versucht fühlen könnten. Josef war ein geradezu leidenschaftlicher Betreiber der ersten Theilung von Polen, welche mittels des Uebereinkommens zwischen Russland, Preußen und Oestreich vom August 1772 zur diplomatischen und ein Jahr später mittels der schnöden Vergewaltigung des polnischen Reichstages zur vollendeten Thatsache wurde. Die Gerechtigkeit will, daß man sage: Wie der Nutzen, so ist auch die Verschuldung Josefs bei diesem Raubgeschäfte großen Stils größer gewesen als die Friedrichs. Dieser konnte wenigstens zu seiner Entschuldigung Triftiges vorbringen. Durch des großen Königs Walten im Krieg und im Frieden war Preußen eine europäische Macht geworden, aber eine Großmacht, welche bedenklich einer auf ihre Spitze gestellten Pyramide glich. Es galt, der Pyramide eine bessere, eine breitere Basis zu geben. Es mußte – falls Friedrich sein eigenes Werk nicht zerstören wollte, und wie konnte er das wollen? – das schreiende Mißverhältniß zwischen der militärisch-politischen Stellung und Bedeutung Preußens und der materiell-territorialen Unterlage dieser Stellung und Bedeutung wenigstens annähernd ausgeglichen werden. Diese Ausgleichung mittels einer Vergrößerung des preußischen Staates durch Theile des von seinen Junkern und Pfaffen zu Grunde gerichteten, in der Agonie der Anarchie röchelnden Polens zu bewerkstelligen, dazu lag die Versuchung sehr nahe. Josef konnte eine solche Entschuldigung nicht für sich anführen. Das Ländergebiet Oestreichs war wahrlich groß genug, um eine Großmacht zu sein. Der östreichische Staat hätte weit mehr der inneren Festigung, Civilisirung und Entwickelung bedurft als der Vergrößerung nach außen. Maria Theresia’s Rechtsgefühl empörte sich vergeblich gegen das polnische Raubgeschäft, und wenn sie dem stürmischen Drängen ihres Sohnes und dem beharrlichen ihres ersten Ministers Kaunitz schließlich wich, so that sie es doch nicht, ohne in ihrem bezüglichen Handbillet an den letzteren der Welt ein unwidersprechliches Zeugniß zu hinterlassen, daß es sich um ein Verbrechen handelte, welches zugleich ein großer politischer Fehler war. „In dieser Sach, wo nit allein das offenbare Recht himmelschreiet wider uns, sondern auch alle Billigkeit und die gesunde Vernunft wider uns ist, mueß bekhennen, daß zeitlebens nit so beängstiget mich befunden und mich sehen zu lassen schäme.“ Friedrich hat sich freilich über die Bedenken und die Scham der Kaiserin in nicht eben feiner Weise lustig gemacht.[3] Allein heute darf man wohl die Frage aufwerfen, ob Maria Theresia hinsichtlich der Theilung Polens nicht richtig gesehen und gefühlt habe. Höfische Schreibsklaven, welche alles zu rechtfertigen [808] wissen, was man sie rechtfertigen heißt, sagten und sagen freilich: Falls Oestreich und Preußen nicht mitgethan, so hätte Russland den polnischen Raub allein eingesackt. Und wenn? fragen dagegen das „offenbare Recht“ und die „gesunde Vernunft“. Wäre es etwa ein Unglück für Deutschland, für Oestreich, für Europa, wenn Russland den ganzen polnischen Pfahl in seinem Fleische stecken hätte?

(Schluß folgt.)




Zwischen Fels und Klippen.
Eine Strandromanze von Ernst Ziel.
(Schluß.)


Die Truhe angetrieben! Karin horchte freudig auf. Für Hallerstein war es eine aufregende Nachricht. Und doch, wie beruhigte ihn die Gewißheit, das seltsame Erbstück, an das sich für ihn die Erfüllung einer Gewissenspflicht knüpfte, geborgen zu wissen! Hatte er doch geloben müssen, die geheimnißvolle Lade am dritten Tage nach der Hochzeit – der heutige war freilich schon der vierte – zu öffnen. Was hatte sein Schwiegervater mit diesem sonderbaren Vermächtniß bezweckt, das seit dessen Tode im Familienarchiv zu Stockholm gehegt und behütet worden, um nach des Schicksals wunderbarer Fügung heute auf einer öden Felseninsel von ihm, dem eben Vermählten, seines Geheimnisses entkleidet zu werden? Was mochte die Truhe enthalten?

Diese Fragen beschäftigten Hallerstein, als die starkwandige kleine Kiste, massiv und prächtig im Rococostile gearbeitet und vielfach mit Gold beschlagen, von Axel herbeigebracht wurde.

„Herr,“ sagte der Bursche, zu Vater Claus gewandt, „Daniel erwartet mich bei dem Boote; es giebt viel Arbeit daran.“

Auf einen Wink des Alten ging er wieder; die Anderen hatten sich im Kreise um das merkwürdige Schaustück versammelt.

„Karin, so war Dein kühnes Wagniß doch nicht umsonst,“ richtete sich Hallerstein an das Mädchen, als der erste vorsichtige Hammerschlag zur Sprengung des Schlosses gefallen war.

Die Truhe sprang auf. Die Documente, welche sie enthielt, waren vom Wasser stark durchweicht, aber die Schrift darauf keineswegs unleserlich. Obenauf lag in versiegeltes Papier mit der Adresse des Barons.

Er erbrach es.

„Ein Brief meines Schwiegervaters.“

Er setzte sich abseits auf einen Stein, und während er las, malte sich in seinen Zügen zuerst Ueberraschung, dann wachsendes Erstaunen.

„Seltsam!“ sagte er, nachdem er gelesen und sich erhoben hatte. „Wer hätte das vermuthet!“

Er reichte Vater Claus den Brief.

„Nehmt! Es ist ja eine Post aus dem Jenseits. Die Zwei, um die es sich handelt, sind todt, und ich, der Dritte, begehe keinen Vertrauensbruch, wenn ich sage: Lest! Liegt diese einsame Insel doch außerhalb der Welt.“

„'Lieber Neffe, der Du in Zukunft mein Schwiegersohn heißen wirst',“ las der Alte vernehmlich, „'mein Gewissen gebietet mir, Dir, ehe ich das Zeitliche segne, ein Geständniß abzulegen. Es war, wie Du gewiß anerkennen wirst, ein weiser und nur im Interesse des Familienwohles gethaner Schritt, daß wir, meine Gemahlin und ich, im Einverständniß mit Deinen Eltern Dir schon im zartesten Knabenalter unsere einzige Tochter Margaretha verlobten und durch diese Verbindung der beiden letzten Träger unseres Namens das Anheimfallen unserer großen Güter an schwedische Vettern und Schwäger verhinderten. Nun aber hätte das Schicksal, welches mich schwer geprüft hat, die Früchte dieses unseres wohlüberdachten Schrittes vereitelt, hülfe die Klugheit mir nicht dennoch zum Ziel. Auf der Rückreise von Deutschland nämlich, wohin wir zur Ordnung der Angelegenheit mit dem Kinde gegangen und wo Du, noch ein Knabe, der Bräutigam unserer kleinen Margaretha geworden, verschlug uns der Sturm in die finnischen Schären – '“

„In die finnischen Schären?“ unterbrach sich Vater Claus.

„In die finnischen Schären,“ bestätigte der Baron, „so steht es da – in die auch ich verschlagen wurde.“

„Merkwürdiges Zusammentreffen!“ meinte kopfschüttelnd der Alte. „'Es war ein böses Wetter,'“ fuhr er zu lesen fort. „'Wir strandeten. Mich rettete ein besonderer Glückszufall, aber meine Gemahlin und unsere kleine Margaretha fanden den Tod in den Wellen. O, es war ein harter Schicksalsschlag. Und nun höre weiter: Da das Kind, welches das Band zwischen den deutschen und den schwedischen Hallerstein's war, nun todt, wie sollte ich Dir da das Erbrecht auf meine Güter wahren und es den schwedischen Vettern und Schwägern entziehen? Noch eine Tochter, nur wenige Monate älter als Margaretha, nannte ich mein, von der die Welt nichts wußte, nichts wissen durfte. Nun mußte sie meinem Zwecke dienen: ich nahm die unschuldig Verstoßene an Margarethens Stelle in mein Haus, gab ihr den Namen der Todten und erzog sie Dir. Sie wird Dein Weib sein, wenn Du diese Zeilen liest. Die Adoptionspapiere und alle darauf bezüglichen Documente findest Du in diesem Schrein. Niemand weiß von der Unterschiebung des Kindes, Deine Eltern nicht ausgenommen. Und nun noch Eines: Als Zeichen meiner väterlichen Liebe empfingst Du, wie Du ja weißt, beim Verlöbniß mein Medaillonportrait in Perlenfassung – '“

„Medaillonportrait und gestrandet in den finnischen Schären?“ brach Vater Claus abermals ab, und seine Mienen trugen den Ausdruck gespannter Erwartung.

„In Perlenfassung?“ fragte Mutter Hedda halblaut und in sichtlicher Ueberraschung.

„Seltsam,“ sagte Karin leise, „ganz wie das meinige!“

„Hier,“ rief Hallerstein und zeigte auf seine Brust, „hier trag' ich das Bild noch heute. Was ist da seltsam?“

„'Aber meine Margarethe,'“ knüpfte der Alte den Faden des Briefes wieder an, „'empfing zur Bezeichnung des feierlichen Actes das Portrait Deines Vaters in gleicher Fassung –'“ „In gleicher Fassung,“ wiederholte Vater Claus, auf's Höchste gespannt. „Baron,“ unterbrach er sich plötzlich, „in welchem Jahre trug sich die Strandung zu?“

Hallerstein sann einen Augenblick nach. „Es muß nun fünfzehn Jahre her sein,“ sagte er.

„Wunderbar! Auch das trifft zu,“ murmelte der Graukopf vor sich hin.

„Die Hand des Himmels!“ flüsterte Mutter Hedda, und Karin machte eine Bewegung des Schreckens. Eine Bangigkeit überfiel sie, als trete das gewaltige Schicksal plötzlich an sie heran, und doch war es eine süße Bangigkeit, als würde ein dunkler Abgrund, an dem sie lange gebrütet, auf einmal von tausend Sonnen durchleuchtet.

Vater Claus blickte nachdenklich in den Brief, der in seiner Hand zitterte; er machte eine Bewegung, wie Einer, der einer inneren Unruhe gewaltsam Herr zu werden ringt.

„'Diese Bilder,'“ las er weiter, und seine Stimme bebte heimlich, „'sollten Euch Kindern ein Denkmal elterlicher Liebe und für Fälle der Verwirrung oder Entfremdung ein Erkennungszeichen sein. Aber Margarethens Medaillonbild, Du wirst es früh genug bei Deinem Weibe vermissen; denn es liegt mit der echten Margarethe am Grunde des Meeres. Sei glücklich mit der, die ich statt der legitimen Tochter Dir an's Herz lege! Ich wollte nicht ohne den Trost der Beichte vor Gottes Thron treten.'“

Der Alte schwieg. Mutter Hedda und Karin standen in wortloser Erregung da. Hallerstein blickte die Drei fragend an; er begriff nicht, was vorging.

„Baron,“ begann beklommen Vater Claus, „hier liegt die Lösung eines Räthsels, das tief in unser Aller Leben greift. Ein Blick auf Euer Medaillonbild könnte –“

Hallerstein knöpfte seine Weste auf und reichte ihm das Bild hin.

„Was habt Ihr vor?“ fragte er.

„Kein Zweifel mehr!“ sagte der Alte nach einer Weile, indem er dem Baron das Medaillon zurückgab. Die innere Wallung übermannte ihn fast – er rang nach Worten. „Karin,“ stieß er

[809]

„Seid ihr fromme Kinder gewesen? – Verdient ihr Nüsse oder den Besen?“
Originalzeichnung von Karl Kronberger nach seinem Oelgemälde.

[810] endlich gepreßt hervor, „von heute ab: Margaretha – hier steht der Mann, dem Du angehörst durch den Spruch des Schicksals.“

„Ist es möglich?“ rief Hallerstein und eilte auf Karin zu. Mit klopfenden Pulsen, mit wogendem Athem lag sie an der Brust der treuen Mutter Hedda, das Gesicht mit den langen goldenen Haaren schamhaft verhüllt. Aber an dem vollen weißen Nacken des Mädchens nestelte die Alte unvermerkt ein Bändchen los, und als Hallerstein herzu trat, ließ sie die Schüchterne sanft aus den Armen und legte Karin's Medaillon schweigend in seine Hände.

„Mein Vater!“ fuhr der Baron erstaunt auf, indem sein Auge auf dem Bilde weilte. „Wunderbare Fügung! Karin, Du bist meine Braut, mir verlobt durch die Eltern, durch das Schicksal, durch Gott. Mußte ich verschlagen werden an dieses Felsengestade, um Dich zu finden? Mußtest Du die kühne Fahrt wagen um aus Todesnoth und Verderben uns den Talisman zu retten, den uns die Todten senden und der uns nun mit holdem Bande bindet? O, wer begreift die Wege der Vorsehung!“

„Ja, wer begreift sie?“ wiederholte Mutter Hedda. „Ich will draußen darüber nachdenken in der Einsamkeit. Einen Kranz will ich winden aus Farrenkraut und Eriken, Deinen Brautkranz, Karin, und ihn siebenmal übergießen mit Meerwasser und siebenmal trocknen lassen im Mondschein. Glück bringt er der, die ihn trägt.“

Sie ging. Ihr weites Gewand flatterte im Winde; hinter den Felsen verschwand sie.

Karin lag in Hallerstein's Armen.

„Wie war es doch?“ flüsterte er leise. „'Ein großer Durst nach' – ?“

„Der nun für immer gestillt ist,“ hauchte sie und schmiegte sich inniger an den geliebten Mann.

„Und Du fühlst Dich mein für's Leben, Karin?“

„Ich fühle die Hand des Schicksals über mir, die Hand eines freundlichen Schicksals,“ sagte sie feierlich, als spräche sie ein Gebet.

Hallerstein blickte ihr lange in die großen, stillen Abenteueraugen, lange und schweigend. Vater Claus stand neben ihnen, an einen Fels gelehnt, und schauete nachdenklich über die Wasserfläche hin, auf der die Mittagssonne glitzerte; leise klatschten die Wellen an's Ufer, und vom Strande her, wo die Burschen rüstig am Boote zimmerten, tönten wieder die Hammerschläge herüber; in der feuchten Luft klang es dumpf, als hallten sie von fern her.

„Sie zimmern Euch schon das Boot, das Euch forttragen soll in den Hafen des Glücks,“ meinte der Alte ernst. „Fort, weit fort – aber Mutter Hedda und ich Graukopf – wir – wir bleiben – und –“

„Vater,“ rief Karin und warf sich an seine Brust, „muß denn mit dem höchsten Glücke so bitterer Schmerz kommen?“ Und sie streichelte ihm zärtlich die alten sturmzerfressenen Wangen.

„Ist nur Menschenloos, Kind,“ erwiderte er anscheinend ruhig, aber daß er die Lippen zwischen die Zähne zog und mit den kleinen wassergrauen Augen unstät blinzelte, als blendete ihn das von den Sonnenfunken durchglitzerte Wasser, das war doch ein Zeichen, daß es in ihm nicht ruhig war. „Just dasselbe Wetter, wie damals!“ sagte er; dann, als wollte er sich die Miene gleichgültiger Heiterkeit geben, nahm er einen Stein vom Strande auf und schleuderte ihn, wie zum Zeitvertreib, mit kräftigem Wurfe weit in die See hinein. „Just dasselbe Wetter,“ hub er mit erkünstelter Ruhe wieder an, „wie vor fünfzehn Jahren, als der Sturm ausgetobt hatte und wir uns in heiterm Sonnenschein des Kindes freuten, als einer unverhofften Gottesgabe.“

„Vor fünfzehn Jahren!“ wiederholte Karin in Gedanken verloren.

„Erzählt!“ bat Hallerstein.

„Ist schnell gethan,“ gab der Alte zurück und setzte sich auf einen im Wege liegenden Felsblock, während Hallerstein und Karin sich neben ihm niederließen. „Stand in schwarzer Sturmnacht auf dem Posten, die Signallampe über mir, Stricke und Rettungskorb zur Seite; das Boot am Strande war in Bereitschaft. Hol's der Teufel, eine grausige Nacht! Mosjö Blasius hatte all' seine Schrecken losgelassen, und die Fledermaus flatterte ängstlich um das Licht des Leuchtthurms. Dachte an die armen Seelen, die da draußen in zerbrechlichen Nußschalen über dem Abgrund des Verderbens schwebten – da – ein Nothschuß! Fix war ich parat. Das Boot los und mit den Jungens, die ich schnell herbeirief, Hals über Kopf hinaus in Braus und Graus, dem Schimmer einer in den Wellen auftauchenden Lampe entgegen – alle Wetter! das dauerte nicht zwei Minuten! Aber die Brandung warf uns zurück. Konnten nicht hinaus, mußten verzweifelt ringen mit dem vermaledeiten Sturm, und als wir den festen Boden wieder unter uns hatten, da gab ich das Signal, daß wir nicht helfen könnten. Hörten nach einer kurzen Weile das Schiff mit donnerndem Krach auf den Fels rennen und mußten die Hände unthätig in den Schooß legen. Geflucht hab' ich und gezetert über das Unwetter und Tabakspfeife und Branntwein schier vergessen. So ging die Nacht hin. Gegen Morgen legte sich der Sturm, und mit dem ersten Sonnenstrahl lief ein Boot unsere Insel an. Die Zwei, die darin saßen, waren ein alter Matrose – er mußte an die siebzig sein – und ein Schiffsjunge, ein Kerl von sechszehn Jahren; das war der Rest der Besatzung des gestrandeten Schiffes. Sagten, es sei ein Stettiner Passagierdampfer gewesen, nach Stockholm bestimmt. Redeten weiter nicht viel, die Zwei, berichteten blos: die Verwirrung an Bord im Augenblicke der Strandung ließe sich nicht beschreiben, und in der Todesangst – hm, 's geht gewöhnlich so – sei Alles in das eine größere Boot gestürzt, an das kleinere aber, in das nur sie sich gerettet, du lieber Gott, daran habe außer ihnen keine Seele gedacht, und vielleicht seien sie die Einzigen, die mit dem Leben davongekommen. 'Aber seht,' sagte der alte Matrose, 'was wir Euch mitgebracht haben!' und aus dem unteren Raume des Bootes reichte er mir ein Kind herauf, ein Mädchen mit goldenen Ringellöckchen, lieblich anzusehen, wie ein Engel, sag' ich Euch. Im letzten Moment, als das Schiff schon im Sinken begriffen – so erzählte er – habe er das arme schreiende Ding einer Frauensperson, die zerschmettert und besinnungslos unter einem gestürzten Mast gelegen, aus dem Arm genommen. 'Da ist es nun,' fügte er hinzu, 'erbarmt Euch des armen Wurms!'“

Vater Claus schwieg einen Augenblick. Er nagte die Unterlippe, als wollte er eine innere Wallung niederkämpfen. Dann knöpfte er seinen Rock auf, als wenn es ihm zu warm geworden während des Sprechens, und zog die kühle Luft tiefathmend ein. Das nun offen stehende Flanell-Hemd gab seine hohe, nervige Brust frei; wie klopfte und hämmerte es da sichtbar hinter dem kräftigen Harnisch von Muskeln und Sehnen! War es die Erinnerung an einen schönen Tag seines Lebens, die das vielbewegte alte Seemannsherz so heftig schlagen ließ? War es das Gefühl des nahe bevorstehenden Verlustes, das sein Blut so erregte? In seinen wettergebräunten Zügen zuckte es heimlich, und sein Auge glänzte in feuchtem Schimmer.

„Wir hatten keine Kinder,“ fuhr er mit leiserer Stimme fort, „und die Kleine – sie mochte kaum zwei Jahre alt sein – streckte uns so freundlich die Arme entgegen – meiner Treu, war uns vom Himmel gesandt. Fuhren am andern Morgen der alte Matrose und der Schiffsjunge, gestärkt und mit Lebensmitteln ausgerüstet, mit dem Boote wieder davon. Da sagten wir ihnen – versteht sich von selbst – sie sollten nach Eltern und Verwandten des Kindes forschen, und wenn es zurückgefordert würde, melden, wo es zu finden sei, im Herzen aber – freilich, freilich! – wünschten wir, es möge Niemand kommen und nach unserem Kleinod fragen. Niemand kam, und so ist es geblieben – fünfzehn Jahre.“ Er erhob sich unruhig, und jeder Zoll an ihm war Erregung – es kämpfte sichtlich in seinen Mienen. „O, wie waren wir glücklich!“ sagte er nach einer Pause, „wahrhaftig, das Alter wird noch einmal jung durch die frische, lebendige Jugend, und unsere Insel ist so einsam, so einsam –“ er stockte plötzlich; in seiner Stimme war etwas wie verschluckte Thränen. „Potz Anker und Segeltuch!“ polterte er dann, wie Einer, der sich einer Schwäche bewußt wird. Er trat vom Felsblock fort und schlug ein lustiges Schnippchen. „Glaub' gar, mir ist Salzwasser in die Augen gekommen. Bah, ich alte Theerjacke und flennen wie ein Weib?! Pfui, Claus, schäme dich! Trolle dich, alter Junge, und rühre die Hände!“

Und ohne einen Gruß wandte er sich und ging schnellen Schrittes dem Strande zu. „Frisch drauf!“ rief er den Burschen zu. „Hämmert, daß die Funken stieben! Und morgen wird das Boot geprobt.“

„Wie werden sie es tragen,“ fragte Karin besorgt, als sein Schritt verhallt war, „wenn sie ihr Kind nicht mehr sehen, die armen alten Leute?! O, sie verlassen! Ich hätte es nicht gekonnt vor wenigen Tagen, eh' ich Dich sah, Du grausamer Mann. Karin ist nicht mehr Karin. Meine alte Welt ist versunken; meine Stimme klingt mir wie von fernher, als spräche ein Anderer.“ Sie verlor sich einen Augenblick in Gedanken; dann fragte sie weiter: „Sag', warum liebst Du mich nur?“

[811] „Du bist so gut; Du bist so schön,“ antwortete er und küßte sie auf beide Augen. „Ich liebe an Dir die Einfalt des Herzens, die von der Welt nichts weiß.“

Ein Volk schreiender Finken schwirrte über ihren Häuptern hinweg.

„Zugvögel!“ sprach Hallerstein gedankenvoll. „Sie ziehen nach dem sonnigen Süden, nach Deutschlands gastlichen Fluren. Sie fragen nicht, warum? Das Herz zieht sie.“ Er hielt einen Moment inne. „Ich weiß ein stilles Thal im grünen Thüringen.“

„Dahin –!“ flüsterte Karin.

„Dahin trägt Dich mein Arm,“ sagte er, „in die Einsamkeit der Wälder. Die Menschen mit ihrer Selbstsucht und Sünde, sie sollen den reinen Spiegel Deiner Seele nicht trüben.“

Er rückte auf dem engen Felsensitz näher an sie heran und schlug den Arm zärtlich um ihre schlanke Gestalt. Sie barg das Gesicht an seiner Brust. Die Natur ringsum, als lausche sie dem Glück der Beiden, schien zu feiern. Kein Lüftchen regte sich; keine Welle kräuselte sich auf der weiten Salzfluth. Heller Sonnenschein lag breit darüber ausgegossen, und die Fische sprangen dann und wann silbern schimmernd über das Wasser. Es war Festtagsstimmung ringsum. Sie saßen noch lange im Schweigen des Mittags, zwei glückliche Menschen, denen die Welt verschollen ist. – –

Mehrere Tage waren vorüber.

Ein klarer Morgen leuchtete über der einsamen Insel, und die Luft war ungewöhnlich warm für die vorgerückte Jahreszeit. Am Horizonte zeigte sich eine schwarze Rauchsäule; sie kam näher und näher.

„Es ist Zeit, Kinder,“ sagte, hinter sich gekehrt, Vater Claus und trat aus der Hütte in’s Freie. „Der Stockholmer Dampfer ist schon in Sicht.“ Dann, dem Strande zugewandt, rief er: „Alles parat?“

„Fix und fertig!“ antwortete Axel, der mit Daniel im Boote saß. Nun traten auch Mutter Hedda, Karin und Hallerstein aus der Hütte, und Rustan sprang ihnen bellend voran. Die Alte hielt Karin’s Hand zärtlich in der ihrigen. Wehmuth lag in den Mienen Aller. Wenn Menschen scheiden, die sich lieb haben, dann weinen die Engel im Himmel.

„Vater Claus,“ sagte Hallerstein und schlug in die dargebotene Rechte des Alten ein, „mehr als Worte sagen können, tragen wir Dank –“

„Nichts davon!“ wehrte der Graukopf bewegt ab. „Seid glücklich, gedenkt unser am Trautisch und grüßt mir die alte deutsche Heimath!“

Karin küßte Mutter Hedda; dann lag sie in den Armen des Alten, der ihr segnend die Hände auf’s Haupt legte. Nun stiegen sie in’s Boot, und mit einem flinken Satz sprang Rustan ihnen nach.

„Den treuen Freund nehm’ ich mit,“ rief Karin und schlang die Arme liebkosend um seinen Hals.

„Den Retter aus Todesnoth, den Stifter unseres Glücks,“ fügte Hallerstein hinzu. Daniel hatte das Boot abgestoßen; Axel schnitt mit schnellem Ruderschlag kräftig in’s Wasser, und pfeilschnell flog das kleine Fahrzeug in die See hinaus.

„Das ist ein Abschied für immer,“ sagte Vater Claus, „wir sehen sie nicht wieder.“

Mutter Hedda verhüllte das Angesicht.

Die glitzernde, schimmernde Wasserfläche zwischen dem enteilenden Boote und den beiden Alten am Ufer wuchs und wuchs, und ein breiter weißer Schaumstreifen bezeichnete den Weg, auf dem ein junges Glück seinem blühenden Lebensfrühling entgegenzog. Die Luft war von jener durchsichtigen Klarheit, die Entferntes näher, Nahes in frischester Beleuchtung erscheinen läßt. Zwei weiße Tücher winkten vom Boote her, und zwei runzelvolle Hände am Strande erwiderten den Gruß. Da regte es sich in den Lüften wie Schwingenrauschen: Karin’s Tauben flatterten weit in’s Meer hinaus, als wollten sie der scheidenden Herrin ein letztes Lebewohl sagen. Eine einsame Wolke, vom Morgen rosig angehaucht, schwebte um die höchste Kuppe der Insel, um den Mövenstein. Nun theilte ein Sonnenstrahl die schnell zerstiebende, und licht und hell lachte der ragende Fels da oben in die schweigende Landschaft hinaus – Olaf’s Grab. In demselben Augenblicke entschwand das Boot dem Gesichtskreise der beiden Alten am Strande – träumerisch schlugen die Wellen an’s Gestade.

„Die Sterne haben’s gewollt,“ sagte Mutter Hedda.




Blätter und Blüthen.


Ein Gast unserer Kinder in der Weihnachtszeit. (Mit Abbildung, S. 809). Nicht an allen deutschen Orten erscheint, wie in der Bauernfamilie auf unserm Bilde, vor Weihnachten der heilige Wunderthäter Nicolaus, um die Kinder beten zu lassen und die artigen mit Aepfeln und Nüssen zu beschenken, den ungehorsamen dagegen eine Strafpredigt zu halten. In den meisten Gegenden Deutschlands besucht vielmehr ein vermummter Gesell mit zottigem Pelz, mit einem Sack voll Nüsse und mit dem Schreckensgespenst der Ruthe in der Hand, die Kinder, welche sehnsüchtig auf den fröhlichen glänzenden Weihnachtsabend warten. Knecht Ruprecht ist es, der seit vielen vielen Jahren in Begleitung des bescheerenden Christkindes oder der Frau Berchta in Hütten und Paläste kommt und, während diese unter die artigen Kleinen ihre Gaben austheilen, den ungehorsamen droht, sie mit der Ruthe zu schlagen oder sie sogar in’s Wasser zu tragen. Ob er wirklich, wie sein altdeutscher Name Hruodperath, der Ruhmglänzende andeutet, den degradirten Sonnengott, Wuotan, darstellt, oder ob er der heilige Ruotbehrt ist, der mit dem lieben Gott vom Himmel zur Erde zu Weihnachten herabsteigt, oder auch, wie andere behaupten, einer jener traulichen und getreuen Hausgeister, welche nach dem Glauben unserer Vorfahren in den Wohnungen der Menschen pochten, polterten und spukten – darüber sind die Gelehrten noch nicht einig geworden. Das gefällt augenscheinlich dem schlauen Patron; denn er versteckt sich noch immer hinter Pelz und Maske und treibt Jahr aus Jahr ein zum Schrecken der Kinderwelt sein Spiel, bis das älter gewordene Töchterlein, welches bereits gelernt hat, die Stimmen der einzelnen Personen zu unterscheiden, mit den plötzlich hervorbrechenden Worten: „Das bist Du, Onkel Fritz!“ den Zauber der mythischen Erscheinung vernichtet. Aber für die jüngeren Geschwister wird der Brauch im nächsten Jahre von Neuem wiederholt und lebt im Volke fort und fort.

Freilich hat im Laufe der Alles verändernden Zeit auch unser Knecht Ruprecht seinen Namen oft gewechselt.

In Schwaben besucht er als der „Pelzmärte“ und in Oesterreich sogar als der „Wauwau“ die Kleinen, um ihnen je nach ihrem Betragen Angst oder Freude zu bereiten. Zu den schwäbischen und märkischen Kindern kommt er dagegen als „Schimmelreiter“, für dessen weißes Pferdchen die Kleinen in der Christnacht ihre Schuhe mit blankem Hafer füllen müssen.

Der weitverbreitetste Name aber, welcher diesem Weihnachtsmännchen beigelegt wird, ist der des Sanct Nicolaus oder Niclaus, Claus und Claas. Unter diesem Namen ist er im ganzen Norden bekannt und bescheert auch in Amerika. Die Kinder jenseits des Oceans hängen nämlich am Weihnachtsabend ihre Strümpfchen an den Ofen; in der Nacht kommt Sanct Nicolaus durch den Kamin hereingeflogen und füllt sie mit allerlei Geschenken.

So möge denn unser heutiges Bild, auf welchem der heilige Niclas in Begleitung einer als Knecht vermummten Magd den Bauernknaben beten läßt, die Erinnerung an den alten Brauch auffrischen und Veranlassung dazu geben, daß in diesem Jahre Knecht Ruprecht bei allen artigen Kindern mit recht vielen Nüssen und Aepfeln als Vorbote der Christfeier erscheine!




Einen angeblich völlig gefahrlosen Leuchtstoff, der ja in unserer Zeit der Lampen-Explosionen eine große Rolle spielen könnte, da er ebenso hell, wenn nicht heller als Petroleum leuchtet und nicht erheblich theurer zu stehen kommen soll, will ein russischer Ingenieur von Kordig erfunden haben. In einer October-Sitzung der Berliner Polytechnischen Gesellschaft bewies er dessen Unfähigkeit, andere Gegenstände in Brand zu setzen. Kordig besprengte sich den Rock mit dem Material, entzündete dasselbe und glich so einer Neronischen Christenfackel, ohne an Leib und Kleidung Schaden zu nehmen, ja die Wirkung der lebenden Feuersäule wurde noch erhöht, indem auch der Hut befeuchtet und in Brand gesetzt wurde. Damit man nicht glauben sollte, daß die Kleider besonders präparirt seien, stellten auch andere Mitglieder der Versammlung die Experimente an sich selbst an. Ein Feuerkreis, dessen Flammen mehrere Fuß hoch aufloderten und der durch Aufgießen auf den Parquetfußboden erzeugt war, hinterließ keine Brandflecken und der Erfinder trat unverletzt aus demselben hervor etc.

Auch in geschlossenen Gefäßen mit Luft vermengt, soll der Leuchtstoff völlig gefahrlos sein. Kordig entzündete zum Beweise dafür ein halbgefülltes Gefäß am Ausguß und Deckel zugleich, ohne daß eine Explosion erfolgte. Hierzu ist allerdings zu bemerken, daß dieser Versuch gar nichts beweist und daß jeder fein zertheilbare oder flüchtige Körper, der sich mit Luft mengen läßt, wenn er nur überhaupt brennbar ist, Ursache zu heftigen Explosionen werden kann, sogar Getreidemehl und das Pulver morscher Balken, wie dies schlimme Erfahrungen bewiesen haben. Da der Stoff leichter ist als Petroleum und seinem größeren Theile nach aus den flüchtigsten Antheilen des Erdöls, dem sogenannten Petroleum-Aether, Spiritus oder der Naphtha besteht, so besitzt er jedenfalls auch die Eigenschaft derselben, schon aus der Ferne Feuer zu fangen, und seine Verwendung ist daher wahrscheinlich nicht weniger gefährlich, als die des Benzins, welches schon so viele Opfer gefordert hat. Schon früher hatte man übrigens die Petroleum-Naphtha als [812] Leuchtstoff empfohlen und dazu auch die von Kordig benutzten Lampen construirt, deren Eigenthümlichkeit darin besteht, daß das Bassin mit einem porösen Stoffe ausgefüttert ist, welcher jedes Vergießen des Inhaltes unmöglich macht, sodaß sich die Lampe in der That für Handlaternen u. dergl. m. sehr empfehlen würde.

Der Leuchtstoff tritt durch einen Docht oder durch Löcher des Blechdeckels hervor. Die Lampe selbst kann als ungefährlich gelten, wenn man die Füllung stets bei Tage und an einem Orte vornimmt, an welchem sich kein offenes Feuer befindet, ihn selbst aber in wohl verschließbaren Blechflaschen aufbewahrt. Versuche einiger Chemiker haben ergeben, daß eine Mischung von Petroleum-Naphtha mit Alkohol oder Holzgeist alle Eigenschaften des Kordig’schen Leuchtstoffes besitzt, namentlich auch die, sehr hell zu brennen und Kleiderstoffe nicht leicht in Brand zu setzen, weil die Mischung eben überaus flüchtig ist und beim Brennen keine starke Hitze entwickelt. Eine ähnliche Mischung von Terpentinöl und Alkohol ist bekanntlich schon vor mehr als zwanzig Jahren von dem Techniker Lüdersdorff unter den Namen Camphine und tragbares Gas empfohlen und auch vielfach in eigenen von dem Erfinder construirten Lampen gebrannt worden. Der Zusatz hat den Zweck, den Kohlenstoffgehalt der Mischung herabzusetzen, sodaß eine vollständige Verbrennung und dadurch eine größere Helligkeit erzielt wird.




Kleiner Briefkasten.

L. H. in Fürth. Nein, absolut nicht. Der große Handwerkerverein in Berlin, eine Volksakademie im edelsten Sinne des Wortes, der allen Bildungsvereinen zum Muster gedient hat, schließt von seinem reichen Lehrplane alle politischen und religiösen Tagesfragen grundsätzlich aus, zählt unter seinen Mitgliedern, in seinem zahlreichen Lehrerkollegium Personen der verschiedensten Parteirichtungen und enthält sich demgemäß auch aller Stellungnahme zu politischen, communalen und kirchlichen Wahlen. Er will lediglich eine Pflanzstätte echter Humanität und nichts Anderes sein und zur Vermehrung gemeinnütziger Kenntnisse, sowie des in der Schule erworbenen Schatzes beitragen.

Ein deutscher Arbeiter in Rußland. Dem Uebel ist leider nicht abzuhelfen. Tragen Sie Ihr Verhängniß mit Geduld:

„Glücklich ist, wer vergißt,
Was nicht mehr zu ändern ist.“

Millnos Oliven in Berlin. Ungeeignet! Verfügen Sie gefälligst über das Manuscript!

W. S. in F. Dergleichen rein geschäftliche Anfragen können nur brieflich beantwortet werden. Geben Sie Ihre genaue Adresse an und fügen eine Marke für die Antwort bei.

Ein eifriger Leser in Ungarn. Ja!

Fünfjähriger Abonnent. Wir warnen Sie vor dem genannten „Mediciner“.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Soeben in zweiter Auflage (Leipzig, Ernst Keil) erschienen und der Beachtung für den Weihnachtstisch empfohlen.
    D. Red.
  2. „Der junge König schleppte sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Karls des Großen wie in einer Verkleidung einher, sodaß er selbst, von Zeit zu Zeit seinen Vater ansehend, sich des Lächelns nicht enthalten konnte. Die Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes Dach vom Kopfe ab. Die Dalmatika, die Stola, so gut sie auch angepaßt und eingenäht worden, gewährte doch keineswegs ein vortheilhaftes Aussehen. Skepter und Reichsapfel setzten in Verwunderung; aber man konnte sich nicht leugnen, daß man lieber eine mächtige, dem Anzuge gewachsene Gestalt, um der günstigen Wirkung willen, damit bekleidet und ausgeschmückt gesehen hätte.“
    Göthe.
  3. Dem Zeugnisse des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel zufolge, welcher während des bairischen Erbfolgekrieges viel um den alten Fritz war und welchem der König eines Tages in Jägerndorf bei Tische inbetreff der Theilung Polens diese Mittheilung machte: – „Benoit (preußischer Gesandter in Warschau) hatte in Polen alte Ansprüche entdeckt, von welchen er wollte, daß ich sie zur Geltung bringen möchte. Ich ließ sie untersuchen, und da ich sie nicht unbegründet fand, baute ich meinen Plan darauf. Die Kaiserin von Russland nahm ihn alsbald an, aber Maria Theresia war viel zu gewissenhaft, darauf einzugehen. Ich schickte darauf Edelheim nach Wien, um den Beichtvater zu gewinnen, welcher dann Maria Theresia überzeugte, daß sie wegen ihres Seelenheils genöthigt sei, den Theil (von Polen), der ihr bestimmt war, anzunehmen. Darauf fing sie an schrecklich zu weinen. Unterdessen drangen die Truppen der drei Theilhaber in Polen ein und bemächtigten sich ihrer Antheile; Maria Theresia unter beständigem Weinen. Aber plötzlich hörten wir zu unserer großen Ueberraschung, daß sie viel mehr genommen hätte als den ihr bestimmten Theil; denn sie weinte und nahm ohne Aufhören, und wir hatten viele Mühe, daß sie sich mit ihrem Antheil am Kuchen zufrieden gab.“ Denkwürdigkeiten des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel. Von ihm selbst diktirt.
    Herausgegeben von K. Bernhardi (1866), S. 125.