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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 45.   1880.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
(Fortsetzung.)


Bruder Mauer schwieg einen Augenblick, als suchte er in seinem Gedächtnisse die halb erblichenen Farben längst vergangener Ereignisse neu zu beleben und ihre im Nebel der Zeit verschwommenen Umrisse klarer und frischer zu gestalten.

„Vor dreißig Jahren, mein Kind,“ sagte er endlich, „bin ich mit meiner ersten Frau von hier fortgezogen, um den Leinwandhandel in Jamaica zu betreiben, wo die Brüder verschiedene Missionen begründet hatten. Wir kamen im Mai dort an und gewöhnten uns schnell ein – das Land ist ja wunderbar herrlich, aber nach der Regenzeit im Herbst, als der feuchte Boden seine Miasmen in der großen Wärme ausdampfte, befiel uns Beide das Fieber. Mein kräftiger Körper überwand die Krankheit ziemlich schnell, aber meine arme, zarte kleine Frau erlag ihr nur zu bald. Ich war nun zwei Jahre lang Wittwer und führte ein einsames Leben in harter Arbeit. Am liebsten wäre ich heimgekehrt nach Europa, aber das einmal begonnene Geschäft war nicht gleich wieder aufzugeben; es würde nur mit großen Verlusten haben geschehen können. So schrieb ich denn heim, daß ich eine Gefährtin bedürfe und sie eine solche mir senden möchten. Ich nannte zwei der Schwestern, die ich in der Heimath gern gehabt hatte, ob vielleicht eine von diesen mir folgen wolle, oder sonst eine andere. Aber die eine der Genannten war gestorben, die andere inzwischen schon verheirathet; so ließen die Schwestern das Loos darüber bestimmen, wer mir angehören solle – es traf auf Schwester Julie.

Als die neue Lebensgefährtin bei mir ankam, erschrak ich; sie war sehr häßlich von Gesicht und hatte eine ganz mißgeformte Gestalt. Trotz meines lebhaften Schönheitsgefühls bezwang ich mich und hoffte, daß sie um so schöner von Gemüth sein werde. Doch sie hatte eine stumpfe, starre Seele, aus der kein Ton hervorzulocken war, welcher zu der meinen gestimmt hätte. Sie betete wohl eifrig und arbeitete fleißig, alles genau, wie es uns vorgeschrieben ist, sie dachte aber nicht über das nüchterne Werk ihrer Hände hinaus, und wenn ihre Lippen nicht beteten, war sie stumm und verdrossen, mißtrauisch und geizig. Beinahe acht Jahre hatte ich unter wachsender Abneigung mit ihr zusammen gelebt: da wollte es das Unglück, daß ein Geschäftsfreund auf Jamaica, der mir viel schuldete, starb, daß seine Geschäfte sich als sehr zerrüttet auswiesen und daß ich für meine Forderung seine Plantage annehmen mußte. Diese befand sich in einem heruntergekommenen Zustande, und damit ich das Meinige nicht verliere, entschloß ich mich, einem Geschäftsführer meinen Handel in der Mission zu übergeben und mit meiner Frau auf die Plantage hinaus zu ziehen, und – da kam das Verhängniß über mich, und in meine verdüsterte Seele, in die trostlose Leere meines Gemüthslebens fiel der Lichtschein einer großen Empfindung.

Ein Neger war von der Plantage eines Spaniers, die zwei Stunden von der meinigen entfernt lag, geflohen und Schutz suchend zu mir gekommen – die Sclaven wußten, daß meine Schwarzen freie Arbeiter seien, und das lockte die Unglücklichen an. Don Manuel war keiner von den harten Herren, aber der Neger hatte sich vergangen und fürchtete nun die Heimkehr; so entschloß ich mich, hinüber zu reiten und seinetwegen mit Don Manuel selbst zu verhandeln. Als ich die Hacienda des Spaniers erreichte, sah ich unter den Palmen in einer Hängematte eine schlanke, zarte weibliche Gestalt in weißem Gewande ruhen; sie hatte die Arme unter den Kopf geschlagen, und die zurückfallenden Spitzen der weiten Aermel ließen mich die schöne Form frei erblicken. Ein Stampfen meines Pferdes schreckte sie auf; sie glitt anmuthig aus der Hängematte und sah erröthend und erstaunt den Fremdling an; denn sie hatte noch niemals einen blonden Mann gesehen. Sie war fast noch ein Kind, erst fünfzehn Jahre alt, aber das schönste, lieblichste Gebilde, das meine Augen je erschaut. Es war Inez, Deine Mutter.

Sie führte mich zu ihrem Vater, und während ich mit ihm verhandelte, sah ich sie an der Veranda die Pfauen füttern und ein niedliches Aeffchen liebkosen; ich konnte nicht die Augen von ihr wenden – jede ihrer Stellungen war wie diejenige eines Kunstgebildes; ich konnte das Ohr nicht von ihr lenken – jedes ihrer Worte war Musik. Ich war schon damals des Spanischen mächtig, und wir redeten nun in dieser Sprache. Als ich dann fortritt, sah ich Inez unter den Palmen lehnen und ihre weiße Kinderhand mir nachwinken, und als ich nach einer Strecke mich wieder umschaute, erblickte ich ihre schlanke Gestalt noch immer dort stehen.“

Mauer hielt ergriffen in seiner Erzählung inne. Vor der Seele des alten Mannes stieg das Einst mit seiner Herrlichkeit auf, und die süße Erinnerung überwältigte ihn. Carmen hatte ihm gespannt zugehört und über dem, was er von der Mutter erzählt, ganz vergessen, daß sie doch Unheilvolles hören solle. Mit glücklichem Lächeln sah sie auf den Vater und wartete mit Ungeduld, daß er fortfahre. Draußen strömte noch immer der Regen hernieder, und das Gewitter brach mit erneuter Kraft immer wieder aus. –

[730] „Wie doch das Gewitter tobt!“ begann Mauer wieder, „und dennoch ist es nichts gegen das auf den westindischen Inseln. Kannst Du Dich dessen noch erinnern, Carmen? Sieh, es war auch im September, einige Wochen nachdem ich bei Don Manuel gewesen war; die Seewinde hatten aufgehört zu wehen, und wir hatten eine wahrhaft erstickende Hitze. Seit vielen Tagen schon war der Himmel verhangen; Wolken thürmten sich, immer schwärzer werdend, in ungeheuerer Menge über uns auf; die elektrischen Massen durchzuckten sie tausendfältig, und ein immerwährendes dumpfes Grollen dröhnte gefahrdrohend aus ihnen hervor – alles das zeigte an, daß die große Regenzeit nahe, und wer auf den Inseln gelebt, weiß, daß sie gewöhnlich mit fürchterlich sich entladendem Gewitter und heftigem Orkane beginnt. Ich war in der Mission gewesen, nach meinem Geschäft zu sehen, und ritt bei der furchtbar drückenden Schwüle langsam wieder heim. Eine Stunde war ich noch von meiner Plantage entfernt, als sich mit einem Male jählings der Sturm erhob, von den blauen Bergen kam er über die Savannen wüthend dahergepeitscht, und ich gab meinem Pferde die Sporen, um noch vor dem völligen Ausbruche des Unwetters nach Haus zu gelangen; denn ich wußte, daß es mit dem Sturme dahergejagt kam. Da sah ich auf einem weißen Rosse eine helle Frauengestalt heransprengen, die augenscheinlich sich vergeblich mühte, des scheugewordenen Thieres Herr zu werden; ich erkannte sogleich Inez in ihr. Ich warf mich ihr entgegen, und es gelang mir, die Zügel zu erhaschen und das Pferd aufzuhalten. Aber es war nun keine Zeit zu verlieren, das Mädchen zu ihrem Vater nach Haus zu bringen, und bei der fürchterlichen Gefahr des ausbrechenden Wetters mußte ich sie dahin begleiten. Sie war allein ausgeritten, wie so oft; sie hatte wieder heimkehren wollen, aber das scheugewordene Pferd hatte sie in die falsche Richtung entführt.

Der Sturm wurde immer heftiger: Blitze fuhren vor uns nieder, daß die Thiere immer von Neuem scheuten; jetzt fing auch der Regen an zu strömen, und es war keine Möglichkeit, daß Inez sich länger im Sattel halte, obgleich sie eine sichere Reiterin war. Sie wußte in der Nähe unter Magnolien eine kleine verlassene Negerhütte; dorthin flüchteten wir. Es war dunkel in der Hütte; der Sturm beugte die Wipfel der Bäume auf das Dach herab und peitschte den Regen gegen die Wände, daß wir jeden Augenblick denken mußten, sie brächen über uns zusammen. Inez drückte sich immer ängstlicher an mich heran; ich hielt die zitternde Gestalt in meinem Arme aufrecht, während sie meinen Hals umschlang und ihr Kopf an meiner Brust lehnte. Ich sprach zu ihr, wie man einem ängstlichen Kinde zuredet, und als ich mich über sie beugte, sie zu beschwichtigen, fuhr grell ein Blitz nieder, daß ich ihr in die großen, angsterfüllten Augen sehen konnte und sie in die meinen, die wohl freundlich zu ihr sprachen, und – da küßte sie mich und küßte mich immer wieder.

Carmen, Deine Mutter war das unschuldigste, reinste Wesen unter der Sonne; in ihrer Seele war kein unlauterer Gedanke, keine Handlung in ihrem Leben, die nicht vor Gott und Menschen bestehen konnte. Aber dort, unter der glühenden Sonne der tropischen Welt, da fließt das Blut heißer in den Adern, und sie lieben anders, schneller und glühender, als hier im kühlen Deutschland, und vom Kinde zur Jungfrau ist dort ein rascher Sprung. Als ihr Kuß auf meinem Munde brannte, erschrak ich – ich hatte sie wie ein schönes, liebliches Kind angesehen, aber ihr Kuß lehrte mich, sie anders zu betrachten, und – ich war ja doch ein verheiratheter Mann.

Da drangen ängstliche Rufe an unsere Ohren: es waren Neger, die Don Manuel in Sorge um sein Kind ausgesendet hatte, die Vermißte zu suchen, und da nun der erste Stoß des Wetters etwas nachließ, schieden wir alsbald von einander.

Als ich nach Haus kam, war mir das Antlitz meiner Frau in ihrer Häßlichkeit peinlicher denn je; auch ihr Wesen war nie bedrückender für mich gewesen; sah ich doch immer Inez’ liebliche Gestalt, ihre anmuthsvolle Weise vor mir. Aber ich sagte mir, daß dies sündhaft sei, und ich nahm mir vor, nicht wieder zu Don Manuel zu gehen und Inez nicht wiederzusehen. Aber ihr Bild wollte nicht von mir weichen, und mit jedem Tage wurde der Kampf schwerer in meiner Seele.

So ging die Regenzeit hin, während welcher ich kaum die Hacienda verließ und Keinen sah und hörte, als mein Weib. Plötzlich erkrankte diese, und es wurde schnell so schlimm mit ihr, daß Bruder Jonathan, der als Arzt in der Mission lebte und den ich herbeiholte, ein sehr besorgtes Gesicht machte. Es war am fünften Tage ihres Krankseins; Jonathan war am Nachmittag dagewesen; am Abend wurde es plötzlich schlimmer mit ihr; sie klagte immer heftiger, und so entschloß ich mich, noch um zehn Uhr nach der Mission zu reiten. Jonathan war ein gesuchter Arzt; als ich gegen elf Uhr bei ihm anlangte, hatte ihn schon ein Mann aus dem ersten Schlafe geweckt, der für ein Kind Hülfe haben wollte; er saß bei dem Dämmerschein eines Lichtes, auf das Mittel wartend, da – ach, ich erinnere mich noch jeder Kleinigkeit so genau, als sei es gestern geschehen. Jonathan meinte, als ich ihm sagte, daß es sich mit meiner Frau verschlimmert habe: er wolle mir ein Beruhigungsmittel bereiten lassen, aber er habe kaum eine Hoffnung mehr, daß ihr zu helfen sei. Ich war voll Unruhe und Hast, wieder zurückzukehren, und auch der Mann drängte, daß er die gewünschte Arznei empfange. Endlich brachte Thomas, der Gehülfe Jonathan’s, die bereiteten Mittel herein; ich griff eilig nach dem meinigen, denn ich hatte den weiteren Weg. Der Bruder sagte mir noch: 'Es sind Opiumtropfen; gieb ihr fünfzehn davon, wenn Du heimkommst! Und bessert es sich nicht mit ihr, so lasse sie zwei Stunden darnach noch einmal dieselbe Zahl nehmen!' Dann jagte ich auf meinem Pferde davon, in die Nacht hinaus. Als ich so dahinritt, hörte ich immer Jonathan’s Worte: 'Ich habe kaum eine Hoffnung mehr.' Ach, Carmen, es war mir, als seien es erlösende Worte. Ich trug so lange schon furchtbar schwer an dem Joch, das mir in dieser Frau, deren Seele fast noch häßlicher war als ihr Leib, aufgeladen war. Endlich war ich zu Hause angelangt; es war zwölf Uhr geworden; mit der Kranken ging es noch ebenso schlecht; sie klagte heftiger über Schmerzen, und ich zog hastig das Mittel hervor, es ihr zu reichen. Sie stöhnte – da fing ich an die Tropfen zu zählen: eins, zwei, drei, und dabei sagte ich mir: 'Kaum eine Hoffnung mehr – aber doch noch nicht alle Möglichkeit ausgeschlossen.' Meine Hand zitterte; es war, als lege sich ein Nebel vor meine Augen, die Tropfen fielen schneller; ich zählte weiter, immer weiter: dreizehn, vierzehn, fünfzehn – da waren unversehens ein paar Tropfen mehr, als verordnet, in den Löffel gefallen; es folgte noch einer und abermals einer, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig – da stieß ich das Fläschchen von mir hinweg.

'Wo sind die Tropfen? Gieb sie her!' rief die Kranke mit schwächer werdender Stimme; sie nahm den Löffel aus meiner Hand, und ich kehrte das Gesicht ab. – Und da hat mein guter Geist sich auch von mir gewendet.“

Mauer stöhnte und barg das Gesicht in den Händen.

Carmen stockte der Athem; sie wagte nicht die Augen aufzuschlagen, um den Vater nicht ansehen zu müssen; sie wagte nicht sich zu regen noch zu denken.

„Die Kranke,“ begann Mauer nach längerer Pause des Schweigens, „war ruhiger geworden; ihre Athemzüge waren kaum hörbar; schlief sie? In mir schrie es: Gott, Barmherziger, laß sie schlafen, nicht sterben – nur jetzt nicht! Aber ich wagte nicht, zu ihr hinzusehen, nicht hinzuhorchen. Ich war auf mein Lager gesunken und hatte im Grauen, das mich erfüllte, die Decke über mich hingezogen. Die Zeit ging hin, eintönig mit dem Pendelschlage – ich wußte nicht, ob kurz, ob lang. Da hörte ich Pferdehufe vor der Hacienda; es hielt an, und ich erhob mich, die Thür zu öffnen; denn die Diener waren eingeschlafen. Es war erst drei Uhr am Morgen. Der so früh Ankommende war zu meiner Ueberraschung Bruder Jonathan.

'Wie geht es?' fragte er hastig, als er vorn Pferde sprang, und ich antwortete leise:

'Sie schläft.'

Er trat an ihr Lager, drehte die Lampe nach ihr hin, betrachtete sie und sprach:

'Ja, um nicht wieder zu erwachen – ich wußte es, daß sie nicht zu retten war.'

Ich konnte nichts erwidern; ich konnte die Zunge nicht lösen, die mir den Dienst versagte. War sie gestorben, weil sie nicht mehr zu retten war, oder weil ich ihr die doppelte Zahl der betäubenden Tropfen gegeben? Das verhängnißvolle Fläschchen stand noch da auf dem Tische am Bette, wo ich es jählings hingestellt hatte – ich fürchtete, es wieder zu berühren. Jonathan nahm es auf, und es betrachtend, sagte er leichthin:

[731] 'Hast Du ihr noch einmal davon gegeben? Ich sehe, es sind mehr als fünfzehn Tropfen heraus.'

Ich nickte mit dem Kopfe.

'Nach zwei Stunden?' fragte er abermals und steckte das Fläschchen ein; ich aber nickte wieder bejahend. Er betrachtete nochmals aufmerksam die Todte, befühlte sie und hob ihr die Augenlider empor. 'Sonderbar,' begann er wieder, 'Du hast ihr etwa um zwölf Uhr die erste Anzahl der Tropfen gegeben und dann um zwei Uhr die anderen; jetzt haben wir erst drei Uhr, und diese Leiche ist schon seit mehreren Stunden kalt; Dein Weib muß mindestens schon vor zwei Stunden verschieden sein – wie geht das zu?'

Er sah mich erstaunt an; ich fühlte, wie ich unter seinen fragenden Blicken immer mehr erbleichte; die Füße hielten mich nicht länger, und ich sank ohnmächtig hin. – – –

Die Todte war beerdigt; ich war krank geworden und hatte mich wieder erholt; es waren zwei Wochen verstrichen – da kam ein Bote, der mich sogleich zu Don Manuel rief, welcher dringend meiner bedürfe. Er war bei einem Ritt mit dem Pferde gestürzt, hatte innerliche Schäden erlitten und man erwartete stündlich seinen Tod. Ich wurde an sein Lager geführt, an welchem Inez' liebliche Gestalt kniete, das Gesicht in des Vaters Kissen gedrückt; am Fußende aber stand der Arzt, Bruder Jonathan. Don Manuel winkte mich zu sich heran.

'Don Mauer,' sagte er mit schwacher Stimme, 'ich muß sterben, möchte aber vorher noch für mein Kind sorgen, das schon ohne Mutter ist. Ihr habt sie neulich im Sturm errettet, und sie hat mir anvertraut, daß sie Euch liebe und denke, Ihr liebt sie wieder. Daher frage ich Euch jetzt, wo der Tod mich drängt: könnt Ihr sie lieben und wollt Ihr sie als Euer Weib an Euer Herz nehmen und sie ehren und hochhalten? Sie war mir immer eine gute Tochter; sie wird Euch auch eine gute Gattin sein.'

Da hob Inez den Kopf empor, und die schönen dunklen Augen, die in ihrer Unschuld ihre Gefühle nicht zu verbergen verstanden, sahen heiß und flehend zu mir auf. Ich legte die eine Hand auf dieses holde, reine Haupt, die andere in Don Manuel’s Rechte.

'Ja, ich werde sie ehren und behüten als mein köstlichstes Kleinod,' sagte ich feierlich, 'denn ich liebe sie über Alles in der Welt.'

Da sank Inez an meine Brust, und der Sterbende segnete uns. Er drang darauf, daß ein schnell herbeigerufener Priester uns noch gleich an seinem Sterbelager traue, damit er Inez sicher geborgen wisse. Kaum war der bedeutungsvolle Act vorüber – verschied er.

Das Ueberraschende, Ueberwältigende dieses Ereignisses drang so mächtig auf mich ein, daß ich außer dem einen Gedanken: 'Inez ist mein!' nichts dachte, nichts erwog. – Als ich nach dem Verscheiden des Vaters das weinende, erschöpfte Mädchen der Obhut der treuen alten Sara übergeben hatte und ich wieder heim nach meiner Plantage ritt, gesellte sich Jonathan zu mir.

'Bruder Michael,' sagte er und blickte mich dabei finster und drohend an, 'nun weiß ich, welcher sündhaften Liebe wegen Julie, Deine Frau, die doppelte Anzahl der betäubenden Tropfen von Dir erhalten hat und warum, als ich am frühen Morgen zu Dir kam, die Leiche schon seit mehreren Stunden erkaltet war.'

Als ich erbleichte, lachte er höhnisch, wendete sein Pferd und ritt in die Mission. Seitdem wurde mir Jonathan’s Anblick zur Folter; ich las immer die entsetzliche Anklage auf seinem Gesicht, obschon er dieselbe nie ausgesprochen hat. Auch Inez, meinem geliebten Weibe, war Jonathan unheimlich, ja sie haßte ihn; hatte er ihr doch, wie sie mir erzählte, glühende Liebesanträge gemacht, jetzt und schon früher, bevor ich noch zu Don Manuel gekommen war. Sie vermied ihn, wo sie nur konnte, sobald er in die Hacienda kam, und es war ihr wie mir eine willkommene Nachricht, als er uns sagte, er könne das Klima nicht mehr vertragen, und hätte er Geld genug, so würde er nach dem Norden gehen. Da gab ich ihm mehrere Tausende von meinem Vermögen, damit wir frei von ihm würden; er ging mit seinem Thomas nach Bethlehem in Pennsylvanien, und zu meiner Erleichterung sah ich ihn nicht wieder. Er schrieb mir nach einiger Zeit, ich aber antwortete nicht darauf, und nun hörte ich nichts wieder von ihm.

In meinem Herzen saß zwar der Wurm der Selbstanklage, aber so lange Inez lebte, war mir in ihr ein so unermeßliches Glück beschieden, daß über dieser Seligkeit selbst die Stimme des Gewissens schwieg. Jedoch als der Herr sie mir wieder nahm, da schrie es in mir auf: 'das ist Deine Strafe – sie muß sterben um Deiner Sünde willen,’ und aller Friede wich von mir. Da nahm ich mir vor, dem Herrn zu büßen mit meinem Leben; ich wollte es aufopfern, um für des Heilands Sache zu leiden und Seelen für ihn zu gewinnen. Ich ließ Dich, das Einzige, was mir von Inez geblieben, von mir gehen, verkaufte all mein Gut in Jamaica und ging, arm, wo es meinen Bedürfnissen galt, hin über die Meere nach Indien, wo noch am wenigsten für unsere Missionen geschehen war. Das Uebrige weißt Du schon, aber nicht, wie gern ich litt, so schwer auch diese Leidensjahre der Sclaverei waren; ich hoffte mir damit die Gnade Gottes wieder zu erkaufen. Und als nun der Herr mir die heiß ersehnte Heimkehr gewährte, da sah ich darin die Bestätigung, daß mir meine Missethat vergeben sei. Aber sie ist mir nicht vergeben, Carmen, denn Bruder Jonathan lebt und ist hier, und in ihm wandelt sie als fortwährende Mahnung neben mir her. Jedes seiner Worte rührt daran, vielleicht ohne daß er es weiß, und ich zucke immer schmerzhaft unter der Berührung dieser Wunde zusammen. In seine Hand ist es gegeben, jeden Tag, jede Stunde meine Schuld an das Licht zu ziehen, und war es ein Zeichen seiner großen Freundschaft für mich, daß er bisher geschwiegen hat – wenn er Dir und mir zürnt, wird er die alte Rücksicht zu meinen Gunsten nicht mehr gelten lassen. Du hast seine Drohung gehört; er wird sie erfüllen. Mag geschehen, was muß! Ich will es in Ergebung auf mich nehmen, aber ich bin auch nicht vermögend, Dich, mein geliebtes Kind, zu beschützen. Jonathan wird meine Schuld nun offenbaren, wenn Du ihn nicht zu Deinem Gefährten haben magst – ich, ein Sünder, kann nichts für Dich thun, sondern muß still tragen, was über mich kommt.“

Er schwieg und er wagte nicht, Carmen anzusehen; denn er fürchtete ein vernichtendes Urtheil in ihrem Antlitze zu lesen. Und sie saß still und in sich versunken da, die Augen mit der Hand beschattet, und athmete schwer und beklommen. Ihr war das Blut wie zu Eis geronnen unter dem Furchtbaren, was sie erfahren; sie hatte ein muthiges Herz, aber es erzitterte jetzt unter dem Weh dieses Elends, dem sie nicht zu begegnen wußte. Und doch, sie dachte daran, daß sie jetzt vor Allem ihre Liebe zeigen müsse; denn er werde dieser Liebe bedürfen; sie hatte ihm ja gesagt, daß sie ihn lieben werde, trotz seiner Schuld, und daß sie sein Leid mit ihm tragen wolle; er hatte um ihrer Mutter willen gesündigt, und diese würde ihm gewiß vergeben und ihn trotzdem geliebt haben – wie auch die Menschen ihn richten mochten; die Tochter war nicht zu ihres Vaters Richter gesetzt, Gott aber würde ihn milde beurtheilen, nach der Tiefe seiner Reue und seiner Leiden – das fühlte sie mit unumstößlicher Klarheit. So erhob sie denn den Kopf und wendete dem Vater das Gesicht zu, und ob sie auch bebte, schlang sie doch den Arm um des gebeugten Mannes Nacken.

„Sei getrost, lieber Vater, und hoffe auf Gott!“ sagte sie liebevoll, „Du hast so tief, so lange und schwer gebüßt, daß er Dir Deine Sünde gewiß vergeben hat. Er wird uns wohl auch helfen aus diesem Elend.“

Sie schwieg einen Augenblick, in tiefes Sinnen versunken.

„So muß ich wohl von meiner guten Mutter den unüberwindlichen Widerwillen gegen Bruder Jonathan geerbt haben; denn ich habe mich vor ihm gescheut, so lange ich denken kann, und es wäre mir unmöglich, ihm anzugehören. Er ist mir verhaßt wie die Sünde; ich würde alles Schlimme in ihm suchen, und doch ist, was er thut, immer gut, und er hat auch an Dir sich freundlich bewiesen. Laß uns überlegen, ob sich nicht doch noch ein Ausweg in unserer Noth finde.“

Der alte Mann lehnte weinend an dem Mädchen, das er als Vater doch hätte schützen und halten sollen, und ihr armer Kopf sann und dachte für ihn und für sich.




9.

Das Gewitter war vorübergezogen, der Regen aber strömte noch immer hernieder. Es war gegen fünf Uhr Nachmittags, als zwei Compagnien der Truppen, welche den Tag über manövrirt hatten, in ziemlich ungeordnetem Zuge auf der Landstraße daher [732] marschirt kamen und die Richtung nach der Colonie nahmen. Die Soldaten hatten sich in ihre Mäntel gehüllt.

„Es ist gut, daß das angeordnete Bivouac bei dieser Sündfluth gnädig vom Commandirenden abbestellt worden ist; denn wir wären wahrlich elendiglich wie die Mäuse ersoffen,“ sagte einer der beiden voranschreitenden Officiere zu dem andern; „aber es wäre mir doch lieber gewesen, wir hätten unser Massenquartier anderswo, als gerade bei den frommen Brüdern aufschlagen können – ob wir bei diesen gut ankommen werden, scheint mir mehr als fraglich. Wir sind in ihren Augen doch nur wilde Cannibalen und Mordgesellen und ich schaudere schon vor den Bekehrungsversuchen ihres heiligen Eifers.“

Der neben ihm gehende Officier lachte.

„Es wird nicht gar so gefährlich werden, wie Sie es befürchten, Hansen,“ meinte er; „aber sehr gelegen werden unsere wilden Burschen ihnen allerdings nicht kommen – eine Störung, wie sie bei ihrer peinlich durchgeführten Ordnung und stillen Lebensart nicht schlimmer gedacht werden könnte.“

„Nun, Sie haben das Commando überkommen, Trautenau,“ begann der Andere wieder, „Sie sind schon in diesem Bethanien gewesen, haben sogar eine Schwester bei diesen Heiligen – Sie müssen zusehen, wie Sie mit ihnen fertig werden und uns am besten unterbringen können.“

Sie hatten jetzt die ersten Häuser des Ortes erreicht. Alexander von Trautenau ließ Halt machen und die Soldaten in Reih' und Glied treten.

„Wir wollen als imposante Macht in die Colonie einrücken,“ sagte er mit leisem Humor, und als sie durch die stillen Straßen marschirten, fuhr manch erschrockenes und erstauntes Gesicht an die Fenster der Häuser und betrachtete verdutzt die Ankömmlinge.

Alexander, vertraut mit der Oertlichkeit, rückte mit seiner Truppe direct nach dem Brüderhause und in den großen Hof desselben ein; dort commandirte er „Gewehr ab!“ und ließ die Gewehre zusammenstellen: das mußte sich doch friedlich und beruhigend ausnehmen.

Das Brüderhaus war ein noch größeres Gebäude, als das Schwesternhaus, da die ledigen Brüder darin zugleich ihre verschiedenen Gewerbe betrieben und ihre Werkstätten hatten. Jetzt öffnete sich die Thür desselben, und mit bleichem, entsetztem Gesichte trat Bruder Martin, der Aelteste des ledigen Brüderchores, heraus. Alexander ging sogleich auf ihn zu und fragte höflich:

„Sind Sie der Vorsteher dieses Hauses?“

Als Bruder Martin bejahte, fuhr Alexander fort:

„Ich bin mit diesen beiden Compagnien in die Colonie commandirt worden, um die Leute für diese Nacht unter Dach und Fach zu bringen, da bei dem strömenden Regen das für heute angeordnete Bivouac nicht stattfinden kann. Wollen Sie so gefällig sein, mit Hülfe der Gemeinvorsteher mir Räume für die Leute anzuweisen?“

„Ganz recht, Herr Officier – aber vor allen Dingen sagen Sie mir, ich bitte, ob diese Flinten dort geladen sind?“ fragte Bruder Martin, sehr ängstlich auf die Gewehrpyramiden deutend.

„Allerdings sind die Gewehre geladen, aber ohne Kugel, und es ist durchaus keine Gefahr vorhanden, daß sie von selbst losgehen,“ beruhigte ihn Alexander.

Bruder Martin wurde bei diesen Worten noch bleicher als zuvor.

„Herr Officier,“ rief er zum Hause zurück flüchtend, „ich muß sehr bitten, die Flinten entfernen zu lassen.“

„Mit Vergnügen, Herr Vorsteher,“ willfahrte ihm Alexander, „wenn Sie mir nur einen Raum anweisen wollen, in dem meine Leute die Gewehre unterbringen können.“

Bruder Martin lief bereitwillig in das Haus und schloß eine Stube im Erdgeschoß auf; die gefürchteten Mordwaffen wurden von den Soldaten hineingetragen, Alexander schloß überdem die Thür ab und steckte, zur großen Beruhigung des Chorführers, den Schlüssel ein.

Hauptmann Hansen hatte inzwischen seine sarkastischen Bemerkungen nicht zu unterdrücken vermocht:

„Gott steh mir bei, einem ehrlichen Soldaten muß sich das Herz im Leibe umdrehen, wenn er das hören muß,“ meinte er. „Flinten! Als ob wir Schießprügel führten – der gute Mann muß von Olim's Zeiten noch übrig geblieben sein.“

Alexander vertheilte die Leute truppweise für die ihnen zugewiesenen Räume, wo sie auf einer Streu ein Massenlager finden sollten – da näherte sich ihm einer der inzwischen einzeln herbeigekommenen verheiratheten Brüder, ein schon älterer Mann.

„Herr Officier,“ sagte er bescheiden und höflich, „ich habe in meinem Hause Raum für einige Soldaten. Wollen Sie mir so etwa vier bis sechs als Einquartierung mitgeben? Ich verspreche Ihnen gewißlich, daß ich sie gut halten und verpflegen werde.“

„Warum das nicht, bester Herr!“ rief Alexander sehr erfreut. „Bitte, suchen Sie sich deren aus – die armen durchnäßten Menschen werden für Ihre Freundlichkeit nur um so dankbarer sein.“

Der Mann nahm denn auch, ohne zu wählen, sechs aus der Menge mit sich fort, und als er in seiner Gutmüthigkeit so recht von Herzen vergnügt mit seinen Leuten abzog, war damit das Eis der Verlegenheit und Scheu gebrochen: einer nach dem andern drängten sich Brüder herbei und wollten auch Soldaten als Einquartierung haben, und nicht lange, so waren im Brüderhause und in einer Menge Bürgerhäusern alle zur allgemeinsten Zufriedenheit untergebracht. Bruder Martin aber erbat sich die Officiere als seine Gäste.

Mit herzlicher Freude zogen die Wirthe mit ihrer Einquartierung ab und suchten, voll regen Eifers, in ihren einfachen Hauseinrichtungen das Beste hervor, es den Fremden zu bieten. Sauberes, weißes Linnen wurde über die Lagerstätten gebreitet; was die Küche schnell darzubringen vermochte, wurde herbeigetragen, die Erschöpften zu stärken, und alles getan, es ihnen so angenehm und bequem wie möglich zu machen.

Jetzt kam auch der Wagen mit den für das Bivouac bestimmten Bedürfnissen in den Hof gefahren; Holz und Lagerstroh, Fleisch und Zukost wurden abgeladen, und es sollte nun an das Zubereiten der Mahlzeit für die hungrige Mannschaft gegangen werden. Die Pioniere traten vor und fingen an, Pflastersteine im Hofe aufzureißen, um einen vertieften Raum für das Kochfeuer des improvisirten Herdes zu schaffen. Doch da stürzte Bruder Martin ganz entsetzt wieder herbei.

„Herr Officier,“ rief er, „Sie werden doch nicht zugeben, daß die guten Leute hier im Hofe Feuer anbrennen? Ich bitte Sie dringend, das zu verbieten – welches Unheil kann dadurch für uns entstehen, und außerdem: wie wird mir der reinliche Hof zugerichtet!“

„Wo sollen denn die Leute ihr Essen kochen, wenn es Ihnen hier für zu gefährlich erscheint?“ fragte Alexander etwas ungeduldig. „Die Leute sind naß und hungrig, haben viel Strapatze und heute noch keine ordentliche Mahlzeit gehabt; es ist ihnen zu gönnen, daß sie nun etwas Warmes zu essen bekommen.“

„O, das versteht sich, Herr Officier,“ meinte Bruder Martin sehr mitleidig; „wir werden doch die Erschöpften nicht hungern und leiden lassen? Ich will ja auch recht gern das Essen für die Leute in meiner großen Brüderküche zubereiten lassen, wo täglich für hundert Brüder gekocht wird.“

Das war ein Vorschlag, der mit Dank angenommen wurde.

Auch die Officiere fanden im Brüderhause alles zu ihrer Bequemlichkeit und Stärkung Erforderliche herbeigetragen, und Hauptmann Hansen meinte, sich vergnügt die Hände reibend:

„Trautenau, die Sache läßt sich wahrlich vortrefflich hier an, und wenn nicht noch das Beten und Singen mit uns losgeht, uns Sünder zu bekehren, so haben wir noch kein so gutes Quartier gehabt. Gott strafe mich, die Duckmäuser haben sogar ein ausgezeichnetes Glas Wein in ihrem Bereich, wovon uns Bruder Martin – die 'Flinten' seien ihm deshalb vergeben – freigebig hergestellt hat, und ich dachte doch, sie selber leben nur von Wasser und Lobgesang und sie würden uns auch so tractiren.“

„Aber, Hansen, nur nicht spotten!“ drohte Alexander, „sonst stehe ich nicht dafür, daß Sie aus diesem Paradiese wieder in den Regen hinausgesteckt werden. Ich bitte Sie, machen Sie mir inzwischen keine Schande hier, während ich gehe, meine Schwester aufzusuchen, ehe es zu spät wird – denn morgen früh wird zeitig wieder ausgerückt.“




10.

Von allen diesen außerordentlichen Vorkommnissen, die sich seit fünf Uhr in der Colonie zugetragen, hatten die beiden tief bekümmerten Menschen, Bruder Mauer und seine Tochter, in ihrem stillen Zimmer nichts bemerkt; die Außenwelt war ihnen völlig entschwunden über dem Leid, das sie in ihrem Innern

[733]

Auf Leben und Tod.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von W. Schuch.

[734] drückte; sie beschlossen endlich alles von einer Unterredung des Vaters mit Jonathan abhängig zu machen, und Carmen trat den Heimweg an; denn es war nach acht Uhr geworden.

Als sie die Treppe herunterkam, blieb sie unter dem Thorbogen des Hauses stehen. Es graute ihr vor dem Vater, vor sich selbst, vor der ganzen Welt. Es war ihr, als habe sie neben diesem Vater selbst kein reines Gewissen mehr. Und was sollte nun werden? Seine Schuld und ihre Kindespflicht drängten sie unabweislich in’s Elend, in die Arme dieses Jonathan. Nirgends wollte sich ein Ausweg zeigen. Sollte sie ausscheiden aus der Brüdergemeine? Das wäre gleichbedeutend mit der Trennung vom Vater; denn bei seiner Seelenstimmung, die in Reue sich quälte und in Buße allein Befriedigung fand, würde er nimmer in ein Losreißen von seiner alten Glaubensrichtung und von der Gemeinschaft der Brüder sich finden. Den Vater verlassen? Nimmermehr! Wohl lockte sie ein Gedanke – der Gedanke an Wollmershain und an Frau von Trautenau, aber sie verwarf ihn sofort wieder – sie konnte, sie durfte nicht: dort gehörte sie Keinem, hier ihrem Vater. Ach, wie ihr doch das arme Herz ächzte! Sie dachte: wenn sie nur weinen könnte, müßte doch ein wenig der bedrückenden Last mit hinwegrinnen, aber keine befreienden Thränen wollte in ihr brennendes Auge kommen.

Sie hatte sich auf einen Mauervorsprung in dem großen Thorbogen des Hauses niedergesetzt, nur um noch ein Weilchen allein zu sein und sich zu sammeln, ehe sie den schweren Gang nach dem Schwesternhaus antrat. Es hatte nun endlich aufgehört zu regnen. Eine trübe brennende Laterne, die vereinzelt auf dem Platze stand, lichtete etwas die Finsterniß und warf einen unsicheren Schein von Helle über die nassen Steine des Pflasters zu Carmen hinüber.

Es war still in den Straßen geworden; von den Dächern nur tropfte eintönig noch das Naß des gefallenen Regens herab; hin und wieder schallte auch einmal verloren der Schritt eines einsam Dahingehenden aus einer der Seitengassen hervor – dann herrschte wieder tiefe Stille, und die fallenden Tropfen bildeten das einzig hörbare Geräusch. Es lag etwas Besänftigendes in dieser Ruhe und in dem monotonen Fall der Wassertropfen, etwas, wie wenn man mit leiser Stimme ein müdes Kind zum Schlafen einsingt. Carmen fühlte sich wie in einen süßen Zauberkreis gebannt; sie zauderte lange und immer länger.

Jetzt ertönte aus der Ferne ein Schritt; ein Mann ging über den Platz, und als er in die Nähe der Laterne gelangte, blitzte es da und dort an seiner Kleidung wie Funken auf, und bei seinen Schritten, die fest und eilig auftraten, klirrte etwas nebenher – Carmen sah und hörte es wohl, aber ohne sich dessen bewußt zu werden; sie träumte in sich hinein; bewegungslos starrte sie in das Dunkel hinaus und ihr Herz, ihr armes Herz schien todt zu sein, todt und starr. Da – schien nicht der blitzende, klirrende Wanderer gerade auf den Thorbogen zuzuschreiten? Er näherte sich wirklich, und als er nun in dem unsicheren Licht deutlicher aus dem Dunkel hervorwuchs, klopfte plötzlich ihr Herz, das arme Herz, das eben noch so starr und todt in der Brust gelegen, heftiger auf – sie drückte sich dichter an die Wand zurück und starrte dem Kommenden mit weitgeöffneten Augen entgegen.

Jetzt stand er unter dem Thor und gewahrte im hellen Licht die zusammengedrückte Gestalt an der Seitenwand; er stutzte, schien zu forschen, und grüßend die Hand an den Rand seiner Kopfbedeckung legend, rief er freudig:

„Fräulein Carmen, Sie sind es wirklich? Ich komme noch zu so später Stunde, Sie zu begrüßen und Ihren Herrn Vater kennen zu lernen, da ich nur diese Nacht hier bin. Adele sagte mir soeben, daß ich seine Wohnung in dem Hause mit dem großen Thorbogen finden würde und daß Sie sicherlich bei ihm wären.“

Er sprach in lebhafter Bewegung, und hielt ihr die Hand zum Gruße hin; sie waren in Wollmershain mit herzlichem Händedruck von einander geschieden, und nun machte er das gewonnene Recht bei ihr wieder geltend.

Das Mädchen legte ihre Hand in die seinige; diese Hand war so starr und kalt, daß es ihn fast durchschauerte, und Carmen lehnte so müde und gebrochen mit ihrem Kopf gegen die Steinwand, daß er beunruhigt fragen mußte:

„Um Gottes willen, es ist Ihnen doch kein Unglück widerfahren? – Carmen, liebes Fräulein Carmen, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir nur ein Wort, daß ich weiß, was Ihnen fehlt, und lassen Sie mich Ihnen helfen, wenn ich es vermag!“

Sie hatte sich langsam und mühsam erhoben; die Kniee zitterten ihr und konnten sie kaum tragen – ihre Hand lag, wie sich stützend, noch immer in der seinigen. Da, bei dem tiefen Klange seiner theilnehmend bewegten Stimme löste sich plötzlich der schwere Druck ihres gequälten Herzens; ein krampfhaftes Schluchzen drang über ihre Lippen, und das heiß ersehnte Labsal befreiender Thränen kam endlich in ihre Augen. Sie wankte, und da sein Arm sie zu stützen und zu halten suchte, sank ihr Kopf kraftlos gegen seine Schulter.

„O Carmen,“ bat er, „vermögen Sie denn gar nicht mir zu sagen, was Ihnen widerfahren ist? Sie können nicht ahnen, wie mich die Besorgniß um Sie foltert. Wie soll ich Ihnen von meinen Gefühlen sprechen? Ich leide sehr – o glauben Sie es mir! – Sie in solchem Schmerze wiederzufinden.“

Sie weinte bei seinen Worten nur um so heftiger, und doch, wie wohl thaten ihr diese strömenden Thränen; wie ein Engel des Lichts erschien ihr Der, der sie ihr wiedergegeben hatte! Sie wehrte ihm nicht, da jetzt sein Arm sie umschlang, und an seiner Schulter lehnend, hatte sie nur das eine Empfinden: daß es ein rechter Mann sei, der sie da halte, daß er allein es vermöge, ihr zu helfen und sie zu stützen, und daß es wunderbare Seligkeit sei, sich von ihm stützen zu lassen. Bei dem Vater keine Hülfe, ihre eigene Kraft im tiefen Weh gebrochen – in ihm aber – das fühlte sie – in ihm lag Wollen, Muth und Kraft, ihr aus allem Weh zu helfen. Als seine Fragen sie immer drängender bestürmten, versuchte sie endlich zu reden.

„Man hat heute das Loos über mich geworfen,“ stammelte sie, „ich soll das Weib eines ungeliebten Mannes werden – durch das Loos, Herr von Trautenau!“

„Durch das Loos?“ fragte er, indem er sich verfärbte. „Sie, unsere schöne, stolze Carmen, durch das Loos verschenkt? Aber das ist ja ganz undenkbar, und Ihr Vater kann und wird solchen Mißbrauch nicht dulden.“

„Mein armer Vater!“ klagte sie. „Er kann nichts dagegen thun; er kann mich nicht beschützen.“

„Aber ich, bei Gott, ich werde es nicht dulden!“ sagte er leidenschaftlich und zog sie fester an sich. „Carmen, ich beschwöre Sie, Sie dürfen dieser schmachvollen Sitte Ihrer Gemeine sich nicht unterwerfen.“

„Nein, eher sterben als das,“ rief sie aus. Ein Theil ihres alten Muthes kehrte ihr wunderbar zurück; nun, da er bei ihr stand, fühlte sie: es mußte eine Rettung für sie möglich sein.

Sie trocknete die Thränen von den Wangen, erhob den Kopf, der so kraftlos an seiner Schulter gelehnt, um sich aus ihrer selbstvergessenen Lage, die ihr jetzt peinlich wurde, zu befreien – da aber fuhr sie erschrocken zurück; denn von ihnen ungehört war Jonathan’s schleichender Schritt genaht, und nun blickte sie in sein verzerrtes Gesicht, in seine zornfunkelnden Augen.


(Fortsetzung folgt.)




Ein Rückblick auf die Ausstellung der deutschen Wollenindustrie zu Leipzig.


Es war vor ungefähr zwei Jahren, als auf dem Delegirtentage des Centralvereins der deutschen Wollenwaarenfabrikanten zu Crimmitschau der Vorstand dieses Vereins zuerst den Gedanken anregte, eine Fachausstellung der deutschen Wollenindustrie zu veranstalten. Die Erfahrungen aus den bisherigen Weltausstellungen hatten zu der Erkenntniß geführt, daß diese großen, alle Branchen der Gütererzeugung umfassenden Ausstellungen, indem sie eigentlich nur Bruchstücke eines jeden Gewerbes enthalten, nicht denjenigen fördernden Einfluß auf das Gewerbe ausüben können, wie jene Ausstellungen, die sich auf ein einzelnes Fach beschränken. Eine Fachausstellung, alle Stadien und Richtungen einer Fabrikation vom Rohmaterial bis hinauf zu dem edelsten, gebrauchsfertigen Fabrikate vorführend, ermöglicht dem Producenten, sich über Rohstoffe, Hülfsmaschinen, Verfahrungsarten, neue Erfindungen im [735] Zusammenhange zu unterrichten und seine Kenntniß der geschäftlichen Seite in Hinsicht auf Bezugsquellen und Absatzgebiete zu erweitern; sie lehrt auch die große Menge der nicht producirenden Beschauer die Ueberzeugung gewinnen, daß die Aschenbrödelrolle, welche der heimischen Industrie gegenüber der ausländischen zugewiesen worden ist, als eine den thatsächlichen Verhältnissen durchaus nicht entsprechende erscheint. Die Werthschätzung heimischen Könnens zu steigern, ist eine der verdienstvollsten Aufgaben der Fachausstellungen.

Alle diese Erwägungen waren für die Veranstaltung einer Fachausstellung maßgebend. Zudem fühlte sich die deutsche Wollenindustrie mit vollem Recht stark genug, um sich in einer Zusammenstellung alles Dessen, was sie zu leisten vermag, einer allgemeinen Beurtheilung zu unterwerfen. Auch war sie überzeugt, daß angesichts der weltgeschichtlichen Bedeutung, zu der sie sich vermöge des nothwendigen Consums ihrer Fabrikate emporgeschwungen hat, und ihrer Wichtigkeit in dem Organismus unserer Volkswirthschaft das Interesse für eine solche Ausstellung in den weitesten Kreisen der Nation Platz greifen würde. Und sie hat sich darin nicht getäuscht. Das Heimathsrecht dieser Industrie auf deutschem Boden liegt in ihrem tausendjährigen Bestehen begründet, und die Phantasie des Volkes, nach greifbaren Werkzeugen suchend, denen sie die Segnungen der Cultur und Civilisation zuschreibt, verehrt mit Recht gerade die Spindel als Symbol segenspendender friedlicher Arbeit.

Die gegenwärtige Bedeutung der Wollenindustrie in der deutschen Volkswirthschaft legen folgende Ziffern dar. Im deutschen Reiche befanden sich nach der Gewerbezählung vom 1. December 1875: 34,311 Betriebe, welche sich mit der Herstellung von Gespinnsten und Geweben aus Schafwolle und anderen Thierhaaren befassen, mit 193,688 beschäftigten Personen und einer motorischen Kraft von 58,235 Pferdekräften, von denen 45,155 per Dampf erzielt wurden.

Der geschätzte Werth der Einfuhr roher und gekämmter Schafwolle, wollener Garne und wollener Waaren bezifferte sich in Summa auf 350 Millionen Mark, der Werth der Ausfuhr der entsprechenden Objecte auf 247 Millionen Mark. Der Verbrauch in Pfunden Wollen wird für Deutschland gegenwärtig (1879) auf etwa 1 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung berechnet.

Daß diese Industrie nunmehr zum ersten Male unternimmt, eine Specialausstellung zu veranstalten, um der Welt zu zeigen, daß sie sich noch heute wie früher eine der stolzesten Töchter deutschen Fleißes zu nennen das Recht hat, daß sie ferner Betreffs der Qualität vor den westlichen Nachbarn nicht die Segel zu streichen hat, sondern in Bezug auf Intelligenz, Geschmackshöhe und Geschicklichkeit kühn mit ihnen in die Schranken treten darf, dürfte sehr gerechtfertigt erscheinen. So fand das Unternehmen denn nicht allein in den Kreisen der Fachgenossen, sondern auch in ferner stehenden Schichten der Bevölkerung lebhaften Beifall.

Ebenso zögerte Leipzig nicht, nachdem man diese Stadt, die vermöge ihrer industriellen Lage ein Sammelpunkt der kaufmännischen Welt und der Mittelpunkt des so überaus gewerbreichen Sachsens und namentlich der deutschen Wollenindustrie ist, als Ausstellungsort gewählt hatte, das Gebäude der ehemaligen Kunstgewerbe-Ausstellung gegen einen bescheidenen Procentsatz von einem sich etwa ergebenden Gewinn zur Verfügung zu stellen und das für ein aufzuführendes Maschinenhaus nothwendige Grundstück ebenfalls anzubieten. Auch die königlich sächsische Regierung erklärte sich sofort bereit, die Prämiirung der Aussteller zu übernehmen.

Am 1. Juli 1880 wurde die Ausstellung in Gegenwart des sächsischen Königspaares feierlich eröffnet.

Die ausgestellten Gegenstände waren nach sechs Gruppen geordnet: A Gewebe; B Rohmaterial; C Halbfabrikate; D Hülfsmaterialien; E Maschinen und Apparate jeder Art für den Gebrauch der Wollenindustrie; F Unterricht und Literatur. Auffallend schien es, daß keine Gruppe für Geschichte, Handel und Statistik vorhanden war. Die Fachausstellungen sollten diese rein wissenschaftliche Seite des Faches um so mehr berücksichtigen, als sie in umfassender Weise dem ernsten Studium dienen sollen.

Die Betheiligung an der Ausstellung kann leider keine allgemeine genannt werden. Gegenüber den 34,311 Hauptbetrieben, welche das deutsche Reich besitzt, bildeten 800 Aussteller, von denen übrigens 210 gar keine Textilbetriebe repräsentirten, sondern nur Maschinen, Apparate, Chemikalien für den Gebrauch der Wollenindustrie lieferten, einen sehr bescheidenen Procentsatz. Württemberg, Schlesien und die Rheinprovinz, welche mit ihren 560,203 Wollspindeln und 19,176 Wollwebstühlen allein ein Drittel der gesammten Wollspindeln und Wollwebstühle Preußens besitzt, haben sich eben sehr zurückhaltend gezeigt. Dasselbe läßt sich auch in mancher Hinsicht von Sachsen behaupten.

Einzelne Classen der obengenannten Gruppen wiesen jedoch eine stärkere Betheiligung auf. Die Tuch- und Buckskinfabrikation Preußens und Sachsens, die Fabrikate in Kammgarn, die wollenen Decken aus Süddeutschland und vom Harz, die Teppichfabrikation, vertreten durch die Brüsselteppiche von Berlin und die nach orientalischer Art geknüpften Teppiche von Schmiedeberg, Cottbus, Wurzen und Springe, die gehäkelten und gestrickten Phantasiewaaren von Apolda, dem alten Stammsitze dieser Fabrikation, und von den in jüngster Zeit aufgetretenen Concurrenzstädten Erfurt, Freiberg in Sachsen und Liegnitz, endlich die Filzwaaren gaben immerhin ein bezeichnendes Bild von der Bedeutung und der hohen Entwickelung der betreffenden Branchen. In hervorragender Weise hatten sich die Fabrikation der viel geschmähten Kunstwolle und die Maschinenindustrie betheiligt. Erstere, welche mit Hülfe von Maschinen aus Wolllumpen die Wollfasern zu weiterem Gebrauche herauslöst und das kurzfaserige Material aus Tuch und anderen Wollstoffen mit dem Worte „Mungo“, das Material aus Stricklumpen, Kammwollstoffen etc., also das langhaarige mit dem Worte „Shoddy“ benennt, wurde durch etwa ein Zwölftel der sämmtlichen Mungo- und Shoddyfabriken Deutschlands, letztere durch zahlreiche und bedeutende Werke von Chemnitz, Berlin, Werdau, Aachen, Leipzig etc. repräsentirt.

Nach dieser Uebersicht über die Betheiligung an der Ausstellung mögen die Eindrücke geschildert werden, welche wir von dem Ausgestellten empfangen haben.

Die halbrunde Vorhalle, welche das Vestibül des alten Kunstgewerbe-Gebäudes bildet, war für die Ausstellung des Rohmaterials benutzt worden. In zahlreichen eleganten Glasschränken und Kasten lag die Wolle in allen Graden der Reinheit und in den verschiedenen Stadien der Verarbeitung ausgebreitet. Vor der im Centrum der Halle auf hohem Postament thronenden Statue Friedrich August’s von Sachsen hatte eine umfangreiche, für Lehrzwecke systematisch zusammengestellte Wollsammlung des landwirthschaftlichen Instituts der Universität Leipzig ihren Platz gefunden. Diese Collection entsprach ihrer Bestimmung in ausgezeichneter Weise, sodaß auch der Laie nach genauerem Studium derselben wenigstens eine annähernde Vorstellung von dem ihm bisher unbekannten Gebiet der Wolle erhielt. Eine Anzahl lithographirter Tafeln veranschaulichte in sehr bedeutender Vergrößerung den Bau des Wollhaars, den Längen- und Querschnitt desselben, seine Entstehung und seinen Sitz in der Haut des Schafes.

Die Wollfaser der Merinowolle erscheint in dieser Vergrößerung aus einer Menge kleiner Hörner zusammengesetzt, die eins in das andere gesteckt sind, die Spitzen nach der Wurzel der Faser, also nach der Haut des Thieres gerichtet – die Wollfaser der anderen Wollen als ein massiver Cylinder, der wie ein Tannenzapfen mit dachziegelartigen Schüppchen bedeckt ist. Dieser Bau erklärt die Neigung mancher Wolle, sich zu kräuseln, und die Fähigkeit aller, sich zu filzen. Die Anzahl der Kräuselungsbogen hat zum Maß für die Qualität der Wolle Anlaß gegeben. So hat feine Wolle auf gleicher Haareslänge ungleich mehr kleine, flache Kräuselungsbogen, als grobe Wolle. Neben der Kräuselung sind aber noch verschiedene andere Eigenschaften des Haares für die Bestimmung der Wolle maßgebend: so vor Allem die Dicke, das heißt der Durchmesser und die Länge des Haares. Auf dem Längenunterschiede basiren die beiden Hauptgebiete der Wollspinnerei: die Kammgarnspinnerei und die Streichgarnspinnerei. Lange Wollen (6 bis 20 Centimeter lang) dienen als Kammwollen. Kurze Wollen (1,5 bis 7 Centimeter lang) werden als Streichwollen verarbeitet.

Nach diesen verschiedenen Eigenschaften wird die Wolle eingetheilt in die Classen: Electorale 1 und 2, Prima 1 und 2, Secunda, Tertia und Quarta. Unterhalb dieser Proben lagen in großen Glaskästen Vließe von den besten Heerden jener alten Zuchtrichtung ausgestellt, welche bis zur Mitte der sechsziger Jahre florirte, und nicht nach der Fleischgewinnung, sondern nach der [736] Production einer möglichst feinen Edelwolle strebte; ferner Vließe der neuen Zuchtrichtungen, deren Vertreter vorzugsweise Fleischgewinnung im Auge behalten. Beide Zuchtrichtungen haben ihre entschiedenen Anhänger; die Einen schwören auf Wollschaf, die Anderen auf Fleischschaf. Man scheint aber schließlich doch zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß die Fleischgewinnung bei der Richtung des Volksgeschmackes nicht ganz die gehofften Resultate ergeben hat, und daß es wirthschaftlich richtiger ist, die Wolle wiederum als wichtigen Factor in die Calculation zu ziehen.

Neben dieser Sammlung der Leipziger Universität erregten besondere Aufmerksamkeit die Vließ- und Stapelproben mehrerer edlen Merinoheerden Westpreußens und Schlesiens und die von einer Wollwäscherei zu Wurzen hübsch zusammengestellten Proben roher und fabrikgewaschener Wollen von circa siebenzig deutschen Stammheerden.

Den Beschluß der deutschen Wollen machten mehrere Vließe des Marsch- respective Eiderschafes, welche von dem nordfriesischen Verein zu Bredstedt und dem landwirthschaftlichen Verein zu Eiderstedt bei Garding ausgelegt waren. Daß diese Wolle der Niederungsschafe mit derjenigen der Edelzüchtungen nicht wetteifern kann, dürfte auch dem Laien bekannt sein; sie ist grob von Haar, indeß fest und elastisch, und wegen ihrer Länge für den Kamm geeignet.

Die ausländische Wollproduction wurde in hervorragendster Weise durch mehrere Collectionen von Colonialwollen veranschaulicht, unter denen besonders eine von neun Bremer Firmen zusammengestellte vortheilhaft auffiel. Hier wurden Wollproben, Vließe, Abfälle von Wolle, Producte aus Wollschweiß etc. aller derjenigen überseeischen Wollen vorgeführt, welche der deutsche Fabrikant vorzugsweise verbraucht. Es verdient dieses selbstständige Importiren Bremer Firmen um so mehr Anerkennung, als es das Bestreben zeigt, den Import überseeischer Wollen nach Deutschland nicht mehr durch Vermittelung des Londoner Marktes zu bewerkstelligen, sondern ihn selbst in die Hand zu nehmen. Daß Bremen immer mehr zu einem Stapelplatze überseeischer Wolle werden möge, ist von Herzen zu wünschen.

Wir wenden uns nun zur Kunstwolle. Als dieses Material Ende der vierziger Jahre auftauchte, war die ganze civilisirte Welt entrüstet. Und fünfundzwanzig Jahre später? – da existirten allein in Deutschland 129 Kunstwollfabriken mit 4776 Arbeitern – eine Anzahl, die sich heutigen Tages schon um ein Beträchtliches vermehrt haben dürfte. Dieser gewaltige Aufschwung eines früher so mißachteten Industriezweiges ist vorzugsweise auf die verbesserte Fabrikationsweise zurückzuführen. Man erfand Maschinen, welche es ermöglichen, die Wollfaser aus dem alten Gewebe oder den Fäden so zu lösen, daß sie nicht zerreißt, also möglichst lang bleibt; man erfand neue Verfahrungsweisen, bei deren Anwendung das immerhin kurze Material gut zu verspinnen ist; man erfand im Anfang der sechsziger Jahre das Verfahren des Carbonisirens, wodurch es möglich ist, auch aus halbwollenen Lumpen die Wollfaser zu gewinnen und zu Fäden zu verspinnen; man wandte endlich verbesserte Reinigungsverfahren an, welche das aus den Lumpen hergestellte Gewebe oder Gespinnst von allen Unreinigkeiten gänzlich befreite. Auch der Widerwille des Publicums gegen das Fabrikat schwand nach und nach. Die Noth lehrt eben beten. Der Unbemittelte greift gern zu jenen billigen, gewöhnlich dicken Stoffen, die, wenn sie auch nicht den aus Naturwolle hergestellten an Feinheit und edlem Aussehen im Entferntesten gleichkommen, doch immerhin eine ziemlich haltbare und warme Bekleidung abgeben. Der Protest der Aesthetiker gegen Shoddy und Mungo hat ebenso wenig genützt, wie derjenige, den sie gegen die Anilinfarben erhoben. Die Kunstwolle hat sich in der Industrie ihre Stellung errungen, und ihre Verfertiger können sich in der That rühmen, die Ausnützung eines Stoffes bis in die äußersten Grenzen der Möglichkeit getrieben und hierdurch neue Werthfactoren geschaffen zu haben.

Bot die Abtheilung für das Rohmaterial in ihrer seltenen Reichhaltigkeit besonders dem Fachmanne vieles Interessante, so noch mehr die Maschinenhalle. Unermüdlich arbeiteten die großen Dampfmaschinen, senkten und hoben sich die Kolben, drehten sich in fliegender Eile die Räder, schnurrten die Spindeln, sausten mit Blitzesschnelle die Weberschiffchen dahin und rasselten in immer beschleunigterem Tempo die Strick- und Stickmaschinen. Die menschliche Hand schien geradezu unnöthig geworden zu sein; denn fast ohne ihre Beihülfe wurden die verschiedensten Functionen verrichtet; die Maschinen webten, wirkten, strickten, stickten, griffen tief hinein in das Gebiet der menschlichen Kunst und beschämten jede Geschicklichkeit unserer Hand. Eine Menge neuer praktischer Constructionen und Verbesserungen übte auf die Fachleute eine ungemeine Anziehungskraft aus, während das Laienpublicum, weniger mit diesem Rädergetriebe vertraut, mit einem gewissen Staunen die modernen Errungenschaften der Technik betrachtete. Ihm schienen besonders die mechanischen Webstühle das meiste Interesse zu gewähren. Angesichts des Schönherr’schen Gobelinstuhles erhielt man in der That einen Begriff davon, welche Fortschritte die Technik gerade in dieser Richtung gemacht hat, und wie die noch vor fünfzehn bis zwanzig Jahren herrschende Ansicht, daß complicirtere Einrichtungen, wie namentlich die Jacquard-Maschine, nur schwer mit dem mechanischen Stuhle in Verbindung gebracht werden könnten, sich als völlig unzutreffend herausgestellt hat.

Der ganze hintere Theil der Maschinenhalle wurde von vier Dampfmaschinen eingenommen, während der vordere Theil und der Raum längs den Wänden zur Ausstellung der Hülfsmaterialien der Wollenwaaren-Fabrikation benutzt worden war. Hier lagen Chemikalien, Seifen, Leime, Oele, Producte aus Wollschweiß, Wasserglas, Dextrine, Kunstgummi, Farbhölzer, Krystallgebilde aus purpurnem Blutlaugensalz, ferner Kratzen, Pappspulen, Bürsten, Kupferarbeiten zum Theil in geschmackvollen Arrangements ausgebreitet.

Die mit Hülfe der Maschinen aus dem Rohmaterial hergestellten Fabrikate barg das Innere der alten Kunstgewerbehalle. Der langgestreckte Raum bot ein glänzendes Bild; denn mit seltenem decorativem Geschick waren nicht nur die kostbaren Stoffe und Teppiche, sondern auch die geringsten Fabrikate in einer dem Auge wohlthuenden Weise zusammengestellt worden. Die Fabrikanten von nicht weniger als sechsundzwanzig Städten hatten Collectiv-Ausstellungen arrangirt und anscheinend keine Kosten gescheut, um ihre Waaren in ansprechender, würdiger Weise vorzuführen. Tuche, Buckskin, Paletot- und Kammgarnstoffe, Decken, Flanelle, Strumpf- und Strickwaaren, Shawls, Möbelstoffe, Teppiche, Filze etc., Producte der süd- und norddeutschen, der rheinischen und holsteinischen, elsässischen, schlesischen und sächsischen Fabrikation waren hier vertreten. Besonders erregten die von den Fabriken zu Wurzen, Schmiedeberg, Cottbus und Springe aufgestellten Smyrnateppiche die allgemeinste Bewunderung. Gerade auf dem Gebiete der Teppichfabrikation sind ja die glänzendsten Resultate zu verzeichnen.

Nachdem auf den ersten Weltausstellungen die Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit der orientalischen Teppiche durchgedrungen, beeilte man sich, diese Vorbilder für die eigene Fabrikation zu verwerthen. Die Engländer legten in Smyrna selbst Fabriken an, welche für den englischen Markt[WS 1] arbeiteten, da der Orientale bei seiner langsamen Arbeitsweise den englischen Bedarf nicht decken konnte. In Deutschland war es ein intelligenter Fabrikant, Kühn mit Namen, welcher selbst nach dem Orient reiste, um die Teppichfabrikation zu studiren und dieselbe nach seiner Heimath zu übertragen. Bald entstanden jene schon oben angeführten Fabriken, welche zur Zeit Fabrikate anfertigen, welche die alten, echten Smyrnateppiche an Haltbarkeit übertreffen. Ahmte man anfänglich nur die groben Sorten in Grün, Roth und Blau nach, so schritt man bald weiter fort und wagte sich auch an die feineren Arten, bis man endlich Technik und Ornamentationsprincip so weit beherrschte, daß nach eigenen Entwürfen gearbeitet werden konnte. Alle diese Teppiche sind Knüpfteppiche, also die plüschartig in die Höhe stehenden Fäden der Oberfläche sind genau wie bei den orientalischen einzeln mit der Hand in das Gewebe eingeknüpft. So hatten Schütz und Juel aus Wurzen ein Exemplar ausgestellt, welches bei einer Größe von 9½ Quadratmeter 1,231,200 Knoten enthielt. Hoffentlich wird sich auch bei der Herstellung unserer geringen Teppichsorten jener reformatorische Geist in verstärktem Maße geltend machen, der für die kostspieligeren Erzeugnisse der Teppichweberei so schöne Früchte getragen hat.

Mit diesen Andeutungen über die Fabrikation der Teppiche möge unser Bericht über die Ausstellung der deutschen Wollenwaaren-Industrie schließen; sie ist von 109,105 Personen besucht worden und ergab einen reinen Ueberschuß der Einnahme von 20,000 Mark, welche nach Zurückzahlung des Garantiefonds zu gemeinnützigen Zwecken verwendet werden sollen; ihr Schluß erfolgte [737] am 15. October mit einem Hinweis auf das freudige Fest, welches an demselben Tage am Rheine gefeiert wurde.

Es sei schließlich noch der zahlreiche Fachversammlungen gedacht, die im Anschluß an diese Ausstellung tagten. Es waren dies: ein Verbandstag der deutschen Färber, eine allgemeine Weberlehrer-Conferenz und eine Schafschau, der sich noch der zum ersten Male im Jahre 1823 in Ausführung gebrachten Idee von Albrecht Thaer ein Wollconvent anschloß.

So hat die Ausstellung in jeder Beziehung anregend und fruchtbar gewirkt. Sie hat gezeigt, daß die deutsche Wollenindustrie stark genug in ihrem Können, strebsam genug in ihrem Wollen und sich ihrer Ziele ausreichend bewußt ist. Sie hat auch bewiesen, daß jenes herbe Wort, welches im Sommer 1876 jenseits des Oceans über die deutsche Industrie gefällt ward, auf die deutsche Wollenindustrie keine Anwendung mehr findet.

Georg Buß.




Der Tondichter der „Folkunger“.

Edmund Kretschmer.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Gar oft im Leben wie in der Kunst kommt das Talent schneller und widerstandsloser zur Geltung, als das Genie. Es liegt das in der Natur der Sache. Das Genie wandelt völlig neue Bahnen, bricht mit dem Altgewohnten und Liebgewordenen mehr oder minder rücksichtslos, während das Talent sehr oft einen weisen Compromiß eingeht, das Bestandene schont und weit besser mit den gegebenen Verhältnissen rechnet. Um die Namen Gluck, Mozart und Wagner dreht sich die ganze Entwickelung der modernen Oper seit hundert Jahren. Des letzteren kühnen Reformators, Richard Wagner’s Entwickelung hat die musikalische Gegenwart miterlebt, erlebt die bittersten Kämpfe, welche sich für und wider den Schöpfer des musikalischen Drama erhoben. Wie man auch über Wagner urtheilen mag, ob seine Musik die Naivetät des Empfindens zerstört oder ob sie den Wortausdruck der Operntextworte erst zur höchsten Deutlichkeit erhoben habe, ob seine Werke eine Philosophie in Tönen oder musikmelodisch ein absoluter Fortschritt seien, das kann hier unentschieden bleiben. Sicher ist der Wagner’sche musikdramatische Stil der ganz folgerechte Ausfluß seiner ganzen künstlerischen Individualität und um der Stärke dieser Individualität willen vollberechtigt.

Anders steht es um die Nachahmung Wagner’s. Noch keiner von Denen, welche ihn nachzuahmen strebten, hat bis jetzt in dieser Richtung einen Erfolg gehabt, sondern von Peter Cornelius bis Paul Geisler, welch letzterer die unendliche Melodie ohne Tonart und Tactstriche schreibt, haben alle Adepten erst da Wirkung erzielt, wo sie zu den älteren Formen zurückgriffen, also gleichsam den neuen Inhalt in die alte Opernarchitektur einzufüllen bestrebt waren.

Keiner aber von Jenen, die, durchdrungen von den bahnbrechenden Ideen Wagner’s, trotzdem die alte Cäsur wieder aufnahmen und ihre Melodien nicht eintönig in’s Unendliche ausspannen, sondern in Chören, Ensembles und Arien fügten, hat selbstkritisch so richtig gehandelt, wie Edmund Kretschmer, der in den letzten Jahren schnell berühmt gewordene Verfasser der „Folkunger“. Die Declamation dieser Oper, die enge Anschmiegung der Musikempfindung an den Textwortlaut, sowie manche harmonische Kühnheit athmen Wagner’sche Grundsätze. Aber mit geschickter, kluger Hand hält Kretschmer die altbewährte geschlossene Form aufrecht, und da er Meister in deren Handhabung ist, so kann man sich über den fast beispiellosen Erfolg seiner „Folkunger“ kaum wundern. Ohne Ueberschwang oder Exaltation reicht Kretschmer’s Talent just hin, um diese Formen mit einem praktisch schönen Inhalt zu versehen, und der künstlerische Ernst seines Strebens erweckt die Sympathien auch bei Jenen, die anfänglich meinten, es gehöre mehr Leidenschaft dazu, nach Richard Wagner die große Oper neu zu beleben. Echt dramatisch und bühnenwirksam schreibt Kretschmer, und nach Meyerbeer und dem ersten Wagner hat kein zeitgenössischer Componist Finales von der Wucht und klaren Fügung geschrieben, wie z. B. das zweite Finale der „Folkunger“: „Sag’, bist du Erick’s Sohn?“ Und nicht minder zeugen der Krönungsmarsch dieser Oper, der Brauttanz von Falun von der reichsten melodischen und melodisch-poetischen Erfindung.

Der Erfolg der neueren Oper Edmund Kretschmer’s, „Heinrich der Löwe“, ist bisher bekanntlich auf nur wenige Städte beschränkt geblieben. Aber die „Folkunger“ sind – im deutschen Musikleben wohl ein fast unerhörtes Factum – über fünfzig [738] Bühnen geschritten, und die Einzelaufführungen zählen, da das Werk sich fast überall dauernd im Repertoire hielt, nach vielen Hunderten. Und der Componist selbst?

Er ist trotz der Riesenerfolge seiner Oper und der Anerkennung, welche er mit größeren Chorwerken, geistlicher Musik, dichterisch feingestimmten Orchesterstücken, Liedern etc. errungen hat, ein anspruchsloser gemüthvoller Künstler geblieben. Er lebt in sehr geachteter Stellung als Hoforganist in Dresden. Geboren ward er 1830 zu Ostritz in der Oberlausitz, als Sohn des dortigen Gymnasialrectors, und als er mit etwa sechszehn Jahren nach der sächsischen Hauptstadt kam, hatte er freilich das Glück, von zwei ausgezeichneten Männern in der Musik unterrichtet zu werden: von Julius Otto und Johann Schneider. Aber mühelos ward ihm das emsige Streben nicht gemacht; denn der junge Scholar mußte drei bis vier Musikstunden geben, ehe er das Honorar zusammen hatte, um je eine Stunde nehmen zu können. Den ersten größeren Erfolg hatte Kretschmer 1865, also erst elf Jahre nach seiner 1854 geschehenen Beförderung zum Hoforganisten. Man feierte in Dresden damals (es war am 25. Juli) das erste deutsche Sängerbundesfest, auf welchem der damalige Minister von Beust die geflügelten Worte sprach: „Sein König Johann von Sachsen sei zu jedem Opfer für die deutsche Einheit bereit, und solle es ihm die Krone kosten.“ Kretschmer’s mit dem ersten Preise prämiirtes Chorwerk hieß „Die Geisterschlacht“. Zehn Monate später schlugen die preußischen Heere bei Königsgrätz die vereinten Sachsen und Oesterreicher, und die durch keine „Harmonie der Chöre“ herstellbar gewesene deutsche Einheit erstand auf den blutigen Gefilden Böhmens mittelst Blut und Eisen. 1868 erhielt Kretschmer in Brüssel den ausgesetzten internationalen Preis für eine missa a tre voci.

Nun waren ihm die Flügel gewachsen; er sann ernstlich dem ihm von der Kritik gegebenen Rathe nach: eine Oper zu schreiben. [[BLKÖ:Mosenthal, Salomon Hermann|Mosenthal genoß damals, wie jetzt noch nach seinem Tode, den Ruf des erfolgsichersten Librettisten, und Kretschmer ging geradewegs auf diesen dichterischen Genossen los – aber ach, der Text war wohl da, Meyerbeer war er zugedacht gewesen und seine dramatische Qualifikation einleuchtend, aber der arme deutsche Musiker sollte dem gewandten Wiener Librettisten, dem Vater der „Deborah“, für die „Folkunger“ 1000 Gulden Anzahlung leisten. Kretschmer hat sich die Summe geborgt und begann dann rüstig zu schaffen. Wie manche 1000 Gulden mögen Mosenthal und seine Erben aus den Tantièmen der „Folkunger“ bezogen haben! Dresden war die erste Bühne, die den Ruhm des neuen (man konnte schon nicht mehr sagen „jungen“) Opernschöpfers begründete, und fast alle größeren Bühnen folgten dem Beispiel Dresdens. Im Osten begrenzen Wien und Riga, im Norden Hamburg und Rotterdam, im Westen Köln und Karlsruhe, im Süden Zürich und München das Territorium deutscher Musik, das die „Folkunger“ sich in fünfzig Städten eroberten. Mit fünfzig Jahren steht Edmund Kretschmer auf dem Zenith seiner Manneskraft; zu feiern und sich an vergangenem Ruhm zu sonnen liegt nicht in seinem Charakter. Da darf man denn hoffen, daß sein Streben und Mühen noch manche Frucht trage, welche deutsches Wesen und deutsche Gemüthstiefe zu siegreichem Wettstreit mit den verlockendsten Hervorbringungen Wälschlands und Galliens befähigen möge.

Ludwig Hartmann.




Javanischer Aberglaube.


Jahre lang habe ich die Insel Java bewohnt, Jahre lang mich ihrer tropischen Pracht, ihrer immergrünen Wälder und Felder gefreut und in nahem Verkehr mit ihren Einwohnern deren Charakter und Lebensgewohnheiten, die öffentlichen Verhältnisse und das Privatleben kennen gelernt, besonders aber haben mich die eigenthümlichen Vorstellungen dieser halbcivilisirten Naturkinder von der Welt, ihrer Entstehung und Ordnung interessirt. Aus der Reihe meiner Beobachtungen will ich hier ein paar kleine Züge und Bilder mittheilen, von denen ich glaube, daß sie dem Leser als originell und bemerkenswerth erscheinen werden.

Nicht leicht sprechen die Javanen mit Europäern über Sitten und Gebräuche ihres Volks; eine scheue Zurückhaltung läßt sich bei ihnen nur schwer überwinden, und nur bei längerer Bekanntschaft kann ein Reisender diese oder jene Mittheilungen über Sitten oder Gebräuche aus ihnen herauslocken. Diese letzteren sind um so charakteristischer, als sie unverändert seit Jahrtausenden von Geschlecht zu Geschlecht bis auf den heutigen Tag sich fortgepflanzt haben.

In einem der zahlreichen Dörfer, welche versteckt unter hohen Fruchtbäumen am Abhange des Djamboc-Gebirges liegen – meine botanischen Excursionen hatten mich für einige Zeit daselbst verweilen lassen – gelang es mir, das Zutrauen meines Wirthes Pa Idja zu gewinnen. In lebhaftem Geplauder rauchten wir bald zusammen die gebräuchliche Maisstrohcigarette, und unser Gespräch drehte sich um das vor Kurzem stattgehabte Erdbeben.

„Warum haben denn die Leute,“ fragte ich endlich, „als sie beim Ausbruch des Erdbebens aus ihren Hütten herausliefen, sämmtlich mit so lautem Geschrei 'ada, ada' (hier, hier) gerufen? Was 'ada' sagen will, weiß ich sehr gut. Der Soldat giebt es als Antwort, wenn er beim Appell seinen Namen rufen hört. Aber was soll das Wort bei einem Erdbeben bedeuten?“

„Ihr wißt, Herr,“ entgegnete Pa Idja, „daß die große Erdschale auf der Schulter eines riesigen Büffels ruht. Oft liegt derselbe jahrelang still und trägt unverdrossen die schwere Bürde, manchmal aber wird es ihm zu sauer, und er muß sich durch Wechsel der Position einige Erleichterung verschaffen; er wälzt die Erde von der rechten auf die linke Schulter. Dann liegt er wieder still. Durch diese Bewegung entstehen die Erdbeben, und um den Büffel zu erinnern, daß wir doch auch noch auf der Erde sind, wird 'ada, ada' gerufen. Dann weiß das brave Thier, daß wir Javanen noch stets seiner gedenken, und nimmt bei allen Bewegungen die möglichste Rücksicht.“

Vom Erdbeben kamen wir auf die Erschaffung des Menschen und den Unterschied der Hautfarbe. Ich merkte schon lange, daß Pa Idja, auf seine Manier ein Naturphilosoph, gern meine Ansichten über diese Frage hören wollte, konnte ihm aber beim besten Willen hiermit nicht dienen. Ein mitleidiges Lächeln über meine Unwissenheit zeigte sich in dem braungelben Gesichte des Mannes, und nicht ohne einen Ausdruck der Ueberlegenheit rückte er bald mit seiner Erklärung heraus.

„Nach Erschaffung der Welt durch das große Oberwesen,“ sagte er, „stellte sich die Nothwendigkeit heraus, dieselbe auch durch Menschen zu bevölkern. Jener große Feuerberg, der Merapi, welcher dort vor uns seinen spitzen Gipfel in die Luft streckt, war der Ofen, Lehm von dem fruchtbaren Thalboden das Material, aus dem die ersten Menschen geformt wurden. Das Resultat war leider nicht befriedigend; denn hineingeworfen in den Feuerberg durch das große Oberwesen und nach etwas zu langer Zeit erst wieder herausgeholt, kam ein Mensch ganz schwarz und verbrannt heraus. Er erschien durchaus unwürdig, die gesegneten Gefilde Javas zu bewohnen, und wurde darum auch schleunigst unter die glühend heiße Sonne eines andern Landes verbannt. Die zweite Probe mit einer neuen Form fiel auch nicht glücklich aus. War der erste Mensch durch zu langes Verweilen im Feuerberg vollständig verbrannt, so zeigte Nummer Zwei bei dem Herausnehmen, daß auch hier nicht das richtige Zeitmaß gefunden war. Noch ganz weiß, entsprach auch dieser blanke Mann durchaus nicht dem Ideal, welches sich der große Schöpfer von dem ausgezeichnetsten Bewohner seiner Erde gebildet hatte. Unverweilt wurde deshalb auch dieser Mensch nach einem Lande verwiesen, in welchem die Natur es liebt, das Wasser und den Regen in weiße Steine zu verwandeln, und von wo noch jetzt die Menschen mit der kranken Farbe kommen, um das grüne Java zu sehen.“

Pa Idja nickte, als ich mir zu lächeln erlaubte, lebhaft mit dem Kopfe und fuhr dann fort:

„Vorsichtig gemacht durch die wiederholten Mißerfolge, wandte das Oberwesen bei dem dritten Versuch dem richtigen Moment des Herausnehmens eine größere Aufmerksamkeit zu, und siehe da, es kam ein Mensch hervor, welcher den gestellten Anforderungen völlig entsprach. Von angenehm bräunlich-gelber Farbe, wurde er sofort würdig befunden, das blühende Java zu bewohnen. Nicht der schwarz verbrannte noch der weiß gebliebene, zu wenig geröstete Mensch wurden dieses Vorrechtes würdig erachtet; nur den richtig [739] knusprig gebräunten Söhnen wurde vom Erdenbeherrscher die höchste Gunst beschieden.“ Hiermit endete Pa Idja seine Erklärung über den Unterschied der menschlichen Hautfarbe; ich habe dieselbe so wiedergeben, wie er sie mir erzählte. Sein Glaube daran war unerschütterlich.

Da meine botanische Ausbeute hier ziemlich reichlich war, trug ich meinem Wirthe auf, mir einen mit der Umgegend vertrauten Mann zu verschaffen, welcher mich neben meinen Bedienten auf meinen Excursionen begleiten sollte. Als ich den folgenden Morgen aus der Thür meines Wohnhauses trat, kauerte vor der Verandatreppe ein ältlicher Javane, welcher sich als der von mir gewünschte Führer präsentirte. Sariman war sein Name, und durch einen großen Strauß prächtiger Blumen suchte er sich eine günstige Einführung zu verschaffen. Wir wurden bald handelseins. Verschiedene Tage waren wir schon zusammen durch Feld und Wald gestreift und stets war mein Begleiter dabei voll munterer Laune gewesen, bis ich endlich eine Abnahme seiner Redseligkeit und einen traurigen Zug in seinem biederen Gesicht bemerkte.

„Sariman, was fehlt Dir? Beichte schnell; denn dein melancholisches Gesicht wird mir langweilig.“

Vergeblich bemühte sich Sariman, höchst fidel aus den Augen zu sehen; die tiefe Schwermuth schimmerte durch, und erst nach vieler Mühe gelang es mir, ihn zur Erzählung einer Geschichte zu bewegen, die hoffentlich den Lesern der „Gartenlaube“ so viel Spaß machen wird, wie sie mir selber zur Zeit bereitet hat, wenn auch für mich die Folgen keine angenehmen waren.

„Hier unten in dem Dorfe,“ so begann Sariman, „wohnte mein bester Freund mit Namen Wirodrono; er hielt mit seiner Frau zusammen einen kleinen Kaufladen, in welchem gebackene Pisang, Reis, Fisch und andere Nahrungsmittel verkauft wurden. Wir kamen alle Abende zu einander, um Lieder zu singen oder über das Wachsthum der Reisfelder zu sprechen; nie hatten wir Streit und unseren Frauen war diese Freundschaft angenehm. Vor vierzehn Tagen starb Wirodrono; ich hüllte den Todten in ein reines Kleid, trug die Leiche mit nach dem Begräbnißplatz und fertigte selbst das Bambusgitter über seinen Ruheplatz an; auch genug Reis mit Fisch sowie kupfernes Geld habe ich ihm für die Reise mitgegeben; kurzum ich erfüllte meine Freundschaftspflicht. Was geschah aber jetzt! O, es ist nicht zu glauben, und ich hätte es nie von Wirodrono gedacht. Schon früher habe ich Euch erzählt, Herr, daß ich 500 Schritte vom Dorf entfernt, links wo der kühle Bach zuerst sein Wasser an unsere Reisfelder abgiebt und wo die drei großen Waringibäume stehen, einen kleinen Garten habe, welcher mir die großen süßen Kartoffeln, Bohnen, Zwiebeln etc. liefert, deren Wohlgeschmack Ihr ja auch stets gepriesen habt. Vor einigen Tagen gehe ich in den Garten, um die reifen Früchte zu pflücken. Was sehe ich aber da? Alles durcheinander gewühlt und zerstampft, die besten Kartoffeln zerbissen und aus dem Grunde geholt! Ich warf mich zur Erde, raufte meine Haare und zürnte mit mir, weil ich vielleicht etwas gethan hatte, wofür dies eine Strafe sei. Aber nichts Böses war ich mir bewußt. Da fallen meine Augen auf die Spuren eines Thieres, und mit leichter Mühe entdecke ich, daß ein wildes Schwein der Zerstörer meines Gartens war. Noch denselben Abend stellte ich mich auf die Lauer, um das boshafte Thier mit meiner Lanze zu tödten; lange brauchte ich nicht zu warten – da hörte ich ein schweres Grunzen und den Bach herauf direct nach meiner Anpflanzung kam ein großer wilder Eber. Schon fasse ich die Lanze fest zum tödtlichen Stoß, da lähmte ein plötzlicher Schreck meine Glieder; denn in dem Eber, dem verruchten Schänder meines Eigenthums, erkannte ich meinen alten Freund Wirodrono. Ja, Herr, es war mein verstorbener Freund Wirodrono in Gestalt eines wilden Schweines.“

„Bist Du denn vollkommen verrückt, oder hat die Opiumpfeife Deine Sinne so umnebelt, daß Du ein Schwein für einen Menschen ansiehst?“ So fragte ich laut und lachend. Aber die kummervolle Miene meines Sariman bewies mir, daß der unter den Javanen noch allgemein verbreitete Glaube der Seelenwanderung an ihm einen gehorsamen Jünger hatte. Es sind dies noch Ueberbleibsel der früheren Brahminen-Herrschaft, und unter der achtzehn Millionen zählenden Bevölkerung Javas sollen nur sehr wenige sein, welche nicht an den Einfluß böser Geister glauben und trotz ihres mohammedanischen Glaubens nicht fest von dem Bestehen einer Seelenwanderung überzeugt sind.

Alle Versuche meinerseits, um Sariman von dieser absurden Vorstellung abzubringen, blieben erfolglos, und einigermaßen gekränkt durch meine Ungläubigkeit, berief er sich auf das Zeugniß meines Wirthes und noch mehrerer Dorfbewohner, welche gestern Abend gleichzeitig mit ihm nach dem Garten gegangen seien und einstimmig in dem Eber den alten Wirodrono erkannt hätten.

„Sariman,“ sagte ich endlich, „ich kannte Deinen alten Freund nicht, aber aus Deinen Erzählungen kann ich mir sehr gut eine Vorstellung von ihm machen. Laß uns heute Abend nach Deiner Anpflanzung gehen – da werden wir ja sehen.“

In meiner Wohnung befragte ich sofort den Wirth Pa Idja über das Gehörte, aber auch dieser Biedermann bestätigte mir mit der aufrichtigsten Miene, daß der alte Wirodrono in Gestalt eines wilden Schweines wieder in seine Heimath gekommen sei. Vor allen Dingen berief er sich auf drei Kennzeichen: die volle Brust mit grauen Haaren, die Ohren und namentlich die Augen. Die Augen – die Ähnlichkeit sei gar nicht zu leugnen und das ganze Dorf könne seine Worte bestätigen. Die angeführten Beweise, hauptsächlich was die Augen betrifft, konnten einen Schein von Annehmbarkeit haben; ich kann mir’s wenigstens denken, daß so einem alten grauen Javaner, besonders wenn ihm der Opiumgenuß nicht fremd ist, der Vergleich seiner Sehorgane mit einem schiefgeschlitzten Schweinsauge nicht allzu seltsam erscheinen mag; auch die Brust voll grauer Haare und die Ohren will ich noch passiren lassen, aber der Leib mit den vier Pfoten? Nein, das war doch zu arg.

Der Abend kam, und in Begleitung Sariman’s machte ich mich auf den Weg. Um den alten Wirodrono in Schweinsgestalt nicht zu verscheuchen, nahm ich verdeckte Aufstellung hinter einem dicken Waringibaume und erwartete den Aufgang des Mondes, die gewöhnliche Zeit, um welche das wilde Schwein kommen sollte. Sariman kauerte auf inländische Manier an dem Eingange seines Gartens, neben sich einige gebackene Pisange, durch welche er den ungebetenen Gast von der Zerstörung des Gemüses abzuhalten gedachte. Mein Standplatz war so gewählt, daß ich den Aufgang des Mondes nicht sehen konnte. Als er jedoch erschien, breitete er die volle Macht seines Zaubers über die tiefe Stille der wunderbar schönen, bisher in Dunkel gehüllten Landschaft. Nun gab auch Sariman bald das Zeichen, daß der erwartete Gast sich pünktlich einstelle. Gespannt schaute ich hinter meinem Baume hervor, und wirklich – das prächtigste Wildschwein, welches je ein Jägerauge erschaute, präsentirte sich meinen Blicken, ein echter alter Bursche mit grauer Brust und blinkenden Hauern. Von der Anwesenheit des Garteneigenthümers schien er nicht die geringste Notiz zu nehmen. Behaglich grunzend durchwühlte er mit dem breiten Rüssel die wohlgepflegten Anpflanzungen; von den gebackenen Pisangen, welche ihm Freund Sariman zuwarf, wollte er durchaus nichts wissen; links, und rechts flogen Erdklumpen in die Höhe und krachten Bohnenstangen; mit dem größten Appetit zermalmte er die süßen Kartoffeln und hatte für alle von Sariman in den flehendsten Worten an ihn gerichteten Ermahnungen ein taubes Ohr. Endlich verließ diesen aber die Geduld; laut scheltend über die Zerstörung seines Eigenthums, nahm er einige Steine und warf dieselben dem alten Freunde gegen den borstigen Leib, wodurch das Thier sich in der That bestimmt fühlte, den Schauplatz zu verlassen. Ich bemerkte gerade noch, wie es, vergnügt mit dem zierlich geringelten Schwänzlein wedelnd, sich durch die Umzäunung drängte und, den Bach durchstampfend, am Buschrande verschwand. Mein ihm nachgerufenes „Auf Wiedersehen!“ war vollständig ernstlich gemeint.

Während des Nachhausegehens nach dem Zusammentreffen mit Wirodrono-Wildschwein nahm ich mir denn auch fest vor, den ferneren Zerstörungen Einhalt zu gebieten. Wildschweinsbraten habe ich von jeher gern gegessen, und den Genuß der gepriesenen jungen Bohnen und Kartoffeln wollte ich auch nicht entbehren. Sariman verschwieg ich wohlweislich meine Absicht und sandte ihn nur gegen vier Uhr Nachmittags mit einem Briefe nach der drei Stunden entfernten Poststation. Gegen meinen Wirth hatte ich nebenbei geäußert, daß ich diesen Abend ohne Diener auf die Hirschjagd gehen wolle.

Wie den Abend zuvor, stand ich auch dann wieder hinter dem Waringibaume, um die Ankunft des Ebers zu erwarten; nur hatte ich heute mein Gewehr bei mir. Langes Warten war nicht [740] nöthig; vom Bache herauf hörte ich das bekannte Plätschern – dann wieder Stille, und siehe! seinen feisten Leib durch die Umzäunung drängend, erschien, behaglich grunzend, Wirodrono-Wildschwein auf der Bildfläche. „Warte, Freundchen!“ dachte ich, legte an und gab Feuer. Der Räuber fuhr zusammen; ganz wie ein „angeschossener Eber“ brach er durch die Hecke, raste in vollem Galopp, ohne zu grüßen, an mir vorbei und lief einem kleinen Hügel zu, wo er meinen Blicken entschwand. Da ich deutlich das Anschlagen der Kugel wahrgenommen hatte und reichliche Blutspuren mich zur Annahme eines Treffschusses berechtigten, so überließ ich das Thier für heute Nacht seinem Schicksale, begab mich nach Hause und genoß ohne alle Gewissensstörungen die Segnungen eines wohlthätigen Schlafes.

Als ich mit Sariman und vier andern Javanen mich des andern Morgens auf die Suche begab und meine Schritte direct nach dem vorhin erwähnten Hügel lenkte, fragte mich der javanische Diener:

„Habt Ihr dort Wild geschossen, Herr?“

„Nein,“ antwortete ich, „warum fragst Du mich danach?“

„Weil dort der Begräbnißplätz ist.“

Ich wußte das nicht und muß gestehen, daß mir die Mittheilung nicht besonders angenehm war. Hätte das dumme Thier nicht einen andern Weg einschlagen können? Die Sache fing wirklich an, fatal zu werden. Und was ich im Stillen fürchtete, das traf leider nur zu vollständig ein: starr und steif lag das von mir geschossene wilde Schwein da, und keine zwanzig Schritte davon entfernt war das noch ziemlich frische Grab des seligen Wirodrono.

Himmel, was für Augen machte mein Sariman! Einen wüthenden Schrei ausstoßend und heftig mit den Armen gesticulirend, stürzte er wie ein Rasender den Berg hinab, hinter ihm her die vier anderen Javanen. Da ich dem todten Eber keine Leichenrede halten wollte, machte ich mich auf den Weg, wählte jedoch einen Pfad, welcher mich sofort, ohne daß ich durch das Dorf gehen mußte, direct nach meinem Hause führte. Kaum war ich da angekommen, als meine zwei Diener, welche ich mir von Batavia mitgenommen hatte, mit den gesattelten Pferden aus den Ställen eilten; zugleich hörte ich im Dorfe das Alarmzeichen schlagen, welches alle streitbaren Einwohner vor der Wohnung des Oberhauptes versammelt, merkte überhaupt aus dem ganzen Rumor, daß es durchaus nicht recht geheuer sei. Höflichkeit gegenüber den Europäern ist eine Haupttugend der Javanen; was man nur irgend verlangt, wird gern gethan, doch muß man natürlich des Landes Weise, des Landes Ehre auch berücksichtigen. Ich gestehe gern, daß ich in dieser Beziehung gefehlt hatte, und hielt es nun in Anbetracht der nicht ganz civilisirten Sitten für das Beste, durch einen unceremoniellen Abschied allem Gedankenaustausch mit der Dorfbevölkerung über das Thema Wirodrono-Wildschwein aus dem Wege zu gehen. Leider aber hatte Sariman’s Botschaft sich so schnell im Dorfe verbreitet, daß ich keine Zeit mehr hatte, diesen Vorsatz auszuführen. Ehe ich mich's versah, war mein Haus rings von Javanen umstellt, welche zwar bei meinem Erscheinen sofort auf die gebräuchliche Manier ihre Ehrerbietung durch Niederkauern bezeigten, im Allgemeinen jedoch sehr lebhaft wünschten, daß ich meine Abreise einige Augenblicke verzögere. Ich sah durchaus keine Gelegenheit, um auf gütlichem Wege mich aus dieser unangenehmen Situation zu retten – also auf die Pferde! Dieselben standen gesattelt und gezäumt vor der Thür, auf ein von mir gegebenes Zeichen saßen wir im Sattel – und nun vorwärts, entweder darüber oder darunter! Einige Spornstöße – dann hörte ich nur noch ein wahrhaft teuflisches Kreischen, und mit weitausgreifenden Sätzen bog mein Fuchs den steilen Pfad hinab. Erst von der Station aus, wo ich mich vor Verfolgung sicher fühlte, entrichtete ich an Pa Idja durch einen Boten meine Schuld, indem ich zugleich von ihm mein Gepäck verlangte. Es wurde mir dasselbe gesandt, aber ich hielt es doch für angemessen, vorläufig den Ort zu meiden, wo verstorbene Freunde in Gestalt von wilden Schweinen nicht nur ihren Angehörigen, sondern auch dem harmlosen Fremdling Unannehmlichkeit und Gefahr bereiten.
R. K.




Herman von Schmid.
An Abschiedsstraußn
von dö Berg und dö Leut aus’n oberboarischen Gebirg.


Pfüat[1] Gott, Du alta, liawa Freund!
Da[2] Herr gib Dir die ewi Ruah!
Wir schaugn mit schwara Kümmernuß
Heunt Deiner Leich’ da draußen zua.
Du hast uns g’freut, wennst kemma bist
Und selm[3], wennst wieda furt,
Denn in Gedanka warst bei uns,
Warst aa in Münka[4] durt.
Was um uns is und was ma san
Und wia ma schö und wild,
Du hast viel Büacheln d’rüber g’schrieb’n,
Uns g’lobt mit Wort und Bild.
Du hast es eana[5] draußen zoagt,
Wia’s rin[6] no’ richti ist
Und bei uns g’ratt[7] koa Feserl[8] Falsch,
Koa Lug, koa Hintalist;
Wia unsa Kini[9], ’s Boarnland
Is unsa Stolz und Freud
Und wia ma unsan Herrgott treu
Verbleib’n in Ewigkeit. –
Jätzt hat Dei Schreib’n, Dei’ G’sang an End –
Was thuats? für uns stirbst nit,’
So lang dö Berg und d’ Alma steh’n,
Dazihlns[10] vom Herman Schmid.
Und wenn uns aa heunt ’s Flenna[11] kimmt,
Weilst machst dö weite Reis’:
Du g’freüst uns selm als Todta no’
Wia’s schönste Edelweiß!

Maximilian Schmidt.
  1. Behüte Dich.
  2. Der.
  3. selbst.
  4. München.
  5. ihnen.
  6. hier innen, bei uns.
  7. geräth, gedeiht.
  8. Fäserchen.
  9. König.
  10. Erzählen sie.
  11. Flennen, Weinen.


Ein deutscher Flußhafen.

Wohl giebt es in Deutschland bedeutende Flußhäfen, in denen seit alten Zeiten Handel und Wandel blühten. Sie bilden in der Regel einen Theil großer Städte, mit deren Wachsthum auch die Hafenanlagen sich vergrößerten. Selten aber dürfte eine derselben eine so eigenthümliche Entstehungsgeschichte zu verzeichnen haben wie der wunderbar schnell aufgeblühte, ungefähr dreiviertel Stunden nördlich von der Residenzstadt Dessau gelegene Ausladeplatz „Wallwitzhafen“. Dieser Name wurde der Oertlichkeit erst 1861 von dem damals regierenden Herzoge beigelegt. Bis 1857 bildete dieselbe einen mit Bachweiden und verkrüppelten Eichen bestandenen fiscalischen Platz, der, ursprünglich zur Ausschiffung von Kaufmannsgütern, später auch von böhmischer Braunkohle benutzt, wegen seines sumpfigen, im Frühjahr und Herbst kaum passirbaren Bodens „Moderberg“ genannt wurde. Das schnaubende Dampfroß brachte in diese Einöde Leben und Cultur. Bei der Erbauung der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn war die Stelle der betreffenden Gesellschaft von der anhaltischen Regierung mit überwiesen worden, und als nun in der Mitte der fünfziger Jahre auch die neue Eisenbahnlinie Berlin – Bitterfeld – Leipzig vollendet war, ließ die Gesellschaft das beim Bau südlich von der Stadt Dessau ausgestochene und anderweit nicht benutzbare Erdreich nach jenem „Moderberg“ fahren und dort anschütten.

Bald nach der Eröffnung der Bitterfelder Eisenbahn fand die Verwaltung der Berlin-Anhaltischen Eisenbahngesellschaft eine günstige Verwendung der „Elbablage am Moderberg“. Dorthin ließ sie die in der Nähe des Städtchens Bitterfeld gewonnenen

[741]

Wallwitzhafen.
Nach der Natur aufgenommen von O. Strützel.

[742] Braunkohlen schaffen, und von hier gingen dieselben weiter nach Aken, Barby, Magdeburg etc. Dieses Geschäft nahm bald einen größeren Aufschwung, und um es noch mehr zu heben, wurde zur schnelleren Förderung der Einladung in die Fahrzeuge das Elbufer durch eine Quaimauer abgegrenzt und die Seite des Walles nach dem Strome zu mit einfachen hölzernen „Rutschen“ versehen.

Auf der Nordseite des so vorgerichteten Platzes wurde bereits im Herbste 1859 ein Speditionsgeschäft eröffnet, das rasch in Aufnahme kam; ihm folgte am südlichen Ende des Pflasters bereits im Jahre 1861 ein zweites, von Hamburger und Leipziger Kaufleuten begründet. Schon im Jahre 1860 belief sich der Waarenverkehr auf 145,000 Centner, erreichte 1876 die Höhe von 940,000 und bezifferte sich in dem sonst für den Handel so ungünstigen Jahre 1877 sogar auf 1,452,450 Centner.

Die Ursache des außerordentlichen Aufschwunges beider Speditionsgeschäfte ist zunächst in der ungewöhnlich günstigen geographischen Lage dieses Elbausladeplatzes zu suchen. Er ist nur siebenundeinhalb Meilen von Leipzig entfernt, und directe Schienenwege vermitteln hier den Weitervertrieb der von Hamburg und Harburg kommenden Güter über Leipzig nach Sachsen, Böhmen, Baiern und Oesterreich, sowie über Halle nach den thüringischen Staaten. Aber nicht weniger verdankt der neue Hafenplatz sein rasches Aufblühen der in früheren Jahren vorherrschenden freisinnigen Handelspolitik Deutschlands. Dem Verkehr sind große Steuererleichterungen zugestanden worden; Privattransitläger wurden am Platze selbst gestattet; 1866 wurde eine mit den ausgedehntesten Befugnissen ausgestattete Zollexpedition daselbst errichtet, und die Eisenbahnverwaltung beeilte sich, durch mannigfache Frachtermäßigung den Waarenverkehr in Wallwitzhafen zu beleben. Diese Anstrengungen wurden auch von einem unerwartet günstigen Erfolge belohnt: in neunzehn Jahren, von 1858 bis 1877, wurden an diesem früher sumpfigen, unzugänglichen Orte im Ganzen 14,319,327 Centner Güter spedirt. Dieser Aufschwung erlahmte auch in den letzten Jahren nicht. Das Vorjahr 1879 war für Wallwitzhafen das bisher günstigste, indem während desselben gegen 130,000 Centner mehr expedirt wurden als im Vorjahr 1878.

Mit dieser Zunahme des Verkehrs wuchsen auch neue Bauten aus dem trockengelegten und für die Cultur eroberten Boden des Hafenortes hervor. Gegenwärtig befinden sich auf Wallwitzhafen fünf große massive Speicher mit trefflichen Kellerräumen, zwei Zollniederlagen, in denen durchschnittlich 6000 bis 10,000 Centner lagern, vier große Bretterschuppen, ein Guanoschuppen und zwei Coaksschuppen, die Zollexpedition, zwei Comptoirs, ein Arbeiterhaus, ein großer Kohlenkeller, ein Wohnhaus, eine Schmiedewerkstatt und noch manche andere bauliche Räumlichkeiten. Ein Schienennetz von über sechshundert Ruthen verbindet die einzelnen Ausladestellen und Güterspeicher unter einander und läuft am südlichen Ende von Wallwitzhafen in das nach dem Dessauer Bahnhofe führende Hauptgeleis.

Vier Dampf- und zwei Handkrahne befördern die Aus- und Einschiffung der Waaren, und alljährlich werden 300 bis 350 Kähne gelöscht und ungefähr 100 Fahrzeuge zu Thal beladen. Während schon früher eine Expreßdampfschifffahrt die Beförderung der Stückgüter bis nach Hamburg erleichterte, ist in der letzten Zeit durch die Einführung sogenannter „Jagdkähne“ so viel erreicht worden, daß beispielsweise Güter von Hamburg nach Leipzig inclusive Zollabfertigung und Ueberladung vom Kahn zur Bahn binnen acht Tagen abgeliefert werden können. An der Schifffahrt überhaupt betheiligen sich vier Dampf- und Segelschifffahrts-Gesellschaften und viele private Segelschiffe.

Der Anblick des täglich von einer größeren Anzahl Fahrzeuge belebten Ausladeplatzes ist ein sehr erfreulicher, wozu auch die prächtige landschaftliche Staffage beiträgt, wie sie nach allen Seiten hin in der Umgebung Dessaus sich findet.

Sehr interessant aber ist ein Rundgang über Wallwitzhafen, ein Blick in die Speicher, Schuppen, Keller und sonstigen Räume, in welchen die Producte und Fabrikate zweier Hemisphären aufgeschichtet sind. Neben mächtigen, ähnlich unseren Holzklaftern im Freien aufgestellten Barren Roheisen sieht man hier große Quantitäten amerikanischen, englischen und französischen Schiefers, Maschinentheile aus Holz und Metall etc. In den Speichern liegen gewaltige Haufen brasilianischer Farbehölzer, viele Tausende Fässer Harz, Oel, Soda, Cement, Guano in Säcken, rohe Baumwolle, Jute, Droguen, Chemicalien, Färberei- und Gerbstoffe, Getreide, Häute, Petroleum, Wein, Zucker, Sardellen, Häringe, Südfrüchte und Gewürze, Reis, Kaffee, Syrup, Tabak, Baumöl, Leinöl, Paraffin und Stearin und was sonst der Mensch der Natur abgewonnen und durch seiner Hände Fleiß zum Nutzen oder zur Verschönerung des Daseins geschaffen hat.

Will der Besucher aber seine Wanderung mit einem erhebenden Anblick beschließen, so möge er den in der Nähe liegenden „Wallwitzberg“ besteigen, eine 1817 als Aussichtspunkt aufgeschüttete Anhöhe. Von hier aus genießt er einen sehr weiten Umblick über das offene Land, der besonders im Frühjahr, wenn die reichen Obstplantagen in der Elbaue im vollen Blüthenschmuck stehen oder wenn zur Abendzeit die grünen Eichenwaldungen von den letzten Strahlen der Sonne vergoldet werden, ein überaus herrlicher ist.

Ein weiterer Aufschwung steht übrigens Wallwitzhafen bevor. Hoffentlich wird früher oder später das Project einer directen Canalverbindung mit Leipzig ausgeführt werden; die Zeitströmung scheint wenigstens solchen Unternehmungen günstig zu sein. Bei dem ausgedehnten Eisenbahnbau hat man in Europa den Ausbau der Canäle vernachlässigt, und schon jetzt macht sich der Mangel an billigen Wasserwegen vor Allem unseren Landwirthen recht fühlbar. Wenn diesem Uebelstande abgeholfen werden wird, dann werden wohl auch in Deutschland große Flußhäfen entstehen, deren Bedeutung die bisher vorhandenen übertreffen wird. Jedenfalls aber bildet in einer für das Canalwesen nichts weniger als günstigen Zeit die Entstehung des Wallwitzhafens ein sprechendes Denkmal deutschen Fleißes, welcher selbst unter ungünstigen Verhältnissen das vorgesteckte Ziel durch Ausdauer zu erreichen versteht.
L. Würdig.




Der deutsche Schulverein in Oesterreich.


Eine objective Würdigung der überaus verwickelten Parteiverhältnisse in Oesterreich ist für uns im Reiche sehr schwer. So mag es auch kommen, daß der zähe Kampf, den unsere Stammesgenossen in Oesterreich gegen die gewaltsam hereinbrechende Hochfluth des Slaventhums seit mehr als einem halben Jahre zu bestehen haben, bisher nicht jene Beachtung bei uns fand, welche verwandte Bestrebungen für Erhaltung der Eigenart anderer germanischer Völker zu finden pflegen.

Die entferntere Vorgeschichte dieses Kampfes in Oesterreich ist zu bekannt, als daß wir hier auf dieselbe zurückkommen könnten. Unmittelbar vorbereitet und eingeleitet wurde der jetzige Kampf durch die den slavischen Bestrebungen mehr als wohlwollende Haltung, welche das vor Jahresfrist an’s Ruder getretene Ministerium bekundete. Sofort erschienen die czechischen Abgeordneten auf ihren lange verwaisten Parlamentssitzen. Hand in Hand mit den polnischen, feudalen und clericalen Fractionen begannen sie, immer auf dem Boden der Verfassung stehend, den Kampf gegen die Verfassung, indem sie dieselbe, und zwar stets nur von Fall zu Fall, ihren national-reactionären Absichten entsprechend umzudeuten oder zu modificiren suchten. Aus der bisher beliebten Negirung der Verfassung entwickelte sich naturgemäß ein planmäßig eingeleiteter und betriebener Kampf gegen alles Deutsche, dessen Vertreter sich der Mehrzahl nach gezwungen sahen; sich in der Defensive auf den leider lange genug perhorrescirten deutsch-nationalen Standpunkt zu stellen. Zunächst entbrannte im Frühling dieses Jahres der Kampf auf das Heftigste aus Anlaß der von der Regierung ausgegebenen Sprachenzwangs-Verordnung. Nach derselben sollte Jedermann das Recht zustehen, sich einer beliebigen im Lande gesprochenen Sprache im Verkehr mit den öffentlichen Behörden zu bedienen und die Erledigung in derselben Sprache zu fordern.

Wenn man bedenkt, daß beispielsweise im nördlichen und westlichen Böhmen, in Nordsteiermark und Nordtirol meilenweite Distrikte nur von Deutschen bewohnt werden, dennoch in denselben von Jedermann eine czechische, slovenische oder italienische Amtshandlung provocirt werden kann, so liegt es auf der Hand, daß diese Verordnung einer förmlichen Austreibung aller deutschen Richter und Beamten gleichkommt. Denn daß die Czechen, dank ihrer untergeordneten Culturverhältnisse, gezwungen sind, sich frühzeitig des deutschen Idioms zu bemächtigen, dagegen der Deutsche jede andere Cultursprache eher als das für ihn ziemlich werthlose Czechische zu erlernen bestrebt ist, bedarf wohl keiner weiteren Rechtfertigung. Es ist daher begreiflich, daß diese Sprachenverordnung einen wahren Sturm von Protesten aus allen deutschen Bezirken und Gemeinden Oesterreichs entfesselte. Wir sagen absichtlich aus den „deutschen“ und nicht aus den „verfassungsmäßigen“ Bezirken; denn daß irgend eine polnische oder ruthenische Gemeinde aus Galizien – und Galizien hat die Jahre über mit recht ergiebigem Nutzen zur Verfassung gehalten – sich diesen Protesten angeschlossen hätte, ist uns nicht bekannt.

Die Regierung, sehen wir von etlichen Beschwichtigungsartikeln und Erklärungen ab, that nichts, was einer Rücknahme der Verordnung gleich [743] sah. Ist es da ein Wunder, daß der für seine Stammesart warmfühlende Deutsche Oesterreichs, dieser treueste und loyalste Diener seiner Dynastie, dieser Grundpfeiler des österreichischen Staatsgebäudes, der nie sein Gut und Blut für dessen Erhaltung gespart, bangen Blickes in die Zukunft sieht?

Obige Gedankengänge bildeten den ungefähren Inhalt einer Unterhaltung, welche eine kleine Tischgesellschaft an einem schönen Maienabend dieses Jahres in Wien führte. Man müßte sich gestehen, daß die Zeit erfolgloser Proteste und unwürdiger Klagen vorüber sei, daß nur die That, wenn auch die mühevolle, hier einzig dem Deutschen zieme. Man war sich klar bewußt, daß in dem bevorstehenden Kampfe nur ein Sieg durch innere Macht feste Dauer verspreche, also ein Sieg, der auf dem Boden und mit dem Herzen und Geiste des Volkes gewonnen sei; wollte man aber das Volk für diesen Kampf befähigen, so müßte man eine neue Generation dazu erziehen, und für sie ist die Schule das Rüsthaus. Völkern ist der Ausspruch gestattet: „wir können warten“, wenn sie sich die Zukunft sichern. Und so ward in demselben Geiste auch hier im kleinen Kreise, lautlos, ohne viel ängstliches Erwägen, aber mit dem Gelöbniß im Herzen, für die Kraft des deutschen Volksstammes jederzeit das Beste daran zu setzen, der „Deutsche Schulverein“ gegründet.

Es klang wie eine ernste Mahnung zu thatkräftig nationaler Arbeit, als von Kraus unter allseitiger Billigung rückhaltslos bekannte: „Insbesondere ist es ein großer Irrthum unserer Deutschen in Oesterreich, daß sie sich rücksichtlich ihrer sprachlichen Propaganda eine von selbst wirkende Kraft gegenüber den anderen Nationen Oesterreichs beimessen. Diesen Irrthum zu zerstören, wird ein nicht geringes Verdienst unseres Schulvereins sein. Auf die Dauer geht es doch nicht an, sich bei dem geläufigen Schlagworte zu beruhigen, daß unsere Sprache sich gerade gut genug für die Rolle des allgemeinen Culturferments eigne, und uns kann das offene Geständniß nur frommen, daß die Kraft, fremde Elemente unserer Eigenart zu assimiliren, thatsächlich eine höchst geringe sei.“

Nunmehr besorgt ein aus 25 Männern aus den verschiedensten Berufskreisen zusammengesetzter Ausschuß die laufenden Geschäfte des Schulvereins. An der Spitze desselben steht der seiner Thatkraft wie seiner fachmännischen Kenntnisse wegen hochgeschätzte Landtagsabgeordnete und Rechtsanwalt Dr. Moritz Weitlof. Ihm zur Seite, als Stellvertreter, fungirt Prof. Dr. Victor von Kraus. Die Geschäfte des ersten Schriftführers besorgt Engelbert Pernersdorfer, dem das bleibende Verdienst gebührt, die erste Anregung zur Gründung des Vereins gegeben zu haben. Der Ausschuß veröffentlicht von Woche zu Woche durch die Presse kurze Berichte über den Stand des Unternehmens. Schon sind nach vielen Seiten Unterhandlungen wegen Errichtung und Dotirung deutscher Volksschulen an bedrohten Punkten im Zuge. Wir hoffen, daß das Wuthgeschrei der slavischen Presse über den neuen Gegner, den sie – Gott sei es gedankt – zu fürchten anfangen, den Ausschuß in seiner mühevollen Arbeit nicht irre machen wird. Man möge das österreichische Staatsinteresse hervorheben, wie man wolle, man wird den Deutschen trotz aller Angriffe von czechischer Seite ihre deutsche Gesinnung nicht aus dem Herzen reißen können. Der Deutsche in Oesterreich weiß doch, daß das, was er durch seine Schule für die Ausbreitung seines Volksstammes thut, in letzter Linie dem Glanze und der Wohlfahrt der Gesammtmonarchie zu Gute kommt.

Als eine höchst erfreuliche Thatsache müssen wir noch verzeichnen, daß seit zwei Monaten kein Tag vergeht, an welchem nicht fünf bis zehn öffentliche Körperschaften (als Bezirksvertretungen, Stadt- und Landgemeinden, Turner- und Feuerwehrvereine, Sparkassen etc.) dem Vereine mit namhaften Spenden beitreten. In diesem Augenblick ist statutarisch die Organisation des Vereins insofern eine centralistische, als Wien der alleinige Sitz desselben ist. Auch dies soll in Kürze zum Besten des Ganzen dahin geändert werden, daß zahlreiche Unterverbände in den einzelnen Bezirken durch Uebernahme der in’s Massenhafte anwachsenden Arbeiten des Centralhauptverbandes in Wien diesem hülfreich zur Seite stehen werden.

An harter Arbeit hat es dem damals gewählten Comité nicht gefehlt. Daß in den Reihen der Czechen dem Vereine recht energische und ungeberdige Gegner, die sofort nach der Polizei rufen, erstehen müßten, fiel zunächst nicht in die Wagschale. Mehr beschäftigte die Frage, wie die eigenen Stammesgenossen sich zur Sache verhalten würden; denn wer kennt als guter Deutscher nicht die große Schaar der Halben, der Opportunitätsmenschen, der sogenannten „Auchdeutschen“, deren A und O lautet: „Um Gottes willen nur nicht dem Herrn oder der Gemeinde vor den Kopf stoßen!“ dann die stillen, vorsichtigen, aber desto einflußreicheren Gegner, die jedem Unternehmen abhold sind, auf welchem nicht von vornherein ihre segnenden Hände geruht. Allein alle diese Schwierigkeiten wurden von den sieben Männern des Ausschusses in sechs bangen Wochen der aufreibendsten Thätigkeit glücklich überwunden. Die rasch vollendeten Statuten erhielten die behördliche Genehmigung. Ein kerniger Aufruf des vorbereitenden Comités wandte sich in Tausenden von Exemplaren an alle Deutschen Oesterreichs um thätige Theilnahme. Was man an materieller Beihülfe forderte und noch heute fordert, ist ja so höchst geringfügig. Entweder einen Jahresbeitrag von einem Gulden (zwei Mark) oder einen Beitrag ein- für allemal von zwanzig Gulden (vierzig Mark). Dem ersten Aufrufe folgte ein zweiter, der die Unterschriften von hundertzwanzig Männern der verschiedensten Berufsstände mit Namen vom besten Klange trug und in die entlegensten Gaue Oesterreichs versendet wurde.

Am 2. Juli fand in dem Festsaale der Wiener Universitätsaula die constituirende Generalversammlung des Schulvereins statt. Ein gesunder, zur That bereiter Enthusiasmus beherrschte die wogende Menge, die in den weiten Räumen kaum untergebracht werden konnte. Der wackere Obmann des vorbereitenden Comité, Dr. Steinwender, begrüßte die Versammlung mit einer kurzen kernigen Ansprache, die dem Ernste der augenblicklichen Lage entsprach, und entwickelte in großen Zügen Zweck und Ziele des Vereines. Den Bericht über die Vorarbeiten zur Gründung erstattete Professor Victor von Kraus, welchem wir entnehmen, daß schon in den ersten Wochen drei- bis viertausend Beitrittserklärungen erfolgt waren. Die ausgegebenen Anmeldelisten bewiesen, daß kein Stand hierbei unvertreten blieb. Sicherlich war sehr Vielen die wirkliche Gefahr, in welcher schon lange in dem nur allzuvielsprachigen Oesterreich-Ungarn gerade die deutsche Sprache steht, jetzt zum ersten Male vor Augen getreten, denn schonungslos wies der Berichterstatter an einzelnen Beispielen den steten Rückgang des Deutschthums, namentlich an den Sprachgrenzen, nach.

Sollten wir es nach dieser Darlegung noch für nöthig halten, die Aufmerksamkeit und, was die Hauptsache ist, die Opferwilligkeit unserer deutschen Leser für dieses Unternehmen mit Worten besonderer Empfehlung wachzurufen? Wir betonen, der Verein ist ein nicht-politischer und wird es stets bleiben. Mag sein Einfluß noch so groß werden, mag er, was wir nur wünschen, auf die Gestaltung der politischen Parteien unter den Deutsch-Oesterreichern noch so läuternd wirken, der Verein selbst wird in der Förderung der deutschen Schule seine einzige Aufgabe erblicken. Es kann demnach Jeder ohne Unterschied des Geschlechtes und Standes, des politischen und confessionellen Bekenntnisses Mitglied des Vereins werden. Vor Allem wenden wir uns an die im deutschen Reiche zerstreut lebenden Deutsch-Oestereicher, die es wohl als ihre Ehrenpflicht ansehen werden, ihren bedrängten Stammesbrüdern in der Heimath mit ihrem Scherflein beizuspringen.

Aber auch an die Reichsangehörigen ergeht die Mahnung, der Deutschen in Oesterreich nicht zu vergessen. Begingen wir jüngst die erste Decennalfeier der glorreichen Erhebung Deutschlands aus alter Schmach, indem wir in wehmüthiger Erinnerung die Grabeshügel unserer wackeren Krieger frisch bekränzten, so wollen wir uns auch daran erinnern, daß sich in jenen bangen Tagen die österreichischen Brüder nicht nur mit ihren Segenswünschen, sondern auch mit reichen Liebesgaben bei uns einfanden.

Möge denn zum Heile unseres Nachbarstaates der deutsche Schulverein wachsen und gedeihen!




Blätter und Blüthen.

Der Pfefferminz-Baum (Eucalyptus amygdalina) als Luftverbesserer. Unser Artikel über die Eucalyptus-Oasis in der römischen Campagna (S. 386 des laufenden Jahrgangs) hat das Interesse an der segenbringenden Mission dieser australischen Pflanzenfamilie von Neuem wachgerufen, und wir wollen deshalb nicht unterlassen, auf einige neuere Erfahrungen hinzuweisen, die der in der Ueberschrift genannten Art einen noch höheren Luftverbesserungseffect nachrühmen, als dem so wohlbewährten blauen Gummibaum (Eucalyptus globulus). Wie schon in dem ersten Artikel der „Gartenlaube“ (1876, S. 86) erwähnt wurde, schreibt man dem ätherischen Oel der Blätter und seiner ozonirenden Wirkung neben dem starken Entwässerungsvermögen der Wurzel einen Hauptantheil an dem durch so viele Erfahrungen bewährten luftreinigenden Einfluß dieser Pflanzen zu. Nun weist der unlängst erschienene Bericht der landwirthschaftlichen Regierungs-Commission von Nordamerika für 1877 auf die in Europa wenig bekannt gewordenen Mittheilungen eines australischen Chemikers Mr. Bosisto hin, nach denen Eucalyptus amygdalina in seinen Blättern viermal so viel ätherisches Oel erzeugt, als Eucalyptus globulus, und daß dieses ätherische Oel nach den Versuchen des Dr. Day in Geelong äußerst stark ozonisirend wirke. Der Baum zieht einen etwas weniger feuchten Boden dem des reinen Sumpflandes vor, und möchte sich deshalb für die Campagna und ähnliche Strecken sehr gut eignen; auch soll er ein wenig härter sein, als der blaue Gummibaum, der nicht einmal das Klima des nördlicheren Frankreich verträgt.

Freilich wäre es nicht unmöglich, daß die größere Laubproduction des blauen Gummibaumes die stärkere Oelproduction des Pfefferminzbaumes, welcher kleinere Blätter besitzt, wieder aufwiegen könnte. Dagegen würde der letztere als Ziergewächs jedenfalls den Vorzug verdienen, da seine Erscheinung unbedingt eleganter ist. Bekanntlich sind die Eucalypten mehrfach als luftverbessernde Zimmerpflanzen empfohlen worden, und einige gärtnerische Speculanten sind so weit gegangen, ihnen eine specifische Heilkraft gegen Diphtheritis und alle möglichen Infectionskrankheiten anzudichten, um ihre Waare besser an den Mann zu bringen. Wir wollen nicht unerwähnt lassen, daß man jedenfalls besser thun wird, für eine ausreichende Ventilation und Lüftung zu sorgen, als von einigen Topfpflanzen die Verbesserung der Zimmerluft zu erwarten. Da indessen der Pfefferminzbaum ein leicht zu ziehendes, frisches Gewächs ist, so sehen wir nicht ein, warum man nicht bei dem ihm vorausgehenden günstigen Rufe als „Ozonerzeuger“ demselben ein Plätzchen im Zimmer gönnen sollte. Sofern der Pfefferminzbaum zu den Riesen des Pflanzenreichs gehört – Baron von Müller maß einen Stamm, der bis zur Gipfelspitze 394 Fuß lang war, und andere Exemplare hat man noch um 100 Fuß höher geschätzt – so wird man zugleich ein Miniaturbild des höchsten Baumes der Erde haben.

Uebrigens möchten wir die Gärtner bei dieser Gelegenheit auf die Topfcultur des sehr angenehm nach Citronen duftenden Eucalyptus citriodora aufmerksam machen. Der Liebhaber wird diese Pflanzen in den meisten größeren Gärtnereien finden. Man hat den Eucalyptus-Arten auch nachgerühmt, daß sie die Fliegen vertreiben; zu eigentlichen Schmuckpflanzen kann man sie indessen wegen des meist sperrigen Wuchses nicht rechnen.



[744] Prosit! Eine culturhistorische Plauderei. Es ist eine uralte Sitte, dem Niesen als etwas Besonderem, Eigenartigem auch besondere Beachtung zu schenken, ihm gewisse Vorbedeutungen, glückverheißende sowohl wie unheilverkündende, beizulegen. Bereits die Alten übten sie, und schon zu Alexander’s des Großen Zeiten zerbrach sich Aristoteles den Kopf, den Grund dieser Gewohnheit und des Niesens überhaupt zu erforschen. Die Mythe erzählt, Prometheus habe, nachdem er das Feuer vom Himmel geholt, um vermittelst desselben dem Menschen Leben einzuflößen, ihm das Feuer vor die Nase gehalten, sodaß er gewaltig habe niesen und die in ihm erwachte Lebenskraft bekunden müssen. In Folge dessen war der große Weltweise der Ansicht, die ehrfurchtsvolle Erinnerung an diesen frühesten Act menschlicher Lebensäußerung sei Veranlassung zum Beglückwünschen beim Niesen geworden. Dasselbe wurde, eben unter Anknüpfung an jene Sage vom Prometheus, bei den Griechen und Römern als ein Zeichen von Kraft und Lebensfrische angesehen und von Jedermann mit dem Glückwunsch „Jupiter erfreue dich!“ begrüßt. Ja, sich selbst riefen die Römer ein „salve!“ zu, wenn kein Anderer es that. Ein altes Epigramm berichtet von einem gewissen Proklus, er habe eine so lange Nase gehabt, daß er es nicht hörte, wenn sie niesete, und daher ohne sein „salve!“ weiterging, und wollten die Griechen und Römer ihren Damen ein recht schönes Compliment machen, so sagten sie: „die Liebesgötter selbst hätten bei deren Geburt geniest.“

Noch weit höflicher sind die Polen. Bei ihnen ist es oder war es wenigstens bis vor kurzer Zeit üblich, das Niesen eines Anderen mit den Worten zu bemerken: „Ich wünsche Ihnen hundert Jahre Gesundheit,“ worauf der also Beglückwünschte schleunigst: „Ich lade Sie zu meinem Begräbniß“ zu erwidern pflegt. Aber außer dem Glückwunsch haben alle Völker dem Niesen noch die verschiedensten abergläubischen Bedeutungen beigelegt. „Du beniesest es,“ sagt man bei uns, wenn Jemand niest, während er etwas erzählt, was Anderen zweifelhaft erscheint – und man legte ehemals einen besonderen Werth auf solch ein „Beniesen“, das als eine Voraussagung der Erfüllung galt. So hielt Xenophon beim Rückzüge der Zehntausend aus Persien eine Rede an sein Heer, worin er den Kriegern das Gefährliche ihres Unternehmens darstellte, ihnen aber auch nur darin allein Rettung als möglich schilderte und sie zu einem raschen Entschlusse aufforderte. In diesem Augenblicke nieste einer der Krieger, und Alles war über die einzuschlagende Wahl sicher, hatten sich doch die Götter selbst in dem Niesen des Soldaten mit des Führers Vorschlag einverstanden erklärt. Allein dieser an sich harmlose Aberglaube hatte zuweilen auch Schreckliches im Gefolge. So ließ Themistokles, als er nach einem eben beendigten Treffen den Göttern opferte, eine Anzahl ihm als Gefangene zugeführte Jünglinge tödten, weil gerade zu seiner Rechten Jemand geniest hatte und die Priester dies dahin deuteten, daß die Jünglinge den Göttern ein angenehmes Opfer seien, welches den Griechen Ehre und Sieg bringen würde. Von Sokrates, dem aufgeklärtesten der griechischen Philosophen, erzählt man gleichfalls, daß er unter dem Einfluß jenes Aberglaubens gestanden und sowohl sein eigenes, wie das Niesen Anderer, als deutungsreiches Omen angesehen habe. Einer seiner Schüler berichtet, daß ihm, wenn er vor der Ausführung eines gefaßten Vorsatzes nieste, dies als eine Aufmunterung galt, während derselben jedoch eine Warnung bedeutete und er deshalb nicht selten das Unternehmen ganz aufgab.

Als sich Penelope wegen ihrer vielen Freier in besonders großer Noth befand, bat sie dringender als je die Götter, ihren Odysseus bald nach Haus zurückkehren zu lassen. Da

„niesete Telemach, daß das ganze Gemach erbebte.“

Nun war Penelope nicht mehr in Zweifel, daß ihre Bitte erhört worden sei.

Sowohl Zeit und Ort wie auch die Zahl der Wiederholung des Niesens entschied bei den Alten darüber, ob es Glück oder Unglück bedeutete. Wenn Jemand am Morgen nieste, noch ehe er sich vom Lager erhoben und die Schuhe angelegt hatte, so war ihm der ganze Tag verdorben, und wenn irgend thunlich, legte er sich sofort wieder in’s Bett, um zu einer glücklicheren Stunde aufzustehen. Nieste man dagegen Mittags oder später, so überließ man sich bei allem Thun der frohen Hoffnung eines glücklichen Erfolges. Und wenn bei Aufhebung der Mittagstafel einer der Gäste sich vom Niesen angewandelt sah, nahm die ganze Gesellschaft abermals auf ihren die Tafel umgebenden Polstern Platz. Zum zweiten Male wurden hierauf Speisen und Getränke aufgetragen, und zum zweiten Male ging es an das Essen und Trinken, bis man damit den üblen Einfluß jenes unseligen Niesens beschworen zu haben glaubte. Lag ein Römer krank und nieste er einmal, so stand ihm ein baldiger Tod bevor, zweimaliges Niesen deutete dagegen auf Genesung. Hatte Jemand bei Schließung eines Vertrages, z. B. der Ehe, einmal geniest, so mußte der Vertrag ungestörte Dauer haben, denn die Götter billigten ihn; dreimaliges Niesen jedoch verkündete einen widerrechtlichen Bruch.

In einem afrikanischen Staate wird, sobald der König niest, dieses durch gewisse Zeichen und durch Gebete, die man auf den Straßen abhält, im ganzen Lande bekannt gemacht, und überall erschallen sodann die Glückwünsche und Jubelrufe der Einwohner. In ähnlicher Weise erließ der schreckliche Kaiser Tiberius Befehl, daß, wenn er niese, Jedermann sogar auf offener Straße ihm ein lautes „Glück und Heil!“ zurufen solle, damit kraft dieses Zurufs die glückliche Vorbedeutung bald in Erfüllung gehe. Auch der berühmte Lehrer des Kaisers Hadrian, der weise Plutarch, war ein großer Verehrer des Niesens. In einer seiner Schriften sagt er: „Was für die ärztliche Wissenschaft der Puls im menschlichen Körper ist, das ist für die Seele das Niesen.“ – Als die Spanier Florida eroberten, fanden sie, daß, wenn der Kaiser nieste, alle Indianer die Hände erhoben und die Sonne anriefen, ihren Fürsten zu schirmen, ihm hold zu sein und ihn zu erleuchten.

Höchst eigenthümlich ist, was die Juden vom Niesen erzählen. Der Mensch, so heißt es bei ihnen, sollte eigentlich nur einmal niesen, und zwar kurz vor seinem Tode; alle Erzväter bis auf Jacob starben in dieser Weise. Jacob jedoch bat den Herrn aus freilich unbekannten Gründen, ihn niesen zu lassen, so oft er wolle, ohne ihn aber dabei von der Erde zu nehmen. Sein Gebet ward erhört, und er nieste nun oft und lebte dabei lange Jahre. Seinen Kindern und Kindeskindern blieb dieses Vorrecht erhalten, aber eingedenk des dadurch ehemals angedeuteten letzten Stündleins rufen sie einander noch heute nach dem Niesen zu: „Jehova stärke Dich!“ Ein Niesen während des Gebetes gilt bei ihnen als Zeichen, daß dasselbe Erhörung finde; Aehnliches glaubten auch die Aegypter und Araber.

Bei uns in Deutschland gilt es als ganz besonders heilbringend, wenn Jemand am frühen Morgen niest, während er noch nüchtern ist, das heißt noch nichts gegessen oder getrunken hat. Auch sagt man dann wohl: „Heute werde ich etwas Neues erfahren!“

Im Allgemeinen gilt das Niesen bei uns von jeher als ein gutes Vorzeichen, wenn es auch je nach den Tagen, an welchen es erfolgt, wohl eine verschiedene Bedeutung hat. So heißt es in Sachsen:

„Sonntagniesen: Eingeschränkt!
Montag heißt es: Was geschenkt!
Dienstag aber: Viel gekränkt!
Mittwoch deutet’s: Rückwärtsgeh’n!
Donnerstag: Was Liebes seh’n!
Freitag dann: Recht viel gelacht!
Sonnabends endlich: Ausgemacht (Ausgescholten)!“

Nicht minder bekannt ist der Vers:

„Morgens – beschenkt,
Mittags – gekränkt,
Abends – zu Gast geladen
Oder auch zum – Schaden.“

Auch in Verbindung mit dem neuen Jahr findet sich das „Prosit“, und in Deutschland erschallt bekanntlich am Neujahrstage überall „Prosit Neujahr!“ – Das Glückwünschen nach dem Niesen aber nimmt heute mehr und mehr ab, und nicht lange mehr wird es dauern, dann ist bei uns die alte Sitte verschwunden, wie es bereits bei den Franzosen und Engländern der Fall. Nichts mehr vor uns voraus werden dann die Quäker haben, die, in Allem etwas Besonderes suchend, beim Niesen von jeher keinen Gruß und Glückwunsch kannten.
H. S.




Auf Leben und Tod.
Mit Abbildung Seite 733.

Fort stürme, mein Roß;
Denn Tilly’s Troß
Folgt uns’rer Spur.
Wir können nicht weilen,
Wir müssen enteilen –
Auf, stampfe die dampfende Flur!

In schwerer Noth,
Auf Leben und Tod
Vertrau’ ich dir.
Die Freunde flohen;
Die Feinde drohen –
Greif’ aus, mein tapferes Thier!

In blutigem Krieg,
Vertrauend auf Sieg,
Stritt treu ich für’s Recht –
Nun sollt’ ich sterben
Und ruhmlos verderben,
Als wär’ ich ein niedriger Knecht?

Auf grünender Au’,
Soweit ich schau’,
Kein Retter da!
Vielleicht mit mir Armen
Hat Gott Erbarmen;
Stets bleibt er Gerechten nah’.

Vielleicht dort im Wald
Erreich’ ich bald
Der Schweden Wacht,
Wo Fahnen stolz wehen,
Wo Helden treu stehen
Zu Gustav Adolf's Macht.

Du wieherst, mein Roß?
Horch! Hörnerstoß!
Die Hülfe ist nah’!
Es kommen die Freunde;
Es weichen die Feinde;
Gerettet sind wir – Hurrah!!

St. v. J.



Kleiner Briefkasten.

E. Beatrice M. Der Uebersetzung des Artikels steht nichts im Wege, wenn Sie die „Gartenlaube“ als Quelle angeben.

E. S. 1. Ungeeignet! Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!

B. R. in Friedland. Die „Walhalla“ an der Donau hat am 18. October dieses Jahres den fünfzigsten Gedenktag ihrer Grundsteinlegung gefeiert. Sie ist eine Schöpfung Ludwig’s des Ersten von Baiern; der Entwurf stammt von Leo von Klenze.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Mark