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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 49.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Es war Frühling geworden, zum zweiten Male seit dem Beginne des Aufstandes, der im Anfange so mächtig emporloderte, und der jetzt erdrückt, vernichtet am Boden lag. Jene winterlichen Märztage des vergangenen Jahres hatten nicht blos Unheil über die Bewohner von Wilicza gebracht, sie waren auch für die ganze Insurrection verhängnißvoll geworden, die mit der Niederlage des Morynski’schen Corps eine ihrer Hauptstützen verlor. Graf Morynski hatte sich bei jenem Ueberfalle, der ihn und die Seinigen so gänzlich unvorbereitet traf, während sie sich durch die Deckung des Fürsten Baratowski gesichert glaubten, mit der Kraft der Verzweiflung gewehrt, und selbst da, als er sich umringt und verloren sah, noch das Aeußerste daran gesetzt, um Leben und Freiheit so theuer wie möglich zu verkaufen. So lange er an der Spitze stand, hielt sein Beispiel noch die Wankenden, aber als der Führer blutend und bewußtlos am Boden lag, war es vorbei mit jedem Widerstande. Was nicht fliehen konnte, wurde niedergemacht, oder fiel gefangen in die Hände der Sieger. Die Niederlage kam einer Vernichtung gleich, und wenn sie auch noch nicht das Schicksal der Revolution entschied, so bezeichnete sie doch einen Wendepunkt darin. Von da an ging es abwärts, unaufhaltsam abwärts. Der Verlust Morynski’s, der unter den Führern des Aufstandes weitaus der bedeutendste und energischste gewesen war, der Tod Leo Baratowski’s, den Name und Traditionen seiner Familie, trotz seiner Jugend, zum Hauptaugenmerke der Partei für die Zukunft gemacht hatte, waren schwere Schläge für diese Partei, die, längst unter sich uneins und gespalten, jetzt noch mehr auseinanderfiel. Zwar blitzte der schon im Sinken begriffene Stern hier und da noch einmal auf; es gab noch Kämpfe und Gefechte voll Verzweiflung und Heldenmuth, aber es trat immer deutlicher hervor, daß die Sache, für die man kämpfte, eine verlorene war. Die Insurrection, die sich anfangs über das ganze Land verbreitet hatte, wurde immer mehr zurückgedrängt, in immer engere Grenzen eingeschlossen; ein Posten nach dem andern fiel, eine Schaar nach der andern wurde zersprengt oder löste sich auf, und das Ende des Jahres, mit dessen Beginne der Aufstand so drohend aufflammte, sah ihn erlöschen bis auf den letzte Funken. Nur Schutt und Trümmer zeugten noch von dem letzten verzweifelten Todeskampfe eines Volkes, über das die Geschichte längst das Urtheil gesprochen hatte.

Es dauerte lange, ehe das Schicksal des Grafen Morynski entschieden wurde. Er erwachte erst im Kerker wieder zum Bewußtsein, und eine schwere, anfangs für tödtlich gehaltene Verwundung machte in der ersten Zeit jedes Verfahren gegen ihn unmöglich. Er schwebte monatelang zwischen Leben und Tod, und als er endlich genas, war das Erste, was ihn an der Schwelle des Lebens erwartete – das Todesurtheil. Für einen Führer der Revolution, der im Kampfe, mit den Waffen in der Hand, in die Gewalt des Siegers gefallen war, konnte der Spruch nicht anders lauten. Das Todesurtheil wurde über ihn ausgesprochen, und es wäre sicher vollzogen worden, wie so viele andere, ohne die lange schwere Krankheit. Gegen den vermeintlich Sterbenden wollte man den Spruch doch nicht zur Ausführung bringen, und als seine Vollziehung möglich wurde, war der Aufstand bereits bewältigt, die drohende Gefahr für das Land beseitigt, und damit ließ auch die eiserne Strenge des Siegers nach. Graf Bronislaw Morynski wurde zu lebenslänglicher Deportation begnadigt, allerdings zur Deportation in ihrer schärfsten Form, nach einem der entlegensten Orte Sibiriens – eine furchtbare Gnade für den Mann, dessen ganzes Leben nur ein einziger Freiheitstraum gewesen war, der selbst während der ersten jahrelangen Verbannung in Frankreich keine Beschränkung seiner persönlichen Freiheit gekannt hatte.

Er hatte die Seinigen nicht wieder gesehen seit jenem Abende, wo er in Wilicza von ihnen Abschied nahm, um in den Kampf zu gehen. Weder der Schwester noch selbst seiner Tochter wurde es erlaubt, ihn zu sehen. Was sie auch unternahmen, um bis zu ihm zu dringen, es scheiterte Alles an der Strenge, mit der man den Gefangenen von der Außenwelt und dem Verkehre mit seiner Anverwandten abschloß. Diese hatten freilich die Strenge selbst verschuldet, denn sie versuchten es mehr als einmal, ihn seiner Haft zu entreißen. Sobald der Graf nur einigermaßen genesen war, wurde von Seiten der Fürstin und Wanda’s alles nur Mögliche aufgeboten, ihm zur Flucht zu verhelfen, aber die sämmtlichen Befreiungspläne mißlangen, und der letzte hatte Pawlick, dem alten treuen Diener des Hauses Baratowski, das Leben gekostet. Er hatte sich freiwillig zu dem gefährlichen Dienste erboten, und es glückte ihm auch wirklich, sich mit dem Grafen in Verbindung zu setzen; dieser war benachrichtigt, der Fluchtplan verabredet, aber bei den Vorbereitungen dazu wurde Pawlick entdeckt und, als er in der ersten Bestürzung die Flucht nahm, von den Festungswachen niedergeschossen. Die Folge dieser Entdeckung war eine nur noch strengere Bewachung des Gefangenen und die schärfste Beobachtung seiner Angehörigen; sie konnten

[818] keinen Schritt mehr thun, ohne sich neuem Verdachte auszusetzen, ohne die Haft des Vaters und Bruders noch härter zu machen; sie mußten endlich der Unmöglichkeit weichen.

Die Fürstin hatte unmittelbar nach dem Tode ihres jüngsten Sohnes Wilicza verlassen und war gänzlich nach Rakowicz übergesiedelt. Die Welt fand es sehr natürlich, daß sie ihre verwaiste Nichte jetzt nicht allein ließ, Waldemar verstand besser, was seine Mutter forttrieb. Er hatte es schweigend hingenommen, als sie ihm ihren Entschluß ankündigte, und nicht den geringsten Versuch gemacht, sie zu halten; er wußte, daß sie weder den Aufenthalt in seinem Schlosse noch seinen täglichen Anblick mehr ertrug, war er ja doch die Ursache jener unglückseligen That Leo’s gewesen, die diesem den Tod und den Seinigen das Verderben brachte. Vielleicht war es für Nordeck auch eine Erleichterung, daß die Fürstin ging, jetzt wo er gezwungen war sie täglich und stündlich zu verletzen durch die Art, wie er die Zügel der Herrschaft in Wilicza führte. Seine Hand, die sie mit so eiserner Willenskraft ergriffen hatte, wußte sie auch eisern zu regieren, und das war in der That nothwendig. Er hatte Recht, es war ein Chaos, was die zwanzigjährige Beamtenwirthschaft unter seinem ehemaligen Vormunde und die vier letzten Jahre unter dem Baratowski’schen Regimente ihm auf seinen Gütern geschaffen hatte, aber er ging mit einer unglaublichen Energie daran, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Im Anfange hatte Waldemar freilich genug zu thun, wenn er sich mit allen Kräften der auch auf seinem Gebiete drohenden Rebellion entgegenstemmte, aber sobald er sich nur wieder frei regen konnte, sobald der Aufstand, der mit tausend geheimen Beziehungen auch nach Wilicza hinübergriff, zu erlöschen anfing, begann dort ein Umwälzungsproceß, der seines Gleichen suchte. Was sich von den Beamten nicht unbedingt fügte, wurde entlassen und jeder Zurückgebliebene der schärfsten Controlle unterworfen. Die Forstverwaltung wurde durchweg mit neuen Persönlichkeiten besetzt, die Pachtgüter, zum Theil mit bedeutenden Geldopfern, aus den Händen der bisherigen Pächter befreit und der Herrschaft selbst zugetheilt, an deren Spitze der junge Gutsherr ganz allein stand. Es war eine Riesenaufgabe für einen Einzelnen, das Alles zu bewältigen, jetzt, wo all’ das Alte zusammenstürzte und das Neue erst geschaffen werden sollte, wo noch nichts sich fügte, nichts ineinander griff, aber Waldemar zeigte sich dieser Aufgabe gewachsen. Er war doch schließlich Sieger geblieben im Kampfe mit seinen Untergebenen; zwar die eigentliche Bevölkerung von Wilicza blieb ihm nach wie vor feindlich gesinnt; sie haßte fortgesetzt in ihm den Deutschen, aber auch sie hatte die Hand des Herrn fühlen und sich ihr beugen lernen. Mit der Entfernung der Fürstin verlor der Ungehorsam seine stärkste Stütze, und mit dem Erlöschen des Aufstandes drüben im Nachbarlande sanken auch hier Trotz und Widerstand zusammen. Von ruhigen, geordneten Verhältnissen, wie sie auf den Gütern in anderen Provinzen herrschten, war freilich noch keine Rede, dazu hätte es anderer Zeiten und Umgebungen bedurft, aber der Anfang war doch wenigstens gemacht, die Bahn gebrochen, und das Uebrige mußte der Zukunft aufbehalten bleiben.

Der Administrator Frank befand sich noch in Wilicza und hatte seine beabsichtigte Entfernung um ein Jahr hinausgeschoben. Er gab darin hauptsächlich dem Wunsche des Gutsherrn nach, dem viel daran lag, den tüchtigen, erfahrenen Mann noch eine Zeit lang zur Seite zu haben. Erst jetzt, wo das Nothwendigste geordnet war, hatte Frank seine definitive Entlassung genommen und zugleich den langgehegten Plan ausgeführt, sich selber anzukaufen. Das hübsche, gar nicht so unbedeutende Gut, das er erworben, lag in einer anderen Provinz des Landes, in angenehmer Gegend und befand sich, im Gegensatz zu der „polnischen Wirthschaft“, die der Administrator zwanzig Jahre lang bekämpft hatte und die er so gründlich verabscheute, in durchaus geordneten, friedlichen Verhältnissen. Er sollte erst in zwei Monaten in die Hände des neuen Besitzers übergehen, und so lange blieb dieser noch in seiner alten Stellung.

Was Gretchen betraf, so hatte der Vater bei ihrer Verheirathung bewiesen, daß sie in der That sein Liebling war, ihre Mitgift übertraf all die Berechnungen, die Assessor Hubert so genau und gründlich für – einen Andern angestellt hatte. Die Hochzeit war schon im letzten Herbste gefeiert worden, und das neue Ehepaar lebte in J., wo Professor Fabian nun wirklich die ihm angebotene Stellung angenommen hatte, und wo „wir ganz außerordentliche Erfolge haben“, wie die Frau Professorin ihrem Vater schrieb. In der That überwand Fabian seine Scheu vor der Oeffentlichkeit weit schneller und besser, als er glaubte, und rechtfertigte all die Erwartungen, die man von dem so schnell berühmt gewordenen Verfasser der „Geschichte des Germanenthums“ hegte. Sein bescheidenes, liebenswürdiges Wesen, das im schärfsten Gegensatze zur der schroffen Selbstüberhebung seines Vorgängers stand, gewann ihm die allgemeine Sympathie, und seine junge, hübsche Frau, die in ihrer reizenden, durch die Großmuth des Vaters mit allen nur möglichen Annehmlichkeiten ausgestatteten Häuslichkeit so anmuthig die Honneurs zu machen wußte, trug das Ihrige dazu bei, auch seine gesellschaftliche Stellung zu einer höchst angenehmen zu machen. Gegenwärtig wurde das junge Paar zu dem ersten Besuche im Vaterhause erwartet und sollte in den nächsten Wochen eintreffen.

Nicht so gut war es dem Assessor Hubert ergangen, obgleich ihm im Laufe des Jahres eine ganz unerwartete und ziemlich bedeutende Erbschaft zugefallen war, aber sie kostete ihm leider die Familienberühmtheit. Professor Schwarz war vor einigen Monaten gestorben, und da er unverheirathet war, ging sein Vermögen auf die nächsten Verwandten über. Die pecuniären Verhältnisse Hubert’s hoben sich dadurch bedeutend, aber was half ihm das? Die Braut, auf deren Besitz er mit solcher Sicherheit gerechnet hatte, gehörte einem Anderen, und er selbst war noch immer nicht Regierungsrath und hatte auch vorläufig keine Aussicht, es zu werden, obwohl er sich im Amtseifer überstürzte, obwohl er jede Minute das Polizeidepartement von L. mit seinen sogenannten Entdeckungen alarmirte und Alles aufgeboten hatte, um in diesem Revolutionsjahr auch für seinen eigenen Staat ein paar Hochverräther aufzugreifen, was ihm bekanntlich nicht gelungen war. Aber dieser Staat benahm sich in einer wahrhaft himmelschreienden Weise gegen seinen treuesten Diener; er schien gar kein Verständniß für die Aufopferung und Hingebung desselben zu besitzen, sich vielmehr der Auffassung Frank’s anzuschließen, der in seiner derben Weise behauptete, der Assessor mache jetzt „eine Dummheit nach der anderen“ und werde sich damit noch den ganzen Staatsdienst unmöglich machen. In der That wurde Hubert bei jeder Beförderung in einer so absichtsvollen Weise übergangen, daß die Collegen zu sticheln anfingen; da reifte ein finsterer Entschluß in der Seele des Tiefbeleidigten. Die Schwarz’sche Erbschaft machte ihn ja völlig unabhängig – weshalb sollte er noch länger Verkennung und Zurücksetzung ertragen, weshalb noch länger dieser undankbaren Regierung dienen, die seine glänzenden Fähigkeiten so beharrlich verkannte, während sie unbedeutende Menschen, wie den Doctor Fabian, zu den ehrenvollsten Stellungen berief und mit Auszeichnungen überhäufte?!

Hubert sprach davon, seine Entlassung zu nehmen; er wiederholte das sogar im Gegenwart des Präsidenten und mußte die Kränkung erleben, daß dieser ihm mit vernichtender Freundlichkeit beistimmte. Seine Excellenz meinten, der Herr Assessor habe bei seinem Vermögen eine Anstellung ja gar nicht nöthig und thue ganz recht, sich der anstrengenden Thätigkeit zu entziehen; er sei ohnehin etwas zu „nervös“ für einen Beamten, von dem man doch in erster Linie Besonnenheit verlange. Der Wink war deutlich genug. Hubert fühlte etwas von dem Menschenhaß und der Weltverachtung seines berühmten Verwandten in sich, als er stehenden Fußes nach dieser Unterredung nach Hause ging, um sein Entlassungsgesuch aufzusetzen. Es wurde abgeschickt und auch wirklich angenommen. Noch waren der Staat und das Polizeidepartement von L. darüber nicht aus den Fugen gegangen, aber es geschah vielleicht noch nachträglich, wenn die Entlassung eine Thatsache wurde, was im nächsten Monat bevorstand. Der Assessor war viel zu sehr der Neffe seines Onkels, dessen verunglücktes Manöver er nachgeahmt hatte, um nicht auf den Eintritt einer solchen Katastrophe zu warten. –

Im Hofe von Rakowicz stand das Pferd des jungen Gutsherrn von Wilicza. Es geschah nur äußerst selten, daß er herübergeritten kam, und auch dann dauerten seine Besuche stets nur kurze Zeit. Die Kluft, welche ihn von seinen nächsten Verwandten trennte, wollte sich noch immer nicht schließen, die letzten Ereignisse schienen sie nur noch weiter aufgerissen zu haben.

[819] Im Zimmer der Gräfin Morynska befand sich diese allein mit Waldemar. Wanda hatte sich sehr verändert; sie war wohl immer bleich gewesen, aber diese Blässe hatte nichts gemein mit jener todtenhaften Farbe, die jetzt ihr Antlitz deckte. Man sah es, was sie gelitten hatte in der Zeit, wo sie den so leidenschaftlich geliebten Vater im Kerker wußte, krank, dem Tode nahe, ohne ihn auch nur auf einen Augenblick sehen zu dürfen, als der Freiheitstraum, für den er sein Leben so begeistert in die Schanze geschlagen, den auch seine Tochter mit voller Seele umfaßte, für immer zu Ende ging. Die Todesangst bis zur Entscheidung des Doppelschicksals, das fortwährende Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung, die Aufregung bei den immer wiederholten Befreiungsversuchen, das alles hatte seine deutlichen Spuren hinterlassen. Wanda war eine jener Naturen, die mit verzweiflungsvoller Energie auch dem schwersten Unglücke Stand halten, so lange noch ein Schimmer von Hoffnung vorhanden ist, die aber, wenn dieser Schimmer erlischt, machtlos zusammenbrechen, und sie schien jetzt nahe bis an diesen Punkt gelangt zu sein. Für den Augenblick lag freilich noch eine fieberhafte Ueberreizung in ihrem Wesen, ein Zusammenraffen der letzten Kräfte, aber es waren eben auch die letzten.

Waldemar stand vor ihr, unverändert in seiner trotzigen Erscheinung, aber er schien wenig von der Schonung zu üben, die das Aussehen der jungen Gräfin so dringend forderte. Seine Haltung war eine beinahe drohende, und in seiner Stimme lag ein Gemisch von Zorn und Schmerz, als er zu ihr sprach:

„Ich bitte Dich zum letzten Male: gieb den Gedanken auf! Du giebst Dir den Tod damit, ohne Deinem Vater helfen zu können. Es ist nur eine Qual mehr für ihn, wenn er Dich vor seinen Augen hinsterben sieht. Du willst ihm folgen in jene furchtbare Einöde, in jenes mörderische Klima, dem die Stärksten unterliegen, Du, die von Jugend auf verwöhnt, mit allem umgeben worden bist, was das Leben nur Angenehmes zu bieten vermag, willst Dich jetzt den schlimmsten Entbehrungen aussetzen. Was die stählerne Natur des Grafen vielleicht noch aushält, dem erliegst Du in den ersten Monaten. Frage den Arzt, frage Dein eigenes Aussehen, und sie werden Dir sagen, daß Du nicht das nächste Jahr dort erlebst.“

„Glaubst Du vielleicht, daß mein Vater es erlebt?“ entgegnete Wanda mit bebender Stimme. „Wir hoffen und verlangen ja auch nichts mehr vom Leben, aber wir wollen wenigstens zusammen sterben.“

„Und ich?“ fragte Waldemar mit bitterem Vorwurf.

Sie wandte sich ab, ohne zu antworten.

„Und ich?“ wiederholte er heftiger. „Was wird aus mir?“

„Du bist wenigstens frei. Du hast das Leben noch vor Dir. Trage es! Ich habe noch schwerer zu tragen.“

Waldemar wollte auffahren; ein Blick auf das bleiche, schmerzdurchwühlte Antlitz verbot ihm das. Er zwang sich zur Ruhe.

„Wanda, als wir uns vor einem Jahre endlich fanden, da stand das Wort zwischen uns, das Du meinem Bruder gegeben hattest. Ich hätte Dich ihm abgerungen um jeden Preis, aber es kam nicht dazu. Sein Tod hat die Schranke niedergerissen, und was jetzt auch von außen herandrohen mag, sie ist nieder zwischen uns. An Leo’s frischem Grabe, in einer Zeit, wo das Todesschwert täglich über dem Haupte Deines Vaters hing, habe ich es nicht gewagt, Dir von Liebe, von Vereinigung zu sprechen, habe es über mich gewonnen, Dich nur selten und flüchtig zu sehen. Du und die Mutter, Ihr ließet mich ja bei jedem Besuche in Rakowicz fühlen, daß ich von Euch immer noch als Feind betrachtet werde, aber ich hoffte auf die Zukunft, auf bessere Zeiten – und nun trittst Du mir mit einem solchen Entschlusse entgegen. Begreifst Du denn nicht, daß ich dagegen kämpfen werde bis zum letzten Athemzuge? ‚Wir wollen zusammen sterben‘. Das ist leicht gesagt und auch leicht gethan, wenn man wie Leo von einer Kugel mitten in’s Herz getroffen wird. Hast Du Dir schon klar gemacht, was der Tod in der Verbannung ist? Dieses langsame Dahinsterben, dieser monatelange Todeskampf unter Entbehrungen, die den Geist brechen, noch ehe sie den Körper vernichten, fern vom Vaterlande, abgeschnitten von der Welt und ihren Interessen, von jedem geistigen Lebenshauche, der Dir so nothwendig ist, wie die Luft zum Athmen, erdrückt werden, ersticken unter der Last des Elends! – Und Du verlangst von mir, daß ich das ertrage, daß ich es geschehen lasse, wenn Du Dich freiwillig einem solchen Loose weihst?“

Es ging ein leiser Schauer durch die Gestalt der jungen Gräfin. Sie mochte wohl die Wahrheit seiner Schilderung empfinden, aber sie verharrte im ihrem Schweigen.

„Und Dein Vater nimmt dieses unglaubliche Opfer an,“ fuhr Waldemar in immer wilderer Erregung fort, „und meine Mutter läßt es zu? Freilich, es gilt ja, Dich meinen Armen zu entreißen; um den Preis weihen sie Dich selbst dem Lebendigbegrabenwerden. Wäre ich an Leo’s Stelle gefallen, und den Grafen hätte das jetzige Schicksal erreicht, er hätte Dir befohlen zu bleiben, so würde meine Mutter mit vollster Energie die Rechte ihres Sohnes vertreten und Dich zurückgehalten haben; jetzt haben sie Dir selbst den Märtyrergedanken eingegeben, obgleich sie wissen, daß er Dir den Tod bringt, aber er macht ja jede Verbindung zwischen uns auch für die fernste Zukunft unmöglich, und das ist ihnen genug.“

„Laß’ die Bitterkeit!“ unterbrach ihn Wanda. „Du thust den Meinigen Unrecht damit; ich gebe Dir mein Wort, daß ich den Entschluß allein gefaßt habe. Mein Vater steht an der Schwelle des Greisenalters; die Wunden, die lange Gefangenschaft, mehr als das Alles unsere Niederlage haben ihn geistig und körperlich gebrochen. Ich bin das Einzige, was ihm geblieben ist, das letzte Band, das ihn noch an das Leben knüpft – ich gehöre zu ihm. Was Du vorhin so furchtbar schildertest, das ist sein Loos. Glaubst Du, ich könnte auch nur eine Stunde ruhig an Deiner Seite leben, wenn ich wüßte, daß er allein und verlassen einem solchen Schicksale entgegengeht, daß ich selbst ihm den letzten bittersten Schmerz seines Lebens bereite durch die Vermählung mit Dir, den er doch nun einmal als Feind betrachtet? Das Einzige, was ich jenem erbarmungslosen Urtheilsspruche abringen konnte, war die Erlaubniß, den Vater zu begleiten, und auch das habe ich nur mit Mühe erreicht. Ich wußte, daß es einen schweren Kampf mit Dir geben würde; wie schwer er ist, das zeigst Du mir erst jetzt. Schone mich, Waldemar! Ich habe nicht viel Kraft mehr übrig.“

„O nein, für mich nicht!“ sagte Waldemar bitter. „Was Du an Kraft und Liebe besitzest, das gehört allein Deinem Vater; was aus mir wird, wie ich die Trennung ertrage, darnach fragst Du nicht. Ich war ein Thor, als ich der Aufwallung glaubte, die Dich damals im Momente der Todesgefahr in meine Arme warf. Nur einen Augenblick lang warst Du mir Wanda; als ich Dich am nächsten Tage wiedersah, hörte ich schon wieder die Gräfin Morynska aus Dir sprechen, und sie spricht auch heute zu mir. Meine Mutter hat Recht: Eure nationalen Vorurtheile sind das Lebensblut, mit dem Ihr genährt seid von Jugend auf, von denen Ihr nicht lassen könnt, ohne das Leben selbst zu lassen; denen opferst Du uns Beide, denen opfert Dein Vater sein einziges Kind. Er hätte nun und nimmermehr Deine Begleitung angenommen, wenn es ein Pole wäre, der Dich liebte. Da ich es bin, willigt er in Alles, was Dich von mir reißt. Was thut es denn auch, wenn er sie nur vor dem Schicksale bewahrt, einem Deutschen anzugehören, wenn er nur dem alten Nationalhasse seine Schuld abträgt! Könnt Ihr Polen denn nur hassen und nichts als hassen, selbst über Tod und Grab hinaus?“

„Wäre mein Vater frei,“ sagte Wanda tonlos, „ich hätte vielleicht den Muth gefunden, ihm und Allem zu trotzen, was Du Vorurtheil nennst, um Deinetwillen. Jetzt kann ich es nicht, und“ – hier flammte ihre ganze Energie wieder auf – „jetzt will ich es auch nicht, denn es wäre Verrath an meiner Kindespflicht. Ich gehe mit ihm, und müßte ich wirklich sterben daran. Ich lasse ihn nicht allein in seinem Unglück.“

Die Art, wie sie die letzten Worte sprach, zeigte, daß ihr Entschluß nicht zu erschüttern war, und auch Waldemar schien das einzusehen. Er gab den Widerstand auf.

„Wann willst Du abreisen?“ fragte er nach einer Pause.

„Im nächsten Monat. Ich darf den Vater erst wiedersehen, wenn ich in O. mit ihm zusammentreffe; dann wird es wohl auch der Tante erlaubt werden, ihn noch einmal zu sprechen. Sie begleitet mich bis O. Du siehst, wir brauchen nicht heute und [820] jetzt von einander Abschied zu nehmen. Es sind noch Wochen bis dahin. Aber versprich mir, inzwischen nicht nach Rakowicz zu kommen, nicht wieder so auf mich einzustürmen, wie Du es heute thatest! Ich brauche meinen ganzen Muth zur Trennungsstunde, und Du nimmst ihn mir mit Deiner Verzweiflung. Wir sehen uns ja noch einmal wieder; bis dahin – lebe wohl!“

„Lebe wohl!“ sagte er kurz, beinahe rauh, ohne sie anzusehen, ohne die Hand zu nehmen, die sie ihm reichte.

„Waldemar!“ es lag ein ergreifender Vorwurf in ihrem Ton, aber er blieb machtlos gegen die wilde Gereiztheit des jungen Mannes. Zorn und Angst, die Geliebte zu verlieren, überwogen bei ihm jedes Gerechtigkeitsgefühl.

„Du magst ja Recht haben,“ sagte er in seinem herbsten Tone, „aber ich kann mich nun einmal in diese erhabene Aufopferung nicht finden, und am allerwenigsten vermag ich sie zu theilen. Meine ganze Natur sträubt sich dagegen. Da Du aber darauf bestehst, da Du die Trennung unwiderruflich über uns verhängst, so muß ich zusehen, wie ich allein mit meinem Schicksal fertig werde. Klagen kann ich nicht – das weißt Du. Meine Bitterkeit verletzt Dich höchstens; also ist es besser, ich schweige ganz. Leb’ wohl, Wanda!“

Wanda schien mit sich selber zu kämpfen. Sie wußte, daß es nur einer Bitte aus ihrem Munde bedurfte, um seinen Trotz in Weichheit umzuwandeln, aber das hieß nur den eben bestandenen Kampf wieder erneuern, den so schwer errungenen Sieg wieder in Frage stellen. Sie schwieg, neigte nach einem secundenlangen Zögern nur leise das Haupt gegen ihn und verließ das Zimmer.

Waldemar ließ es geschehen, daß sie ging. Er stand abgewendet am Fenster. In seinem Gesichte kämpften alle möglichen bitteren Empfindungen mit einander, nur die Entsagung, welche die Geliebte von ihm forderte, war dort nicht zu lesen. Die Stirn gegen die Scheiben gedrückt, verharrte er lange in dieser Stellung und sah erst auf, als sein[WS 1] Name genannt wurde.

Es war die Fürstin, die unbemerkt eingetreten war. Was hatte das letzte Jahr mit seinen Schicksalsschlägen aus dieser Frau gemacht! Als der Sohn sie damals in C. wiedersah, zum ersten Male nach langen Jahren, hatte sie gleichfalls einen schweren Verlust erlitten, auch damals trug sie die Trauerkleidung wie jetzt. Aber der Tod des Gemahls hatte es nicht vermocht, diese energische Natur zu beugen; sie war sich klar der Pflichten bewußt, welche die Wittwe wie die Mutter zu erfüllen hatte; sie entwarf und vollführte mit fester Hand den neuen Lebensplan, der sie auf eine Zeit lang zur gebietenden Herrin von Wilicza machte. Der Schmerz um den Gatten wurde überwunden, weil es nothwendig war, weil andere Aufgaben an seine Wittwe herantraten, als nur die, ihn zu betrauern, und Fürstin Jadwiga hatte von jeher die beneidenswerthe Fähigkeit besessen, selbst ihre Gefühle der Nothwendigkeit unterzuordnen.

Jetzt war das anders geworden. Zwar die Haltung der Trauernden war noch aufrecht, und der erste flüchtige Eindruck ihrer Erscheinung zeigte kaum eine auffallende Veränderung, wer aber nur einen tieferen Blick in ihr Antlitz that, der wußte, was Leo Baratowski’s Tod seiner Mutter gekostet hatte. Es lag eine starre, todte Ruhe in diesen Zügen, aber es war nicht die der Fassung und Ergebung, nur die Todesruhe dessen, der nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu verlieren hat, den das Leben mit seinen Interessen nicht ferner berührt. Die einst so gebietenden Augen blickten matt und umflort; in die Stirn, vor einem Jahre noch so klar und stolz, gruben sich tiefe, gramvolle Furchen, und das dunkle Haar zeigte sich an einzelnen Stellen ergraut. Man sah es, der Schlag, der das Herz wie den Stolz der Mutter gleich tödtlich getroffen, war ihr bis an’s innerste Leben gegangen, und die Niederlage ihres Volkes, das Schicksal des Bruders, den sie nach Leo am meisten auf der Welt liebte, hatten das Uebrige gethan, um diese einst so unbeugsame und unerschütterliche Kraft zu brechen.

„Hast Du wieder einmal auf Wanda eingestürmt?“ sagte sie – auch die Stimme war verändert; sie hatte einen matten gebrochenen Klang. „Du weißt doch, daß es vergebens ist.“

Waldemar wandte sich um. Sein Gesicht hatte sich noch nicht aufgehellt; die ganze frühere Gereiztheit lag noch darauf, als er finster erwiderte:

„Ja wohl, es war vergebens.“

„Ich sagte es Dir vorher. Wanda ist keine von den Frauen, die sich heute versagen und morgen in Deine Arme werfen. Als sie den Entschluß erst einmal gefaßt hatte, war er auch unwiderruflich. Du solltest das doch endlich einsehen – statt dessen reißest Du sie immer wieder zurück in die nutzlosen Kämpfe. Du bist es, der schonungslos gegen sie verfährt, Du allein.“

„Ich?“ fragte Waldemar in beinahe drohendem Tone. „Und wer war es denn, der ihr den Entschluß eingegeben hat?“

Das Auge der Fürstin begegnete fest und ernst dem ihres Sohnes. „Niemand!“ entgegnete sie. „Ich, das weißt Du, habe es längst aufgegeben zwischen Euch Beide zu treten; ich habe meine Machtlosigkeit Eurer Leidenschaft gegenüber zu bitter empfinden müssen, als daß ich das noch ferner versuchen sollte. Aber ich kann und will Wanda auch nicht zurückhalten. Mein Bruder hat nichts mehr auf der Welt als sie allein. Sie thut nur ihre Pflicht, wenn sie ihm folgt.“

„Um zu sterben!“ ergänzte Waldemar.

Die Fürstin hatte sich niedergelassen und stützte den Kopf in die Hand.

„Der Tod ist uns in dieser letzten Zeit zu oft nahe getreten, als daß ihn noch Einer von uns fürchten sollte. Wen das Schicksal so Schlag auf Schlag trifft, wie es uns getroffen, der lernt sich selbst mit dem Schlimmsten vertraut machen, und auch Wanda hat das gelernt. Wir haben Nichts mehr zu verlieren – darum fürchten wir auch Nichts mehr. Dieses unselige Jahr hat mehr Hoffnungen vernichtet, als nur die Deinigen, es hat so unendlich viele in Blut und Thränen zu Grabe getragen – da wirst Du es wohl ertragen müssen, wenn es auch Dein Lebensglück in Trümmer schlägt.“

„Ihr würdet es mir auch nicht verzeihen, wenn ich mir mein Glück aus den Trümmern Eurer Hoffnungen rettete,“ sagte Waldemar bitter. „Nun, Ihr könnt unbesorgt sein! Ich habe es heute eingesehen, daß Wanda nicht zu bewegen ist; sie bleibt unwiderruflich bei ihrem Nein.“

„Und Du?“

„Nun, ich füge mich.“

Die Fürstin sah ihn einige Secunden prüfend an.

„Was hast Du vor?“ fragte sie plötzlich.

„Nichts. Du hörst es ja, ich gebe die Hoffnung auf und füge mich dem Unvermeidlichen.“

Das Auge der Mutter ruhte noch immer auf seinem Gesichte. „Du fügst Dich nicht – oder ich müßte meinen Sohn nicht kennen. Ist das etwa Entsagung, die da auf Deiner Stirn geschrieben steht? Du hast etwas vor, irgend etwas Unsinniges, Gefährliches. Nimm Dich in Acht! Es ist Wanda’s eigener Wille, der Dir entgegen steht – sie läßt sich nicht zwingen, auch von Dir nicht.“

„Das werden wir sehen,“ versetzte der junge Mann kalt; er gab das Leugnen auf, als er sich durchschaut sah. „Uebrigens darfst Du ganz ruhig sein. Es mag ja unsinnig sein, was ich vorhabe, aber wenn eine Gefahr dabei ist, so trifft sie mich allein, und es ist höchstens mein Leben, das auf dem Spiele steht.“

„Höchstens Dein Leben?“ wiederholte die Fürstin. „Und das sagst Du Deiner Mutter zum Troste?“

„Verzeih, aber ich meine, das kann für Dich doch jetzt nicht mehr in Betracht kommen, seitdem Du Deinen Leo verloren hast.“

Das Auge der Fürstin heftete sich auf den Boden. „Seit jener Stunde hast Du es mich empfinden lassen, daß ich kinderlos bin,“ sagte sie leise.

„Ich?“ fuhr Waldemar auf. „Hätte ich Dich vielleicht halten sollen, als Du Wilicza verließest? Ich wußte ja, daß Du nur meine Nähe flohest, daß mein Anblick der Stachel war, den Du nicht ertragen konntest. – Mutter – er trat ihr unwillkürlich näher und mitten durch die Schonungslosigkeit seiner Worte wehte etwas wie herber Schmerz – „als Du damals so fassungslos an der Leiche meines Bruders zusammenbrachest, habe ich es nicht gewagt, Dir ein Wort des Trostes zu sagen, und wage es noch heute nicht, ich war ja stets ein Fremder, ein Ausgestoßener in Deinem Herzen, für mich war ja niemals Raum darin. Ich bin nach Rakowicz gekommen, weil ich nicht leben konnte, ohne Wanda zu sehen. Dich suchte ich nicht, so wenig wie Du mich gesucht hast in dieser Zeit der Trauer, aber ich trage wahrlich nicht die Schuld der Entfremdung zwischen

[821]

Auf dem Holzmarkt zu Milianah in Algerien.
Nach der Natur aufgenommen von Albert Richter in Haking.

[822] uns. Rechne es mir nicht an, wenn ich Dich in den bittersten Stunden Deines Lebens allein ließ!“

Die Fürstin hatte schweigend zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, aber ihre Lippen zuckten wie im inneren Krampfe, als sie antwortete:

„Wenn ich Deinen Bruder mehr geliebt habe als Dich, so habe ich ihn auch verlieren müssen, und wie verlieren! Daß er fiel, hätte ich ertragen, ich sandte ihn ja selbst hinaus in den Kampf für sein Vaterland, daß er so fallen mußte –“ die Stimme versagte ihr; sie rang nach Athem, und es dauerte einige Secunden, ehe sie fortfahren konnte. „Ich habe meinen Leo gehen lassen, ohne ein Wort der Verzeihung, ohne das letzte Lebewohl, um das er auf den Knieen flehte, und an demselben Tage legten sie ihn mit durchschossener Brust zu meinen Füßen. Das Einzige, was ich noch von ihm habe, sein Andenken, ist mir auf ewig verknüpft mit jener unglückseligen That, welche die Unserigen in’s Verderben riß. Die Sache meines Volkes ist verloren; mein Bruder geht einem Schicksale entgegen, das schlimmer ist als der Tod; Wanda folgt ihm – ich stehe ganz allein. Ich dächte, Waldemar, Du könntest zufrieden sein mit der Art, wie das Schicksal Dich gerächt hat.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Chemie des Himmels.
Ein Vortrag von Dr. M. Wilhelm Meyer.
I.


Blicken wir nächtlich zum sternbesäeten Himmel auf, sehen wir die funkelnden Weltlichter in stillem feierlichem Zuge über uns hinschweben und übersinnen wir dabei, daß jedes dieser Tausende und aber Tausende von leuchtenden Pünktchen eine Welt darstellt, so groß, daß unsere Erde dagegen gänzlich verschwindet, so überkommt wohl Manchen unter uns ein Zweifel über die Aussagen der Astronomen und gießt Unmuth in die erhabene Stimmung, in welche uns dieser Gedanke versetzt hatte. Dem Fassungsvermögen des Menschen sind Schranken gesetzt, und was außerhalb derselben liegt, muß nothwendig seinen Zweifel erregen, so lange er an die Erscheinungen nur mit dem Urtheile seiner Sinne geht. Dagegen kann der menschliche Verstand durch Combination auf Combination sich in Regionen emporschwingen, Dinge als vorhanden nachweisen und über sie reflectiren, welche sich unseren Sinnen gar nicht darbieten, ja er kann selbst das Urtheil der Sinne widerlegen und corrigiren. So hat die wissenschaftliche Forschung uns bewiesen, daß diese Himmelslichter, welche allnächtlich in ebenmäßigen Bahnen denselben Weg am Himmel gehen und deshalb scheinbar alle gleich weit von uns entfernt zu sein scheinen, in der That sehr verschiedene und so enorm große Abstände besitzen, daß unsere Sinne weit entfernt sind, uns eine Vorstellung davon geben zu können. Und mehr noch als das: wir sind im Stande, für einige unter diesen Sternen die Entfernung von uns mit relativ großer Genauigkeit anzugeben, selbst die Masse von wenigen zu beziffern und ihre anziehende Kraft auf in ihrer Nähe befindliche Sternchen rechnend derart zu beherrschen, daß wir die von ihr bewirkten Bewegungen für viele Jahrzehnte genau voraussagen. Wir wissen z. B., daß der Sirius, jener helle Stern in der Nähe der prachtvollen Constellation des Orion, so weit von uns entfernt steht, daß sein Licht, obgleich es in einer Secunde mehr als vierzigtausend geographische Meilen zurücklegt, circa siebenzehn Jahre gebraucht, um den zwischen ihm und uns liegenden Raum zu durchfliegen; wir sehen deshalb den Sirius augenblicklich so, wie er im Jahre 1859 ausgesehen hat, weil der Lichtstrahl, welcher uns jetzt den Eindruck von ihm im Auge hervorbringt, diesen Stern schon in jenem Jahre verlassen hat. Wir wissen ferner, daß seine Masse die der Sonne vierzehn Mal übertrifft. Bedenken wir dabei, daß all diese Aufschlüsse aus Bewegungen eines absoluten Lichtpünktchens folgen, die nur dem schärfsten Instrumente bemerkbar sind, daß eben nur allein dieser flimmernde Lichtstrahl, der für uns die einzige Verbindung mit ihm ist, so ausführliche Kunde von fernsten Welten zu geben vermag, so müssen wir billig staunen, sei es über die bedeutenden Errungenschaften der Astronomie, sei es über die wunderbaren Einrichtungen des Weltalls, welche es uns zulassen, so scharfe Einblicke in seine größten Tiefen zu thun.

Das Licht aber weiß uns nicht allein davon Kunde zu geben, daß in jenen entlegensten Regionen dieselben Gesetze der Masse, welche ihre Bewegung bewirken, herrschen; es hat auch die Eigenschaft uns mitzutheilen, welche chemische Zusammensetzung die Masse besitzt, von deren Fernwirkung es uns erzählt hat. Jedes dieser kleinsten, für das bloße Auge fast verschwindenden Lichter sagt uns nicht nur, von welchen chemischen Stoffen es herrührt, sondern selbst, ob diese in glühend festem oder flüssigem, oder ob sie in gasförmigem Zustande sind, ja sogar ob die Lichtquelle von einer Dunstsphäre umgeben ist, die im vorzüglichsten Teleskope unsichtbar bleiben mag. Solch ein Wunder sehen Sie in jedem flimmernden Sternchen.

Aber diesen strahlenden Boten hat man erst in ganz jüngster Zeit verstehen lernen und ist seitdem unaufhörlich beschäftigt, seine Nachrichten zu entziffern. Ihr Studium nennt man die Spectral-Analyse des Himmels, welche in weniger denn fünfzehn Jahren weittragende Erfolge für die Kenntniß des Fixsterngewölbes errungen hat. Und ist es nicht in der That unbegreiflich, wie in einem einzigen, dem bloßen Auge selbst verschwindenden Lichtstrahle so viele sich nach jedem chemischen Stoffe modificirende Eigenschaften enthalten sind, daß man durch ihn allein über die physische Beschaffenheit von Körpern aufgeklärt wird, deren Entfernung von unserm Standorte wir nicht mehr zu messen im Stande sind? Es steht fest, daß es noch im Anfang unseres Jahrhunderts keinen Forscher gegeben hätte, der diesen Ausspruch nicht als das Märchen eines überschwänglichen Hypothesenschmiedes verlacht haben würde. Ich will Ihnen im Folgenden die wichtigsten Eigenschaften des Spectroskops, durch welches man jene Lichtkunden entziffert, erklären, um Ihnen dann von den überraschenden Aufschlüssen zu erzählen, die es uns über die Beschaffenheit unseres Sonnensystems bereits geben konnte. Für ein nachfolgendes Capitel behalte ich mir vor, Ihnen die Resultate faßlich vorzulegen, welche die Analyse der Fixsterne, dieser fern her strahlenden Schwestern unserer Weltmutter, darbot.

Der alles erquickende weiße Lichtstrahl, welcher uns von der Sonne zugesendet wird und dessen Wirkung uns die Erde so schön erscheinen läßt, ist keineswegs so einfach, wie er uns vorkommt. Es müssen in ihm offenbar alle Farben vorhanden sein welche wir überhaupt wahrnehmen, denn diese grünen Bäume, die braunrothen Klippen, all diese vielfarbigen Edelsteine sind doch nicht selbstleuchtend und tragen ihre Farben ohne Zweifel nicht in sich selbst, weil sie ja dieselben sonst auch im Dunkeln beibehalten müßten. Erst dadurch, daß weißes Licht auf sie fällt, nehmen sie ihre eigenthümliche Farbe an. Daß dieses wirklich so ist, daß nämlich jeder weiße Strahl alle möglichen Farben in sich vereinigt, wies schon Newton durch ein sehr einfaches Experiment nach, das vor ihm schon alle Kinder im Spiel ausgeführt hatten, welche durch einen dreikantig zugeschliffenen Glasstreifen alles mit den schönsten farbigen Rändern umgeben sahen. Der englische Mathematiker ließ einen Sonnenstrahl durch ein solches Prisma fallen und nahm wahr, daß das Licht, welches weiß in das Glas eingedrungen war, sich hinter demselben ausbreitete und in alle denkbaren Farben auflöste. Er erkannte daraus also, daß ein einziger weißer Strahl aus unzähligen farbigen zusammengesetzt ist, die aber, zugleich auf unser Auge eindringend, ihre Farbenwirkung gegenseitig paralysiren. Ein Prisma nun besitzt wie jeder durchsichtige Körper die Eigenschaft, die Lichtstrahlen von ihrem geraden Wege abzulenken, das heißt sie zu brechen. Die Brechbarkeit jeder einzelnen Farbe des weißen Lichtstrahls ist aber verschieden von jeder andern, so daß jede derselben das Prisma unter einem anderen Winkel verläßt. Sie sehen, daß es uns alle Farben des weißen Lichts einzeln vor Augen stellt, indem es eine Scheibe aus weißem Lichte zu einem allfarbigen Streifen fächerartig ausbreitet. Diese [823] Erscheinung nennt man ein Spectrum, in welchem die sieben bekannten Regenbogenfarben Roth, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett besonders auffällig hervortreten, wenngleich alle durch die feinen Abstufungen in einander übergehen und sich nirgends eine scharfe Abgrenzung einer gegen die andere Farbe zeigt.

Diese Entdeckung blieb lange Zeit nur von Interesse für die Optik, und man wußte daraus vor der Hand weiter keine Folgerungen zu ziehen. Erst im Jahre 1802 machte man einen kleinen Schritt vorwärts, indem der Engländer Wollaston wahrnahm, daß das Spectrum einer Linie Sonnenlichtes, welche, durch einen feinen Spalt fallend, von einem Prisma zu einem allfarbigen Bande ausgebreitet wurde, von einer großen Menge dunkler Linien durchzogen sei, also in der Farbenfolge doch einige feine Nüancen fehlten. Daraus folgte, daß uns die Sonne doch nicht alle im absoluten Sinne denkbaren Farben zusende.

Allein diese Entdeckung wurde so wenig beachtet, daß sie bald wieder ganz vergessen war. Zwölf Jahre später wurden diese Linien von dem berühmten Münchener Glasschleifer Fraunhofer, welcher von Wollaston’s Wahrnehmung keine Kenntniß hatte, auf’s Neue entdeckt, als er damit beschäftigt war, die optischen Eigenschaften einiger von ihm bereiteter Glasarten zu prüfen. Nach ihm wurden dann in späterer Zeit diese merkwürdigen Linien die Fraunhofer’schen genannt, obgleich auch dieser Forscher damals keine Ahnung davon hatte, welche weittragende Bedeutung dieselben einst erhalten sollten. Er richtete sein von ihm selbst construirtes Spectroskop zuerst auch auf andere Lichtquellen als die Sonne, auf die Fixsterne, und erkannte dabei, daß sie ähnliche Linien, aber doch nicht überall dieselben im prismatisch zerlegten Lichte zeigten, daß ihnen also öfters andere Farbennüancen fehlten, als dem Spectrum der Sonne, in welchem er allein an sechshundert Linien gezählt hatte. Für die Optik war diese Thatsache ohne Zweifel interessant, ihre Wichtigkeit schien jedoch nicht aus deren Bereiche hervorzutreten, weshalb man sich wiederum eine lange Zeit nicht weiter mit ihr beschäftigte.

Es war erst um die sechsziger Jahre herum, daß diese eigenthümlichen Linien durch die berühmten Arbeiten der Heidelberger Kirchhoff und Bunsen aus unverdienter Vergessenheit hervorgerufen wurden, um nun eine der wichtigsten Rollen auf zwei großen Gebieten der Naturwissenschaft zu spielen, in der Chemie und der Astronomie. Es wurde jetzt erkannt, daß jeder chemische Stoff, in gewisse Verhältnisse gebracht, sein ihm eigenthümliches Verhalten bei spectroskopischer Untersuchung zeigt, das heißt, daß jedes chemische Element seine charakteristischen Fraunhofer’schen Linien besitzt, an welchen man es untrüglich erkennen kann. Als dieser Satz einmal fest stand, war es unmittelbar klar, daß dem Spectroskope eine große Zukunft bevorstand, und eine Anzahl bedeutender Forscher beschäftigte sich nun damit, die Eigenschaften der auf unserer Erde bekannten Stoffe bezüglich ihres Spectrums genauer kennen zu lernen. Dabei ergab sich zunächst Folgendes:

Wenn irgend ein flüssiger oder fester Stoff weißglüht und sein Licht durch den leeren Raum zu uns in das Spectroskop sendet, ohne irgend vorher eine Gasart durchleuchtet zu haben, so zeigt sich in dem Instrumente ein regenbogenfarbiges Band, welches von keinerlei Linien durchschnitten wird. Man nennt das so beschaffene Spectrum ein continuirliches. In diesem Zustande sind sich also alle chemischen Stoffe gleich, und das Prisma giebt uns über ihre Zusammensetzung keinen Aufschluß. Wenn man dagegen den Strahl einer solchen Quelle ganz weißen Lichtes durch eine Gasart gehen läßt, welche selbst nicht leuchtet und kälter ist, als der glühende Körper, so entstehen im Spectrum des letzteren plötzlich Fraunhofer’sche Linien, und zwar für jede Gasart andere Gruppen davon. Das geht ganz natürlich zu und erklärt sich einfach daraus, daß diese Gasarten nicht für alle Farben durchsichtig sind, ganz so, wie z. B. eine rothe Glasscheibe nur die in dem weißen Lichte, das auf sie fällt, enthaltenen rothen Strahlen durchläßt, während sie alle übrigen vernichtet. Die rothe Scheibe läßt nun zwar nur eine von den unendlich vielen im weißen Lichte vorhandenen Nüancen passiren, während die Gase beinahe für alle durchsichtig sind und nur wenige Nüancen nicht durchlassen. Diese müssen dann in dem Farbenbande natürlich fehlen; es entsteht darin eine Lücke, die sich als breitere oder schmalere Linie darstellt, je nachdem die betreffende Gasart für eine oder mehrere nebeneinander liegende Farbennüancen undurchsichtig ist. Man sagt dann von ihr: sie absorbirt diese Farben, und nennt das so von schwarzen Linien durchzogene Farbenband ein Absorptionsspectrum. Dieses wird also nur erzeugt, wenn ein strahlender Körper in festem oder flüssigem Zustande sein Licht durch ein kälteres Gas zu uns sendet.

Da nun das Spectrum der Sonne, wie schon beschrieben, derartig beschaffen ist und von mehr als zweitausend Absorptionslinien durchzogen wird, so hat dadurch das Spectroskop zunächst bewiesen, daß die Sonne ein fester oder flüssiger Körper ist, dessen Licht auf seinem Wege zu uns eine Menge von Gasen passirt. Einige dieser Gase gehören unserer Atmosphäre an, durch welche die Sonnenstrahlen zu uns gelangen. Diese erdatmosphärischen Linien hat man bald erkannt. Die übrigen dagegen können nur einem Dunstkreise angehören, welcher die Sonne umgiebt und nicht selbst leuchtend ist. Somit lieferte das Spectroskop den eminenten Beweis für Behauptungen, welche die Astronomen schon früher aus anderen Erscheinungen folgern mußten; es wies das Vorhandensein einer Sonnenatmosphäre nach, die zum großen Theile aus metallischen Dämpfen zusammengesetzt ist. Durch genaue Messung jener Liniengruppen konnte man ferner viele derselben als identisch mit denen erklären, welche von bekannten Gasen hervorgebracht werden, sodaß man in der Sonnenatmosphäre mit Bestimmtheit das Vorkommen von Eisen, Zink, Kupfer, Nickel, Kobald, Natrum, Calcium, Chrom, Wasserstoff und noch mehrerer anderer irdischer Stoffe nachweisen konnte. Allerdings bleibt noch eine große Anzahl von Linien übrig, für die man noch keine Stoffe aufgefunden hat. Es ist deshalb wohl möglich, daß die Gasumhüllung unseres Centralkörpers chemische Elemente enthält, welche wir nicht kennen, wie es umgekehrt hier solche giebt, die dort sicher nicht vorkommen. Dieses gilt z. B. von Silber, Quecksilber, Zinn, Blei und Arsen. Das Vorhandensein von Golddämpfen aber ist noch zweifelhaft. Damit ist indeß keineswegs behauptet, daß diese letzteren Stoffe auf der Sonne überhaupt nicht vorkämen. Sie könnten sehr wohl im leuchtenden Kerne eingebettet liegen, der uns Strahlen zusendet, welche im Spectroskop keine Linien hervorbringen. Aber allein schon die Thatsache, daß überhaupt der Mutterkörper unseres Weltsystems zum großen Theile aus Stoffen aufgebaut ist, die uns wohlbekannt sind und auch unsere Erde formen, ist gewiß von dem größten Interesse. Ist doch damit ein neuer Beweis für die nun allgemein anerkannte Weltbildungstheorie von Kant und Laplace gegeben, wonach sich bekanntlich alle Planeten einstmals als Ringe vom Aequator der Sonne losgelöst haben, also als Stücke derselben keine vorwiegend verschiedene chemische Zusammensetzung aufweisen können.

Nachdem man einmal die wunderbaren Eigenschaften des Spectroskops kannte, war es natürlich, daß man durch seine Vermittelung auch andere astronomische Objecte um ihre chemische Constitution befragte. Indem man sich in diesem Sinne an die Planeten wandte und ihr Licht prismatisch analysirte, durfte man im Voraus erwarten, daß ihr Spectrum von dem der Sonne kaum merklich verschieden sein werde, weil ihr Licht nur ein von der Sonne geborgtes ist. Dies bestätigte sich in der That. Da sie aber kein ganz genau mit der letzteren identisches Spectrum zeigten, so folgte daraus mit Nothwendigkeit, daß die Sonnenstrahlen auf ihrem Umwege über die Planeten zu uns auf neue Gase stoßen, welche nur in den Atmosphären der betreffenden Planeten selbst gesucht werden können, da der Weltraum nur Welt-Aether enthält, der das Spectrum nicht modificirt. Das specielle Studium der Planeten-Spectra, mit welchen sich in jüngster Zeit namentlich Dr. Vogel auf der vortrefflich ausgestatteten Sternwarte zu Bothkamp verdiente Ehre erworben, ergab, daß besonders die Dunsthüllen der inneren Planeten Mercur, Venus und Mars der Erd-Atmosphäre sehr ähnlich sein müssen. Vorzüglich in denen von Venus und Mars ist Wasserdampf als vorhanden anzunehmen, eine sehr wichtige Wahrnehmung, weil sie den Schluß berechtigt, daß dieser sich aus auf der Oberfläche dieser Planeten befindlichen Wasserbecken, das heißt Meeren, entwickelt haben muß. Daß auf der Oberfläche des Mars Wasser existirt, welches sich zur Zeit des Winters einer seiner Halbkugeln in Eis verwandelt, hatte man schon allein mit Hülfe des Teleskops augenscheinlich bemerkt, indem man in der Gegend seiner Pole heller leuchtende Flecken [824] sah, die sich je nach dem Stande der Sonne für die betreffenden Zonen des Mars vergrößerten oder verkleinerten. Das Spectroskop hat also auch diese teleskopische Wahrnehmung bestätigen können.

Die äußeren Planeten, Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun, welche überhaupt eine charakteristisch von den inneren Wandelsternen verschiedene Gruppe bilden, weichen auch bei spectroskopischer Untersuchung von diesen ab. Sicher sind allerdings auch sie von Atmosphären umgeben, in welchen Wasserdampf schwebt, wovon man zwar den zu weit entfernten Neptun deshalb ausnehmen muß, weil sein schwaches Licht im Spectrum keine Linien mehr hervortreten läßt, aus deren Position man nähere Schlüsse hätte ziehen können. Charakteristisch für das Spectrum der drei übrigen Planeten ist ein breites, dunkles Band, welches die rothe Farbe durchschneidet und nicht im Spectrum der Sonne oder unserer Atmosphäre erscheint. Dieses deutet darauf hin, daß die Dunsthüllen dieser Planeten entweder chemisch von der unsrigen verschieden sind, oder daß diese Abweichung durch einen bedeutend größeren Druck, der auf diesen Gasschichten lasten muß, hervorgebracht wird.

Genug, daß wir durch das Prisma von einer allgemein befolgten Norm überzeugt wurden, nach welcher die alles Leben erhaltenden Dunsthüllen der größeren wie kleineren Collegen unserer Erde eingerichtet sind. Hierauf gestützt, erscheint die Behauptung kaum mehr als eine kühne, welche ausspricht, daß auch jene Weltkörper von ähnlich organisirten Wesen bewohnt sein müssen oder doch einstmals bewohnt waren, wie die der Erde. –

Das Gesagte, wenngleich es nur ein sehr lückenhaftes Resumé der Resultate der spectroskopischen Untersuchungen unseres Sonnensystems ist, mag dennoch genügen, um Ihnen die große Wichtigkeit dieses Instrumentes vor Augen zu stellen und Sie mit den Gelehrten dieses neuen Feldes der großen Naturwissenschaft die Ueberzeugung gewinnen zu lassen, daß von ihm noch viele der bedeutungsvollsten Räthsel am Himmel werden gelöst werden. Bewunderungswürdigere Erfolge noch, als die oben kurz geschilderten, hat die Analyse der Fixsterne errungen, von welchen ich Ihnen, wie schon oben bemerkt, erst in einem folgenden Aufsatze Einiges erläutern kann.




Weihnachtsfeier in Australien.
Von Theodor Müller.


Zu Weihnachten des Jahres 1850 leuchtete in Melbourne der erste deutsche Weihnachtsbaum, entzündet von deutschen Männern, denen Engländer dazu freundlich die Hand geboten. Von den deutschen Männern aber, die den ersten deutschen Christbaum unter dem Himmel des südlichen Kreuzes aufrichteten, darf der Name Anton Markert’s aus Dresden nicht vergessen werden. Entzückt und schweigend standen die englischen Gäste, und unter ihnen selbst der Gouverneur der Colonie, vor der neuen Erscheinung und blickten in die Flammen und sahen den Jubel der reichbeschenkten Kinder, und wärmten ihre Herzen daran, denn sie erkannten plötzlich den ihnen bis jetzt fremdgebliebenen deutscher Geist. Dieser erste Christbaum leuchtete nicht vergeblich, er ergoß seine Strahlen weit hin, und wenn er auch nicht jährlich brannte, so hatte er doch das deutsche Element gehoben, Vereinigung gefördert und der englischen Mitcolonisten Sympathie geweckt.

Hinübergeführt in diese neue Welt war unser alter Weihnachtsbaum aber erst durch die Revolutionen der Jahre 1848 und 1849 geworden; sie warfen ein anderes und größeres Contingent Deutscher nach Australien, als früher je geschehen. Während bisher nur fromme Secten und einzelne Arbeiter und kleine Landbauer aus Deutschland eingewandert waren, die nicht vermochten den Deutschen emporzubringen, landeten damals intelligente, muthige deutsche Männer aus allen Lebensstellungen, die sich nicht scheuten, sich jeder Arbeit zu unterziehen, den härtesten Entbehrungen und Drangsalen die Stirn zu bieten, um als freie Bürger einer freien Erde dazustehen. Dazu brachten sie das Gefühl der Zusammengehörgkeit mit, das Gefühl eben, welches zu jener Zeit als Hochverrath in der Heimath galt und welches die Geißel wurde, die sie hinauspeitschte. Dies waren die eigentlichen deutschen Pioniere, die dem deutschen Namen die Erde lockerten, daß er wachsen und reifen konnte. Viele mußten sofort hinaus in die Wildniß, um auf ferngelegenen einsamen Stationen vorerst ihr Dasein zu fristen; diejenigen aber, welche Unterkommen in der Stadt fanden (denn Städte gab es dazumal in Victoria noch nicht), traten zusammen, gründeten einen deutschen Verein, sammelten Mittel zur Unterstützung weiterer deutscher Ankömmlinge, und sie waren es dann auch, die einen riesigen Christbaum zum Besten armer Kinder schmückten. Wahrhaftig, nur der weiß es, der lange Jahre in weiter Ferne geweilt, daß Weihnacht mehr als jedes andere Fest die Sehnsucht zur Heimath heraufbeschwört und stilles Heimweh in seinem Gefolge führt, das nur durch rechte und echte liebe alte deutsche Feier des herrlichsten Herzens- und Glaubensfestes gemildert wird.

Ehe diese deutsche Feier bis zu unseren Antipoden vorgedrungen war, hatte sie bei den civilisirten Bewohnern Australiens durchweg eine andere, den englischen Christfestsitten und den klimatischen Anforderungen gleicherweise Rechnung tragende Gestalt. Der deutsche Einwanderer muß sich nämlich erst klar werden, wo er ist, ehe er sich überreden kann: es ist Weihnacht! Vor einem kurzen Jahre noch lagen zu dieser Zeit Flur und Wald im Schnee vergraben, mächtige Krystalle hingen vom Dache seiner Hütte herab und wunderliche Eisblumen bedeckten seine Fenster. Das war in der Heimath. Hier glüht, blüht und duftet es!

Der Engländer nimmt die Gewohnheiten seines Lebens mit in die Welt hinaus. Roastbeef und Pudding, die zwei Hauptbedingungen seines Weihnachtsfestes, fehlen niemals, und Kirchegehen und Schmausen wechseln mit einander ab. Der zweite Weihnachtstag, der sogenannte Boxing-day (box gleich Kistchen, Schachtel) ist der hervortretende Freudentag, da an diesem Tage sich Alles Geschenke zuschickt, was sich liebt oder zu lieben vorgiebt.

In der Hauptsache bleibt sich der Engländer in der Feier dieses Festes auch in Australien gleich, aber statt wie daheim beim behaglichen Kaminfeuer zu verweilen und durch die angelaufenen Fensterscheiben in den nebligen, dämmerungsartigen Tag zu blicken, ruft ihn hier die strahlende Sonne, die blühende Natur, die summende Käferwelt in’s Freie, und er verläßt die erhitzten Räume und flieht hinaus, wo schattiges Dunkel und wohlthuende Kühle ihn umgiebt. Aus diesem Grunde hört Weihnachten auf, ein häusliches Fest zu sein – es wird ein Sommerfest, ein Johannisfest der Antipoden.

Welche reizenden bunten Bilder würden unsere Augen bezaubern, könnten wir aus der Vogelperspective das bunte Leben und Treiben an diesem Feste, besonders des zweiten Tages, beobachten, da dies aber nicht möglich, so wollen wir die Freuden dieses Tages in einzelnen Bildern genießen und nehmen zum Schauplatze unserer Beobachtungen wiederum Melbourne, die stolze Metropolis Victorias.

Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag. Die Sonne geht glühend auf, so dunkelglühend, daß wir, indem sie sich über den Horizont erhebt, ungeblendet in ihre feurige Scheibe blicken können. Dies verspricht einen sehr heißen Tag, a smoking-day, wie der Australier ihn benennt. Bald aber wird sie heller, strahlender, flammender, sie saugt die Kühle des Morgens schnell auf und läßt uns ihre brennenden Pfeile fühlen.

Nun werden die Straßen belebt. Fuhrwerke aller Art, vom gewöhnlichen Fabrikskarren bis zum feinsten Gig oder Phaeton, bevölkern sich mit lustigen, lebensfrohen Wesen, deren heitere Gesichter und fröhliches Gelächter verkünden, daß sie diesen Tag zur Freude bestimmt haben und kein Mißton dieselbe stören soll. Reisetaschen, Kistchen, Körbe und Schachteln, die nöthigen Speisen und Getränke enthaltend, werden vorn und hinten, wohl auch zwischen d’rein gestopft und endlich, nach vielem Busteln und Scherzen ertönt die gewöhnliche Frage: „All on board?“ (Alles herein?) und fort geht es dem Ziele entgegen. Das ist ein Kreuzen, ein Wirrwarr von Gefährten, dazwischen Reiter und Reiterinnen, die nicht allein, sondern deren Pferde selbst coquettiren. [825] „Merry Christmas! Merry Christmas!“ (fröhliche Weihnacht) schallt es hin und zurück, überall grüßend, lachend, scherzend, wie eine fröhliche Kinderschaar.

Außerhalb der Stadt sieht man auf allen Straßen Wagen an Wagen, Trupps von Reitern und Reiterinnen in langen Zügen, oft vom aufwirbelnden Staube verhüllt; sie eilen nach verschiedenen Richtungen den schönsten Plätzen der schönen Umgebung Melbournes zu. Ein ebenso lustiges, buntes Treiben gewahrt man auf der schönen Yarra-Yarra, der „Immerfließenden“. Boote aller Art, mit bunten Wimpeln und Flaggen, bevölkern dieselbe, denn Hunderte benutzen den schattigen, kühlen Wasserlauf, um weiter oben, an reizenden Picknickplätzen unter Melaleucen und Eucalypten mit der größeren Gesellschaft wieder zusammen zur treffen. Lange Eisenbahnzüge mit Tausenden kommen von oder gehen nach entfernten Stationen, besonders aber nach den lieblichen See- und Badeplätzen St. Kilda und Brighton.

In der Stadt ist es jetzt sehr öde geworden, kehren wir daher nicht zurück, sondern besuchen wir einen der verschiedenen Picknicksplätze. Verschiedene Gruppen lagern auf dem weichen Grunde, blendend weiße Tücher sind ausgebreitet, darauf alle möglichen Speisen servirt. Dutzende von Flaschen, deren Etiquetten Porter, Ale und verschiedene Weinsorten bezeichnen, und die zum Theil schon geleert, als „todte Männer“ bei Seite geworfen sind, verrathen, daß man sich hier schon gütlich gethan. Wir treten näher, und obgleich wir Fremde sind, geniren wir uns durchaus nicht und entbieten unser „merry Christmas“.

Das ist die Parole des Tages. Ha, wie das zündet! „Merry Christmas!“ ruft man von allen Seiten uns zu, Hände und gefüllte Gläser bieten sich uns dar, und in der kürzesten Zeit fühlen wir uns heimisch, essen und trinken, lachen und scherzen, treten mit in das Spiel ein: „Kiss in the ring“ (küssen im Ring) und drücken die süße Spende auf manchen lieblichen Mund, der sich zu einer andern Zeit vielleicht schmollend von uns abwenden würde, oder wir engagiren zu einem Tanze nach den Tönen einer Harmonika und einer Violine. Zu diesem Freudentaumel in der Waldeinsamkeit kreischen Kakadus und Papageien, schillernde Eidechsen blicken mit ihren klugen Augen verwundert aus verborgenen Schlupfwinkeln und ein Feind des Menschen, eine Schlange, zieht sich scheu zurück vor solchem Jubel, den sie wohl leicht in Trauer verwandeln könne, hätte die gütige Gottheit ihr nicht die Feigheit als Erbtheil gegeben.

Und solche Bilder wiederholen sich an tausend Orten, bunt und wechselnd, wie es die Umgebung mit sich bringt. Am Seegestade waten die Kleinen im Wasser und jauchzen hoch auf, wenn eine flache Welle weiter hereinschwillt und sie höher benetzt, Andere fischen im krystallenen Seewasser prächtige Algen, noch Andere sammeln Muscheln oder bauen vom glänzenden Seesande Dämme, Burgen und Brücken, während auf höheren Stellen des Meeresufers zwischen Melaleucen und Leptospermen sich ein ähnliches Bild entwickelt wie das vorher geschilderte. Von hier aus aber schweift der Blick über das blaue glänzende Meer, tausendfach belebt durch Boote und Segel.

Aber auch andere Vergnügungen giebt es noch an diesem Tage für Solche, die weniger Sinn für reizende Picknicks haben. Hierzu gehören Races, Regattas und Manöver. Auch sie ziehen Tausende an, besonders die Bewohner der Inlandstädte, die massenhaft an solchen Tagen nach der Hauptstadt eilen, um den großartigeren Festen derselben beizuwohnen.

Dies ist eine kurze, aber treue Skizze der Weihnachtsfeier Australiens, in welcher sich alle Nationen, die auf jener Erde weilen, vereinen, um gleich beizutragen zur Freude und Lust dieses Tages. Aber der Weihnachtsbaum, der deutsche, mit seinem Schmucke und seinen Lichtern, brachte doch erst die rechte Feier in das neue Land, und er gedieh und breitete sich mächtig aus in dem frischen Boden freien Volkslebens.

Selbst ein solcher Herzensherrlichkeit nicht ungefährliches Ereigniß brachte ihm keine dauernde Störung. Die Goldfelder brachen aus, alle Verhältnisse lösten sich und eine Zerstreuung begann, als wenn ein Wirbelwind Alles in die Lüfte führte. Lange Jahre dauerte es, ehe ein ruhigeres Wiederfinden und Zusammentreten, besonders an den Goldfeldern, eintrat, und erst im Jahre 1857 gelang es Schreiber dieses mit einigen Anderen nach vielen Mühen und Opfern, an den Goldfeldern deutsche Vereine zu gegenseitigem Schutze und brüderlicher Unterstützung zu gründen, um unabhängig von den englischen Colonisten dazustehen. Jetzt leuchteten auch die Christbäume, unter großem Zudrang und Jubel der englischen Bevölkerung, an den Goldfeldern, und die deutschen Feste sind es geblieben, die sich der größten Sympathie und der regsten Betheiligung der Engländer erfreuen.

So ist auch seit 1860 das Picknick des deutschen Turnvereins zu Melbourne an jedem zweiten Weihnachtsfeiertage ein hervortretender Punkt unter diesen Festivitäten. Mittags ziehen die Turner mit Musik und wehenden Fahnen von ihrer Halle hinaus nach ihrem Picknickplatze an dem schattigen Ufer der Yarra-Yarra, stürmisch begrüßt von den Tausenden der bereits wartenden deutschen und englischen Freunde. Hier erheben sich Flaggen und Wimpel, Reck, Barren, Ringlauf, Klettermast, Sprungapparate, kurz alles nöthige Turngeräth zu einem Schauturnen. Ein geschmücktes riesiges Refreshments-Zelt mit einem seine ganze Länge durchschneidenden Büffet ist den colossalen Anforderungen des Tages gewachsen.

Da ertönt deutscher Männergesang, die Liedertafel ist zusammengetreten. Alles schweigt – Alles lauscht:

„Deutschland, Deutschland über Alles,
Ueber Alles auf der Welt.“

braust es dahin auf fremder Erde, und

„Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch da droben?“

tönt es in die Wipfel uralter Eucalypten. Könnt Ihr ahnen, was da das deutsche Herz empfindet? –

Hierauf beginnt das Turnen, wechselnd mit weiterer Gesängen. Weiter ab spielt ein gutes Musikcorps zum frohen Tanz auf und lustig schweben die Paare auf dem Rasen dahin, und dies bei fünfunddreißig bis vierzig Grad Réaumur.

Dieser Jubel hält an bis Abends, wo in der großen Turnhalle oder einem sonstigen Saale ein solenner Ball und ein flammender riesiger Christbaum, dessen massenhafte Gaben verloost werden, das Fest beschließt, dessen Ende die neue Sonne begrüßt.

Die Engländer lieben die deutschen Feste sehr und gestehen, daß sie Derartiges nicht zu arrangiren verstehen. Besonders aber ist es der Geist, die ungetrübte Heiterkeit und Herzlichkeit, die bei denselben waltet, ohne jegliche Störung. Der Deutsche feiert eben sein schönes Weihnachtsfest in dem Gefühle der Vereinigung auf ferner, fremder Erde.

„Ihr Deutschen seid ein sonderbares Volk,“ sagte einst ein gebildeter Engländer bei solcher Gelegenheit zu mir, „je länger Ihr jubelt, je liebenswürdiger und heiterer werdet Ihr; wir boxen uns gewöhnlich zuletzt.“

Giebt es ein besseres Lob?

Aber der Weihnachtsmorgen bricht auch für Solche an, die einsam auf fernen Stationen, von aller Gesellschaft abgeschnitten, ihren Heerden folgen oder, von Station zu Station wandernd, oft den härtesten Entbehrungen ausgesetzt sind. – Solche Weihnacht ist auch über mich ergangen.

Ich war den ganzen Tag in glühender Hitze gewandert, um womöglich Abends noch eine gastliche Hütte zu erreichen, welche im Lande oft Tagereisen auseinander lagen. Weg und Stege gab es nicht, man mußte die auf letzter Station angegebene Richtung streng beibehalten, oder im günstigen Falle, wenn man einen Fluß als Führer hatte, denselben in allen seinen Schlangenwindungen verfolgen, um ihn nicht bei einer scharfen Wendung zu verlieren. Ich freute mich auf eine Tasse Thee, ein Stück Damper (in Asche gebackenes Buschbrod) und ein Stück saftigen Fleisches. Aber es dunkelte mehr und mehr und kein Anzeichen einer Hütte erschien, und obgleich ich den weitdringenden gebräuchlichen Hülferuf „Coo-eh!“ in die Ferne sandte, das Todesschweigen der Wildniß wurde durch keine Antwort unterbrochen.

Da war es Zeit, innezuhalten, um nicht in der Finsterniß eine falsche Richtung einzuschlagen, die oft verderblich werden kann. Ich warf mein Bündel ab, häufte Holz zusammen, was überall trocken in Massen umherlag, zündete Feuer an, daß die Flammen bald mächtig emporloderten, kaute zur Stärkung etwas Thee, da Wasser nirgends vorhanden, und rauchte dann ein Pfeifchen Tabak.

[826] “Heiliger Abend! In der Heimath brennen die Christbäume!“ dachte ich, und was ich noch mehr dachte, davon braucht’s keiner Meldung.

Das Feuer brannte nieder, ich warf noch etwas Holz nach, breitete meine Decken aus, legte mich auf den harten Waldgrund nieder und blickte nach oben. Dort aber, über den dunkeln Wipfeln der Bäume, flammte es wie tausend Sonnen am dunkelblauen Firmamente, das südliche Kreuz stand hoch über mir und seine Strahlen fielen senkrecht herab in die einsame Waldesnacht. Die Heimathssehnsucht löste sich wie eine Rinde vom Herzen und gab dem neu erwachten Gefühle frommen Vertrauens Raum. Ich stand auf, und beim Scheine des Feuers schrieb ich in mein Tagebuch:

     „Heiliger Abend 1851.

Du fragst nach Deinem Weihnachtsbaum? –
So sieh ihn denn dort oben,
Dort in des Himmels dunkeln Raum
Gar golden eingewoben.

Das ist Dein Baum von Gott geschmückt,
Er strahlt und flammt so heiter!
So lang’ noch der Dein Aug’ entzückt.
Was willst Du, Mensch, noch weiter?“

So und ähnlich wird Mancher noch seine Weihnacht feiern auf fremder Erde; möge die Heimath nur Jedem, der wieder zu ihr zurrückkehrt, einen Theil des Wehs und der Sorgen vergelten, die er ihrethalben in treuer Liebe getragen.




Griseldis.
Eine Frauenstudie.

Im Reiche der Schmerzen ist die Frau allzeit Königin gewesen. Im Leiden und Dulden hat’s ihr der Mann nie gleich gethan. Ihm ist auch diese Kraft und zugleich Schwäche des Weibes nicht entgangen. Sein Egoismus hat sich dieselbe oft genug zu Nutze gemacht. Das lange Magdethum der Frau in ihrer gesellschaftlichen Stellung beruht wesentlich mit auf dieser Erkenntniß. Am stärksten aber prägte sich jene Selbstopferung des Weibes immer dann aus, wenn zwischen ihr und dem Manne die Liebe stand. Um ihrer Liebe willen hat die Frau das Höchste gethan, das Tiefste erlitten. Die schaffende und nachbildende Kunst hat diesen Duldersinn des Weibes vielfach ausgebeutet. Sie hat das Thema auf das Mannigfachste variirt, am schärfsten aber hat sie es ausgebildet, auf’s Aeußerste hat sie es gesteigert in der durch die ganze literarische Welt hin verbreiteten Geschichte der Griseldis.

Wer zählt die Thränen, welche in mehreren Jahrhunderten ihr geflossen sind, der rührenden Geschichte dieser treuen Dulderin, mag sie sich nun wiedergegeben haben auf alten vergilbten Blättern „gedruckt in diesem Jahr“, oder gefaßt in zierliche Reime in der Form des Epos, der Ballade und Novelle, oder in greiflicher Gestaltung auf den weltbedeutenden Bretern. Denn auch Griseldis hat, wie alle zu einem gewissen Classentypus herangewachsenen Figuren, im Laufe ihrer Wanderung durch die Völker und Zeiten, durch die Köpfe der Poeten gar manche Wandlung erfahren, und gerade in neuerer Zeit hat ihr die umbildende Hand eines geachteten Dramatikers ein eigenartig schillerndes, ziemlich modernes Kleid umgeworfen, gar sehr im Gegensatze zu dem altmodischen Schnitte, den sie in den Tagen ihrer ersten Kindheit trug.

In das Gewand der Schrift kleidete sie zuerst Boccaccio in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. „Griselda“ ist die letzte der Erzählungen seines Decamerone. Der gewandte Erzähler legt hier das faurnische Satyrgesicht, das aus den meisten seiner andern Geschichten hervorlugt, in durchaus ernste und gemessene Falten. Die Geschichte des Markgrafen Gualtieri und seiner Griselda beruht aber nicht auf seiner eigenen Erfindung, vielmehr folgte der Dichter, wie bei den meisten seiner Novellen, auch hier mündlichen Ueberlieferungen. Dies geht aus einem Briefe Petrarca’s an ihn deutlich hervor.

Hat Griseldis mit ihrem Schicksale, so fragen wir zuerst, wirklich existirt? Der Augustinermönch Jacobus Philippus von Bergamo im fünfzehnten Jahrhundert erwähnt in seinem Buche von bösen und ausgezeichneten Frauen ihrer als einer wirklichen geschichtlichen Person, ohne indeß die Zeit ihres Lebens angeben zu können. Auch der etwas spätere Foresti kann diese Zeit nicht feststellen, obwohl auch er an ihre Existenz glaubt. Bouchet in seinen Annalen von Aquitanien setzt ihr Leben in die Zeit um das Jahr 1025. Auch Nogouiers will in seiner Geschichte von Toulouse wissen, daß Griseldis während der Regierungszeit des Grafen Raimund des Ersten von Toulouse, im Anfange des elften Jahrhunderts als Frau des Grafen Walter von Saluzzo gelebt habe und als ein Spiegel von Geduld und Erniedrigung von verschiedenen Schriftstellern verherrlicht worden sei. Beide Schriftsteller gehören aber bereits dem sechszehnten Jahrhunderte an und mögen wohl erst durch Boccaccio und dessen Nachfolger von Griseldis Kunde erhalten haben. Markgrafen von Saluzzo, einem Landstriche im Piemontesischen, haben in der That mehrere Jahrhunderte lang bis hinein in das sechszehnte existirt, aber die Geschichte ihres Hauses weiß strenger Forschung nach von einem Grafen Walter und dessen Frau Griseldis nichts zu erzählen. Immerhin aber bliebe es möglich, daß doch unter diesen Markgrafen einer eine unstandesmäßige Heirath geschlossen und die nachdichtende Zeit dieses vielleicht an sich ganz einfache Verhältniß mit allerlei phantastischen Zuthaten versehen habe. Allen sagenhaften Volksüberlieferungen liegt doch meist irgend ein wahrer Kern zu Grunde.

Die Sagenbücher des Mittelalters behandeln überdies das Thema von der treuen Liebe und der ausharrenden Geduld des Weibes mit besonderer Vorliebe. Da ist die Geschichte von der treuen unschuldig leidenden Genoveva; von der gleichfalls der Untreue falsch beschuldigten und in’s Elend gestoßenen Dusolina, der Gemahlin Kaiser Octavian’s; von der Herzogin Hirlanda, einem gleichen Opfer verleumdeter Unschuld; von der schönen Magellone, welche ein widriges Geschick von Peter von Arragonien, zu dem sie sich kaum in Liebe gefunden, trennt bis zu endlicher Wiedervereinigung; von der Königstochter Bertha von Ungarn, welche eine ränkevolle Amme um den rechtmäßigen Besitz des ihr bestimmten Gemahls Pipin von Frankreich bringt, bis die Treulosigkeit an den Tag kommt und die still ausharrende Liebe den Sieg gewinnt.

Da ist die Geschichte von Pontus und Sidonia, die sich keusche Liebe geloben und diese trotz Anfechtung und Gelegenheit bis hinein in die Nacht des Kerkers bewahren. Da ist weiter der französische Roman von der treuen „Esche“, deren Verbindung mit dem geliebten Ritter Bruon ihre unbekannte Herkunft hindernd entgegensteht und die es dann in selbstloser Liebe geschehen läßt, daß der Ritter auf Drängen seiner Unterthanen eine ebenbürtige Braut nimmt, welcher sie neidlos die Hochzeit bereitet, bis noch in letzter Stunde an der Schwelle des Brautbettes ihre adlige Geburt sich enthüllt und sie mit dem Geliebten sich vereinigen kann. Hier bleibt das damals so tief eingewurzelte Standesvorrecht gewahrt, während in Griseldis es von der Liebe überwunden wird.

Boccaccio giebt unsere Geschichte noch einfach, nüchtern, ohne tiefere Motivirung, so als ob sich das Alles von selbst verstände. Gualtieri, Markgraf von Saluzzo, hat seine Zeit mit Jagd und Vogelfang zugebracht, ohne an’s Heirathen zu denken, ein Entschluß, der in Boccaccio’s Augen für sehr weise gilt. Seine Unterthanen drängen ihn indeß lebhaft zur Eingehung einer Ehe; sie wollen ihm sogar die Braut selbst besorgen. Das will sich Gualtieri aber doch nicht nehmen lassen, er verlangt nur, daß sie seiner Wahl sich willenlos fügen. Er kennt auch bereits ein schönes Bauernmädchen, Griselda, das heimlich sein Gefallen erregte. Diese beschließt er zu wählen, weil denn einmal geheirathet sein muß. Er läßt ihren Vater kommen und verkündet ihm seinen Entschluß. Dann zieht er mit den Freunden aus, die Braut abzuholen. Er trifft sie am Brunnen beim Wasserschöpfen, geht in’s Haus, um nochmals beim Vater um sie zu werben, und läßt sich von Griselda versprechen, daß sie sich jederzeit in seinen Willen ergeben und über nichts murren [827] wolle, was er auch beginne. Dann setzt er ihr den Brautkranz auf und stellt sie dem verwunderten Gefolge vor. Sie wird festlich geschmückt und die Hochzeit feierlich begangen. Griselda findet sich vortrefflich in die neuen Verhältnisse. Beide Gatten leben glücklich. Erst als sie eine Tochter gebar, gerieth Gualtieri, wie es in der Erzählung heißt, auf den sonderbaren Einfall, die Demuth seiner Gemahlin zu prüfen. Er spiegelt ihr vor, das Volk sei unzufrieden, weil es kein Sohn sei, den sie ihm geschenkt habe. Dann läßt er durch einen Diener ihr das Kind so abfordern, daß sie glauben muß, es werde getödtet.

Nach einiger Zeit gebiert Griselda einen Sohn. Hier wiederholt sich das Gleiche, nur daß der Graf sich jetzt darauf beruft, daß das Volk sich unwillig erweise über die Enkelschaft eines Bauern.

Nach etlichen Jahren, geht die Erzählung weiter, fand der Markgraf es an der Zeit, seinem Weibe auch die letzte Prüfung aufzulegen. Er verstößt unter dem Widerspruche der Freunde, welche Giselda längst sich gewann, die Gattin auf Grund eines falschen Scheidebriefes. Sie will gehen, so wie sie gekommen ist, und bittet demüthig nur um ein Hemd, ihre Blöße zu bedecken. Der versammelte Hof, die Freunde des Markgrafen, vor deren Augen die Verstoßung vor sich geht, bitten, er möge ihr wenigstens das Kleid schenken, das sie trüge. Diese Bitte war, wie es in der Erzählung heißt, vergeblich, und Griselda mußte, beweint von Allen, die sie sahen, barfuß und im bloßen Hemde das Schloß verlassen. Der Vater empfängt sie ohne Groll, ja selbst ohne Verwunderung. Er findet es ganz in der Ordnung, daß der hochgestellte Fürst das Kind eines hörigen Bauern wieder verläßt sobald es ihm gefällt. Er hat, dies voraussehend, auch Griseldens alte Kleider sorglich aufbewahrt.

Nach geraumer Zeit läßt der Markgraf verkünden, daß er wieder heirathen wolle, und läßt Griselden sagen, daß sie kommen möge, sein Haus zu säubern und zu putzen und die Ehren desselben zu vertreten. Nach der Hochzeit könne sie wieder gehen. Griselda folgt diesem tiefverletzenden Rufe. Sie empfängt trotz der Dürftigkeit ihrer Kleidung die neue Braut mit dem Anstande einer Dame. Auch hier erbitten die Damen des Hofes vergeblich für sie bessere Gewänder. Mit neidloser Demuth erkennt sie die Vorzüge der neuen Braut an, und nur eine einzige Herbe schleicht sich in ihre Rede, indem sie bittet, daß der Graf jener die Kränkungen nicht anthun möge, die er seiner ersten Gemahlin zugefügt habe, denn sie fürchtet, diese würde um ihrer Jugend und weichlicheren Erziehung willen sie nicht aushalten. Nun endlich glaubt Gualtieri, von der Geduld seiner Gemahlin genügende Beweise zu haben. Er zeigt ihr in der Braut die eigene, inzwischen herangewachsene Tochter und führt ihr auch den Sohn wieder zu. Und wie rechtfertigt er seine Handlungsweise ihr gegenüber? Einfach damit, daß er sagt, er habe sie lehren wollen, wie man sich als Frau betrage, und sich eine lebenslängliche gewisse Ueberzeugung von ihrer Treue verschaffen wollen. Griselda ist mit dieser Auflösung ganz zufrieden. Sie weint sogar vor Freude. Auch unter den anwesenden Höflingen und Unterthanen war die Freude allgemein. Man lobte zwar den Verstand des Markgrafen, hielt aber doch die der Griselda auferlegte Buße für etwas zu hart und bewunderte um so mehr deren Tugend. Beide Gatten leben nun noch viele Jahre in wahrhaftem Glücke.

Diese Novelle des Boccaccio übertrug nun in etwas veränderter Fassung dessen Freund und Zeitgenosse, der große Dichter der Liebe, Petrarca, in’s Lateinische, und diese Petrarca’sche Nachdichtung kam nach Deutschland, wurde von Heinrich Steinhörtel übersetzt und in dieser Uebersetzung unter dem Titel: „Dieß ist ein epistel Francisci petrarchi von großer stätigkeit einer frowen Grisel gehaissen 1471. bei Günther Zainer in Augsburg“ zum Volksbuche, das bis zum Jahre 1620 sechszehn Ausgaben erlebte. Petrarca machte aus der Griselda eine Griseldis, milderte die fast grausame Härte im Auftreten des Markgrafen vielfach und suchte durch längere Reden, die er den handelnden Personen in den Mund legte, deren Handlungsweise besser zu motiviren. In der zweiten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts erschienen in Deutschland wieder zwei neue Uebertragungen der Petrarca’schen Griseldis von dem gekrönten Poeten Fiedler von Reichenbach und dem Capuzinerpater Martinus von Cochem. Auch im achtzehnten Jahrhunderte erschien eine neue illustrirte Ausgabe als „anmuthige Historie von dem Markgrafen Walter, darinnen dessen Leben und Wandel und was sich mit ihm zugetragen, dem günstigen Leser kürzlich vor Augen gestellt wird, auf’s Neue mit schönen Figuren gezieret und verbessert. Gedruckt in diesem Jahr.“ Aus diesen verschiedenen Ausgaben setzen sich nun auch die neuerschienenen Volksbücher von O. Marbach, Simrock und G. Schwab zusammen.

Aber nicht blos in Deutschland wurde Griseldis heimisch, sie nahm auch ihren Weg nach Frankreich, Holland, England, Dänemark und Schweden, selbst bis in das ferne Eiland von Island.

In England goß sie schon dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Boccaccia’s „Decamerone“ Chaucer in Reime. Der Dichter kommt dabei zu der Schlußbemerkung, daß eine solche Demuth in Italien und auch sonst wohl nicht mehr vorkomme und es kaum räthlich erscheine, ein Eheweib so wie sie zu prüfen. Wer es versuche, dürfte wohl, statt des Sieges sich zu erfreuen, es zu spät bereuen. Wurde die Geschichte der Griseldis in England zur Ballade, so wurde sie in Spanien zur Romanze. In Frankreich bestieg sie schon am Ausgang des vierzehnten Jahrhunderts die Bühne. In Deutschland brachte sie Hans Sachs auf die Breter. Er läßt dieselbe in fünf Actus und mit dreizehn Personen getreu nach der Ueberlieferung sich nach einander abwickeln und ist dabei so wenig auf das Einheitsgesetz des Aristoteles bedacht, daß er den Markgrafen in einem Acte zweimal Kindtaufe halten läßt. In der Schlußmoral, ohne die es bei unserm braven Schuster nie abgeht, zieht derselbe aus der Geschichte drei beherzigenswerthe Lehren: Erstens sollen die Mütter ihre Töchter nicht zu zart, sondern arbeitsam in Häuslichkeit und Tugend erziehen, sollen ihren Starrsinn brechen, damit sie schon zeitig lernen im Stande der Ehe geduldig alles Wohl und Wehe zu tragen. Zweitens soll die Frau lernen unterthan sein dem Manne, weil der Mann des Weibes Haupt sei, wie’s Gott gebot im Anfange.

Denn durch ihre Geduld und Demuth,
Ueberwindet sie das Bös’ und Gut’
Und wird durch ihre gütige Geberd’
Dem Manne angenehm, lieb und werth.

Drittens soll aber auch der Mann sein Weib halten „schön“ und lieben wie seinen eigenen Leib, also daß zwischen Mann und Weib Fried’, Lieb’ und Treue aufwachs. Solches wünsche er, Hans Sachs.

Auch englische Dramatiker bemächtigten sich des Stoffes; nur der große Shakespeare, der die Boccaccio’schen Novellen sonst ziemlich stark benutzte, hat sich von demselben nicht begeistern lassen. Doch hat er in Cymbeline einen verwandten Stoff, dem auch das Thema der geprüften und verleumdeten Frauentreue zu Grunde liegt, nach der Boccaccio’schen Novelle „Frau Ginevra“ behandelt. Englische Komödianten führten die Komödie von der „geduldigen Grisill“ im siebenzehnten Jahrhundert in Deutschland an den Höfen von Dresden und Torgau auf.

Um dieselbe Zeit, nur etwas später, führte Perrault „Griseldis“ als gereimte Novelle den Pariserinnen vor. Er will sie, sagt er in den einleitenden Strophen, ihnen nur als Gegengift geben, sogar nur als Stoff zum Lachen, denn die „Patience“ sei keine Tugend der Damen von Paris, wohl aber hätten dieselben durch eine lange Uebung die Kenntniß erlangt, sie durch ihre eigenen Gatten ausüben zu lassen.

Perrault’s Marquis Walter ist ein Melancholiker, der alles Weibliche für treulos und betrügerisch hält und deshalb geschworen hat, nicht zu heirathen. Als man ihn zu bestimmen sucht, diesem Gelübde untreu zu werden, entwirft er eine nicht eben schmeichelhafte Schilderung der Frauennatur, zu der jedenfalls seine damaligen Landsmänninnen Modell gesessen haben. Wenn sie ihm Eine brächten, sagt er den Andrängern, die alle die Gebrechen der Anderen nicht besitze und vor allen Dingen keinen eigenen Willen habe, die wolle er heirathen. Sagt’s und geht zur Jagd. Da verirrt er sich, trifft auf eine junge Bäuerin und findet in ihr das geträumte Frauenideal. Nach der Hochzeit verfällt er wieder in die alte melancholische Stimmung. Die große Tugend seiner Frau wird ihm mit der Zeit geradezu lästig. Er hört auf Verleumder, beargwöhnt seine Frau, sperrt sie ein, hält sie ängstlich von der Welt und ihren Vergnügungen fern, nimmt ihr den Schmuck, den er ihr eben erst schenkte, wieder ab, und [828] quält sie auf alle Weise. Als sie ein Kind bekommt und mit diesem zärtlich thut, glaubt er, sie übertrage ihre Liebe ganz auf das Kind, und entzieht es ihr. Da sie es ohne Klage weggiebt, zweifelt er nun zwar nicht mehr an ihrer Liebe, gleichwohl will er sie von Neuem prüfen, diesmal, um der ganzen Welt ihre Güte, Milde und Weisheit zu offenbaren, also aus einer Art Egoismus der Eitelkeit. Der Ausgang ist dann der frühere. Hier ist die Geschichte schon in eine sehr moderne Beleuchtung gerückt und psychologisch wahrscheinlicher gemacht!

Auch Ludwig Heinrich Nicolay setzt in seiner Ballade „Griselde“ (1810) die arme Dulderin den gleichen Quälereien eines mißtrauischen und mürrischen Gatten aus. Die erste strengere Prüfung der jungen Frau besteht in dem Verbote, ihren alten Vater zu besuchen, dann folgt die Wegnahme der Tochter und die Verstoßung der Mutter. Diesmal motivirt der Graf – hier Anton genannt – sein Handeln damit, daß er sie verstoßen müsse, weil sie keinen Sohn bekomme. Die neue Braut ist dabei die Schwester des Grafen. Der alte Vater wird mit in’s Grafenschloß geholt, beide Gatten leben minniglich miteinander und der Himmel bescheert Griselden, zum Lohn für ihre Treue, den ausgebliebenen Sohn.

Inzwischen war auch die arme Dulderin in Musik gesetzt worden, in einem Melodram von Zeno und einer Oper von Paer.

Eine neue Metamorphose mit reicher dichterischer Verklärung gewann dieselbe in dem bekannten dramatischen Gedichte von Halm, der sie zunächst in eine ganz andere romantisch-phantastische Atmosphäre rückte, indem er sie an den sagenhaften Hof des Königs Artus verlegte. Der zum Ritter Percival umgetaufte Markgraf Walter theilt mit dem Perrault’schen die schlimme Meinung von der Frauenwelt. Er ist aber kein Grillenfänger wie jener, sondern ein rauher Naturmensch, dem eben die Natur über Alles geht, auch im Weibe. Das ist’s, was ihn zur Griseldis, dem reinen und unverfälschtem Naturkinde, hingezogen hat. Er hat ihre treue Liebe schon vor dem Beginne der dramatischen Handlung einmal prüfen können, nicht in Folge eigenen Entschlusses, sondern bei einem durch den Zufall der Umstände herbeigeführten Conflicte. Sie hat, als gleichzeitig ihre Mutter im Sterben und ihr Gatte schwer verwundet darniederlagen, das Lager des Gatten nicht verlassen und jene ohne Abschied sterben lassen. Er lebt mit ihr nicht blos glücklich, er hat auch die höchste Meinung von ihr. Er schätzt sie über alle Frauen, und als er damit, daß er sie noch über die Königin stellt, diese selbst beleidigt, giebt diese die sühnenden Proben auf, die sonst als Ausflüsse von des Grafen eigener Entschließung erscheinen. Das Ganze spitzt sich dabei zu einer Art Wette zu, wie wir das ähnlich bei Nicolay finden. Walter-Percival sucht sich dann die Scrupel über sein Handeln, welche sich in seiner schlichten Seele denn doch einfinden, mit Sophismen hinwegzuphilosophiren, wie diese: Griseldis sei als sein Weib Fleisch von seinem Fleische, wer aber wolle es Jemand verwehren, in sein eigen Fleisch zu stoßen? Oder dem weit schwächeren: Ich prüfe mein Schlachtroß, meine Klinge, weshalb soll ich nicht mein Weib prüfen? Griseldis selbst macht es ihm hier weit schwerer, die Prüfung durchzuführen. Ihre Mutterliebe ist nahezu ebenso stark, wie ihre Liebe zum Gatten, und Percival muß schon hohe Trümpfe ausspielen, muß die Gefahr seines eigenen Lebens vorspiegeln, ehe er das Kind von ihrem Herzen bringt.

Griseldens Vater ist auch nicht mehr der alte Janicula, der die Heimkehr der Tochter gleichgültig und wie selbstverständlich hinnimmt. Er empfängt sie, wie das schön bei Hans Sachs der Fall war, mit Groll und lautem Hohne. Sie habe Abgötterei mit ihrem Gatten getrieben, nun empfange sie ihren Lohn. „Du warst,“ schleudert er ihr entgegen, „nicht sein Gemahl, nur seine Dirne.“ Halm begnügt sich nicht mit zweien, er fügt steigernd noch eine dritte Probe hinzu. Er stellt die Arme noch vor die Alternative zu wählen zwischen dem Tode des Vaters oder dem des Gatten, eine Alternative, vor welche auch in der oben gedachten Erzählung „Pontus und Sidonia“ die Letztere sich gestellt sieht. Griseldens Liebe besteht auch noch diese Probe, was sie aber nicht mehr besteht, das ist die nunmehr kommende Entdeckung des mit ihr getriebenen Spiels. Noch meint Percival: Sie liebt mich, darum wird sie mir vergeben. Er täuscht sich tief, denn die Liebe leidet nur um Liebe, nicht aber um der Sättigung männlicher Eitelkeit Willen. Der Lorbeerkranz, den er ihr erstritten zu haben meint, ihr ist er ein Dornenkranz. Ihr Glaube ging verloren und nichts, auch nicht die heiligsten Versicherungen, die verheißendsten Betheuerungen bringen ihn wieder zurück. Sie scheidet sich von ihm. Er hat ihre Liebe für immer verscherzt.

Diese Lösung entspricht allein dem sittlichen Bewußtsein der Gegenwart, dem Geiste eines gebildeten Zeitalters. Freilich schneidet sie auch dem Griseldis-Thema seine fernere Existenzberechtigung ab. Die eigenthümliche Fortentwickelung, welche dasselbe im Laufe der Zeiten erlebt hat, fällt gleichsam zusammen mit der Fortentwickelung der socialen Stellung der Frau.

Die Entstehung der Griseldis Mythe oder ihre geschichtliche Existenz gehören oder müssen wohl einer Zeit angehören, wo die freie Entfaltung der Person überhaupt, namentlich aber der Person des Weibes noch im Banne einer künstlich geschaffenen Lebensordnung stand, wo der tiefe Stand zu dem höheren noch mit einem unterwürfigen Gehorsamsgefühle hinaufsah. Was Markgraf Walter da forderte, das war noch sein Recht. Schon zu Boccaccio’s Zeiten war wenigstens in den höheren Gesellschaftsschichten die Stellung der Frauen eine freiere geworden. Deshalb macht auch Dioneo, der einleitende Erzähler Boccaccio’s, die Bemerkung, daß der Markgraf es verdient habe, wenn die Sache schlimmer geendet habe. Auch Chaucer hält das Verfahren Walter’s, wie wir sahen, für ein Wagniß. Dagegen bestand in den bürgerlichen Kreisen, in welchen Hans Sachs lebte, noch die ältere Anschauung von der Unterthänigkeit des Weibes gegenüber dem Manne, wenn diesem auch ein liebendes Entgegenkommen noch nebenbei zur Pflicht gemacht wird. Besonders in Frankreich, in Paris vollzog sich eine freiere Basirung der Frau. Da konnte Markgraf Walter schon blos noch als melancholischer Grillenfänger und seine Handlungsweise als veraltetes Curiosum existiren. Als die socialen Revolutionen die alten Standesbegriffe mehr und mehr über den Haufen warfen, verfiel dieselbe geradezu dem moralischen Strafgerichte. Und doch konnte bei einer Aufführung der Halm’schen Griseldis in Tirol die dortige Landbevölkerung gegen den Ausgang des Dramas noch lebhaft protestiren und die Rückkehr der Griseldis zu ihrem Manne gebieterisch verlangen. So stark war dort im Volke noch die Macht des Alten.

Seit der Composition des Halm’schen Dramas sind weitere vierzig Jahre verflossen, Jahre des mächtigsten Fortschritts auf allen Gebieten, besonders auch in Bezug auf die sociale Stellung der Frau. Das Griseldis-Drama würde heutzutage kaum über den ersten Act hinauskommen. Darum ist die Liebe, auch die treue und aufopfernde, noch nicht aus der Welt hinausgestoßen, sie verlangt nur jetzt Maß für Maß, gleiches Maß für Beide.

Fr. Helbig.

Auch ein slavischer Agitator.
Ein verspäteter Nachruf.

Am 26. Mai ist zu Prag in der Hofwohnung eines kleinen Hauses einer Nebenstraße Franz Palazky, lange Jahre das Haupt der czechischen Partei, verschieden. Wenige Wochen zuvor hatten czechische Führer ein Jubelbankett veranstaltet, weil von Palazky’s großem böhmischem Geschichtswerke soeben der letzte Band erschienen war. Aber nicht diesem Anlasse galten Lärm und Geräusch des Festes, denn Palazky, der Historiker welcher mit unermüdlichem Fleiße die Archive Europas durchforscht hat, wäre niemals zu hervorragendem Ansehen bei seinen Stammesgenossen gelangt. Es liegt nicht in Art und Blut des czechischen Volkes, die nüchterne, mühsame Arbeit eines Gelehrtenlebens würdigen zu können. Palazky’s Ansehen war eine Frucht seiner politischen Thätigkeit, welche durch fünfzig Jahre währte und in ihren letzten Consequenzen die Wiederherstellung eines czechischen Reiches bezweckte. In den verschiedensten

[829]

Vor sechs Jahren bei Paris.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von unserem damaligen Feldmaler F. W. Heyne.




Zeitströmungen verstand es Palazky dieses Ziel anzustreben. Verhängnißvolle Irrthümer der Regierenden haben Palazky’s Bestrebungen gefördert. Sein mit jesuitischer Klugheit festgehaltener politischer Grundsatz, die höchsten idealen Güter um den Preis nationaler Zugeständnisse zu opfern, haben ihn zu einem Genossen und Helfershelfer der Reaction gemacht. So oft ihre Machtzeit wiederkehrte, war auch er im Vordergunde. Mit allen Verfassungssistirungen, welche die Geschichte Oesterreichs in den letzten Jahren wie Unglücksarabesken durchziehen, ist Palazky’s Name im Zusammenhange; den Verfassungsbruch hat er im Jahre 1848 wie später in unsern Tagen als Rettungsmittel für das Reich gepredigt, welchem er im Gegensatze zu seiner Culturmission die Aufgabe zumuthete, ein Hort slavischer Interessen in Europa zu werden. So mußte denn, als die Armseligkeit dieser Staatsweisheit durch die Ereignisse die fürchterlichste Verurtheilung fand, ihrem Urheber am Ende seiner Tage jede Aussicht auf Erfolg schwinden. Er starb verbittert über die „Einsichtslosigkeit der Menschen“, voll Hasses gegen seine politischen Gegner, ja auch gegen seine Stammesgenossen, von denen ein Theil den Ideen Palazky’s gegenüberstand.

Franz Palazky ist am 14. Juni 1798 zu Hotzendorf, einem Dorfe des Prerauer Kreises in Mähren, als der Sohn eines evangelischen Schullehrers geboren. Mit neun Jahren verließ er sein Vaterhaus. Er wurde nach Kumwald bei Neutitschein geschickt, um hier Deutsch zu lernen. Drei Jahre darauf übersiedelt er in das evangelische Lyceum von Preßburg. Ein Professor desselben, Palkovic, benutzt den befähigten Knaben als Schreiber, später sogar als Hülfsarbeiter bei der Redaction einer kleinen czechischen Zeitung. So gelangte Palazky in die unbedeutende czechische Literaturbewegung jener Tage, in welcher er bald eine hervorragende Rolle [830] spielen sollte. Mit einigen Abhandlungen erregt er bald darauf Aufmerksamkeit, und als er 1823 nach Prag übersiedelt, tritt er bereits als hervorragendes Mitglied in jenen Kreis czechischer Gelehrter, welcher es sich zur Aufgabe machte, durch literarisches Streben dafür Sorge zu tragen, daß der slavische Stamm in Böhmen nicht völlig aussterbe und in dem von allen Seiten andrängenden deutschen Culturelemente aufgehe. Diese Verbindung war keineswegs von imponirendem Eindrucke. An ihrer Spitze standen Jungmann, Schafarik, Hanka, Dobrowsky, Geistliche und kaiserlich-königliche Staatsbeamte, welche in scheinbar harmlosen linguistischen Spielereien, in unschuldigen Uebersetzungen oder höchstens Nachbildungen deutscher Richtung ihre schriftstellerische Aufgabe sahen. Die Regierung förderte das Streben. Sie, die in Frankfurt am deutschen Bundestisch mit ängstlicher Sorgfalt die deutsche Führerschaft bewachte, wollte in Oesterreich keine durchgängig deutsche Bevölkerung. Die deutsche Sprache sollte wohl die amtliche Sprache des Reiches sein, aber ein deutsches Volk, welches vom Riesengebirge bis zur Adria das Reich bewohnt hätte, schien den Machthabern jener Tage unbequem und gefährlich. Man sperrte die Grenze ängstlich ab, daß der deutsche Geist ja nicht eindringe, und man förderte die Stammesregungen der Nationen und Natiönchen, die inmitten der Deutschösterreicher die Bevölkerung der alten Erbländer bildeten. Die politischen Kämpfe unserer Tage, in welchen man so oft zu schwach gewesen, die nationalen Geister zu bannen, welche vor Jahren gerufen wurden, haben das Unglückselige dieser Politik in ernster Weise hervortreten lassen. In Prag legte sie zu Beginn der zwanziger Jahre den Grundstein zu Palazky’s Zukunft, denn auch er fand die Protection des Metternich’schen Regimes und fand sie selbst dann, als mit einem Male die czechische Literaturströmung eine andere Richtung nahm.

Der junge Historiker, der, um den Adel zu gewinnen, kleine Geschichtswerke über die Entwickelung böhmischer Adelsfamilien veröffentlichte, führte nämlich einen neuen Geist in die Kreise seiner slavischen Mitkämpfer. Dieser Geist war erfüllt vom Hasse gegen das Deutschthum. In Zukunft, so predigte Palazky, sollten die czechischen Werke getragen sein von dem Gedanken, daß die deutsche Cultur nur die Unterdrückung für das slavische Element in Oesterreich bedeute und daß es Rettung für den czechischen Stamm, der inmitten deutscher Erde gelegen sei und eine Art insularer Lage habe, nur dann gebe, wenn er sich selbstständig mache, statt in der Verbindung mit Deutschland eine Wechselbeziehung zu den übrigen slavischen Stämmen zu suchen. Daß diese minder cultivirt waren, schien Palazky nur von Vortheil. Die Czechen, erfüllt von deutscher Bildung, aber geistig tief unter den Deutschen stehend, hatten ja hierdurch Gelegenheit und Element zu einer Führerrolle. Die Keime des Panslavismus wurden gelegt. Unter den Augen der Wiener Machthaber ist dies geschehen. Ja mehr noch! Die Regierung schwieg, als Rußland die slavischen Geistesritter mit Orden und Hülfsgeldern lohnte; wie hätte auch der österreichische gefürstete Kanzler hierin einen Landesverrath erblicken können, er, welcher – allerdings nicht ohne kaiserliche Bewilligung – alljährlich eine Apanage von der Newa bezog!

Palazky’s Wirken blieb bei der Umwandlung der czechischen Literaturbestrebung nicht stehen. Sein deutschfeindliches Streben suchte weitere Erfolge. Das Museum, von einem Adeligen deutschen Geistes, vom Grafen Sternberg, dem Freunde Goethe’s, gegründet, wurde czechisirt; die Museumszeitung, deren Redaction man Palazky übertrug, wurde, gegen die Bestimmung ihrer Gründer, nur in czechischer Sprache publicirt und zum Mittelpunkte der Bestrebungen des rührigsten Agitators der Czechen gemacht. Die Stände, ohne Ahnung der Bedeutung derselben, bestellten Palazky zu ihrem Geschichtschreiber. Als solcher publicirte er 1836 den ersten Band seiner böhmischen Geschichte. In Deutschland, wo man, wie im böhmischen Ständesaale, nur das gelehrte Werk, nicht dessen Tendenz, beachtete, wurde das Buch des jungen Protestanten mit allen Ehren begrüßt. Ein evangelischer Historiker aus Oesterreich war eine neue, ja sympathische Erscheinung; war man doch nur zu sehr gewohnt, in diesem Lande nur eine clerikale Gilde von Geschichtsschreibern sich entwickeln zu sehen. Palazky dankt seinem Glauben, welcher ihn später nicht gehindert hat, sich bedingungslos dem clerikalen Heerbanne anzuschließen, ein gut Theil der Anerkennung, welche jene ersten geschichtlichen Veröffentlichungen in Deutschland gefunden. Zu lange hat dieselbe allerdings nicht gewährt. Schon in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre tönten warnende Stimmen vor dem fanatischen Geiste, welchen Palazky’s Schriften enthalten, und später enthüllte Hoffmann von Fallersleben die tendenziöse Weise, in welcher Palazky die Resultate seiner Forschung nützte. Waren sie den Deutschen günstig, so verschwieg er sie einfach. „Ein den Deutschen günstiges Actenstück existire einfach nicht für ihn,“ meinte er selbst.

Palazky, welcher anfangs ziemlich vorsichtig für seine Bestrebungen eintrat, konnte jetzt so muthig sein, dies deutlich auszusprechen. Der Kreis seiner Partei hatte sich nämlich im Laufe weniger Jahre mächtig erweitert. Das Literaturvölklein an der Moldau hat mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit ein Volk von Lesern geschaffen. Palazky’s agitatorisches Talent leistete Allen voran das Höchste. Ein Verein für Literaturzwecke, „matice“ (Bundeslade) benannt, wurde in’s Leben gerufen, um die Schriften der jungen czechischen Literaten zu ediren und zu verbreiten. Die Behörde verbot den Verein. Palazky’s Einfluß erwirkte Aufhebung des Verbotes. Von Haus zu Haus gingen Sammler, um Gelder für den Literaturverein zu fordern. In Dörfern und Städten wurden Concerte, Tanzkränzchen zu seinen Gunsten veranstaltet; in den Wirthshäusern predigten Sendboten, daß zum Vortheile der „matice“ ein „Bierkreuzer“ von jedem Tranke dem nationalen Zwecke geopfert werden solle. So verstand es ein für die Production wenig, für die Agitation desto reicher begabter Kopf binnen Kurzem, eine, wie es schien, todte Nation wieder zu erwecken und seinen politischer Plänen Tausende von Anhängern und Gläubigen zu sichern.

Nie wäre dies möglich gewesen, hätte Palazky nicht den niedrigsten nationalen Racenstandpunkt vertreten, hätte er nicht in Wort und Schrift dem Hasse gegen das den Besitz und die höhere Bildung Böhmens vertretende deutsche Element den entschiedensten Ausdruck gegeben. „Welch eine Nation!“ ruft er einmal aus, als er die Verbannung von Germanismen aus der Sprache seines Volkes empfiehlt, „sie hat für die zwei höchsten Begriffe keine selbstständige Bezeichnung. Der Deutsche muß Fremdwörter brauchen, wenn er von seiner Nation und seiner Religion sprechen will!“ Wie in dieser Bemerkung, hat es Palazky immer verstanden, dem gläubigen Sinne des Clerus zu schmeicheln. Als Lohn hierfür hat die Kirche von Pfarre zu Pfarre, von Kanzel zu Kanzel ein Heer von Agitatoren geschaffen, welche Mitstreiter bei dem nationalen Werke Palazky’s wurden. Aber auch den Adel wußte der rührige Volksbeleber für seine Zwecke zu gewinnen. Je kläglicher sich das nach den Schrecken der Schlacht am weißen Berge gewährte Ständerecht präsentirte, desto eindringlicher verstand es Palazky, den böhmischen Adelsgeschlechtern die Theorie mundgerecht zu machen, daß es doch ein Landesrecht gebe, ein Recht, welches dem Adel eine bevorzugte, ja, die erste Stelle sichere, falls er mitwirken wolle, daß die Selbstständigkeit Böhmens wiederhergestellt würde. Bis an sein Lebensende war Palazky bemüht, für dieses sogenannte Landesrecht zu kämpfen. Er hat ein Lügengewebe historischer Beweismittel ersonnen, um den Gedanken glaubhaft zu machen, daß die Armeen Bouquoi’s, des baierischen Maximilian und Tilly’s am weißen Berge die Selbstständigkeit Böhmens nicht in blutgetränkte Erde gestampft hätten, sondern daß jene Selbstständigkeit rechtmäßig in unseren Tagen wieder aufleben und die Herrschaft des czechischen Elementes über das deutsche im Lande ermöglichen müßte.

Als 1848 der „Völkerfrühling“ unter Wettern und Stürmen über Oesterreich kam, hatte Palazky erst nur einen Gedanken, daß die Selbstständigkeit Böhmens rechtlich neu begründet werden solle. Böhmen als Domäne seiner Stammesgenossen zu sehen, genügte ihm nicht mehr. Er wollte, daß aus dem Leibe des Reiches ein neuer Körper gerissen würde: die Länder der böhmischen Krone. Böhmen sollte mit Mähren und Schlesien vereint werden und in diesem neuen Gebiete sollten natürlich die Deutschen Amboß, die Czechen Hammer sein. Ein Stück nationalen Socialismus lag in dieser Politik, und die czechischen Massen theilten in ihren Träumen bereits Gut und Reichthum der vogelfrei gewordenen Deutschen. Um Palazky zu gewinnen und von seinen reichsgefährlichen Ideen abzubringen, bot man ihm ein Portefeuille in dem damaligen Ministerium Pillersdorf. Er ging nach Wien, um zu unterhandeln. Ein Aufschrei der Entrüstung empfing ihn. Er reiste bebend vor dem empörter Wiener Volksgeiste ab. [831] Muth war nie seine Sache gewesen. In seinem Ablehnungsschreiben glaubte er hervorheben zu sollen, daß man seine Ernennung zum Minister als eine Beleidigung der Deutschen in Oesterreich deuten möchte. In Prag fand Palazky seine Fassung bald wieder. Er agierte gegen die Wahlen für das Frankfurter Parlament, präsidirte dem Slavencongresse, protestirte gegen das Tragen deutscher Farben und publicirte Kundgebungen so feindlicher Sprache gegen die liberalen Deutschen und Ungarn, daß nach den Prager Barrikadenkämpfen Windischgrätz ein Lobsprecher der Richtung Palazky’s wurde und Jelacic, der General der Camarilla, nach der Einnahme Wiens am 5. November Palazky zu sich berief, um ihm ein Gutachten über die österreichische Verfassungsfragen abzufordern. Dieser Egeriadienst, welchen Palazky den Häuptern der Reaction leistete, hatte zur Folge, daß der Reichstag nicht nach Wunsch der Deutschen nach Wien, sondern auf Vorschlag Palazky’s in das öde Städtchen Kremsier berufen wurde. Hier plante Palazky einen Verfassungsentwurf, welcher Oesterreich in sieben Gruppen theilen sollte. „Man müßte eine Armee von sechsmalhunderttausend Mann haben, um dieser Verfassung Anerkennung und Geltung zu erkämpfen,“ meinte Fürst Schwarzenberg, welcher damals in die Arena trat und die Auflösung des Kremsierer Reichstages betrieb und auch erreichte. Palazky hatte nun den verdienten Lohn seiner öffentlichen Thätigkeit gefunden. Die Dienste, welche er der Hofpartei geleistet, waren nutzlos, die conservativ-reactionäre Gesinnung, mit welcher er prunkte, hatte nicht gehindert, daß ihn die neuen Männer des Tages verächtlich bei Seite schoben, als die Siege in Italien sich als wirksamste Reichsstütze erwiesen und die Allianz mit dem eigenwilligen dickschädligen czechischen Gelehrten unnütz machten. Mißmuthig zog sich Palazky nach Prag zurück. Ihm tönte der Ruf nach, daß er „ein Mörder der jungen Freiheit in Oesterreich gewesen sei.“

Durch zehn Jahre wirkte Palazky fortab nur literarisch für seine Zwecke, aber 1860, als das Octoberdiplom erlassen wurde, trat er neuerdings auf den politischen Schauplatz. Wieder begannen seine agitatorischen Künste zu spielen. Der zweiundsechszigjährige Greis entblödete sich nicht, Politik der Straße zu treiben und bei der neuen Saat des Hasses gegen die Deutschen in Böhmen Verbündete niedrigster Art zu suchen. Daß seine politischen Ideen im Landtage insbesondere von dem Führer der Deutschen, Dr. Herbst, in vernichtender Weise bloßgelegt wurden, nährte nur seinen Fanatismus.

Er, der gelehrte Geschichtsschreiber, nahm Theil an dem Hep-Hep-Rufen gegen die deutschgesinnten Juden des Landes; er, der „Conservative“, billigte die Steinwürfe, welche der czechischen Straßenjugend gegen die Fenster deutscher Wohnungen als Einschüchterungsmittel nöthig erschienen waren; er, welcher vorgab, für seines Volkes Befreiung zu kämpfen, fädelte, wie er dies zu Beginn seiner Laufbahn schon gethan, ein Bündniß mit den Feudalen und Ultramontanen des Landes ein. Daß bei demselben seinen Stammesgenossen eine Zelotenrolle zugedacht war, war ihm Nebensache; seine politische Denkkraft schien nur Nahrung zu behalten, wenn die Möglichkeit zur völligen Czechisierung Böhmens in Aussicht war. Palazky’s Bemühungen blieben trotzdem erfolglos. Zweimal allerdings, unter dem Regime Belcredi’s und Hohenwarth’s, waren seine Hoffnungen der Erfüllung nahe. Die Unmöglichkeit, ein Reich in seiner Entwickelung völlig neuen Bahnen zuzuführen, ließ jedoch immer wieder die Aussicht der czechisch-feudalen Partei in Trümmer sinken. Später blieben selbst die Demonstrationen des alten eigenwilligen Agitators unbemerkt. Seine Pilgerfahrt nach Rußland, eine Audienz beim Prinzen Napoleon, diese wie jene ausgeführt, um Hörer für czechische Schmerzensschreie zu finden, ging wirkungslos vorüber, und Palazky fand schließlich, als die Regierungsautorität in Oesterreich wieder erstarkte, keinen Ausweg aus der Sackgasse, in welche er sich verrannt hatte, als die Empfehlung völliger Enthaltungspolitik für die czechische Partei. Vor zwei Jahren mußte er es erleben, daß seine ehedem allgemeine Autorität nur von der Fraction der sogenannten Altczechen anerkannt blieb und daß eine jüngere, entschlossene Partei sich völlig von ihm und seinen Ideen lossagte. Er schrieb sein politisches Testament und vermachte in demselben seinem Volke den Haß gegen das „Räubervolk der Deutschen und Magyaren“.

Im Privatleben war Palazky vom Glücke begünstigt. Seine Frau brachte ihm viel Vermögen, und er hat Nahrungssorgen nie gekannt. Er machte in den letzten Jahren wiederholt Reisen nach Rom, Nizza und Paris. Sein Familienleben war ein sehr glückliches. Er lebte im innigsten Verkehre mit seinem Schwiegersohne, Dr. Rieger, welcher nach ihm die politische Führerschaft der Czechen antritt. Sein Aeußeres war wenig gewinnend. Seine Züge trugen den czechischen Typus; in den geschlitzten, stechenden Augen fehlte jeder freie, adlige Zug. Seine Lippen umspielte regelmäßig ein böswilliges Lächeln. Den breiten, fast viereckigen Schädel deckte eine flachsgelbe Perrücke. Er war groß von Statur, ging aber gebückt. Ein starker Blähhals machte den Gesammteindruck seiner Erscheinung keineswegs sympathischer. Redner war Palazky nicht. Er sprach mühsam und kaum verständlich; desto interessanter war er als Hörer – die Lebhaftigkeit seines Wesens trat da völlig zu Tage. Er konnte seinen Meinungen widersprechende Anschauungen nicht ruhig äußern hören und war der Führer der Unterbrechungen, welche in dem an parlamentarischen Kämpfen so reichen böhmischen Landtage von den czechische Bänken für die deutschen Redner so oft laut wurden.

Gelang es einem deutschen Deputirten, die czechischen Ansprüche in ihrer Richtigkeit völlig klar zu legen, dann hielt es Palazky nicht länger im Saale aus. Er verließ denselben unter großem Geräusche und kehrte erst wieder, wenn er wußte, daß der Redner zu Ende war. Mit den deutschen Abgeordneten hatte er, im Gegensatze zu dem geschmeidigen und äußerlich gewinnenden Rieger, nie Verkehr. Er übertrug seine politische Abneigung auf die Person. Seine Orden – er hatte einen russischen und einen österreichischen – trug er gern und bei jedem möglichen Anlasse. Als seine politische Opposition auf’s Höchste gestiegen war, legte er nur den russischen Orden an. Das czechische Nationalkleid, welches in den vierziger Jahren in einer Metamorphose der polnischen Konfederatka, früher in einem gewöhnlichen Schnürrocke bestand, trug er nie. Er hatte auch zu Hause stets den deutschen von seinen Landsleuten in den Bann gethanen Frack an.

Er schrieb einen klaren Stil. Seine ersten Schriften veröffentlichte er stets in deutscher Sprache. Einzelne seiner historischen Werke sind von glänzender Darstellung. Später überwiegt die nationale Tendenz und Fälschung.

Daß er den politischen Ereignissen auch außerhalb Oesterreichs mit größtem Interesse folgte, ist selbstverständlich. Keines derselben hat ihn jedoch in dem Maße bewegt, wie das der großen Einigung Deutschlands im Jahre 1870. Sie hat den slavischen alten Fanatiker in’s Herz getroffen. Er mochte ahnen, daß Mühe, Sorge und Kämpfe seines Lebens, welche dahin gerichtet waren, den czechischen Stamm vor der Einwirkung des deutschen Geistes sicher zu stellen, vergebens waren. Die nationale Selbstständigkeit seines Stammes, wie sollte sie noch erreichbar scheinen, da das geeinigte deutsche Volk der Nachbar seines Stammes war, da in Oesterreich der deutsche Gedanke im Staatsleben zu neuem Ausdrucke kam, beide Reiche zudem durch eine ehrliche innige Allianz sich aneinander schlossen!? Selbst die Hoffnung auf Verwirklichung panslavistischer Träume fiel, denn Rußland zog seine schützende Hand von der czechischen Partei ab und überließ sie grausam dem verdienten Loose ohnmächtiger Isolirung.

In Jena, wo einst mehrere der Führer der czechische Bewegung in gelehrter Arbeit wirkten, hat eine Ehrentafel der ersten Verdienste Palazky’s um österreichische Geschichtsschreibung rühmend gedacht. Die Tafel wurde wieder abgenommen, als Palazky von keinem andern Geiste beseelt schien, als von dem wilder Wuth gegen das deutsche Volk. Dieses Moment im langen Lebenslaufe des hingeschiedenen Agitators ist ein Charakteristicum seiner Bedeutung. Im Laufe der Zeit fiel Erfolg um Erfolg, welchen er errungen. Er hat umsonst gelebt – umsonst gewirkt!
Friedrich Schütz.



[832]
Blätter und Blüthen.

Weihnacht am Atlas. (Mit Abbildung S. 821.) Vor wenigen Jahren feierte ich Weihnachten im sonnigen Süden, in Algerien. Wenn auch der Nordwind von Europas damals tief verschneiten Gefilden zuweilen nach Afrika mit flüchtigen Fittigen zog, so huschten doch unsere heimischen Zugvögel dort in den Gebüschen des Lorbeers, Rhododendrons und der Oleander, im immergrünen Walde der Korkeichen und in den gewaltigen Forsten der Cedern umher. An den kleinen Bächen, die in den Tod der Sahara verrinnen und verschwinden, hüpften die Bachstelzen, an den Ansiedelungen hatten sich die Störche eingefunden und spazierten gravitätischen Schrittes auf den Wiesen und im Röhrichte des Sumpfes. Schaaren von Lerchen schmetterten über üppigen Saatfeldern ihren Gesang aus heller Brust der Himmelskönigin, der Alles belebenden Sonne entgegen, und in zierlichen pfeilschnellen Wendungen schwärmten unsere lieben herzigen Schwalben im blauen Aether, daß ihre weißen Brüste bei jeder Wendung gegen die Sonne wie Silberflocken leuchteten. Ihr eintöniger Ruf tönte mir wie Musik, wie ein Gedicht an die Heimath.

Alle diese Herrlichkeiten hatte ich in Milianah erlebt, einer reizend gelegenen Stadt in der Nähe des Flusses Schelif und der Eisenbahn von Algier nach Blidah und der Straße nach Oran. Aus der großen fruchtbaren Ebene, welche sich hinter Medeah weit hinein in’s Gebirge erstreckt, bogen wir ab in ein kleines freundliches Thal, durch welches die Straße nach Milianah führt. Eichen und anderes Buschwerk erinnerten mich in diesem Thälchen lebhaft an die deutsche Heimath. Ein krystallklarer Bach, welcher sich wildschäumend aus dem Gebirge ergießt, war weiter unten von Menschenhänden gebändigt und trieb viele Mühlräder, deren Rauschen gar heimlich klang. Und mußte ich heute nicht in doppelter Liebe an das Vaterland denken? Feierte man doch heute zu Hause unser schönstes Fest, denn gerade am Weihnachtsheiligabend war ich in Milianah angekommen.

Eine herrliche üppige Vegetation umgab mich. Heiter, wolkenlos und warm spannte sich der duftige blaue Horizont über uns aus, und doch faßte mich tiefe Sehnsucht nach Heim. Mochte dort der Himmel auch grau und trübe sein, am Abend wurden doch auf dem grünen Tannenbaume die Lichtlein angezündet und erleuchteten und erwärmten Millionen Herzen. Und am andern Morgen war’s erster Weihnachtsfeiertag! – Welchem Deutschen schlägt nicht bei der Erinnerung an diesen Tag das Herz in der Brust? – Freilich Manchem auch in stiller Wehmuth; Manchem, der einsam, verlassen und freundlos durch die Welt zieht. Aber es ist ein sanfter, heiliger Schmerz. Auch der Vereinsamte denkt heute wieder an seine Kindheit; wie war er schnell munter an diesem Tage! Ob es auch noch so dunkel im Schlafzimmer war, so hatte er sich doch schnell angekleidet und als ein glückliches Kind betrat er das Zimmer, wo der frische Waldduft sich mischte mit dem Geruche der Wachskerzen, die Abends vorher am Tannenbaume gebrannt hatten.

Es ist lange vorüber – die lieben Eltern sind längst todt und begraben; die Geschwister, welche sich mit ihm gefreut, sind zerstreut in alle Himmelsgegenden, er steht allein! – Wohl Dem, dem es ein freundliches Geschick gönnte, an diesem heiligen Tage nicht allein zu sein, der im Kreise einer glücklichen Familie dieses Fest feiern kann, ungetrübt von den schwarzen Sorgen des Lebens. Er freue sich, er werde wieder zum Kinde mit den Kindern, und kennt er einen solch Einsamen, dann lasse er ihn Theil nehmen an dem Jubel, an der Freude, aber er versuche nicht die Thränen trocknen zu wollen, die in das Auge eines solch’ Armen treten, wenn der Christbaum angezündet wird. –

Eine schöner gelegene Stadt als Milianah kann es so leicht auf Gottes Erdboden nicht geben. Hoch von einem Berge schaut es hinunter auf die große Ebene, die in weiter Ferne von duftigen Bergen begrenzt wird. Hinter der Stadt baut sich Hügel auf Hügel, Berg auf Berg auf, aus deren Waldesdunkel hier und da eine durchsichtige, leichte Rauchwolke sich erhebt. Dort wohnen arme Araber in ihren Strohhütten oder in zu menschlichen Wohnungen umgestalteten Felsenhöhlen. Diese Leute sind es auch, welche zum größten Theil die Stadt mit Brennmaterial versehen, mit knorrigem Wurzelholz oder mit Holzkohlen, welche sie in kleinen Quantitäten bereiten. Für den geringen Erlös wird Pulver und Blei für die Jagd angeschafft oder die ärmliche Kleidung, der Burnuß, ersetzt, wenn der alte fast in Fetzen vom Leibe fällt. Ist der Araber doch der mäßigste, nüchternste Mensch, und die Anforderungen, die er an das Leben stellt, sind gleich Null.

Auf einem Platze der Stadt, nahe an der Umfassungsmauer, beschattet von jungen Platanen, sammeln sich täglich viele dieser Parias der menschlichen Gesellschaft. Zahlreiche Esel stehen und liegen dort herum, diese unersetzlichen und unermüdlichen Lastträger der armen Leute. Der heiße Himmel schließt hier das rührige und rastlose Durcheinander eines nordischen Marktes aus; die Käufer wandeln gemessen auf und ab, und schweigend hocken die Verkäufer umher und warten geduldig, bis Jemand kommt, der ihnen ihre Vorräthe abnimmt, und geschieht dies nicht, so wird das Langohr wieder mit denselben bepackt und der Heimweg angetreten, um Tags darauf wieder zur Stadt zu traben, wo sein Herr den Versuch wiederholt, das Holz oder die Kohlen an den Mann zu bringen.

Die Weihnachtsfeiertage waren vorüber, vorüber auch die Heimwehgedanken, und lustig trabten wir bergab Affreville zu, von wo aus wir die Diligence benützten, die große Ebene durchschnitten und den fernen Bergen zueilten, in deren einem Thal, Tenies el Haad, unser nächstes Ziel lag. Von dort drangen wir tiefer in’s Atlas-Gebirge. Nur mit einem arabischen Diener verlebten wir dann Wochen in einsamem Blockhaus, und vielleicht ist es mir einmal gestattet, in diesen Blättern zu erzählen vom stillen Cedern-Urwald, in dem wir hausten und dessen Riesenbäume unsere Klause umstanden, geheimnißvoll flüsternd und rauschend, sich Geschichten erzählend von Jahrhunderten, die über ihre ehrwürdigen Wipfel dahingezogen waren.

Albert Richter.     

Eine Erinnerung an harte Zeit. (Mit Abbildung Seite 829.) „Ich rechne die Tage von Villiers nächst dem 18. August und den Kämpfen bei Belfort zu den bedeutendsten Leistungen des Feldzugs.“ So sprach Kaiser Wilhelm, als er am 7. März aus dem Schlachtfeld von Champigny und Vigny Musterung hielt über die Württemberger und Sachsen, von denen namentlich die letzteren in den blutigen Treffen bei Champigny, Brie und Villiers die schwersten Verluste zu beklagen hatten. Wie dem Kaiser, so bleibt jedem Mitkämpfer die Erinnerung an jene Tage vom 30. November bis 2. December 1870 vor Paris treu im Gedächtniß, und ebenso erhält jedes damit zusammenhängende Erlebniß in jenen Tagen durch den ernsten Hintergrund seine Bedeutung. Ein solches stellt unser Bild dar, dessen Gegenstand unser Feldmaler Heyne der Mittheilung eines sächsischen Ulanen verdankt. Bei dem schweren wechselvollen Kampf um Champigny an dem grimmig kalten 2. December versprengt, irrte er am Kopf verwundet und halbverschmachtet in der Winterlandschaft umher. Endlich sieht er ein klosterartiges Gebäude. Ob nun Feind oder Freund dort hauste, erst kommt das Leben und das wird für einen Rettungstrunk gewagt. „Ich hatte ganz unvernünftiges Glück,“ erzählte er. „Denn wie ich rasch um die Ecke bog, um den Eingang zu suchen, steht so verblüfft wie möglich ein alter Mönch vor mir, einen Weinkrug in der Hand, mit dem er wahrscheinlich auf die siegreichen Landsleute gelauert hatte. Ich winkte sehr verständlich nach dem Kruge hin, meine lange Lanze mochte auch zum Guten reden, kurz, der Alte schenkte ganz freundlich ein und bot mir mit einem jedenfalls gutgemeinten Wort den Labetrunk. Ja, das war ein Labsal! Noch ein Glas und noch ein Glas und Handdruck und deutscher Dank – und fort sauste ich und fand nun, wieder ein ganzer Mensch, bald die Meinen wieder.“ – Dieses einfache Erlebniß fand gleichwohl Heyne’s Wohlgefallen so sehr, daß er es in einem großen Oelbilde, jetzt Eigenthum eines Nordamerikaners, verewigte.


Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!
Bechstein, Naturgeschichte der Hof- und Stubenvögel. 5. Auflage. Mit 79 prachtvollen Vogelportraits in Farbendruck, eleg. brosch. 6 Mk.
Gottschall, Rudolf, Janus. Friedens- und Kriegsgedichte. Prachtband. 4 Mk. 50 Pfg.
Marlitt, Gold-Else. Volks-Ausgabe. 11. Auflage. Eleg. brosch. 3 Mk.
Marlitt, Gold-Else. Salon-Ausgabe. Illustrirt von P. Thumann. 2. Auflage. Eleg. geb. mit Goldschnitt 10 Mk. 50 Pfg.
Marlitt, Das Geheimniß der alten Mamsell. 7. Auflage. 2 Bände, brosch. 6 Mk.
Marlitt, Reichsgräfin Gisela. 5. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 8 Mk.
Marlitt, Haideprinzeßchen. 3. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 9 Mk.
Marlitt, Die zweite Frau. 4. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 7 Mk. 50 Pfg.
Marlitt, Thüringer Erzählungen. Inhalt: Die zwölf Apostel. – Der Blaubart. 3. Auflage. Eleg. brosch. 4 Mk. 50 Pfg.
Prutz, Robert, Buch der Liebe. Gedichte 3. Auflage. Prachtband. 5 Mk. 25 Pfg.
Rittershaus, Emil, Neue Gedichte 4. Auflage. Prachtband. 6 Mk. 50 Pfg.
Scherenberg, Ernst, Gedichte. Prachtband. 5 Mk. 25 Pfg.
Scherr, Joh., Goethe’s Jugend. Eleg. geb. 4 Mk. 50 Pfg.
Traeger, Albert, Gedichte. 11. Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 5 Mk. 25 Pfg.
Werner, E., Gartenlaubenblüthen. Inhalt: Ein Held der Feder. – Hermann. 2. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 6 Mk.
Werner, E., Am Altar. Roman 2. Auflage. 2 Bände. Eleg. brosch. 6 Mk.
Werner, E., Glück auf! Roman. 2 Bände. Eleg. brosch. 7 Mk. 50 Pfg.
Werner, E., Gesprengte Fesseln. Roman. 2 Bände. Eleg. brosch. 7 Mk.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: seine