Die Gartenlaube (1874)/Heft 43
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No. 43. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Leichenblaß, unfähig ein Glied zu regen, stand der Russe; der friedliche Pianist war im Begriffe umzusinken, noch ehe der Todesstreich, den er schon fallen sah, wirklich fiel; auch Clarl hatte einen Augenblick die Fassung verloren; denn der Wüthende war furchtbar anzusehen: seine Narbe glühte wie Feuer und seine Augen rollten wie im Irrsinne.
Corona war die Einzige, die besonnen blieb; fest trat sie zwischen ihn und den Bedrohten. „Was willst, unbändiger Mensch?“ sagte sie mit ruhigem Tone und Blicke. „Den Augenblick legst Deinen Stock weg! Da heroben auf der Gindelalm bin ich Herr, und ich fürcht’ Dich nit, wenn Du noch so wild thust.“
„Aber es ist ja derselbige, von dem ich erzählt hab’,“ stieß Quirin aus keuchender Brust hervor.
„Und wenn er’s ist!“ rief Corona entgegen. „Willst Du’s ihm nach so viel Jahren heimgeben, was er damals als unmündiger Bub’ gethan hat? Scham Dich, ungeschlachter Mensch, und halt’ Frieden! Nieder mit Deinem Stock, oder, wenn ich gleich nur ein Madl bin, so nehm’ ich Dir ihn ab.“
Einen Augenblick stand der Zürnende unschlüssig; er kämpfte mit dem langgenährten Grimme, mit der im Stillen großgefütterten Rachelust und dem Einflusse, den das Mädchen bereits über ihn gewonnen, dessen Gunst er nicht völlig auf’s Spiel zu setzen gesonnen war. Von dem Russen glitt sein Blick auf das Mädchen ab. Er sah sie durchdringend an; dann warf er den Rucksack auf die Schulter, drehte sich um und schritt ohne Gruß und Wink davon, dem höher hinanführenden Bergsteig zu.
Erleichtert sahen ihm die Uebrigen nach. Corona athmete tief auf, fuhr mit Hand und Arm über die Stirne und hieß dann Clarl den Weg abwärts einschlagen, um nach dem verlorenen Taschenbuche zu suchen.
Nachdem der Eindruck des erregenden Auftritts sich etwas gemildert, war den Gästen erwünschte Gelegenheit gegeben, ungestört mit den eigentlichen Absichten herauszurücken, die sie auf die Alm geführt hatten. Der Pianist, der trotz seiner Dicke eine starke Gabe von Enthusiasmus im Leibe trug, hatte bei seiner Rückkehr nach München Corona’s Gesang und wunderbare Kehlfertigkeit nicht aus dem Sinne gebracht. Er hatte aller Welt davon erzählt und den Zuhörern bald die in ihm lebende Ueberzeugung mitgetheilt, daß es nur einer kurzen Ausbildung bedürfe, den rohen Edelstein so zu schleifen, daß er in allen Lichtern und Farben der Kunst zu brilliren vermöge. Er hatte sich zuletzt entschlossen, noch einen Ausflug nach Tegernsee zu machen, das seltene Bauernmädchen aufzusuchen und sie dahin zu bringen, daß sie seinem Antrage Gehör gebe, ihm in die Stadt zu folgen und sich unter seiner Leitung und Obhut zur Sängerin auszubilden. In der Freude seines Herzens und im Lichte seiner regen Einbildungskraft sah er sie schon als eine zweite Catalani mit Gold und Ruhm überschüttet, und sich selbst als den glücklichen Entdecker des Kleinods im Mitbesitze aller dieser Schätze
In dieser Stimmung war er dem jungen Russen begegnet, der ihm wie ein alter Bekannter war, weil er ja auch in dem Zelte zugegen gewesen. Er theilte demselben sein Vorhaben mit, das dieser mit lebhafter Theilnahme aufgriff. Er erbot sich sogar, den Pianisten auf seinem Werbegange zu begleiten. Nun rückte dieser gegen Corona mit seinem Vorschlage hervor und erzählte der Staunenden, welche herrlichen Aussichten für ihr künftiges Leben sich öffneten, ein Leben des Gesanges statt harter Arbeit, statt eines Daseins von Mühe, Entbehrungen und Armuth eine Laufbahn des Ueberflusses, des Glanzes und der Freude.
Er hatte bereits mit dem Director des zweiten Theaters am Isarthore gesprochen und ihn, da er auf sein musikalisches Urtheil viel gab, dahin gebracht, daß er bereit war, für die Probe- und Lehrzeit zu den Kosten des Unterhalts den größten Theil beizutragen und das Mädchen entsprechenden Falles mit einem vorläufigen Gehalte von tausend Gulden zu engagiren. Was etwa noch fehlte, konnte leicht durch reiche und vornehme Kunstfreunde oder vom Könige selbst, der sie ja ebenfalls kannte, herbeigeschafft werden. Mit beredter Zunge schilderte er ihr die Leichtigkeit, mit welcher sie bei ihrer wunderbaren Naturanlage die Lehrzeit vollenden werde, wie sie dann öffentlich auftreten würde, umgeben und unterstützt von allem Aufwande der Kunst, wie sie Triumphe über Triumphe feiern und den Augenblick preisen werde, in welchem sie ihre Zusage gegeben. Auch Worinoff unterließ nicht, ihr das Leben als Künstlerin mit den feurigsten Farben zu schildern und hervorzuheben, wie sie gar keine Furcht zu haben brauche; ihre Liebenswürdigkeit werde ihr bald in den ersten und höchsten Kreisen Freunde schaffen, welche Alles aufbieten würden, ihr Erfolge zu bereiten, die bereiteten zu verschönern und mit ihr zu theilen.
Corona hatte den Vorschlag zuerst mit Erstaunen, dann [688] mit ungläubigem Lachen erwidert: als aber Beide die Sache ernsthaft wiederholten, entschwand allmählich ihre Besorgniß, als ob man beabsichtigte, sie zum Besten zu haben. Die Möglichkeit eines mühelosen, von allen Erdengütern umgebenen Lebens trat plötzlich wie eine Erscheinung in ihr Leben, blendete ihr Auge und erschreckte ihr Gemüth, daß sie rathlos vor derselben stand. Wohl hatte sie immer große Genugthuung empfunden, wenn man ihren Gesang bewundert hatte; wohl war es ihr oft gewesen, als sei sie zu etwas Besserem bestimmt und gehöre nicht unter die Bauern und in die Sennhütte, aber die unerbittliche Wirklichkeit hatte die hochfliegenden Einbildungen immer gar bald und so unbarmherzig vernichtet, daß sie bei ihrem sonst klaren und entschlossenen Wesen sie wieder auf lange Zeit von sich ferne hielt. Sie kam sich jetzt vor wie das arme Kind im Märchen, das die Gänse hüten muß, und das eine vorüberfahrende Fee auf einmal in ihren Wagen nimmt und ihm sagt, daß sie seine Mutter sei, daß es nun nicht mehr die Gänse auf die Weide treiben, sondern für immer bei ihr bleiben dürfe und selber eine Fee geworden sei. Wohl war etwas in ihr, das widersprach, wenn sie auch die Stimme nicht deutlich verstand – wie sie in die grüne Bergmatte hinaussah, war es, als ob ihr dieselbe winke, sie nicht zu verlassen, und in ihr Ohr klang es wie Waldeswehen, wie Wasserrauschen und das Knirschen einer Sägmühle, das sie zu sich lockte in die Waldeinsamkeit.
Es ward Worinoff und dem Pianisten nicht schwer, die Bedenken der Unkundigen zu widerlegen, und ein schweres Gewicht fiel in die Wagschale, als Clarl mit dem vermißten Taschenbuche wiederkam, das ein freundlicher Weinschörlbusch zwischen seinen Stacheln und Trauben vor dem Falle in eine größere Tiefe bewahrt hatte. Das war so recht Wasser auf ihre Mühle, als sie den Gegenstand ihres Gespräches erfahren hatte; sie war augenblicklich Feuer und Flamme und schürte die Gluth, welche Eitelkeit und der Wunsch nach einem angenehmen Leben in Corona’s Busen bereits entzündet hatten.
„Wirst Dich doch da nit besinnen?“ rief sie. „Schlag’ ein, sag’ ich, mit allen zwei Händen! Du bist ein Glückskind! In der Stadt leben und tausend Gulden haben und nix dafür thun als das Bissel Singen? Ich bin einmal d’rin gewesen in der Münchner Stadt und im Komedihaus und hab’ geseh’n, wie die erste von den Sängerinnen droben herumgestiegen ist wie der Gockel im Werg, und angezogen wie eine Königin, daß sie über und über nur so gefunkelt hat von Gold, und die Leut’ haben geschrien und in die Händ’ geklatscht und Blumen hinaufgeworfen und grünes Zeug. Und da willst Du Dich noch besinnen? Das Alles kannst Du jetzt haben. Willst Du vielleicht lieber alle Tag’ mit der Sonn’ aufsteh’n, die Küh’ melken, die Butter ausrühren und dreschen und spinnen im Winter? Oder willst Du einen Häusler oder Tagwerker heirathen und Dich fortfretten Dein ganzes Leben lang mit Mann und Kindern, bis Du zusammgerackert bist, daß Dich kaum der Tod mehr holen mag?“
Lächelnd hörte Corona der eifrigen Alten zu. „Laß’ nur gut sein!“ sagte sie, indem sie ihr die Hand auf die Schulter legte, „und strapazir’ Dich nit so ab! Ich sag’ nit Ja und nit Nein; ich will mir’s überlegen. Haben sie im Theater so lang’ gesungen ohne mich, so werden sie’s wohl auch noch acht Tag’ zuweg’ bringen. Der Herr soll mir sagen, wo ich ihn find’. In acht Tagen komm’ ich dann nach München, wenn ich mich entschließ’, und wenn nit, kommt statt meiner ein Briefl; wenn’s auch schlecht zu lesen sein wird, werden s’ dann doch schon so viel herausbuchstabiren können, daß’s nichts ist.“
Der Pianist, Worinoff und Clarl versuchten zwar, sie zu einer sofortigen Zusage zu bestimmen; aber sie blieb fest dabei, sodaß der Pianist nichts anderes thun konnte, als sich damit zufrieden zu geben und den Rückweg anzutreten. – War es doch hohe Zeit und über den Gesprächen und Ereignissen der späte Nachmittag herangekommen – die Sonne war schon über den Rand der Tannen hinuntergegangen und nur noch draußen am Horizonte der Ebene und dann im Widerscheine an den Felswänden sichtbar.
Der Pianist verabschiedete sich warm und herzlich von seiner zukünftigen Schülerin; Worinoff that nicht minder feurig und freute sich schon im Voraus auf das Wiedersehen und all die schönen Stunden, die darauf folgen sollten. Als Abschlag dieser künftigen Herrlichkeiten faßte er die derb gehärtete Hand des Mädchens, und als sie diese ihm ohne Widerstand ließ, versuchte er, sie zu umfassen und einen Kuß zu erhaschen. Sie wies ihn diesmal zwar nicht so derb, aber darum nicht minder entschieden zurück, so daß er wieder in Verlegenheit gerieth. „Du bist noch unerfahren,“ rief er, sich zum Lachen zwingend. „Komme nur erst in die Stadt und zum Theater, dann wirst Du schon auf andere Gedanken kommen, so gewiß Deine rauhe Hand dann weich wird und Du sie in weiche Handschuhe stecken wirst.“
„Das glaub’ ich kaum,“ sagte Corona ernsthaft; er aber ließ sich dadurch nicht irre machen, sondern fuhr, indem er sich zum Gehen anschickte, in voller Zuversicht fort, daß er das besser verstehe und sie beim Wiedersehen an seine Vorhersagung erinnern wolle. „Lebe wohl!“ rief er noch aus der Ferne. „Lebe wohl, Du wildes Spötterl! Auf Wiedersehen als zahme Nachtigall!“
Es war wieder still und einsam geworden auf der einsamen und stillen Gindelalm. Die Sennerinnen gingen der Arbeit nach, die vollauf ihrer harrte; sie hatten nicht Zeit, über das Erlebte sich zu unterhalten. Corona fehlte auch die Lust dazu: zu viel des Neuen und Bedeutsamen war in den wenigen Stunden an sie herangekommen, daß sie erst darüber nachsinnen und Alles in Kopf und Herz ordnen und sichten mußte, ehe sie es in Worten auszudrücken vermochte. Darüber kam der Abend vollends heran. Hütte und Stall war beschickt, und als der Mond über den hohem Grat emporsah, traf er Corona nachdenklich wie zuvor auf der Bank vor dem Almträt sitzen, so vertieft, daß sie das Herannnahen Quirin’s gar nicht gewahrte, bis er langsam und geräuschlos näher gekommen war und beinahe hart vor ihr stand. Ueberrascht sprang sie auf und wollte in einer ersten Regung der Furcht der Hütte zueilen, besann sich aber und blieb auf der Schwelle stehen, indem sie ruhig zurückblickte, gleich als frage sie, was ihn noch einmal zu ihr führe.
„Fürcht’ Dich nit!“ sagte er in so sanftem Tone, wie er ihn nur aus der Kehle bringen konnte. „Ich bin schon wieder bei mir selber. Die Wildheit ist halt so über mich gekommen, wie ich den Russen geseh’n hab’. … Du weißt nit, Madl, wie so was thut; aber Du hast Recht g’habt: es war eine Schand’, daß ich mich so vergessen hab’.“
„Gut für dich, wenn Du das einsiehst,“ sagte Corona kalt. – Der Ton hätte vielleicht doch etwas anders geklungen, wäre nicht von rückwärts Clarl aus dem Stalle in die Hütte getreten und Zeugin des Gesprächs geworden, das sogleich ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
„Und hernach,“ fuhr Quirin, über den kühlen Empfang beklommen, fort, „nachher hab’ ich doch nit so ohne ‚B’hüt Gott!‘ fortgeh’n und mir erst Antwort holen wollen auf meine Frag’ von vorhin. Wie ist’s, Spötterl – oder, wenn Du das lieber hörst, Corona Rohnbergerin – weißt keine Sägemüllerin für mich?“
„Nein,“ antwortete sie, „ich weiß keine, die mir so zuwider wär’, daß ich ihr das anthun und sie einem solchen Wildling zubringen möcht’. Such’ Dir die nur selber aus, die mit Dir unglücklich werden soll!“
„Unglücklich!“ sagte Quirin betrübt. „Also meinst wirklich, mit mir könnt’ man nit anders als unglücklich sein? Ich wollt’ mich schon zusamm’nehmen und wollt’s hinunterschlucken, wenn’s mir so heiß wird unter der Stirn.“
„Was da!“ unterbrach ihn Clarl. „Das ist lauter Gered’, das keine Heimath hat. Die Corona hat jetzt was Anderes zu thun, als sich mit Dir und Deiner Säg’müllerin abzugeben. Sie hätt’ auch keine Zeit; denn daß Du’s nur weißt, mit dem Sennerin sein und Dienen ist’s aus bei ihr – die Corona geht in die Stadt und wird Sängerin.“
„Aber Clarl!“ rief Corona abmahnend; sie wollte nicht, daß jetzt schon so sicher von der Sache gesprochen würde, aber der Funken war schon bereits auf brennbaren Zunder gefallen und brannte lichterloh.
„In die Stadt? Sängerin?“ würgte Quirin zum Tode erschrocken hervor und ließ den Bergstock zu Boden fallen. „Wird ja doch das nit sein.“
„Warum etwa nit?“ rief Clarl entgegen. „Der Stadtherr, der dagewesen ist, ist ein Musikant, und der hat gesagt, die Corona hat eine Stimm’, wie’s keine zweit’ in der Welt giebt. [689] Drum wird sie eine Sängerin und kriegt tausend Gulden und darf nur die Finger rühren und bloß verlangen, was sie will.“
„Corona, es ist nit wahr,“ sagte Quirin ergriffen. „Sag’, daß’s nit wahr ist! Es ist ja unmöglich.“
„Warum sollt’s unmöglich sein?“ rief Corona gereizt. „Du glaubst wohl, ich könnt’ das nit zuweg’ bringen?“
„Es ist unmöglich,“ sagte Quirin, „weil Du nit geschaffen bist für so was. Schau, ich weiß nit viel vom Stadtleben und versteh’ gar nichts von der Komödie; aber ich mein’, es wär’ schad’ um Dich. Du kommst mir vor wie ein Almrösel; das blüht so schön, wo’s hingehört, wo’s daheim ist – auf’n Bergen, in der frischen, freien Luft. In einem Garten, und wenn er noch so schön wär’, da geht’s zu Grund’. Schau, laß Dich nit versetzen, Du Almrösel, Du schön’s! Bleib’ auf Deinen Bergen – bleib’ daheim!“
Clarl brach in Lachen aus, in das Corona, wenn auch nicht ebenso laut, einstimmte, das aber doch hinreichte, die Stimmung des Burschen, die erst weich gewesen, in den Gegensatz grimmiger Erbitterung umschlagen zu lassen.
„Du lachst?“ rief er. „Ueber mich? Lach’ über Dich selber, Du gutherzig’s Ding, das in seiner Eitelkeit nit begreift, wie die Stadtleut’ nur ihren Spaß mit Dir haben! Weil Du ein paar Schnaderhüpfl singen kannst, bildest Dir ein, Du könntest eine Sängerin werden? Das ist gerad’, als wenn man Birn’ brocken wollt’ von einem Lindenbaum. Auslachen werden s’ Dich – denk’ an mich! Es ist nit Deine Art.“
„Weißt das so gar gewiß?“ unterbrach ihn Corona, durch den Spott erbittert. „Und wenn ich’s zuvor nit im Sinn g’habt hätt’, jetzt ist’s b’schlossen wie mit einem eisernen Schloß; – jetzt will ich Dir zeigen, daß ich kann, was ich will.“
Der Bursche schien noch etwas erwidern zu wollen; dann wandte er sich, wie bei seinem ersten Entfernen, kurz ab, als verlohne es nicht der Mühe, noch ein Wort zu verlieren, drückte den Hut fest auf den Kopf und ging durch den Anger der abwärts führenden Bergstraße zu. Aus der Ferne noch erscholl sein Gesang:
„Klopf’ an und klopf’ an
Und fahr’ ab und fahr’ ab!
Was i’ krieg’, weiß i’ nit;
I’ weiß nur, was i’ hab’.“
„Geh’ nur zu!“ rief ihm Clarl nach. „Und damit Dich nit zu kümmern brauchst, nimm Deinen Vogel mit Dir!“
Damit öffnete sie das Thürchen des Käfigs, durch das der Vogel im Nu entwischte. Der unerwarteten Freiheit froh, stieg er mit schmetterndem Lustgesang gerade auf in die Höhe. Corona sah schweigend in den mondlichten und doch umschleierten Abend hinaus. Die Gefährtin aber sang mit weit schallender Stimme:
„Auf die Höh’ da geht’s langsam,
Aber lüfti’ bergab;
Hinauf da heißt’s kraxeln
Und hinunter: Fahr’ ab!“
Noch nicht lange war der letzte Ton ihres Jodlers verklungen; der Mond stand senkrecht über den Almen. Sie lauschten, ob keine andere Antwort auf das Lied erfolge als die des Wiederhalls. Es kam keine. Dafür krachte nach einiger Zeit ein Schuß in der Tiefe; der Wiederhall trug ihn verzehnfacht dahin durch die aus dem ersten Schlummer aufschreckende Nacht.
Im Theater am Isarthor zu München war Alles schon Morgens in voller, hastiger Thätigkeit; es galt die Hauptprobe eines Stückes, das zwar nicht zum ersten Male, aber doch mit allerlei Aenderungen gegeben werden sollte. Es war die Zauberposse „Der Geist im Hofgarten“, in welchem der Director und Komiker Carl, der Liebling der Münchner, diesen ein Stück aus ihrem Leben voll örtlicher Anspielungen und Späße geschrieben – war er doch mit der Stadt, deren Bewohnern und ihren Eigenheiten vollkommen vertraut und wußte seine Witz-Raketen und Knallschläge immer so einzurichten, daß sie nie wirkungslos verpufften.
Der Vorhang der Bühne war aufgezogen, diese selbst nur mit wenigen Oellampen beleuchtet, eben genügend, um das Dunkel in schwache Dämmerung umzuschaffen und in den leeren Zuschauerraum noch undurchdringlichere Schatten zu breiten; nur ein an diese Art von Beleuchtung gewöhntes Auge vermochte in demselben die matten Umrisse der Logenreihen und Parterresitze zu erkennen. Zu den Seiten der Bühne standen hohe Wald-Coulissen, und die Zimmerleute waren eben beschäftigt, Versatzstücke aufzurichten und aus ihnen den Vorgrund einer Berglandschaft zusammenzustellen. Im Widerspruche damit hing im Hintergrunde ein Vorhang mit einem stattlichen Burggewölbe herunter, das noch von dem Ritterstücke des vorigen Abends zurückgeblieben. Voran am Bühnenrande hockte, wie der Eingang eines Schachtes, der Kasten des Souffleurs; die Lampe desselben flimmerte matt daraus hervor wie das Grubenlicht eines Bergmannes. Unweit davon standen Stuhl und Tisch, und auf diesem brannte eine Oellampe, die ihren Schein über ein breites aufgeschlagenes Buch mit verbogenen und verstrichenen Blättern warf. An demselben vorüber, die Rampe entlang, schritt ein stattlicher Mann hastig hin und wieder und zog manchmal mit einer Geberde der Ungeduld seine Taschenuhr heraus. Die Zeit zum Beginn der Probe war nahe; aber die Schauspieler schienen säumig; in den Coulissen-Lücken wurde nur hie und da ein einzelner Schatten sichtbar.
Jetzt begann das Gewölbe des Hintergrundes sich zu heben, und statt desselben öffnete sich die dämmernde Aussicht in eine tiefe Berggegend, in weiter Ferne abgeschlossen mit der Aussicht auf einen See und das um ihn gelagerte Hochgebirge. Es war die ganze Tiefe der Bühne verwendet, denn der kundige Director liebte es, seinen Zuschauern solche Ueberraschungen zu bereiten: geschah es doch nicht selten, daß auch der hinter dem Theatergebäude liegende Garten noch zum Spiele hereingezogen wurde, um, wie im „Graf Waltron“, Schlachten und Gefechte von ganzen Compagnien oder Reiter-Schwadronen aufführen zu lassen.
Der Wandler an der Rampe stand still; es schien ihm willkommen, etwas zu finden, woran er den wachsenden Unwillen auslassen konnte.
„Aber in Dreiteufelsnamen, Herr Sußbauer!“ rief er im breitesten und unverfälschtesten Tone eines echten Münchener Kindes. „Was treiben S’ denn? Lassen S’ doch den Prospect hängen! Es ist ohnedem kalt genug auf dem verfluchten Theater; es scheint, der Heizer hat wieder einmal den Schlüssel zu der Holzkiste verloren.“
Der angerufene Maschinist hielt augenblicklich inne, daß das Gewölbe mit seinen Säulen frei in der Luft baumelte. „Der Herr Director will die ganze Scene sehen,“ rief er entgegen, „er kommt mit dem Herrn Burnickel, dem Maler, herunter, – er hat ja eine neue Almhütte dazu gemalt. Also muß ich den Prospect doch aufziehen.“
„Die große Bergdecoration wegen der einzigen Scene!“ lachte der Regisseur ärgerlich. „Was das für Geschichten sind!“
„Aber Sie wissen ja, Herr Regisseur,“ entgegnete Sußbauer, „daß in der Scene die neue Sängerin zum ersten Male auftritt.“
Der Regisseur lachte noch grimmiger. „Das muß ich sagen! Das lohnt der Mühe, so viel Umstände zu machen wegen der Bäuerin, der ungehobelten, aus der doch in Ewigkeit nichts wird – sagen Sie, ich hab’s gesagt! Ich heiße Schneider.“
Der Maschinist konnte nichts erwidern, denn aus den Coulissen trat bereits der Theatermaler Burnickel zu ihm, und aus der dunklen Tiefe des Zuschauerraumes erscholl die Stimme des Directors, der sich dort bereits eingefunden hatte, um die Wirkung der Decoration aus gehöriger Entfernung zu beurtheilen.
„No, no, Herr Regisseur!“ rief er. „Sind Sie wieder einmal im Zug? Ich bitt’ mir’s aus, daß über Mitglieder und Gäste nicht räsonnirt wird, sonst kommt der § 27 zur Anwendung, und Sie haben um fünf Gulden zu viel gehabt.“
„Ich räsonnire nicht, Herr Director,“ antwortete der Regisseur, während Carl durch eine kleine, im Orchester angebrachte Thür unter der Bühne verschwand und dann auf dieser neben dem rothen Harlekinmantel zum Vorschein kam. „Aber als Regisseur muß mir doch erlaubt sein, meine Meinung zu sagen.“
„Das versteht sich,“ entgegnete Carl. „Aber die Meinung gehört in mein Sprechzimmer hinauf und nicht auf das Theater und schon gar nicht auf die Hauptprobe. Wenn’s das Mädl [690] hört, macht sie auf die Nacht eine Dalkerei, fallt mit Glanz durch, und ich kann schauen, wie ich zu meinem schönen ausgelegten Geld komme.“
„Aber –“ wollte der Regisseur erwidern.
Der Director aber unterbrach ihn. „Reden Sie mir nichts mehr!“ rief er. „Ich kenne Sie nicht erst seit heute, Herr Schneider! Sie sind ein ganz guter Regisseur, und ich wünsche mir keinen besseren; aber wenn Sie einmal Jemand auf der Muck’ haben, dann kann er Ihnen nichts recht machen, und wenn er auf dem Seil Monferin tanzen thät’, und wenn man Ihnen etwas dagegen sagen will, dann schlagen Sie gleich mit dem Holzschlägel d’rein und möchten Ihre Grobheit für Aufrichtigkeit verkaufen. Sie sind doch zuerst nicht gegen das Mädl gewesen und haben selber gesagt, was Alles von dem Naturwunder zu erwarten ist.“
„Das hab’ ich allerdings,“ sagte der Regisseur. „Aber inzwischen hab’ ich mich von ihrer Talentlosigkeit überzeugt. Es wird nichts aus ihr – dabei bleib’ ich. Sie können’s mir nachsagen – ich heiße Schneider.“
Der Director hatte das Gespräch halblaut im Vordergrunde geführt, während in der Tiefe die Zimmerleute hin- und wiedergingen und der Maler ihnen seine Anordnungen zurief. Im nämlichen Augenblicke aber war Corona, die unbeachtet in der dunklen Coulisse gestanden, hervorgetreten; sie legte dem Regisseur empfindlich ihre Hand auf die Schulter und fragte in lautem und entschiedenem Tone:
„Wie haben Sie g’sagt, daß Sie heißen?“
„Schneider,“ erwiderte der Ueberraschte.
„Dann geben Sie fein Acht, Herr Schneider, daß Sie den Fleck nicht neben das Loch setzen,“ erwiderte das Mädchen, „und warten Sie, bis am Abend die Komödie vorbei ist!“
Damit wandte sie sich und trat in die Coulisse zurück, den Verblüfften seinem Aerger und dem Spottlachen des Directors überlassend. „Da haben Sie’s,“ rief dieser. „Jetzt können Sie den Hieb einstecken. Aber verlegen ist das Mädl nicht – das muß man sagen. Wenn sie Abends auch so in’s Zeug geht, kann’s ihr nicht fehlen.“
Inzwischen war die Aufstellung der Berglandschaft nahezu beendet; die Zimmerleute mit dem Maschinisten schleppten nur noch ein großes Lattengerüste herbei, an dessen Vorderseite ein Hügel mit einer Sennhütte gemalt und festgebohrt war. Mehrere kräftige Männer hatten Mühe, das mächtige Stück zu schleppen.
„Was ist denn wieder für ein neuer Gehülfe dabei?“ sagte der Director, näher tretend. „Wie oft hab’ ich Ihm schon gesagt, Sußbauer, Er soll mir keine Aushülfe nehmen, ohne daß ich darum weiß. Aber Er haust in den Tag hinein und denkt, der Director soll nur blechen.“
„Sind S’ nur still, Herr Director!“ erwiderte der Maschinist halblaut und mit abwinkender Geberde. „Das ist ja ein Freiwilliger; der kostet nichts. Einen Aushelfer hätte ich heute doch haben müssen, da hab’ ich halt den Burschen genommen. Der ist drüben im Sterneggerbräuhaus Knecht und hat einen solchen Narren am Theater gefressen, daß er gar nichts verlangt, wenn er nur manchmal mitmachen darf.“
„Das muß ich sagen,“ rief Carl lachend, „ich bin doch eine gute Weile Theaterdirector, aber das ist mir noch nicht vorgekommen. Wenn es aber so ist, wollen wir dem Zimmermanne nichts in den Weg legen, seine neue Art von Dilettantismus auszubilden …“
Der Aushelfer stand so nahe, daß er das Gespräch wohl hören konnte; er schien aber ganz mit seiner Arbeit beschäftigt. Es war ein kräftiger, wohlgewachsener Bursche mit bartlosem Gesichte und kohlschwarzem Haare, das tief auf Stirn und Nacken hereinhängend ihm einen etwas tölpelhaften und doch verschmitzten Ausdruck gab.
Nun stand die Berglandschaft vollends fertig da; die Lampen waren angezündet und aufgeschraubt, und das Ganze bot das wirklich anziehende und treue Bild einer Berggegend mit Wald und See. Mit dem Bewußtsein des Künstlers nahm der Maler Burnickel die Anerkennung des Directors sowie die Lobsprüche der Schauspieler hin, welche ebenfalls aus den Coulissen hervorgekommen waren, das neue Werk in Augenschein zu nehmen. Aergerlich tönte das Glöcklein vom Tische vorn an der Rampe darein und unterbrach die Huldigung.
„Von der Bühne, meine Herrschaften!“ rief der Regisseur. „Ich beginne die Probe, sonst stehen wir um drei Uhr noch auf dem Theater.“
Schweigend gehorchte Alles dem Rufe. Die Hülfsarbeiter verschwanden. Die augenblicklich nicht beschäftigten Schauspieler zogen sich geräuschlos in die Coulissen zurück, ihrer Auftritte und Stichworte gewärtig. Die Eifrigeren überlasen ihre Rollen. Andere standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich über Alles, was in der Welt und in deren Spiegelbild, der Schaubühne, zu geschehen pflegt, in jenem liebenswürdig leichtlebigen Tone, der ein Vorrecht und Eigenthum ihres Standes ist – ist der Schauspieler doch auf den Augenblick angewiesen, wie kein anderer Künstler, und ist es doch erklärlich, wenn er deshalb auch vor Allem darauf ausgeht, den Augenblick auszunützen und jeden für verloren zu halten, der ihm nicht eine Blüthe getragen. Es war eine heitere und feine Versammlung, darunter mancher Träger eines Namens, der damals von gutem Klange war, manch schönes Talent, dem das warme Herz von den höchsten Hoffnungen und Vorsätzen schwoll, und das dann doch mit der Zeit und den Zeitgenossen spurlos dahinging, ohne daß mehr von ihm übrig geblieben als die erlöschende Jugenderinnerung der Greise. Sind einst auch diese dahingegangen, dann ist die Fluth vollends über ihnen zusammengeschlagen, als wären sie nie gewesen. Die Flüchtigkeit ihrer Schöpfungen, die mit dem Schaffen untergehen, ist es wohl auch, was den Persönlichkeiten der Schauspieler nicht selten eine gewisse Erregung und hastige Unruhe aufprägt – Niemand fühlt mehr, als sie, wie kostbar und unwiederbringlich die Minuten sind. Diese Hast zwingt sie, vorwärts zu drängen, und wer vorwärts drängt, wird nur zu leicht veranlaßt, einen Gefährten, den er sich voraus sieht, zu beneiden, ihn zurückzuhalten oder auch, wenn es die Gelegenheit möglich macht, zu verdrängen.
Etwas abseits von der Gesellschaft, der sie nach dem Erfolge des heutigen Abends auch angehören sollte, stand Corona wieder im Dämmerdunkel einer Coulisse unweit des Inspicienten, der, mit dem Scenarium ist der Hand, das richtige Auftreten der Schauspieler zu überwachen, sie auch wohl zu rufen und zugleich Alles auszuführen hatte, was hinter der Scene geschah, wie etwa einen Schuß abzufeuern, eine Glocke zu läuten, Rufen oder sonstiges Getöse auszuführen.
Sie war äußerlich kaum verändert; wie sie sich geweigert, ihre ländliche Tracht abzulegen, ehe Alles fest entschieden sei, war auch ihr Sinn während des halben Jahres, das sie in der Stadt zugebracht, derselbe geblieben – man konnte sie einer versetzten Pflanze vergleichen, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie in dem neuen Boden anwurzeln oder lieber verwelken will. Sie war sich selber nicht recht klar, was in ihr vorging; aber so viel stand fest: der trotzige Frohsinn, der sich sonst am Abend mit ihr auf das Heulager gelegt und Morgens mit ihr davon aufgesprungen, war nicht mehr in der alten Frische und Unbefangenheit in ihr. Sie lachte wohl, aber es kam nicht so frei vom Herzen weg wie früher; sie scherzte, aber der Scherz klang oft wie unwillig, nicht selten gar wie gereizt. Es erging ihr wie Jedem, der mit sich selbst nicht zufrieden ist und sich das nicht gestehen will. Wohl hatte es ihr gefallen, als man ihr bei der Ankunft in der Hauptstadt von allen Seiten mit freundlicher Aufmerksamkeit begegnet, als der dicke Pianist sie in seiner Familie aufnahm und sie die Annehmlichkeiten bürgerlicher Häuslichkeit kennen zu lernen begann. Dennoch fand sie sich nicht heimisch; sie kam sich vor wie ein fremder Gast, den man für die kurze Zeit seiner Anwesenheit im Müßiggange nicht behelligt; sie vermißte, was bisher die Grundlage ihres Lebens gewesen, die stete Arbeit, die, wie sie die Zeit ausfüllt, auch das Gleichgewicht erhält zwischen Kopf und Herzen. Der Unterricht im Gesange war nicht geeignet, ihr dieselbe zu ersetzen.
Es muß etwas Erhebendes sein um das Bewußtsein: ich bin Blut vom Blute, Geist vom Geiste eines großen Mannes. Anders und in einem höheren Lichte als dem niedrig Geborenen erscheint dem so Geweiheten die Achtung vor seinem eigenen Selbst; anders und mit gesteigerten Forderungen tritt an ihn die Welt heran. Dies hat, wenn irgend Jemand, die jüngste Tochter Schiller’s, die am 25. November 1874 verstorbene Emilie Freifrau von Gleichen-Rußwurm, ein langes Leben hindurch in
vollem Umfange empfunden; führte dieses lange Leben sie doch immer und immer wieder auf den Gedanken ihrer erhabenen Abkunft hin, denn unter den Kindern unseres großen Dichters wurde wohl keines so oft genannt und so hoch gefeiert, wie sie, eine Auszeichnung vor ihren übrigen Geschwistern, welche sie nicht sowohl dem Umstande verdankt, daß sie das den Vater am längsten überlebende Kind war, wie vielmehr dem freundlich waltenden Geschicke, welches, wie man allgemein und wohl mit Recht annimmt, ihr aus der geistigen Erbschaft des Vaters einen reicheren und schöneren Antheil gewährte, als den übrigen Kindern Schiller’s.
Emilie lebte nur in ihrem Vater; denn der Gedanke der Propaganda für die geistige Saat, die er ausgestreut, war der Gedanke ihres Lebens. All die wechselnden Schicksale, welche der Schiller’sche Genius in der Würdigung durch die deutsche Nation erfuhr, die mannigfachen Schwankungen, welche seine Werke auf der steigenden und fallenden Woge der Beurtheilung des Jahrhunderts erlebten, zuerst die aus Mißgunst geborenen Angriffe einer lorbeerzerpflückenden Kritik, dann die aus ehernen Denkmalen redende Begeisterung des gesammten deutschen Volkes – alles Das hat Emilie miterlebt und mitempfunden. Und wenn ihr Leben ganz dem Gedächtnisse ihres großen Vaters geweiht war, wenn Ehrfurcht vor seiner erhabenen Mission der Mittelpunkt all ihres Fühlens und Denkens war – und so war es in der That – welch’ eine Genugthuung muß sie empfunden haben, als jener unvergeßliche November des Jahres 1859 die Fahnen entfaltete und eine Fülle von Festen und Ehren, ein Meer von Blumen und Kränzen ausgoß, um die Jahrhundertfeier von Schiller’s Geburt zu begehen!
Einmüthig, in gehobener Festesstimmung, feierte das deutsche Volk jene großen Erinnerungstage, und von dem Herzen Deutschlands, dem freundlichen, poesieumhauchten Schwaben, aus zog sich überallhin, wo die deutsche Sprache klingt, eine Kette begeisterter Kundgebungen zu Ehren unsers geliebtesten Dichtergenius; das deutsche Mutterland einte mit den Schwesterstämmen in Amerika und Australien seine Jubelrufe, und das geistigste Fest, das wir je gefeiert, es war zugleich der höchste und schönste Ausdruck des wiedererwachenden Nationalbewußtseins. Der Mittelpunkt aber all dieser festlichen Kundgebungen, gewissermaßen der Altar, an dem ein ganzes Volk seinem größten Todten huldigte, es waren die Hände seiner noch im Leben wandelnden Tochter; denn in diese Hände legten wir die schönsten Festesgaben nieder. Die in jenen Tagen Emilie v. Gleichen-Rußwurm in der blumengeschmückten Neckarstadt Stuttgart gesehen, sie wollen in ihren freudedurchleuchteten Zügen, in denen schon Schiller sein Abbild zu erkennen glaubte, einen Hauch vom Geiste ihres Vaters begrüßt haben.
In der That soll Emilie auch bezüglich ihrer äußeren Erscheinung unter den Schiller-Kindern dasjenige gewesen sein, welches dem großen Vater am meisten glich. Das diesen Zeilen beigegebene vortreffliche Portrait der edlen Frau, welches im Juni 1872, also wenige Monate vor ihrem Tode von dem kunstgewandten Maler F. Wolf in Frankfurt aufgenommen wurde und für das ähnlichste Bildniß derselben gilt, bestätigt diese allgemein angenommene Ansicht vollkommen. In diesem ruhig und tief blickenden Auge lebt etwas vom milden Ernste Schiller’s, während der gekniffene Mund und das markirte Kinn Zeugniß dafür ablegen, daß die ausharrende Energie des Vaters nicht zu den geringsten Vermächtnissen gehörte, welche er der Tochter hinterließ. Bei dem wieder herannahenden Geburtstage Schiller’s dürfte der gegenwärtige Zeitpunkt zur Veröffentlichung des Portraits seiner Tochter sowie einiger Worte über ihr Leben und Wirken besonders geeignet erscheinen.
Als Emilie in’s Leben trat – es war am 25. Juli 1804 in Jena – waren die Tage Schiller’s bereits gezählt, und als er für immer die Augen schloß, hatte sie den zehnten Monat noch nicht zurückgelegt. So konnte das Bild des verewigten Vaters kraft eigener Anschauung nicht in ihr leben, aber mit hingebender Pietät pflegte die zartsinnige Mutter, Charlotte von Schiller, in dem Kinde das Andenken Schiller’s. Sie, die in [692] dem Geiste des großen Gatten so ganz aufgegangen war, erzog die Tochter unter den unmittelbaren Nachwirkungen seines Schaffens und im Sinne der von ihm gehegten und verfochtenen Ideale.
Weimar, damals auf dem Höhenpunkte seiner geistigen Blüthe, war der Schauplatz der ersten Kindheit Emiliens. Unter der Pflege einer zärtlichen Mutter, im Kreise fröhlicher Geschwister verlebte sie in der Stadt an der Ilm herrliche Kinderjahre, und einzelne besonders schöne Momente aus jener Zeit, wie die Ausflüge nach Rudolstadt zu der Großmutter, der Frau von Lengefeld, gehörten auch noch in den Tagen des Alters zu den liebsten Erinnerungen Emiliens, wie auch eine in den zwanziger Jahren mit der Mutter gemeinsam unternommene Reise nach dem Reichenberg bei Backnang, wo der älteste Bruder Karl (gestorben zu Rottweil 1857) als würtembergischer Förster wohnte, ihr immer lebhaft im Gedächtniß blieb.
Ein hartes Schicksal traf aber die inzwischen zu voller Jungfrauenschönheit herangeblühte Emilie, als ihre theure Mutter in Folge eines Nervenschlages aus dem Leben schied, nachdem die fast Erblindete noch kurz zuvor eine Augenoperation glücklich überstanden hatte. Dieses von der ganzen Familie schmerzlich empfundene Ereigniß trat bekanntlich am 9. Juli 1826 zu Bonn ein, wohin sich Charlotte von Schiller nach einem längeren Besuche bei ihrem Sohne Ernst (gestorben zu Vilich 1841) in Cöln begeben hatte, wo derselbe als preußischer Appellationsrath beamtet war.
Nach dem Tode der Mutter verlebte Emilie das nächste Jahr unter der liebevollen Obhut ihrer Tante, der geistvollen Karoline von Wolzogen, in Jena. Als ein Beweis dafür aber, daß die Freunde Schiller’s ihre treue Anhänglichkeit an den Verewigten auch auf dessen Kinder übertrugen, muß die freundliche Einladung angesehen werden, in Folge deren Emilie den Winter von 1827 bis 1828 in Berlin theils im Hause Wilhelm von Humboldt’s, theils in dem des Geheimen Raths Ruß als Gast zubrachte. Dieser Aufenthalt der Schiller-Tochter in der preußischen Residenz führte sie zuerst in die große Welt und das vornehme Leben der Salons ein und wurde für ihre Zukunft von entscheidender Bedeutung; denn hier war es, wo ihr Verhältniß zu dem ihr schon von früher bekannten nachmaligen bairischen Kammerherrn Adalbert von Gleichen-Rußwurm, einem Sohne des durch seine mikroskopischen Untersuchungen geschätzten Naturforschers, ein immer innigeres und tieferes wurde. Schon im nächsten Julimonate wurde sie demselben zu Etzelbach, einem Dorfe zwischen Rudolstadt und Jena, vermählt und lebte seitdem an der Seite ihres hochbegabten Gatten ein beglücktes und beglückendes Leben. – Es war ein bedeutungsvolles Zusammentreffen, daß Schiller denselben Adalbert von Gleichen-Rußwurm, welcher der Gatte seiner Tochter werden sollte, fünfundzwanzig Jahre zuvor über die Taufe gehalten hatte. Im Hinblick auf seine Pathenschaft schrieb Schiller im Jahre 1803 an die Eltern des Täuflings:
„Mein Herz ist Ihnen Beiden mit der redlichsten Freundschaft ergeben; urtheilen Sie daraus, wie innig es mich gefreuet, daß Sie mich durch ein neues und so liebes Band an sich knüpfen wollen! Möchte ich es erleben, Ihrem Sohne einmal etwas zu sein und den Namen seines Pathen wirklich zu verdienen!“
Wie glücklich wäre Schiller gewesen im Anschauen der mit allen inneren und äußeren Gütern des Lebens gesegneten Ehe seiner Tochter und seines Pathenkindes! Doch das Schicksal nahm ihn zu früh, viel zu früh dahin. Er hat das Glück seiner Tochter nicht mehr geschauet. Aber in treuer und inniger Pietät hat diese Tochter das Andenken des Vaters gepflegt.
Schloß Greifenstein ob Bonnland in bairisch Franken, der Sitz des Gleichen’schen Ehepaares, hat fast alle Notabilitäten der Zeit in Kunst und Wissenschaft in seinen Räumen ein- und ausgehen und manches schöne, auf begeisterter Verehrung unserer classischen Literatur gegründete Freundschaftsbündniß sich knüpfen sehen. Von Greifenstein aus gingen die Fäden des Schillercultus in alle Lande; denn die Pflege der Dichtungen ihres großen Vaters, die Vervollständigung und Reinigung seiner Werke, die Sammlung der von ihm hinterlassenen Entwürfe und Notizen, sowie die Herbeischaffung von Material zu einer Biographie Schiller’s, das waren die freigewählten und mit Liebe und Ausdauer gepflegten Hauptlebensaufgaben Emiliens. Daraus entwickelte sich für die immer thätige Frau die ausgebreitetste Correspondenz mit den ersten Männern der Literatur und der Wissenschaft, und es in kaum ein großer Name der Zeit, dessen Träger nicht, wenigstens vorübergehend, mit ihr in persönlicher oder schriftlicher Verbindung gestanden hätte.
Emiliens hauptsächlichstes Streben war bei dieser Thätigkeit darauf gerichtet, die Einwirkung ihrer Mutter auf die geistige Entwickelung Schiller’s, das so überaus edle und die schönsten geistigen Früchte zeitigende Verhältniß ihrer Eltern zu einander der Mit- und Nachwelt in seinem wahren Lichte vor’s Auge zu stellen. Aus diesen mit seltener Umsicht betriebenen Bestrebungen der Frau von Gleichen ging im Jahre 1855 ihr treffliches Buch „Schiller und Lotte“ hervor, welches das deutsche Volk mit freudigem Danke aufgenommen hat. Ihrer Mutter widmete sie außerdem noch ein eigenes mit dem verdienstvollen Professor Urlichs[WS 1] in Würzburg gemeinsam verfaßtes Werk unter dem Titel „Charlotte von Schiller und ihre Freunde“, welches fünf Jahre später erschien. Rechnen wir zu diesen beiden Hauptwerken Emiliens noch ihr Buch über die Beziehungen des Dichters zu Eltern und Geschwistern (1859), die Herausgabe von Schiller’s Kalender und seiner hinterlassenen dramatischen Entwürfe und Fragmente (1867), soweit dieselben nicht schon früher veröffentlicht wurden, so ergiebt sich eine Summe literarischer Thätigkeit, welche uns hohe Achtung für die reichbegabte Schiller-Tochter einflößt.
Von besonderem Interesse ist unter diesen Publicationen der Kalender ihres Vaters, welcher uns eigenhändige Niederschriften des Dichters aus der Zeit vom 17. Juli 1795 bis zu seinem Tode mittheilt, Notizen, welche uns theils interessante Einblicke in die Werkstatt seines Schaffens eröffnen, theils aber uns in sein Familienleben einführen und somit einen doppelten Werth in Anspruch nehmen dürfen, einen literarhistorischen und einen biographischen. Da finden wir Aufzeichnungen über Schiller’s Correspondenzen, über gefaßte dichterische Pläne, über Anfänge, Fortschritte, Abschlüsse und Aenderungen seiner Dichtungen, über empfangene und gemachte Besuche, über Familien- und persönliche Ereignisse etc., meistens Mittheilungen, welche zur Charakteristik des seltenen Mannes einen nicht zu unterschätzenden Beitrag liefern. Den Abschluß der Sammlungen Emiliens bilden die Mittheilungen aller über den ganzen Erdkreis verbreiteten Comités für die Säcularfeier der Geburt Schiller’s an die Tochter des Gefeierten, eine schätzenswerthe Fundgrube für den Culturhistoriker. Aus ihrem Nachlasse aber wird, sicherem Vernehmen nach, der bisher ungedruckte Briefwechsel Schiller’s mit seiner Schwester Christophine und deren Mann Reinwald herausgegeben werden. Derselbe beginnt mit dem denkwürdigen Jahre 1782, in welchem der Dichter als heimathloser Flüchtling in Bauerbach bei der Frau von Wolzogen unter dem Namen Ritter sichern Schutz und freundliche Aufnahme fand und hier, durch seinen Schwager Reinwald mannigfach unterstützt, „Cabale und Liebe“ und „Fiesco“ vollendete, den Plan des „Don Carlos“ entwarf und sich bereits mit der „Maria Stuart“ beschäftigte. Alle Stadien in der Entwickelung Schiller’s von jener Zeit an sind in dieser Sammlung, welche der Freiherr Wendelin[WS 2] von Maltzahn in Weimar zu Weihnachten d. J. herausgeben wird, vertreten.
Tritt uns das Bild der Tochter Schiller’s aus ihrem literarischen Wirken als das einer in hohem Grade intelligenten und allseitig gebildeten Frau entgegen, einer Frau, welche nicht nur einen großen Namen trug, sondern dieses großen Namens auch würdig war, so lernen wir sie von einer wahrlich nicht minder schönen Seite kennen, wenn wir sie in dem betrachten, was über ihr häusliches Leben berichtet wird.
Im Glücke demüthig und bescheiden, im Unglücke gefaßt und thatkräftig, stets von zarter Liebe und treuer Hingebung, war sie als Gattin und Mutter gleich vollendet. Die ersten Jahre ihrer Ehe brachten ihr durch Krankheiten und Todesfälle in ihrer Familie manche Prüfungen; so namentlich durch den Tod ihres im Jahre 1833 gebornen Töchterchens. Hohe Mutterfreude wurde ihr dagegen zu Theil, als ihr der 25. October 1839 einen Sohn schenkte, den noch heute lebenden talentvollen Maler Heinrich Ludwig von Gleichen. Später, als der Sohn heranwuchs, wechselte der Aufenthalt der Familie zwischen Greifenstein und Meiningen, wo ersterer in eine Pension gegeben worden war, und dann zwischen Greifenstein und Würzburg, wo [693] der Sohn die Schule besuchte. An letzterem Orte hatte Emilie den tiefen Schmerz, ihre treffliche Schwester Caroline, Wittwe des sächsischen Bergrathes Junot, welche von Rudolstadt, wo sie einem Erziehungsinstitute vorstand, zu ihr auf Besuch gekommen war, durch den Tod zu verlieren. Hart traf sie ferner das Geschick, als 1865 die Gattin ihres damals erst seit sechs Jahren vermählten Sohnes, Elisabeth, geborene Freiin von Thienen-Adlerflycht, im Wochenbette starb. Aber was das Herz einer Frau vermag, wenn Liebe es kräftigt und hebt und wenn ein klarer Geist und ein starker Wille ihm die Bahnen vorzeichnen, die es zu wandeln hat, das zeigte sich jetzt an der Tochter Schiller’s.
Kaum hatte sie der Mutter ihres Enkels die Augen zugedrückt, so trat sie, die schon alternde, mit jugendlicher Frische und Energie in die nur allzufrüh leer gewordene Mutterstelle ein. Mit aufopfernder Liebe und Treue hat sie die Erziehung ihres Enkels geleitet – bis an ihr Ende. Dieses trat nach fünftägiger Krankheit, einer Lungenentzündung („das ist mein Schiller’scher Husten; den verliere ich nicht wieder,“ hatte die Kranke noch kurz vor ihrem Hinscheiden gemeint), ohne Kampf ein. Die Beisetzung der Leiche fand zwei Tage darauf in der Familiengruft neben dem Sarge der Schwiegertochter statt. Außer dem Gatten und dem Sohne waren, wie berichtet wird, noch der Neffe Friedrich von Schiller (Karl’s Sohn) und zwei Brüdersöhne des Wittwers bei dem Acte zugegen, der in einfacher Feierlichkeit von Statten ging.
Mit Emilie von Gleichen-Rußwurm ist das letzte Kind Schiller’s dahingegangen. Das unmittelbare Blut des großen Mannes wandelt nicht mehr unter uns – aber in zwei Enkeln, dem eben erwähnten Friedrich von Schiller und Emiliens Sohn Ludwig, lebt noch fort, was an ihm sterblich war. Unsterblich aber sind die sich ewig erneuernden Ernten, die aus dem Samen seines geistigen Schaffens aufgehen; denn diesen hat der Fittig der Cultur über alle Welt ausgestreut, und das Tiefste und Zarteste, was wir empfinden, das Schönste und Erhabenste, was wir denken, das Edelste und Mannhafteste, was wir thun – es hängt, oft uns unbewußt, zusammen mit unserm Schiller. In diesem Sinne ist er unser Aller Erzieher und Vater geworden; in diesem Sinne sind wir Alle seine Schüler, seine Söhne.
Daß wir es aber in so vollem Umfange sind, wie heute, dazu hat zu einem nicht geringen Theile die thatkräftige Pietät der edeln Frau beigetragen, welcher diese Zeilen sich widmeten. Und darum soll, wenn wir in Dankbarkeit den Namen Schiller’s nennen, auch derjenige seiner Tochter nicht ungenannt bleiben.
Naturereignisse, von deren wissenschaftlicher Erforschung man weittragende Resultate, die Erkenntniß einer bedeutsamen Wahrheit erwartet, erregen nicht nur den kleinen Kreis der Fachgelehrten; auch wissenschaftliche Körperschaften, Regierungen, ja ganze Nationen nehmen daran einen warmen und thätigen Antheil, und so geziemt es sich auch, dieselben dem weiten Kreise der Gebildeten anzuzeigen, die Fragen und Probleme, um deren Lösung es sich handelt, kurz und in gemeinverständlicher Weise auch dem Nichtgelehrten darzulegen. Ein solches Ereigniß auf astronomischem Gebiete ist der am 8. und 9. December dieses Jahres stattfindende Vorübergang der Venus vor der Sonnenscheibe; und die Frage, welche durch die Beobachtung dieser Erscheinung beantwortet werden soll, ist einfach die: Wie weit ist der Centralkörper unseres Sonnensystems, die Sonne, von dem Planeten, den wir bewohnen, der Erde, entfernt?
Die Entfernung der Sonne von der Erde, oder mit anderen Worten der Halbmesser der Erdbahn, ist das Maß, mit dem wir Alles messen, sobald wir die Erde verlassen; kennen wir diese Entfernung in einem irdischen Maße, also z. B. in Meilen, so kennen wir damit die Entfernung aller übrigen Körper unseres Sonnensystems, ja sogar einiger Fixsterne, ferner die wahre Größe der Planeten und ihrer Trabanten, können endlich die Fragen nach der Lichtgeschwindigkeit u. A. lösen helfen. Aus diesem Grunde hat die Bestimmung der Sonnenentfernung zu allen Zeiten eine wichtige Rolle in der Astronomie gespielt, und die Bemühungen, dieselbe kennen zu lernen, wuchsen nur mit der Erkenntniß ihrer enormen Größe und der Schwierigkeit ihrer Ermittelung.
Die Bestimmung dieser Entfernung hängt auf das Engste zusammen mit der Bestimmung des Winkels, unter welchem, von der Sonne aus gesehen, der Halbmesser der Erde erscheint; kennt man diesen Winkel, so kann man durch einfache trigonometrische Rechnung aus ihm und dem bekannten Erdhalbmesser die unbekannte Entfernung der Sonne von der Erde ermitteln. Dieser Winkel heißt die Parallaxe der Sonne, und man versteht überhaupt unter der Parallaxe eines Gestirns, welches dem Sonnensystem angehört, den Winkel, unter welchem, von ihm aus gesehen, der Halbmesser der Erde erscheint, und drückt diesen Winkel wie jeden andern in Graden (°), Minuten (′) oder Secunden (″) aus (1° = 60′, 1′ = 60″). So spricht man also von der Mond-, der Venus-, der Marsparallaxe als den Winkeln, unter denen von den betreffenden Himmelskörpern aus der Erdhalbmesser erscheint.
Da man es in der Astronomie stets zunächst mit der Bestimmung von Winkeln zu thun hat, ehe man zu linearen Größen gelangt, so ist begreiflich, daß man erst die Parallaxe der Sonne kennen muß, ehe man auf ihre Entfernung in Meilen etc. schließen kann. Ferner ist leicht einzusehen, daß die Entfernung eines Körpers um so größer, je kleiner seine Parallaxe ist, denn je weiter man sich von einem Körper entfernt, desto kleiner, das heißt unter desto kleinerem Winkel, erscheint er.
Schon das griechische Alterthum (Aristarch von Samos) versuchte eine Bestimmung der Entfernung oder Parallaxe der Sonne; die außerordentliche Kleinheit der letztern, sowie die Ungenauigkeit der damaligen Beobachtungen verhinderte indessen eine auch nur annähernde Erkenntniß, und selbst den Bemühungen eines Kepler und Anderer im Beginne der neuen Zeit gelang es nicht, genaue Resultate zu erreichen. Bemerkenswerth und sowohl der Schärfe der astronomischen Beobachtungen, wie der Richtigkeit der Vorstellungen von den Größenverhältnissen des Sonnensystems entsprechend, ist die Thatsache, daß man im Laufe der Jahrhunderte für die Sonnenparallaxe immer kleinere Zahlen (für die Entfernung also umgekehrt immer größere) fand. So nahm das ganze Alterthum und Mittelalter seit Aristarch die Sonnenparallaxe zu 3′, die Entfernung zu einer Million geographische Meilen, an; Kepler (im Anfange des siebenzehnten Jahrhunderts) nahm 1′, Entfernung drei Millionen Meilen; der Jesuit P. Riccioli (Ende des siebenzehnten Jahrhunderts) 1/2′ oder 30″, Entfernung sechs Millionen Meilen; der Engländer Halley (Ende des siebenzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts) ging auf 121/2″ (Entfernung vierzehn Millionen Meilen) herab; und jetzt endlich wissen wir, daß die Sonnenparallaxe sich von 8.9″ oder die Entfernung von zwanzig Millionen Meilen nur wenig unterscheiden kann.
Bedenkt man, wie klein ein Winkel von 9″ ist – ein gewöhnliches Menschenhaar von 0.2 Millim. Dicke würde erst in mehr als 4 Meter Entfernung unter diesem Winkel erscheinen – so wird man sich über jahrhundertelanges vergebliches Bemühen nicht wundern. – Es fragt sich nun aber: wie kommen wir überhaupt zur Kenntniß dieses Winkels, da wir uns doch nicht auf die Sonne versetzen und die Erde von dort aus beobachten können?
Sehen wir zunächst von der Sonne ab und stellen uns einen Planeten, etwa den Mars, vor, so hat auch dieser natürlich eine Parallaxe, und zwar, wenn er der Sonne gegenüber (in Opposition) steht, also in den bequemen Nachtstunden sichtbar, um Mitternacht im Süden ist, eine etwa doppelt so große wie die Sonne, das heißt er ist dann der Erde etwa zwei Mal näher als die letztere.
[694] Sind (Figur 1) und zwei Erdorte, der Erdmittelpunkt, der Mars, so wird die Marsparallaxe (die gleich dem Winkel oder oder ist) an der Himmelssphäre durch den Bogen gemessen. Mißt man nun von den beiden Orten und die Abstände und der Marsprojection von einem Stern , so giebt ihr Unterschied offenbar den Bogen und damit die Marsparallaxe. Diese ist nun in günstigen Oppositionen des Mars zwei bis drei Mal
größer als die Sonnenparallaxe; und da man das Verhältniß der Entfernungen der einzelnen Planeten von der Sonne (verglichen mit der Entfernung der Erde) genau kennt, also auch ihr Parallaxenverhältniß, so ist es möglich, unmittelbar aus der Parallaxe eines Planeten die der Sonne zu bestimmen. Zugleich ist klar, daß diese Bestimmung eine um so sicherere wird, je entfernter einestheils die beiden Beobachtungsorte auf der Erde und je näher andererseits der Planet der Erde ist, weil im ersten Falle die Basis, von deren Endpunkte aus man mißt, eine größere und damit auch die Parallaxe eine größere ist und im zweiten Falle
die gleichfalls größere Parallaxe durch eine größere Zahl dividirt, also ein und derselbe Beobachtungsfehler im schließlichen Resultate eine geringere Unsicherheit, als unter weniger günstigen Umständen, hervorbringen wird.
Von allen Planeten ist nun Venus derjenige, welcher der Erde am nächsten kommt; das geschieht, wenn sie zwischen Erde und Sonne tritt; in diesem Falle ist Venus der Erde etwa vier Mal näher, als die Sonne, die Parallaxe der Venus also auch etwa vier Mal größer als die Sonnenparallaxe. Für gewöhnlich ist aber Venus dann unsichtbar, weil sie uns ihre nicht beleuchtete Seite zukehrt und dabei zwar in der Richtung
Erde–Sonne, aber entweder über oder unter der Sonne steht; nur in den sehr seltenen Fällen, wo sie dem Sonnenmittelpunkte auch nach oben oder unten sehr nahe, ihr Abstand von demselben kleiner als der scheinbare Sonnenhalbmesser ist, wird sie als kleiner, schwarzer, runder Fleck auf der leuchtenden Sonnenscheibe sichtbar. Läge die Bahn der Venus und der Erde in einer Ebene, so müßte jedesmal, wenn Venus in die Richtung Erde–Sonne tritt (wie man sagt, gleiche Länge mit der Sonne hat) – was aller 584 Tage stattfindet – dieselbe auch auf der Sonnenscheibe sichtbar werden; sie träte am östlichen Rande ein, ginge quer vor der Sonnenscheibe vorbei und träte nach acht Stunden am westlichen Rande wieder aus. Nun ist aber die Venusbahn gegen die Erdbahn um etwa 31/2 Grad geneigt, und ein Vorübergang vor der Sonne oder ein Venusdurchgang kann nur dann stattfinden, wenn Venus nicht nur gleiche Länge mit der Sonne hat, sondern auch nahezu gleiche Breite, das heißt, wenn sie auch einem der Durchschnittspunkte (sogenannten Knotenpunkte) ihrer Bahn mit der Erdbahn nahe steht; und dies findet eben sehr selten statt. Es liegt an den Verhältnissen der Umlaufszeiten von Venus und Erde und an der Neigung der Venusbahn gegen die Erdbahn, daß solche Vorübergänge nur in Zwischenräumen von acht, hundertfünfundeinhalb, acht und hunderteinundzwanzigeinhalb Jahren stattfinden, und zwar abwechselnd zwei im Juni und zwei im December. Die letzten ereigneten sich 5. Juni 1761 und 3. Juni 1769, die nächsten werden 8. December 1874 und 6. December 1882, die dann folgenden erst 2004 und 2012 und wieder im Juni eintreten. Wie man aus der Beobachtung eines Venusdurchganges die Sonnenparallaxe bestimmt, kann wenigstens im Principe aus Figur 2 klar gemacht werden.
bedeutet hier die Erde, die Venus, die Sonne.* Ist ein sehr südlicher, ein sehr nördlicher Erdort, so würde die Venus am obern, dieselbe am untern Sonnenrand in den Punkten und sehen. Mißt man nun diesen Abstand , so erhält man aus ihm zunächst die Parallaxe der Venus (strenger die Differenz der Venus- und Sonnenparallaxe), ferner, da das Verhältniß der Venus- und Sonnenentfernung oder -Parallaxe genau bekannt ist, auch die Parallaxe der Sonne, und schließlich, da die Entfernung der Erdorte und in Meilen oder Kilometern gegeben ist, auch die Entfernung der Sonne in Meilen oder Kilometern. In der That gestalten sich nun freilich die Verhältnisse nicht so einfach, sowohl wegen der Kleinheit der Erde, verglichen mit der Entfernung der Sonne, wie wegen des Hinzutretens eines neuen Elements, der Bewegung in der Zeit. Zufolge der relativen Kleinheit der Erde unterscheiden sich nämlich auch die von den entferntesten Punkten der Erde nach der Venus gezogenen Richtungen, die sich in und auf der Sonne abbilden würden, um nicht mehr als den fünfundzwanzigsten Theil des scheinbaren Sonnendurchmessers oder etwa 1′ 10″ von einander, sodaß ein selbst sehr kleiner Beobachtungsfehler doch im schließlichen Resultate einen bedeutenden Fehler hervorbringen kann. Die nebenstehende Figur 3 zeigt diesen Unterschied, wie er bei dem bevorstehenden Venusdurchgange stattfinden wird, in ungefähr richtigem Verhältnisse; die untere Linie giebt nämlich die scheinbare Bahn der Venus vor der Sonnenscheibe, gesehen vom nördlichen Sibirien, die obere dieselbe, gesehen vom südlichen Eismeere.
Den Abstand dieser beiden Linien oder Wege, welche die Venus vor der Sonnenscheibe zurücklegt, konnte man nun bisher nicht direct messen, sondern mußte ihn aus ihren Längen berechnen, und diese Längen ergaben sich auf einfache Weise aus den Zeiten, welche die Venus für die verschiedenen Orte braucht, um durch die Sonnenscheibe hindurchzugehen. Diese Methode der Durchgangszeiten oder Verweilungen heißt nach dem Engländer Halley, der überhaupt zuerst, zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts, auf die Wichtigkeit der Venusdurchgänge aufmerksam machte, die Halley’sche; bei ihr braucht man also nur eine während des Durchgangs richtig gehende Uhr und ein gutes, aber
* Die Größen und Entfernungen müssen, um die Erscheinung auf dem Papiere darstellen zu können, sehr abweichend von den in der Natur statthabenden Verhältnissen genommen werden; in der That würde, wenn man der Erde einen Durchmesser von zehn Millimeter giebt, die Venus einen gleichen, die Sonne dagegen einen von mehr als einem Meter haben, die Entfernung von der Erde bis zur Venus wäre richtig dann neunundzwanzig Meter, die bis zur Sonne hundertsechszehn Meter.
[695] einfaches Fernrohr auf zwei in nördlicher und südlicher Richtung möglichst weit von einander abstehenden Stationen, deren geographische Breite bekannt ist.
Eine zweite Methode, die der sogenannten Berührungen oder Contacte, welche von dem Franzosen de l’Isle zuerst, um 1750, in Vorschlag gebracht wurde, erfordert statt der nördlichen und südlichen vielmehr zwei östlich und westlich möglichst weit von einander entfernte Orte. Hier kommen nun nicht blos Zeitdifferenzen, sondern absolute Zeiten in Betracht; es werden nämlich die Zeiten des Ein- oder Austritts an verschiedenen Orten für sich verglichen; der beschränkte Raum verbietet aber, hier auf diese Methode weiter einzugehen.
Diese beiden Methoden von Halley und de l’Isle wurden nun zuerst bei den Venusdurchgängen von 1761 und 1769 angewandt, zu deren Beobachtung von den meisten civilisirten Nationen Expeditionen ausgerüstet und in die geeignetsten und von einander entferntesten Gegenden der Erde gesandt worden waren. Encke berechnete aus sämmtlichen Beobachtungen die Sonnenparallaxe zu 8,571″ und die Entfernung der Sonne zu 20,682,000 Meilen, eine Zahl, welche bis vor etwa fünfzehn
Jahren als sehr sicher, etwa bis auf 1/200 ihrer Größe, gehalten und allgemein adoptirt wurde. Neuere theoretische Betrachtungen und Beobachtungen, unter Anderen auch die Discussion der Marsopposition 1862, deuteten indessen auf eine etwas größere Parallaxe oder geringere Entfernung hin; aus sämmtlichen astronomischen Daten, aus denen sich überhaupt die Sonnenparallaxe bestimmen ließ, hat der amerikanische Astronom Newcomb neuerdings den Werth 8,85″ oder eine Entfernung von 20,035,000 geographischen Meilen abgeleitet.
Die beiden bevorstehenden Venusdurchgänge von 1874 und 1882 werden nun die Entscheidung bringen, und in Verbindung mit den andern zuverlässigsten Werthen die Entfernung der Sonne wohl bis auf 1/500 ihrer Größe genau ermitteln lassen. Obgleich, für den nächsten Durchgang insbesondere, die Bedingungen keineswegs sehr günstige sind, darf man dennoch nach den großartigen, von allen Seiten getroffenen Vorbereitungen, sowie aus der Anwendung aller in den letzten Jahrzehnten so sehr vervollkommneter und zum Theil ganz neuer astronomischer Beobachtungsmittel, eine erheblich größere Genauigkeit als bei den Durchgängen des vorigen Jahrhunderts erwarten. Es werden nämlich jetzt nicht nur die Zeiten des Ein- und Austritts der Venus beobachtet werden, sondern man wird auch mit Hülfe des Heliometers und andrer feinster Meßapparate die Abstände des Venus- vom Sonnenmittelpunkt, sowie die Ausschnitte des dunkeln Venusscheibchens vom Sonnenrande während des Ein- und Austritts auf das Sorgfältigste messen; ferner sollen auch während des Durchgangs photographische Aufnahmen gemacht und schließlich zur Beobachtung des Ein- und Austritts selbst Spectroskope zu Hülfe gezogen werden.
Die Beobachtungsstationen hat man diesen verschiedenen Methoden gemäß ausgewählt, zum Theil östliche und westliche, zum Theil nördliche und südliche. Auf allen sollen die Zeiten der Ein- und Austritte, beziehentlich beide Momente, wo der ganze Durchgang sichtbar ist, beobachtet, auf vielen die Abstände und Ausschnitte mikrometrisch gemessen, auf vielen wieder photographische Aufnahmen gemacht werden. – Die Vorbereitungen, welche die gelehrte Welt, Akademien und Regierungen, schon seit Jahren getroffen, sind die umfassendsten und sorgfältigsten; von fast allen civilisirten Nationen werden auf das Vollständigste ausgerüstete Expeditionen nach den entlegensten Gegenden der Erde gesandt, und in Sibirien, China, Japan, den Inseln des großen und indischen Oceans, in Australien, dem südlichen und östlichen Afrika, Persien, dem östlichen europäischen Rußland werden am 8. und 9. December hunderte von geübten Augen nach der Sonnenscheibe gerichtet sein, um durch ruhiges nüchternes Zählen und Messen die Daten zu erlangen, die zu der Erkenntniß eines der wichtigsten astronomischen Elemente, der Sonnenentfernung, führen sollen.
In der oben stehenden kleinen Weltkarte sind die verschiedenen Phasen des Durchgangs für die verschiedenen Gegenden der Erde entworfen, sowie die Stationen bezeichnet (durch die betreffenden Anfangsbuchstaben), welche von den einzelnen Nationen besetzt werden. Die Längen sind dabei von Greenwich aus nach Osten gerechnet. Der Verlauf des Phänomens ist kurz der folgende:
Am Abend des 8. December gegen Sonnenuntergang sehen die Bewohner der östlichen Inseln des großen Oceans (z. B. der Sandwich-Inseln, von Tahiti etc.) die Venus als kleines Scheibchen von 1′ Durchmesser am östlichen Sonnenrande eintreten; in der Karte bezeichnet die rechte, östliche Grenzlinie des einfach schraffirten Theils „Eintritt sichtbar“ die Gegenden, wo bei Sonnenuntergang gerade der Eintritt der Venus, die linke westliche Grenzlinie desselben die, wo bei Sonnenuntergang der Austritt stattfindet; die Sandwich-Inseln nehmen danach nur etwa die Hälfte des Durchgangs wahr.
[696] Nun kommt weiter nach Westen der Theil der Erde (auf der Karte weiß gelassen), wo der ganze Durchgang sichtbar ist; also ein großer Theil von Sibirien und China, ganz Japan, zwei Drittel des großen Oceans, ganz Australien und der indische Ocean, sowie die südlich davon gelegenen, leider bis auf wenige Inseln unzugänglichen Gegenden der Erde. Hier trifft man auf die meisten Stationen; die Erscheinung findet um die Mittagsstunden des 9. December nach dortiger Zeitrechnung statt. Weiter nach West vorschreitend gelangen wir zu den Gegenden, die nur den Austritt wahrnehmen (auf der Karte wieder nur einfach schraffirt). Bei den Orten der rechten östlichen Grenzlinie dieses Theils geht die Sonne gerade auf, wenn die Venus eintritt; diese, wie Madagaskar z. B., sehen also fast den ganzen Verlauf; bei den Orten der linken westlichen Grenzlinie dagegen ist Sonnenaufgang, wenn Venus austritt; sie sehen also so gut wie nichts. In diesem Theile liegt der größte, südliche und östliche Theil von Afrika, das westliche Asien, das südöstliche Europa. Bei uns in Deutschland, wie im ganzen westlichen Europa, ferner in ganz Amerika, ist die Erscheinung nicht sichtbar, d. h. die Sonne in der Nacht vom 8. zum 9. December unter dem Horizont, während Venus die Sonnenscheibe passirt.
Die Zahl der Beobachtungsstationen, welche von den verschiedenen Nationen besetzt werden, übersteigt die Zahl sechszig; alphabetisch geordnet besetzen nämlich: die Amerikaner (A auf der Karte) acht Stationen, zwei auf den Inseln des östlichen und südlichen großen Oceans, zwei in Australien, zwei auf den Inseln des südlichen indischen Oceans, zwei (oder drei) in Sibirien (China) und Japan; die Deutschen (Namen auf der Karte ausgeschrieben) fünf Stationen im südlichen großen, südlichen und westlichen indischen Ocean, Persien und China; die Engländer (E) fünf Stationen auf Kosten der Regierung, eine (in Mauritius) auf Kosten eines reichen Privatmannes, des Lord Lindsay; außerdem betheiligen sich noch die Colonialsternwarten in Sidney, Melbourne, Madras und am Cap der guten Hoffnung. Die Franzosen (F) haben sechs Stationen gewählt; die Holländer (H) zwei Stationen (Java und Insel Réunion); die Italiener (I) eine in Indien; die Portugiesen (P) eine in China; endlich die Russen (R) nicht weniger als dreißig Stationen, davon die meisten im östlichen europäischen Rußland und in Sibirien. –
Die fünf Stationen des deutschen Reiches sind mit allem Nothwendigen an Instrumenten und Geräthschaften aller Art auf das Reichlichste ausgerüstet und die Beobachter schon seit Monaten auf das Sorgfältigste an ihren Instrumenten eingeübt. Jede Expedition erhält ein transportables kleines Observatorium, versehen mit den verschiedensten astronomischen, physikalischen und meteorologischen Instrumenten für den speciellen Zweck des Venus-Durchgangs wie für andere astronomische und physikalische Beobachtungen; drei Stationen sind vollständig für die Beobachtung des Durchgangs ausgerüstet, mit Heliometer, photographischem Fernrohre und Fernrohr zur Beobachtung des Ein- und Austritts, Uhren etc.; es sind dies die Kerguelen (unter Dr. Börgen’s Leitung), die Aucklandsinseln (Dr. Seeliger) und Tschifu in China (Dr. Valentiner); bei der Expedition nach Mauritius (DDr. Löw und Pechüle) fehlt das photographische Fernrohr, bei der nach Ispahan (DDr. Fritsch und Becker) das Heliometer. –
Schließlich mögen noch einige der wichtigsten Zahlenangaben hier Platz finden. Bezogen auf den ersten Meridian von Greenwich und für den Mittelpunkt der Erde, findet die erste Berührung der Venus mit dem Sonnenrande beim Eintritte am 9. December früh 1 Uhr 46 Minuten statt, die letzte beim Austritte früh 6 Uhr 27 Minuten; die ganze Dauer des Durchgangs ist demnach für den Erdmittelpunkt 4 Stunden 41 Minuten; der geringste Abstand der Mittelpunkte beider Gestirne ist dabei 13′ 47″; der scheinbare Durchmesser der Venus 1′ 4″, derjenige der Sonne 32′ 32″. Für die einzelnen Beobachtungsorte fallen die Zeiten des Ein- und Austritts je nach ihrer Lage (Länge gegen Greenwich) sehr verschieden aus, wie aus dem folgenden Täfelchen zu ersehen ist:
Ortszeit des | Dauer des | |||||||||||||||
Ort. | Datum. | Eintritts. | Austritts. | Durchgangs. | ||||||||||||
Honolulu | Dec. | 8 | 3 | Uhr | 5 | M. | Nchm. | – | – | |||||||
Sydney | „ | 9 | 11 | „ | 52 | „ | Vorm. | 4 | Uhr | 25 | M. | Nchm. | 4 | St. | 33 | M. |
Nertschinsk | „ | „ | 9 | „ | 41 | „ | „ | 2 | „ | 32 | „ | „ | 4 | „ | 51 | „ |
Madras | „ | „ | 7 | „ | 12 | „ | „ | 11 | „ | 53 | „ | Vorm. | 4 | „ | 41 | „ |
Kerguelen | „ | „ | 6 | „ | 32 | „ | „ | 10 | „ | 59 | „ | „ | 4 | „ | 27 | „ |
Cap. d. g. H. | „ | „ | – | 7 | „ | 40 | „ | „ | – |
Die Differenz der Durchgangsdauer beträgt also z. B. zwischen Nertschinsk in Sibirien und den Kerguelen etwa 24 Minuten. Ebenso sind die Beschleunigungen und Verzögerungen der Ein- und Austritte gegen die Zeiten des Ein- und Austritts für den Erdmittelpunkt verschieden; ein Beobachter in 226° östlicher Länge von Greenwich und in 35° nördlicher Breite würde z. B. den Eintritt der Venus über 10 Minuten früher als ein Beobachter im Erdmittelpunkte wahrnehmen, ein Beobachter in 39° östlicher Länge und 39° südlicher Breite dagegen denselben nahe 11 Minuten später; die Differenz der Zeiten des Eintritts wäre also beinahe 21 Minuten und analog dann bei den Austritten.
Endlich kommt die ersehnte Kunde von dem vollständigen Siege über die Mucker, die mit feuriger Begeisterung, man möchte sagen mit Fanatismus, fochten und ihn den Gegnern theuer genug erkaufen machten. Das Terrain und die Position waren den Aufständischen so günstig, wie nur denkbar; hinter den dicken steinernen Mauern eines Hauses, das von der einen Seite durch steile Felsen geschützt ist, dem außerdem der dichte Urwald und verschiedene Sümpfe als Deckung gegen den Feind dienen, kann sich eine kleine Schaar lange Zeit gegen eine fast erdrückende Uebermacht vertheidigen, selbst wenn diese mehr eine Elitetruppe ist, als sich das von der brasilianischen Linie behaupten läßt, welche aus zusammengelesenen gepreßten Soldaten besteht, die weder von Heldenmuth noch von Begeisterung beseelt sind, gegen deren Tapferkeit und Ehrlichkeit sogar bedeutende Zweifel erhoben werden, die durch ihr Verhalten auf dem Leonerhofe nur zu sehr gerechtfertigt wurden. Gar manche der für die Mucker bestimmten Kugeln tödteten die Schweine der Colonisten, von welchen Letzteren Viele an der Seite der Soldaten fochten. Die Hühner fanden in ihnen lebhafte Verfolger, und bei ihrer Rückkehr nach Sao Leopoldo waren viele der Krieger mit solch befiederter Beute beladen.
Am 19. Juli 1874 fand der erste Angriffskampf der Soldaten gegen die Mucker statt, der von Morgens sieben Uhr bis etwa elf Uhr währte, wobei, durch eine Granate entzündet, das Maurer’sche Haus in Flammen aufging, in denen verschiedene Sectirer ihren Tod fanden, nachdem bereits neun Männer und vier Frauen erschossen worden waren und die Uebrigen sich in den Wald geflüchtet hatten.
Hierbei möchte ich nachträglich berichten, daß das Maurer’sche Haus wirklich eine Thür hatte, deren Existenz von den Zeitungen bisher verleugnet worden; auch die Form des Gebäudes hat sich als eine ganz gewöhnliche herausgestellt, während die dicken Steinmauern sich als Wirklichkeit bewährten.
Die Kanonen kamen wenig in Anwendung, da sie durch ungeschickte Bedienung bald untauglich wurden. Auf Seiten des Militärs blieben etwa vierzig Mann todt und verwundet bei diesem Kampfe, der sich aber am folgenden Tage gegen Morgen erneuerte, indem die Mucker vom Walde aus ein lebhaftes Feuer gegen die Soldaten eröffneten, wobei leider der tapfere Oberst Genuino seinen Tod fand.
Die Zeitungen geben die Zahl der streitbaren Männer bei den Muckern vor Beginn dieser Kämpfe auf etwa siebzig an; es stritten aber nicht blos die Männer, sondern auch die Weiber und Kinder. Eine siebzigjährige Frau z. B. hatte bereits mehrere Soldaten erschossen, ehe sie selbst schwer verwundet zusammenbrach; aber noch war ihre Kampfeslust nicht erloschen: sie zog einen Revolver, den sie verborgen gehalten, hervor und verwundete noch mehrere Mann. Mädchen von zehn bis zwölf
[697] Jahren sah man die Büchse mit geübter Hand gegen die Truppen abfeuern, die in der Handhabung der Gewehre weniger Geschicklichkeit entfaltet haben sollen.
Von den Schwierigkeiten eines Kampfes im Dickicht des Urwaldes hat man in Deutschland keine klare Vorstellung und wird deshalb nicht begreifen, wie es möglich war, daß diese Handvoll Leute, deren Zahl sowohl durch den Tod, wie durch Gefangennahme von Sectirern überdies außerordentlich zusammengeschmolzen war, immer noch im Stande war, Widerstand zu leisten, selbst wenn ihre Gegner keine vortrefflich geschulten, Todesfurcht nicht kennende Krieger waren.
Den bereits erwähnten Gefechten folgten noch verschiedene Kämpfe, die ihren rechten Abschluß erst dadurch fanden, daß der letzte Rest der Mucker, der mit Jakobinen in einer Höhle im Walde Zuflucht gesucht, entdeckt und niedergemacht ward, was vielleicht in Folge des wunderbar günstigen Terrains noch lange auf sich hätte warten lassen, wenn nicht der Verrath einiger Sectirer den Versteck zur Kenntniß gebracht. Sie waren bei einem der Gefechte entkommen, stellten sich freiwillig dem Gerichte und legten Bekenntnisse ab, in Folge deren hinreichende Mannschaft unter ihrer Führung ausgesandt ward, den Zufluchtsort Jakobinens zu umstellen, so daß für sie kein Entrinnen mehr war.
Die Aufforderung, sich zu ergeben, fand nur höhnische Erwiderung; die Sectirer kämpften mit dem Muthe der Verzweiflung, um Jakobinen geschaart, die auch auf die Truppen feuerte. Die Soldaten drangen mit dem Bajonnet vor, Mann für Mann niederstechend. Der Letzte, Rudolph Sohn, ein junger Mann in glänzenden Vermögensverhältnissen, dem in der letzten Zeit beim Weibertausche Jakobine zu Theil geworden, suchte seine Prophetin und zeitweilige Gattin mit seinem Leibe zu decken und stürzte sich auf sie, so daß die Bajonnete der Soldaten Beide gleichzeitig durchbohrten. Unter den bei diesem letzten Kampfe Gefallenen waren auch verschiedene Mädchen in Männerkleidung: den Uniformen der getödteten Soldaten.
Etwa vierzig zur Muckersecte gehörige Personen, unter ihnen Expastor Klein, befinden sich im Gefängnisse in Porto Alegre und sehen ihrer Processirung entgegen. Die Erbitterung der deutschen Colonisten, von denen viele als Freiwillige sich den Soldaten anschlossen, gegen die Sectirer war so groß, daß sie, wie auch manche der Soldaten, die Leichen der Mucker auf eine entsetzliche Weise verstümmelten, daß diese zum größten Theil unkenntlich waren. Man fand sie mit abgeschnittenen Nasen, Ohren, zerfetzten Gesichtern und vielfach durchstochenen Leibern.
Auf die vielen Opfer zurückblickend, die der Muckeraufstand gekostet, könnte man das bekannte, an die Freiheit gerichtete Wort der Frau Roland auf die Religion anwenden und ausrufen: „Religion, wie viele Verbrechen begeht man in Deinem Namen!“
Nicht uninteressant und am ungeeigneten Platze dürfte wohl eine biographische Skizze der Prophetin sein.
Jakobine Maurer’s Eltern – sie war eine geborene Menz – waren Wiedertäufer, in deren Hause das Mädchen schon als Kind den übertriebenen Andachtsübungen beiwohnen mußte, wodurch ihr Nervensystem so überreizt, sowie ihre Einbildungskraft durch die phantastischen Bilder und Prophezeiungen der Apokalypse, die mit Vorliebe vorgelesen ward, so erregt wurde, daß sie bei sonst kräftiger Constitution zuweilen Anfällen von magnetischem Schlafe unterlag, welcher Zustand erst später in so schrecklicher Weise ausgebeutet ward.
Ihr Mann, Johann Georg Maurer, der sich beim Beginne des Paraguay-Krieges als Nationalgardist in Porto Alegre befand, ließ seine Frau dorthin nachkommen und veröffentlichte in den Zeitungen, daß dieselbe für fünf Milreis (etwas über drei Thaler) dem, der einen Blick in die Zukunft thun wolle, sein Schicksal prophezeien werde. Ob diese Speculation sich als eine glückliche erwies, ist unermittelt geblieben, sicher dagegen, daß Maurer nach seiner Rückkehr auf die Colonie plötzlich als Wunderdoctor auftrat, indem er vorgab, daß seiner Frau in ihrem magnetischen Schlafe von Gott die Heilmittel kundgethan würden, die er bei den Kranken anzuwenden habe. Blinde, Lahme und mit sonst welchen Leiden Behaftete wandten sich gläubig an Maurer, und als Dankesgaben außer Nahrungsmittel aller Art ward manches Sümmchen in das Haus des Wundermannes getragen.
Vielleicht hätte das würdige Paar das Spiel mit der Leichtgläubigkeit der Menge nie weiter getrieben, wenn nicht der bereits erwähnte Pastor Klein in ihm ein passendes Werkzeug für seine Pläne zu finden geglaubt. Nachdem er durch Heuchelei die Colonisten für sich gewonnen und von ihnen zum Pfarrer auf dem Leonerhof gewählt worden war, trat sein ränkesüchtiger Charakter immer klarer zu Tage. Statt Frieden und Eintracht zu predigen, säete er Hader zwischen den Familien und zahllose Processe und Streitigkeiten waren das Werk von Hochehrwürden. Schließlich wurde seine Absetzung von den Colonisten beschlossen und durchgeführt, und der Seelsorger ward Landbauer, Haß und Groll im Herzen. Zum Werkzeuge seiner Rache und seiner Pläne glaubte er um so sicherer das Maurer’sche Ehepaar, dem er verschwägert war, wählen zu können, als er bisher in offener Feindschaft mit ihm gelebt hatte, welche er anscheinend fortdauern ließ, während er sich ihm im Geheimen näherte und Jakobinen zu der Rolle vorbereitete, die sie spielen sollte.
Ihre höheren Eingebungen beschränkten sich nun nicht mehr auf Recepte zu Wundertränkchen, sondern gaben sich jetzt hauptsächlich durch Auslegung der Bibel kund, zu welchen erbaulichen Uebungen sich viele Colonisten einzufinden pflegten. Expfarrer Klein unterrichtete Jakobinen insgeheim im Lesen, und als sie, von der die ganze Colonie wußte, daß sie keinen Buchstaben gekannt hatte, bei einer der Versammlungen am Pfingstfeste 1872 plötzlich die Bibel zur Hand nahm und den anwesenden Andächtigen daraus vorlas, riefen diese: „o Wunder!“ und waren von der Ueberzeugung durchdrungen, daß der heilige Geist sich in Wahrheit auf Jakobinen herabgesenkt habe, die ihnen, in einem weißen Gewande und mit einem grünen Kranze auf dem Haupte, von überirdischem Glanze umleuchtet schien.
Außer den wirklichen Anhängern fanden sich damals noch manche Andere, von Neugierde getrieben, ein, und am erwähnten Pfingsttage stand unter den Letzteren auch Expfarrer Klein, der offenkundige Feind Maurer’s. Nachdem Jakobine mehrere Capitel aus der Bibel gelesen und auf ihre Weise erklärt hatte, wandte sie sich an Klein und sagte, daß er zwar Jahre lang ihr Widersacher gewesen, jetzt aber, wie der heilige Geist ihr verkündige, sein Unrecht einsehe. „Nähere Dich mir, daß ich Dir verzeihe!“ rief sie feierlich und mit Staunen sahen die Anwesenden, wie Klein widerstrebend, aber gleichsam von einer höheren Macht bezwungen zu Jakobinen schritt, vor ihr auf die Kniee sank und unter Thränen und Schluchzen sein Unrecht und zugleich seinen Glauben an ihre höhere Sendung bekannte.
Dieser Theatercoup war von durchschlagender Wirkung: Alle fielen nun auf die Kniee und verehrten in Jakobinen die Verkörperung des göttlichen Geistes, und von diesem Tage an ist die Gründung der Secte als solcher zu rechnen.
Jakobine prophezeite entsetzliche Unglücksfälle, Sündfluth und andere furchtbare Naturereignisse für Alle, die nicht an sie glaubten, und welterschütternde Vorgänge, aus denen allein die Gläubigen siegreich hervorgehen würden, die sich mit großen Vorräthen von Lebensmitteln, Kleidern und Waffen zu versehen hätten. Eine Prophezeiung Jakobinens lautete dahin, daß alle Bewohner Porto Alegres einer ganz eigenthümlichen Seuche erliegen würden, und in den Zeitungen ward der Verdacht ausgesprochen, daß die Mucker beabsichtigten, die Wasserleitung der Stadt zu vergiften, was für sie allerdings leichter zu planen als auszuführen war. – Was dem Aberglauben besonders Nahrung gab, war das zufällige Eintreffen der prophezeiten Naturereignisse. Ein seltsames Meteor ward in der Luft sichtbar, flog über das Maurer’sche Haus hinweg und fiel jenseits des Ferrabraz in Santa Christina zu Boden; große Ueberschwemmungen verheerten unsere Provinz; in Folge ungeheurer Regengüsse fanden Erdrutsche statt, so daß, wo früher Feld war, nun Wald steht. Der Berg „Steinkopf“ bei Sao Leopoldo veränderte seine ganze Gestalt, indem der Gipfel mit seinen Felsmassen sich loslöste und langsam und schwerfällig sich herabwälzte, die Bewohner am Fuße des Berges mit gänzlicher Zerstörung ihrer Häuser und Besitzungen bedrohend, bis er plötzlich seine Richtung änderte, so daß er auf noch nicht bebautem Lande liegen blieb. Hier bot sich denn günstige Gelegenheit, das Bibelwort vom Glauben, der da Berge versetzet, zu mißbrauchen.
Unbegreiflich ist der Einfluß, den die Prophetin auf ihre Anhänger gewann: jeder ihrer Befehle, auch der widersinnigste und jedes natürliche Gefühl verletzende, wurde ohne Weigerung [698] ausgeführt. Die Kinder der Mucker durften keine Schule mehr besuchen, weil dort eine falsche Religion gelehrt werde; Beerdigungen auf dem Friedhofe waren streng untersagt. Waren Mitglieder einer Familie der Secte nicht beigetreten, so mußten sich die gläubigen Mitglieder gänzlich von ihnen lossagen, so daß z. B. Eltern, sich auf den Spruch berufend: „Lasset die Todten ihre Todten begraben!“ ruhig auf dem Felde arbeiteten, während der Sarg mit den sterblichen Ueberresten ihrer verheiratheten Tochter an ihnen vorübergetragen wurde.
Jakobine erklärte, daß die Prophezeiungen des alten Testaments auf ihre eigene Person zielten, in welcher der Messias fortlebe, wie gleichfalls die Apostel nicht gestorben seien, sondern in Gestalt von bestimmten Anhängern, denen sie die Namen der Jünger beigelegt, noch auf Erden wandelten. Der Mangel an Logik und die Widersprüche, die unausbleiblich waren, störten die Gläubigen in keiner Weise. Gemeinschaft der Weiber wurde eingeführt, und Sinnlichkeit und Fanatismus beherrschten die Gemüther.
Wie schon erwähnt, konnte die durch das Reformgesetz beschränkte Polizeigewalt nicht gleich anfangs energisch gegen die Sectirer vorgehen, obwohl die anderen Colonisten sich mehrfach an die Obrigkeit wandten mit dem dringenden Anliegen, dem tollen Treiben Einhalt zu thun.
Wieder bildete ein Pfingsttag einen Wendepunkt im Schicksale der Secte: am Pfingstfeste 1874 wurden von Jakobinen die Rollen zu dem Blutdrama, das sie in Scene setzen wollte, an die Anhänger vertheilt; besonders waren es auch alle Feinde Klein’s, die auf der Liste der Opfer verzeichnet waren.
Wie viel von dem schändlichen Plane zur Ausführung kam, ist bereits früher erzählt; wie Viele durch das Geständniß einiger Mucker, denen der Auftrag geworden, „Neu-Hamburg“ in Brand zu stecken, und die, von Gewissensbissen gequält, sich der Polizei stellten, gerettet wurden, läßt sich nicht übersehen, wie denn überhaupt die Höhe der Zahlen der Gefallenen, sowohl auf Seite der Sectirer wie der Soldaten, selbst in officiellen Blättern verschieden angegeben wird, was, für die Leser wenigstens, nebensächlich ist; das Hauptinteresse beruht auf den psychologischen Räthseln, die uns ungelöst entgegentreten. Traurig aber ist es, daß, so weit die Menschheit auch vorgeschritten ist, das Individuum doch noch so tief in dem Schlamme des Aberglaubens der dunkelsten Zeiten versinken kann und das Dichterwort auch heutzutage sich leider noch als allzu wahr erwiesen hat: –
„der schrecklichste der Schrecken,
Das ist der Mensch in seinem Wahn.“
Valle do Paraiso, 10. August 1874.
Die Jagd auf Flußpferde.
Das amphibiale Leben und Treiben der Flußpferde auf dem großartigen Hintergrunde der afrikanischen Natur zu schildern, will ich mir für einen spätern Gartenlauben-Artikel versparen und heute nur den Fang lebender Hippopotamen mit allen damit verbundenen Abenteuern und Hindernissen beschreiben.
Es ist einleuchtend, daß unter diesen letzteren diejenigen, welche das Terrain und die ungeheure Kraft der Kolosse bieten, nicht die geringsten sind. Ich will übrigens keine historische Dissertation verfassen, in die wohl gar Nimrod, „der gewaltige Jäger vor dem Herrn“, hineingezogen, in der aber jedenfalls der alten Aegypter, welche Griechen und Römer mit diesen Bestien versehen haben, gedacht werden müßte, auch nicht des Näheren beschreiben, wie in verschiedenen Gebieten Afrikas den Ungeheuern mit Harpunen und Geschossen nachgestellt wird, um Fleisch, Zähne und die Haut, aus der die berühmte Triebfeder orientalischer Sclavenarbeit, der „Kurbatsch“ (Peitsche) verfertigt wird, zu erlangen, sondern mich speciell an das Sansibargebiet Ost-Afrikas halten. Dort langte im Februar vorigen Jahres Herr Dietrich Hagenbeck, Sohn des bedeutenden Thierhändlers in Hamburg, an, um auf junge Flußpferde zu fahnden. (Vergl. Seite 754 der Gartenlaube von 1873.) Er war mit allem Fangmaterial prächtig ausgerüstet, miethete eine Barke der Eingeborenen, nahm schwarze Diener in Sold und begab sich sofort zur Festlandküste und an die Arbeit. Er versuchte zuerst durch die Eingeborenen Fallgruben auswerfen zu lassen, aber die Neger Ost-Afrikas sind das Abbild ihrer Heimath, üppig und deshalb faul und wenig geneigt, mehr zu erwerben, als sie zur Füllung ihres Magens von Tag zu Tag bedürfen, wozu drei bis vier Pfennige ausreichen. Außerdem eignen sich die Ueberschwemmungsgebiete ostafrikanischer Flüsse, der Aufenthalt der Thiere, schlecht zum Fallgrubensenken, da bereits bei einem Meter Tiefe das Grundwasser beginnt, man also statt Fallen ihnen sehr willkommene Badewannen herstellte.
Hagenbeck blieb während der ganzen Regenzeit auf der Jagd und machte Strapazen durch, denen eine weniger zähe Natur zehnmal erlegen wäre. Ich traf ihn im Juni 1873 in der Stadt Sansibar, woselbst ich vom Somâli-Lande über Aden eben angelangt war. Er bereitete sich gerade zu einer neuen Tour vor, und da meine Reise-Effecten noch nicht angelangt waren, ich also meine eigenen Arbeiten noch nicht beginnen konnte, so schloß ich mich ihm an, um auch einmal eine „Prise“ höherer Jagd zu nehmen.
Wir begaben uns vorerst nach Bagamoojo, um die katholischen Missionare zu besuchen, die jeden Reisenden obwohl ihnen oft bitter gelohnt wurde, z. B. durch die humbugreichen Erzählungen des Amerikaners Stanley, auf’s Freundlichste an ihrem bescheidenen Tisch Platz nehmen lassen und ihm mit Rath und That beistehen. Dann fuhren wir mit der Barke in den Kingani,[2] den wir, so hoch es das seichte Wasser erlaubte, aufwärts ruderten; denn der vielen Krümmungen wegen war es nicht möglich zu segeln. Hier, inmitten urwüchsiger Wildniß, warfen wir Anker und lagen, theils zu Fuß, theils in dem bereits oben gedachten europäischen Ruderboote, der Jagd auf die Unthiere und den Versuchen, junge zu fangen, ob. Zuerst probirten wir dies mit großen Netzen, die aus fingerdicken Stricken filirt waren. Aber die Alten gingen hindurch wie Hummeln durch Spinnengewebe und die Jungen folgten hinterdrein. Nachdem wir das Netz wieder geflickt, begaben wir uns mit ihm eines Tages, mit sechszig schweren Patronen versehen, abermals auf den Weg und faßten frei und angesichts einer Heerde von neun Alten und mehreren Jungen Posto. In einer muldenartigen Senkung des Flußbettes, welche zu beiden Seiten durch Bänke eingeschlossen war, trieben die Thiere ihr Wesen. Ohne weitere Kriegserklärung oder Aufforderung zur Capitulation begannen wir ein mörderisches Kreuzfeuer auf die Alten. Wir hatten nämlich vor, diese sämmtlich zu tödten und dann mit dem Netze auf die Jungen loszugehen. Sobald eines der unter dem Wasser sich verbergenden Thiere aus Luftmangel auf eine Secunde den Kopf zeigen mußte, sauste eine oder fuhren zwei Kugeln aus unseren Geschossen, oft zwar vorbei oder nur die Schädelhaut durchfurchend, oft aber auch, um an den Schläfen oder in den Hinterkopf einzudringen. Wie riesige Fische spattelten dann die Ungethüme, sanken, wenn verendet, unter und erschienen erst, wenn der Körper sich mit Gas gefüllt (nach einer halben bis einer Stunde), meist die Beine nach oben, an der Oberfläche, wenn nicht der Cadaver im Astwerke auf der Flußsohle hängen geblieben und dann verloren gegangen war.
Bis spät Nachmittags hatten wir die acht weiblichen gemordet, nur der Bulle wollte nicht sterben, sondern erschien immer und immer wieder, Blut schnaubend – denn er hatte
[699] [700] neben andern Wunden auch eine Kugel durch die Nase erhalten. – Die Patronen waren verschossen; die Sonne neigte sich dem Untergange, und unser Domicil, die Barke, war noch weit entfernt. So sahen wir uns denn genöthigt, „Endschaft zu machen des grausigen Spiels“ und den Schlußact auf den folgenden Tag zu verschieben. Als wir aber des andern Morgens an den Richtplatz zurückgekehrt, fanden wir ihn vom Vater und allen seinen Sprößlingen verlassen. Nur die mächtigen Leichname der Mütter lagen noch im Wasser und hatten sich, wie gestrandete Schiffe, an Bänke festgefahren.
Für diesen Tag war also die Aussicht auf Fang vorbei, und um nun nicht mit leeren Händen zur Barke zurückkehren zu müssen, beschlossen wir, aus zweien der Thiere Skelete zu präpariren, eines für Hagenbeck, das andere für mich. Es war übrigens durchaus keine feine anatomische Operation, sondern vielmehr die höhere Schlächterei; auch mußten wir statt des chirurgischen Bestecks ganz respectable Messer anwenden, um die zwei Zoll dicke Haut und die gewaltigen Muskelmassen loszutrennen; unsere und des Dieners vereinte Kraft reichte kaum aus, um den inhaltschweren Magen aus seiner Höhlung herauszuheben. Das mir zugefallene Skelet befindet sich jetzt im Berliner zoologischen Cabinet.
Das Fleisch konnten wir nicht benutzen, denn, da in der Nacht die Cadaver vom Mond beschienen gewesen, so hatten sie zu sehr haut goût bekommen. Der Tropenmond hat nämlich neben allerlei andern noch wenig untersuchten und noch weniger erkannten Kräften, mit denen er z. B. „Mondstich“ verursacht, auch die Eigenschaft, schnelle Verwesung herbeizuführen. Das Fleisch, besonders jüngerer Thiere, ist übrigens gut zu essen und man gewöhnt sich bald an den anfangs anwidernden leichten Moschusgeschmack desselben. Hippopotamuszunge kam fast täglich auf unsern Tisch. Die Mohammedaner sind im Zweifel, ob das Thier unrein ist oder gegessen werden darf; da es Borsten trägt, so ist es allerdings nicht recht koscher, in dem Grasfressen jedoch läßt sich schon ein Grund für seine unschuldige Natur finden. Dieses Fleisch kam übrigens dennoch nicht um, denn es hatte sich eine große, gar „gemischte Gesellschaft“ zur Tafel geladen. Auf allen Bäumen der Nachbarschaft saßen zu Hunderten Aasgeier, weißbrüstige Raben und andere beschwingte Unholde, die mit vorgestreckten Hälsen allen unseren Bewegungen folgten und kaum erwarten konnten, bis wir die Wahlstatt verlassen. Dicht bei uns im Wasser – es war nämlich unmöglich gewesen, die kolossalen Leiber auf’s Trockene zu ziehen – krochen scheußliche Krokodile, gierig mit ihrer furchtbar bewehrten spitzen Schnauze nach den Fleischfetzen schnappend, die ihnen Hagenbeck, als wären sie alte Bekannte aus einem zoologischen Garten, ab und zu hinwarf. Zwei unserer Schwarzen schlugen übrigens, um die Bestien im Zaume zu halten, mit großen Zweigen in’s Wasser, sattsam dazu schreiend, während wir und die andern abfleischten. Nachmittags waren die beiden Knochengerüste vom Fleische entblößt und zum Trocknen an ein galgenähnliches Gestell aufgehißt. Als es gedunkelt, brachten uns Hyänen und Schakale eine liebliche Dankserenade. Uebrigens hatte die ganze „Aasbande“ viele Tage und Nächte lang zu fressen, denn die acht Cadaver repräsentirten doch mindestens ein Gewicht von fünfzigtausend Pfund. Meilenweit trieb der Wind den Geruch über Berg und Thal.
Nachdem also unsere Versuche, im Netze ein junges Flußpferd zu fangen, mißlungen, griffen wir zur Harpune, ließen uns im Boote zwischen die schwimmenden Heerden treiben, die uns dann gewöhnlich nicht sehr freundschaftlich willkommen hießen, und warfen nach den sich Zeigenden. Die mitgebrachten Eisen erwiesen sich jedoch als unpraktisch, indem sich entweder ihre Spitzen an dem derben Hautpanzer umbogen, durch dessen Elasticität abbrachen oder, wenn sie selbst an weicheren Körperstellen eingedrungen, bald wieder ausrissen.
Es würde zu weit führen, wollte ich alle die ferneren Begegnungen, die wir mit den Hippopotamen gehabt, und die andern vielartigen Versuche, junger Thiere habhaft zu werden, erzählen. Alles blieb ohne Erfolg. Nur einmal hatten wir das „glückliche Malheur“ – wie sich Hagenbeck in einem Briefe an den Bruder (vergleiche Gartenlaube 1873, Seite 754) ausdrückte – ein Kiboko zu fangen, welches aber, wie dort zu lesen, bald darauf starb. Wir begaben uns später zum Wami-Flusse; es wollte uns aber dort ebenfalls nicht gelingen, und so sahen wir uns denn endlich gezwungen, zur Stadt Sansibar zurückzukehren; Hagenbeck, um sich zur Abreise in andere Jagdgebiete vorzubereiten, ich, um meinen Arbeiten nachzugehen. Da erfaßte das Fieber, dieser furchtbare Wütherich, meinen Freund und raffte ihn hinweg. Acht Tage lang und bis eine halbe Stunde vor seinem Tode saß ich an seinem Schmerzenslager; da brach auch ich zusammen. Lange dauerte es, bis ich soweit genesen, daß ich wieder reisen konnte.
Monate später, im April dieses Jahres, gelang es einem der katholischen Missionäre, ein junges Flußpferd zu erhaschen, und zwar ging dies so zu. Der Commandeur eines der englischen Kriegsschiffe – welche nun schon seit einigen Jahren die ostafrikanischen Gewässer heimsuchen, um Sclaven zu „befreien“, für welchen menschenfreundlichen Act die englische Regierung fünf Pfund Sterling per Kopf an die Mannschaft zahlt und die also beglückten Creaturen in die Zuckerplantagen Indiens und Natals versendet, damit sie dort bei den edlen britischen Pflanzern das „Arbeiten“ lernen – besuchte auf einer Razzia Bagamoojo und unternahm, um etwas „Sport“ zu haben, von einem der freundlichen Missionäre geführt und begleitet, einen Ausflug zum nahen Kingani-Delta. Er trug ein „Sniderrifle“; der Bruder war mit einem Militärstutzen, dem Geschenk eines österreichischen Kriegsschiffes, bewaffnet. Bald war der Uferwald erreicht. Herangezogen durch Flußpferdgebrüll schlichen sie dem Wasser zu. Sie gewahrten am gegenüberliegenden Ufer Mama Kiboko, die, ihr erst wenige Tage zählendes Junges auf Kopf und Hals tragend, eben den Fluthen zustieg. Der Missionär winkte dem Commandeur, er möge zuerst feuern – „mußte ich doch dem Gaste die Vorhand lassen,“ sagte er später zu mir – der Schuß krachte; die Kugel flog zu hoch und in den Schlamm. Aber Bruder Oskar hatte auch angelegt – hin sauste das Blei der Mutter durch’s Auge in’s Hirn; furchtbares Todeszucken rüttelte den gewaltigen Körper, das kläglich schreiende Junge in den zähen Schlamm schleudernd. (Hierzu das Bild!) Dann stürzte die Mutter zusammen. Der Commandeur, der keine – Zeit hatte, die Jagd fortzusetzen, trat den Rückzug nach Bagamoojo und zu seinem Schiffe an, während der Bruder verblieb, mitleidig zum kleinen, im Morast klebenden Flußpferdchen hinüber blickend, das er zur Waise gemacht, und welches er aufzufüttern beschloß. Den Fluß an dieser Stelle zu durchschwimmen, wäre der vielen Krokodile wegen eine Gottesversuchung gewesen; daher schritt und watete er über eine Stunde weit den Flußlauf aufwärts, wo eine ihm bekannte Fähre war. Aber der alte Baumkahn, der wohl schon manche Karawane Mann nach Mann übergesetzt, hatte seine Christophoro-Pflicht vollendet und lag bodenlos am Ufer. Unverzagt ging der Missionär zurück, überzeugte sich, daß der Kleine noch munter schreiend im Schlamme saß, und eilte dann stromabwärts in ein weitentferntes Negerdorf. Dort miethete er ein Boot, fuhr zu seinem Pflegling, „wickelte" ihn in sein Gewand, setzte zum Bogamoojo-Ufer über, ließ ihn dort zurück, bis er eine Negerbettstelle (Kitanda) und Träger geholt, legte die theure Last darauf und langte spät Abends auf der Missionsstation an.
Tommondo nahm zu an Alter, Fett und Vertrauen zu den Menschen. Es war ein gar possirliches Thier, und Keiner konnte sich des Lächelns erwehren, wenn es mit stets düster ernstem Gesichte, den schwarzen runden Bauch auf den kurzen „Paddenbeinchen“ schaukelnd, hinter seinem Pflegevater herwatschelte. Setzte sich dieser, so nahm es an seinen Füßen Platz und schlief, in Sicherheit gewiegt, sofort ein. Man hatte ihm ein Wasserbassin angewiesen, worin es häufig badete und spielte. Ein alter, tauber und zahnloser Newfoundländer, dem die Mission das Gnadenbrod gab, war sein steter Begleiter. Am komischsten nahm es sich jedoch aus, wenn Tommondo gefüttert wurde. Aus Allem, was zu einem guten Eierkuchenteig gehört, Mehl, Eier, Salz und Milch, wozu noch etwas Zucker und viel Wasser gesetzt, wurde eine dünne Suppe angerührt, diese in eine starke Champagnerflasche gefüllt und dem Thier in’s stets bereite Mäulchen gehalten. Es legte die breite Zunge dicht um den Flaschenhals und hinein lief die köstliche Brühe wie durch einen Trichter in den Schlund; eine zweite, dritte und oft noch vierte Flasche folgte; dann legte es sich hin und hielt, wohlgefällig schnarchend, eine lange Verdauungssiesta.
[701] Als ich das Thier in Bagamoojo sah, tauchte in mir sofort der Gedanke auf, daß es für mich ein sehr amüsanter Reisebegleiter sein würde. Ich mußte nämlich, um meine durch fast dreijähriges Afrikareisen geschwächte Gesundheit zu restauriren, das heißt meinen Körper einmal wieder „durchfrieren“ zu lassen, andrerseits auch, um mich zu ferneren Reisen neu auszurüsten, zur Heimath zurückkehren. Ich conferirte darüber mit Dr. Bodinus in Berlin; das „Geschäft“ war denn auch bald (per Telegraph) abgemacht und eine große ausgepolsterte Kiste zusammen gezimmert, in der es, durch häufige Seebäder erfrischt, sein Amphibienleben ungestört fortsetzen konnte.
Am 1. August ließ ich meinen Reise-Compagnon sammt seiner „Cabine“ an Bord des englischen Postschiffes hissen, kletterte selbst nach, und fort ging es durch die mächtigen Wellen des indischen Oceans unserer ersten Station, Aden, zu. Ich will nicht versuchen, die fashionable Langeweile, die ich an Bord dieses Postdampfers auszustehen das Vergnügen hatte, zu beschreiben, auch nicht des schlechten Essens und noch erbärmlicheren Tranks gedenken. Beides wurde aber auf Silber und in Krystall servirt, weshalb denn auch vierunddreißig Thaler pro Tag der Reise nicht theuer genannt werden darf; dieses Alles hat ja der brillante Pinsel meines Namensvetters Hildebrandt in seiner von Kossack herausgegebenen „Reise um die Welt“ dem geistigen Auge des Lesers in classischer Weise vorgeführt. In Aden angelangt, mußte ich einige Tage warten, da sich kein passender Anschluß nach Europa fand. Ich ließ Tommondo aus dem engen Verließ heraus und wusch ihn fein säuberlich. Er begleitete mich bei Nachbarbesuchen zu den Freunden, die ich vom früheren Aufenthalte her in Aden diesem „Eastern Strong- und Coalhold“, hatte. Da langte plötzlich in der Nacht eine officiöse Depesche an, daß Aden wahrscheinlich in einigen Tagen als „Pesthafen“ erklärt werden würde und allen von dort kommenden Schiffen in Suez die Segnungen einer zwanzigtägigen Quarantaine zu Theil werden sollten. Das Glück wollte, daß in derselben Nacht ein italienisches Postschiff für Genua einlief. Ich packte nun sofort meine Effecten und Tommondo ein, begab mich an Bord und fuhr ab.
Wir sollten, da der Cours durch Bab el Mandeb ging, bald merken, daß wir den „Wärme-Aequator“ passirten, denn das rothe Meer, mein alter Bekannter von meinen arabischen und abessinischen Reisen her, war noch ebenso heißblütig wie früher und machte seinem Namen, den es wohl daher erhalten, weil man darin krebsroth schwitzt, alle Ehre. Durch den Suezcanal in’s Mittelmeer fahrend und an Messina, Napoli und Livorno (das „Leghorn“ der Engländer) haltend, ging es nach Genova, „la superba“. Hatte ich bis jetzt nur freudige Stunden mit Tommondo erlebt, so begannen nun die trüben. Das italienische Bahnpersonal erklärte nämlich das Thierchen für eine „bestia feroce“; ich müßte mir also einen officiellen Schein ausfertigen lassen, und auch dann könnte das Ungethüm nur in einem verschlossenen Viehwagen per Güterzug spedirt werden. Ich ging von Beamten zu Beamten – überall dieselbe Antwort, denn Jeder griff von seinem Regal ein Buch herunter, das Adreßbuch sämmtlicher Einwohner der Arche Noah nebst Stand und Charakter, und zeigte mir auf Seite so und so, daß das Flußpferd zu den reißenden, die öffentliche Sicherheit gefährdenden Bestien gehöre. Schließlich ging ich zum Director und erlangte, wohl nur dadurch, daß ich durchblicken ließ, ich würde die ganze Mordgeschichte von der zahnlosen „bestia feroce“, die mit einer Flasche gefüttert wird, irgend einen italienischen Kladderadatsch übergeben, die endliche Erlaubniß, den Eilzug benutzen zu dürfen. Der das Billet für Tommondo ausfertigende Bahnbeamte kam mit den verschiedenen „Po’s“ nicht recht in’s Klare und machte zwei zu viel. – Armes, verkanntes Thier!
Ueber Verona und den Brennerpaß ging’s der alten Römerstraße entlang. Ich erzählte dort Tommondo von seinen Urvettern, den Elephanten, die der Kanibal Hannibal hier herüber geschafft. Tommondo guckte aus seinem durch warmes Wasser geheizten Kasten aufmerksam hinauf zu den Gletschern – es war das erste Eis, welches er sah. Weiter ging es über Innsbruck nach München. Während für meine Person Bier in Hülle und Fülle vorhanden, dem ich denn auch „nach so vielen Leiden“ tüchtig zusprach, war es desto schwieriger, für mein Amphib hinreichend Wasser zu erlangen; es schien, als wenn durch ein Wunder in Baiern alles Wasser in Bier verwandelt wäre. Aber durch die auch in Europa allgewaltig wirkende Macht des „Bakschisch“ – ich theilte von Genua bis Berlin über siebenzig Thaler Trinkgeld unter das oft wechselnde Bahnpersonal aus – gelang es mir dennoch, auch Tommondo befriedigen zu können.
Den 4. September, nachdem die Reise also einen Monat und drei Tage gedauert, langten wir früh Morgens in Berlin an, und ich beförderte den Kasten, in dem Tommondo gesund und – wie gewöhnlich – hungrig saß, auf einem federnden Karren, dicht verhangen, damit kein Menschenauflauf entstehe, zum zoologischen Garten. Aber das Auge des Neuigkeitskrämers durchdringt den dichtesten Schleier; denn in der Abendnummer einer Berliner Zeitung war zu lesen: „Das Nilpferd ist da!! Heute Morgen langte es auf dem Anhalter Bahnhofe endlich an, von seinem Wärter, einem Aegypter begleitet.“ Punkt!
Tommondo blieb fast einen Monat lang gesund und vergnügt; dann siechte es an einer Leberverhärtung hin und starb.[3]
Jetzt weilt es wohl in den Schattengefilden seiner Ahnen; es wird die Mutter wieder gefunden haben, die es in Schlamm einwiegt und zu köstlichen Reisweide führt.
- ↑ Wir verdanken den obigen überaus interessanten Artikel dem als Afrika-Reisenden bekannten Herrn Professor der Botanik Hildebrandt, demselben, der gelegentlich des Transports des Hippopotamus nach Berlin jüngst oft genannt wurde.
D. Red.
- ↑ Kingani heißt eigentlich „Mündung“ eines jeden Flusses, wird aber auf den Karten und in dem Sprachgebrauche für den ganzen Fluß, der nördlich Bagamoojos in’s Meer fließt, benutzt. Dieser heißt in der Landessprache Rusu oder Lusu (R und L vermag die Negerzunge nicht leicht zu sondern), das heißt „Fluß“ par excellence, wie auch Rusidschi (Lusidschi) „Fluß“ bedeutet. Niassa und Niangça heißt „See“; man dürfte also, um Pleonasmen zu vermeiden, nicht eigentlich Niassa-See, also „See-See“ sagen.
- ↑ Berliner Blätter berichten über das Ende des Tommondo Folgendes: So lange das junge Thier am Leben war, war sein Gesundheitszustand schwankend, einmal vortrefflich, das andere Mal sehr bedenklich. Dr. Bodinus reiste nach der Antwerpener Thier-Auction über Amsterdam und hatte dort Gelegenheit, sich über die Größenverhältnisse der jungen Nilpferde zu unterrichten, indem das dortige Nilpferdpaar schon viermal Junge zur Welt brachte, von denen übrigens nur eins am Leben blieb. Danach erschien das hiesige junge Nilpferd für ein angebliches Alter von sechs Monaten auffallend klein. Nimmt man den Befund der Obduction hinzu, der Knoten in Lunge und Leber aufwies, so ist man wohl zu dem Schlusse berechtigt, daß das nunmehr verendete Thier durch innere Krankheit an seiner vollen Entwickelung gehindert und darum so klein war. Obgleich der Gesundheitszustand des Thieres immer wechselnd war, so trat dieser Wechsel doch vor dem Verenden desselben besonders auffällig auf. Am Donnerstag Morgen fand es der Wärter so schwach, daß es kaum gehen konnte; es wurde zuvörderst in sein Bassin von zwanzig Grad Wärme gebracht; hier erholte es sich rasch und als der Wärter es rief, kam es ohne weitere Zeichen von Schwäche heran, nahm mit dem besten Appetite seine Nahrung zu sich und befand sich den ganzen Tag über ganz wohl. Nichtsdestoweniger ließ Dr. Bodinus einen Wächter die Nacht über bei dem Thiere Wache halten. Es schlief, in Decken gehüllt, einen anscheinend behaglichen Schlaf, legte sich gegen dreieinhalb Uhr Morgens auf die Seite und rührte nach einigen Minuten kein Glied mehr. Als der Wächter bei ihm eintrat, war das kleine Tommondo todt.
D. Red.
Aus den Tagen des letzten Ritters. Es ist wahr, im Mittelalter nahm der Handwerksmann innerhalb der Gesellschaft eine ziemlich tiefstehende Stellung ein. Der fahrende Ritter, der stolze Kaufherr, selbst der zerlumpte Scholar sah mit einer Art Verachtung auf das städtische Pack, das sich nach Knieriemen und Ahle bückte, herab. Doch würden wir sehr irren, wenn wir dieses übrigens nicht durchgehends und allerwärts bestehende Verhältniß auf den Mangel gesunden Ehrgefühls innerhalb der Handwerksschichten selbst zurückführen wollten. Der ehrsame Nürnberger und Augsburger Meister blickte mit Stolz auf sein Handwerk; sein Wort galt in der Gemeinde. Die Zunft, der er angehörte, wachte eifersüchtig auf die Beobachtung der Standesehre, und tausendfältig waren in Uebertretungsfällen die kleinen Mittel, mit denen die Zunft, namentlich in kleineren Städten, die Ehre eines Mannes, dem von Rechtswegen nicht beizukommen war, empfindlich zu schädigen verstand. In Erfurt lebte gegen die Neige des fünfzehnten Jahrhunderts ein Schneiderlein Namens Hans Vischer. In einer bösen Stunde hat sich Hans vielleicht mehr aus Unbedacht als mit bösem Sinne gegen Gesetz und Recht vergangen. Der Richter findet ihn nicht straffällig, aber die Zunft fühlt sich durch seine That an ihrer Ehre gekränkt. Unbarmherzig wird er von ihr verstoßen; die Geheimnisse des Meistersangs und der Tabulatur bleiben ihm fortan verschlossen; Meister und Gesellen spotten seiner und meiden den Armen. In der Werkstätte wird es stille – er ist ein ruinirter Mann.
In dieser schweren Noth hält er flehend seine Hände zu dem höchsten weltlichen Schirmherrn des heiligen römischen Reichs, dem ritterlichen Maximilian, empor, und siehe – der edle Fürst giebt dem schwergekränkten Schneiderherzen den langentbehrten Frieden wieder. Das war ein Tag froher Genugthuung, als er aus den Händen des ehrsamen Raths den pergamentnen Brief des Königs mit dem großen Wachssiegel empfing, welcher Hoch und Niedrig, vom Kurfürsten bis zum letzten Unterthan herab, fortan Schweigen und Vergeben gebietet.
Lesen wir den Brief, der hier genau nach dem Originale mit den
[702] zum sprachlichen Verständnisse nothwendigsten Veränderungen wiedergegeben wird:
„Wir, Maximilian etc. Da Hans Vischer der Schneider von den Meistern des Schneiderhandwerks zu Erfurt, dieses Handwerk zu treiben verhindert, auch in der Zunft und gemeinen Versammlungen gemieden und ausgeschlossen wird, deshalb weil er dabei gewesen, als durch eine andere Person einem Bauersmann in der Stadt Erfurt ein Hase genommen ist, wir aber glaublich Anzeige und Unterricht empfangen, daß solch’ Geschichte aus keinem bösen Vorsatz oder Willen, sondern unbedacht gehandelt, und deßhalb weder von den Regenten daselbst zu Erfurt oder der Person, der solcher Hase zugehört, noch auch von dem Bauersmann gegen den Thäter etwas vorgenommen würde und ferner, da der gemelte Hans zu derselben That keinerlei Hilfe oder Verheng gethan oder Hand angelegt, so haben wir auch aus anderen Ursachen mit wohlbedachtem Gemüthe, gutem Rathe und eigenem Bewegen folgendes erklärt: Wir ordnen und erklären auch aus königlicher Machtvollkommenheit wissentlich in Kraft dieses Briefes: die obberührten Geschichten, auch die Handlung und Erkenntniß, welche der Bürgermeister und Rath der Stadt Erfurt über den Handel zwischen dem Schneiderhandwerk und dem genannten Vischer gethan, sollen, obgleich der Hans Vischer zu solchem Nehmen des Hasen Rath und Hilfe gethan und deßhalb angezogen (zu Rechenschaft gezogen) werden mocht’, dem Hans Vischer nach unserem Erfinden an seiner Ehre und guten Leumbden keinerlei Verletzung, Nachtheil oder Schaden bringen, noch auch ihm weder innerhalb noch außerhalb des Gerichtes zu Schmach, Schaden und Ungut vorgehalten oder wider ihn gebraucht werden in kein Weise. Wir gebieten darauf allen und jeglichen Churfürsten, Fürsten, Bischöfen, Prälaten, Grafen, Rittern, Städten etc. und in Sonderheit dem gemelten Bürgermeister, Rath und den Meistern des Schneiderhandwerkes zu Erfurt und sonst allen anderen unseren und des Reichs Unterthanen und Getreuen, in was Würden und Wesen die seien, ernstlich und fest mit diesem Brief und wollen, daß sie deßhalb den obgenannten Hans Vischer Nichts zuziehen, irren, verhindern und beschweren, ihn ungehindert sein Handwerk üben lassen, in Zünften und anderen ehrlichen Versammlungen zuzulassen und ihn nicht zu meiden und auszuschließen, noch gegen Alles, was oben steht, zu handeln in kein Weise. So lieb einem jeden sei unser und des Reichs Ungnade und Strafe und dazu Verlierung einer Pön von zehn Mark löthigem Goldes, halb für die Cammer des Reichs, halb für den obgenannten Hans Vischer zu zahlen. Mit Urkunde dieses Briefs, besiegelt mit unserem königlichen anhangenden Insiegel. Gegeben zu Freiburg im Breisgau, am 27. August ao. 1498.“
Christliche Unterhaltungslectüre für Jung und Alt. Vor mir liegt eine Sammlung kleinerer und größerer Schriften, die sich unter den obigen Gesammt-Titel bringen lassen; sie sind ein Stück des geistigen Lebens der heutigen Zeit, also wohl werth, beachtet zu werden. Greifen wir nach dem ersten dieser Werkchen. Der Titel lautet: „Der Hirt“; darunter steht der Zusatz: Zum Besten der Missions-Anstalt „Kommet zu Jesu!“ zu Alt-Tschau bei Neusalz in Schlesien. Es ist also ein Buch, welches frommem Zwecke dient; so muß es so wohl selbst fromm sein, und man wird gern den kleinen Beitrag für das fromme Werk einsenden und dasselbe seinen Kindern, Hausgenossen und vielleicht Gemeindegliedern in die Hände geben. Aber nehmt euch in Acht mit dergleichen Sachen! Sie sind oft gefährliches Gift.
Ich will nicht von Geschmacklosigkeiten oder plumpen Erfindungen sprechen, von denen zum Beispiel das vorliegende Schriftchen wimmelt, denn welcher Sachverständige wird es glauben, daß ein zwölfjähriges Mädchen unter solchen Umständen zwanzig Menschen vom Wassertode erretten kann, wie es auf Seite 113 geschildert ist; ich will auch nicht von einer Moral sprechen, wie Seite 22 sie bietet, wo jedem Gesetze Hohn gesprochen wird und gelehrt wird: „Was du findest, das ist ein Geschenk Gottes und gehört dir darum von Rechtswegen zu;“ weit bedenklicher als dies ist unter vielem Andern eine Geschichte wie die „Der Commandant von Hohentwiel“ betitelte. Von diesem Mann und dieser Burg wird gesagt: „Gott der Herr hatte sie schon mächtig befestigt. Dazu setzte der Herzog einen Mann hinauf, den derselbe Gott inwendig fest gemacht hatte, damit der feste Mann die feste Burg gegen alle Anläufe des Feindes halte“. Und von diesem selben frommen Manne heißt es weiter, daß er sich von der Beute, die er bei seinen klugen und kühnen Ausfällen reichlich machte, eine Kirche baute, ja, daß er so viel erbeutet hatte, daß er sogar für künftige Zeiten dieser Kirche noch einen Kirchenschatz stiftete. Geht das nicht noch über die Geschichte vom heiligen Crispinus? Aber es kommt noch besser! Lesen wir Seite 120.
„Nun hatte er eine Kirche und einen Pastor; aber die Deutschen singen einmal gern. Zu gutem Kirchengesang gehört auch eine Orgel. Orgelbauer waren damals seltene Leute; sie waren noch schwerer zu haben, als sein Pastor Paulitz. Doch auch da fand sich Rath.(!) Nicht weit von Hohentwiel liegt die Stadt Ueberlingen; in dieser war ein Kloster mit einer schönen Orgel. Als er einst eine zahlreiche Mannschaft in der Festung hatte, rückte er im Dunkel der Nacht ganz still aus. Als der Morgen graute, kam er vor Ueberlingen an. Die Thore waren geschlossen. Er selbst schrob eine mit Pulver gefüllte Petarde an das Thor an und sprengte dasselbe. Die Wache saß gerade beim Kartenspiele und konnte an keine Gegenwehr denken. Seine ganze Schaar rückte in die Stadt. Ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, hatte er sie genommen. Die Bürger sind in Todesangst vor dem gefürchteten Manne. Aber kein Haus wird geplündert; kein Stück fremden Eigenthums wird angerührt; die strengste Mannszucht wird gehalten. Die Mönche jenes Klosters bebten ganz besonders vor ihm – ich weiß nicht, warum. So boten ihm eine Summe Geldes an. Er schlug sie aus, bat sich aber ihre Orgel aus, ‚weil er keine in seiner Kirche habe‘. (Triftiger Grund!) Mit tausend Freuden ward sie ihm bewilligt.
Nun hatte er einen Pastor, eine Kirche und eine Orgel. Man merkte es an ihm und seinen Leuten, daß Gottes Wort lebendig und kräftig unter ihnen wohnte.“
So wird von dem frommen Manne erzählt; dergleichen steht in einem Buch, zum Besten einer Missionsanstalt! Was bedarf es mehr?
Zur Beachtung. Da, wie sich nach Abschätzung des Manuscripts nachträglich herausstellte, die von uns angekündigte Erzählung „Das Capital“ von Levin Schücking den Raum eines Quartals überschreitet, so haben wir die Veröffentlichung derselben nunmehr erst für den Anfang des nächsten Jahrgangs in Aussicht genommen.
L. in Frbg. Gewiß hat man versucht, durch ausreichende Unterstützung die Wunden des letzten Krieges in Etwas zu heilen. Und mehr ist in solchem Falle dem Vaterlande nicht möglich zu thun. Daß noch offene Wunden bluten, ohne daß man sich auch nur die Mühe giebt, solche zu heilen oder doch weniger schmerzhaft zu machen, das ist freilich hart und betrübend.
So schreibt man uns aus Ostpreußen: „Nicht weit von Rußlands Grenze liegt das Dorf L. bei P. im Kreise St. Außerhalb des Dorfes liegt eine kleine Kathe, in welcher die über sechszig Jahre alte Wittwe Christine Bartel wohnt. Ihr Gatte ist vor einem Jahre gestorben – er hat den Schmerz über den gefallenen Sohn nicht lange überlebt. Man muß es gesehen haben, wie sich die tiefgebeugte Frau nur mit Mühe fortschleppt, um den ganzen Jammer eines solchen Daseins zu begreifen. Die Hände wollen nicht mehr so fort, wie vor Jahren, um das nöthige Brod zu verdienen; der Leib wird daher schwach, und ein unglücklicher Fall in diesen Tagen hat sie noch elender gemacht; ihre Mittel aber reichen nicht aus, den Arzt zu Hülfe zu ziehen.
Ja, ihr Sohn, Albert Bartel, den sie erzogen, daß er ihr im Alter eine Stütze werde – er fand auch, wie so viele tapfere Söhne Ostpreußens, vor Metz den Heldentod. Die alte Mutter hat gehofft, man werde bei der Vertheilung des Geldes für Invaliden und Hinterbliebene auch an sie denken. Ihr Hoffen war vergebens. Verschiedene Male hat sie um Ueberweisung einer laufenden kleinen Unterstützung gebeten – man hat ihr einmal fünfzehn (!) und ein anderes Mal fünf (!!) Thaler gegeben, und auf ein ferneres Schreiben (im verflossenen Winter abgesandt) hat man sie bis jetzt keiner Antwort gewürdigt. Ihr einziger Trost in ihrer Noth ist die Hoffnung, daß sich der müde Körper bald auflösen werde. – Für eine brave Mutter, die dem Staate einen Helden erzogen hat, ist dieses Loos doch gewiß ein unverdientes.“
Verwalter K. R. in W. Ihre Klage über die Holzvergeudung der Dienstboten beim Anfeuern der Steinkohlen und dergleichen und über die steigenden Holzpreise steht nicht vereinzelt da; sie bildet den Inhalt nicht weniger Zuschriften. Um so mehr freut es uns, Allen die Aussicht auf eine gründliche Beseitigung dieses allgemeinen Uebels eröffnen zu können. Ein erfinderischer Kopf hat eine Zündmasse zusammengesetzt, die zum Anbrennen von Torf, Coaks, Briquettes, Braun- und Steinkohlen, ohne Anwendung eines Stückchens Holz, dienen. Dieser chemische Zunder, dessen Mischung wir natürlich verschweigen, von der wir aber versichern können, daß sowohl deren Bereitung wie Verwendung gänzlich gefahrlos ist, kann für einen Pfennig das Stück geliefert werden, und ein Stück genügt zum einmaligen Anbrennen. Bedenkt man, wie viel Mühe, Zeit, Geld, Holzraum und Aerger durch diese neue Zündmasse erspart wird, so muß man ihr eine möglichst rasche und weite Verbreitung wünschen. Der Erfinder und Geheimnißbesitzer ist ein Herr O. Syllmasschy in Leipzig (Schletterstraße Nr. 2). An außerdeutsche Staaten würde derselbe, wie man uns mittheilt, das Monopol der Verfertigung und des Vertriebs dieses Zunders gegen eine werthentsprechende Summe ablassen.
gingen wieder ein: Ertrag einer von Deutschen in Chauxdefonds veranstalteten Sammlung 304 Thlr. (Bravo und die besten Grüße aus der Heimath); F. Schrader in Hamburg 2 Thlr.; Schnübel in Reichenbach 1 Thlr.; Abendgesellschaft in Liegnitz 4 Thlr. 5 Ngr.; Sammlung von Bokellen 4 Thlr.; M. N. in England 3 Thlr. 12 Ngr.; X. in Hamburg 1 Thlr.; H. W. in Ebersbach 20 Thlr.; Dr. Graber in Carlsruhe 2 Thlr.; Kegelgesellschaft Ulk in Dresden 12 Thlr. 10½ Ngr.; N. N. in Frankfurt a. O. 1 Thlr.; E. L. 10 Thlr.; Sam. Brüll in London 3 Thlr.; Einer der sein Schöppche Wein gern trinkt 1 Thlr.; Emilie Beaupain in Vohwinkel 2 Thlr.; am runden Tische im Paradiese zu Oelsnitz 2 Thlr. 6 Ngr. 1 Pf.; Anna Weber in Berlin 2 Thlr.; Sammlung der Schulkinder in Gebstadt bei Buttstädt 2 Thlr. 2½ Ngr.; F. P. 1 Thlr.; Gesangverein Harmonie in Varel 9 Thlr. 5 Ngr.; gesammelt in der ersten und zweiten Knabenschule zu Porgau 4 Thlr.; Ertrag eines Concerts in Luckau 4 Thlr. 5 Ngr.; Obersteiger Hoewert in Kürstein bei Waldenburg 5 Thlr.; Turn- und Feuerrettungsverein in Bunzlau 23 Thlr.; Borchert in Oppeln 5 Thlr.; Roloff in Danzig 1 Thlr.; vom Watteblasen in Engelrath 4 Thlr.; A. D. in Cairo 2 Thlr. 15 Ngr.; Sammlung in der Gemeinde Schönheide durch den Ortsvorstand Lentz 34 Thlr. 11 Ngr.; Sammlung in den Orten Orlamünde und Napfhausen, durch den Stadtrath in Orlamünde 23 Thlr. 6 Ngr.
- Die erste Unterstützungsgabe von Thlr. 1500 ging unter dem heutigen Tage an das Hülfscomité in Meiningen ab.
Leipzig, den 15. October 1874.