Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[575]

No. 36.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Künstler und Fürstenkind.[1]

Von August Lienhardt.


1.

Als wir zusammen, mein lieber Gottfried, Italien durchzogen, vom Schnee der Alpen bis zu den Gluthen des Vesuv, von den gletschergenährten Fluthen des Po bis zu jenem Gestade Hesperiens, wo wirklich „die Citronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn“, da lachtest Du oft über Deinen scheuen Walter, und nanntest ihn – Weiberfeind! Denn nicht die feurigen Blicke der Venetianerin, nicht der schleierumwobene Alabasternacken der Tochter Mailands, nicht das stolze Profil der Römerin vermochte den Spröden zu rühren! Und während Du unter den Blumen des blüthenreichen Landes wie ein Schmetterling umherflattertest, fandest Du kaum ein mitleidiges Achselzucken für Deinen Freund, der nur Augen hatte für die Ebenbilder längst vermoderter Schönheiten.

Ach, mein Herzensfreund, wie ist das anders geworden! Wohin ist all mein Weiberhaß?

Doch höre Alles vom Anfang an. Ich hatte bereits eine Woche in den Räumen des Glaspalastes zu München der Besichtigung der Kunstausstellung gewidmet. Meine Seele hatte geschwelgt in den erhabensten Geistesproducten eines halben Jahrhunderts. Ich warf noch einen letzten Scheideblick auf Schwind’s „Sieben Raben“, als ich in meinem Sinnen plötzlich vom Wohlklang einer weiblichen Stimme aufgescheucht wurde, welche ihre Bewunderung über das seltene Kunstwerk aussprach. Ich sah auf und sah eine junge Dame neben einem im kräftigen Mannesalter befindlichen Herrn vor dem Bilde stehen. Ihre Stimme hatte mich so sympathisch berührt, daß ich an der Stelle, dem Anscheine nach in ein Bild vertieft, wartete, bis sie mir das volle Gesicht zuwendete. Gottfried, ich kann Dir nicht schildern, wie mich dieses Antlitz bis in die innersten Fibern meines Herzens ergriff. Diese seelenvollen Augen, in welchen man unterzugehen wünscht wie in einem tiefen See voll Seligkeit, diese reine, durchgeistigte Stirn, dieser edle Mund, diese feinen Züge, welch’ reiches Geistes- und Gemüthsleben verrathen sie! Diese Gestalt voll Ebenmaß – jede Geberde eine Venus von Milo! O Freund, ich kenne mich nicht mehr!

Nenne mich einen Schwärmer – aber ich konnte mich von dem Gedanken nicht trennen, daß es mein Tod sein würde, wenn ich mein Schicksal nicht mit diesem erhabenen Wesen verknüpfen dürfe. Und doch wußte ich gar nicht, wer ihr Begleiter war, ob Vater, Bruder oder Gatte. Vergeblich bot ich alle meine Bekannten auf, um mich nach der Fremden zu erkundigen.

In der Angst, daß sie sich zu früh entfernen möge, kehrte ich mich weder an die Vorschriften des Reglements, noch der guten Lebensart. Ich zog mein Taschenbuch hervor und entwarf eine Skizze der Fremden, mir Alles in’s Gedächtniß prägend, was nöthig, um sie mir wieder vorzuzaubern. Ach, wie schwach wird mein Pinsel sich erweisen gegenüber solchem Liebreiz!

Wie ich gefürchtet, so kam es. Während ich von einem Freunde aufgehalten worden, hatten die Fremden sich entfernt, und als ich nacheilend mich durch ein an der Ausgangspforte entstandenes Gedränge wie ein Aal gewunden hatte waren sie davongefahren. Ich verbrachte die erste Woche mit Postenstehen in der Ausstellung, aber sie kam nicht wieder. Ich ging jeden Abend in die Theater, aber ich fand sie nicht. Ich durchmusterte den Adreßkalender, erkundigte mich in Privathäusern, erforschte alle Gasthöfe, war häufig in den Galerien und in den Ateliers von Kaulbach und Piloty – aber vergebens. Ich sah sie nicht wieder. Ihr Bild ist jedoch unauslöschlich in mein Herz gegraben. Danach war mein Entschluß gefaßt. Ich muß ein Werk ersten Ranges malen, wozu mir mein Gedächtniß und meine Skizze dienen sollen, und mit Hülfe dessen muß ich sie wiederfinden, und wenn ich’s in allen Hauptstädten Europas ausstellen müßte. Lebe wohl, mein lieber Gottfried, und denke in der ewigen Stadt ein wenig der Qualen Deines
Walter.


2.

Victoria! Der Wurf ist gelungen! Ich habe sie wieder gefunden, frei von allen Banden! Dennoch bin ich der Unglückseligste aller Sterblichen!

Höre, theuerster Gottfried, und beklage mich, denn zu rathen, zu helfen ist mir nicht! Es sind jetzt Monate verflossen, seitdem ich sie zum ersten Male sah, und keinen Tag ist ihr Bild in meinem Herzen geschwächt gewesen. Ich habe während des Winters das entworfene Bild vollendet. Ich habe mit der ganzen Gluth meiner Seele, mit allem Flug meiner Phantasie, mit voller Leidenschaft meines Gemüths, mit der vollkommenen Sorgfalt eine Liebenden gemalt und, ich darf es sagen, ich habe mein bestes Kunstwerk vollendet. Ich habe sie als Schneewittchen dargestellt. Seit Ostern ist das Bild ausgestellt, zuerst in München, dann in Dresden, Berlin, Frankfurt. Es ist, wie ich glaube, ziemlich ähnlich geworden. Ich hoffte, daß entweder der Gegenstand meines Sehnens selbst, oder ein Verwandter, oder ein Freund das Urbild


  1. Die obiger Novelle zu Grunde liegenden Thatsachen sind exclusiven Kreisen bekannt, und dürften nicht wenige unter unseren Lesern leicht errathen, wo der „Künstler“ und das „Fürstenkind“ zu suchen sind
    D. Red.

[576] erkennen und mich zur Rede stellen würde. Ich wachte wie ein Argus vom Morgen bis in die Nacht, mir die Zeit oft mit Copiren, oft mit Skizziren vertreibend. Schon über dreißig Kaufliebhaber hatte ich abgewiesen – hoffte ich doch, daß die Kritik, welche mein Bild sehr hervorhob, in den betreffenden Kreisen bemerkt werden würde. Vergebens!

Ich übergab mein Gemälde endlich der Rheinischen Kunstausstellung und wanderte mit bis Köln. Schon war ich der Gegenstand der Bemerkungen der Aufseher geworden, – da eines Tages saß ich unweit von meinem Bilde, zum Zeitvertreib Skizzen in mein Taschenbuch zeichnend, als ich aus dem andern Saale her eine volle Männerstimme einen der Aufseher nach dem Inspector fragen hörte.

„Er ist ausgegangen.“

„Können Sie mir dann nicht sagen, wo das Bild ist, das kürzlich der Königin so aufgefallen?“

„Ah, vielleicht meinen Sie das ‚Schneewittchen‘? Es ist gleich hier neben.“

„Führen Sie uns hin, mein guter Mann!“

Ich hörte Schritte und ein Damenkeid rauschen; nach einer Weile ließ sich wieder die volltönende Männerstimme vernehmen:

„Merkwürdig! Die Königin hat Recht! Allerdings eine auffallende Aehnlichkeit. Höchst sonderbar! – Hören Sie, mein lieber Mann, das Bild scheint noch nicht verkauft zu sein?“

„Nein; aber der Künstler will es gar nicht verkaufen; er scheint ein Sonderling zu sein, denn er hat schon viele glänzende Gebote abgewiesen.“

„Können Sie mir seine Adresse angeben?“

„Er ist gewöhnlich in der Ausstellung. Da ist er!“

Dieser Ausruf scheuchte mich auf. Im nächsten Augenblicke stand ich sprachlos da. Vor mir befand sich das Ziel aller meiner Wünsche, am Arme desselben Herrn, mit dem ich die Dame im vorigen Jahre in der Münchener Ausstellung gesehen. Petrus, als ihm der Engel in himmlischer Glorie in der Finsterniß des Kerkers erschien, mochte es gewesen sein wie mir. Es schien mir, als ob die Seele durch meine Augen entweichen wollte; ich kam mir wie verklärt vor.

„Ich freue mich, den Schöpfer dieses herrlichen Kunstwerkes kennen zu lernen,“ begann der Herr; „ich hätte den Wunsch, es zu kaufen.“

„Ich bedaure,“ raffte ich nach einer Pause zusammen, „allein ich beabsichtige nicht, es zu verkaufen.“

„Wissen Sie, mein Herr, daß ich Sie nicht so leicht loslasse! Ich finde eine Aehnlichkeit, die mir kaum auf bloßem Zufall zu beruhen scheint, und wenn Sie uns nicht näheren Aufschluß geben, so werden Sie meiner Schwester kaum die Bitte abschlagen können, es uns abzulassen. Bestimmen Sie den Preis !“

„Ich bitte, ja!“ ließ sich jene melodische Stimme vernehmen, die mir so zu Herzen drang. Und doch blieb ich standhaft.

„Vielleicht wäre Ihnen mit einer Copie gedient?“

„Nein! Dann habe ich noch einen andern Vorschlag. Wie Sie auch zu diesem Kopfe gekommen sein mögen, wir wollen uns zur Herstellung des neuen Kunstwerkes gleich des Urbildes bedienen. Wählen Sie einen ähnlichen Vorwurf wie diesen, und meine Schwester sitzt Ihnen dazu. Wir werden den Winter in Berlin zubringen, und es wird uns am besten passen, wenn Sie das Bild dort anfertigen. Die Bedingungen überlasse ich Ihnen zu bestimmen.“

„Es wird mir eine Ehre sein.“

„Ich werde erfreut sein, Sie vom Herbst an in Berlin zu empfangen. Hier meine Karte!“

Während der Herr seine Karte aus der Brieftasche zog, versuchte ich die Dame anzureden; allein ein Zug weiblicher Hoheit schüchterte mich so ein, daß ich nicht den richtigen Gedanken fand und nur etwas stotterte, bis der Herr, schon wieder seine Schwester am Arme, sich empfahl, mich offenen Mundes mit der Karte in der Hand zurücklassend. Ich las die letztere und ließ sie vor Bestürzung fallen. Es stand darauf.

Herzog Ernst von Waldemberg.

Lebewohl, Du schöner Liebestraum! Lebe wohl, mein Freund! Entweder Du hörst lange nichts mehr von mir, oder Du schließest mich selbst in die Arme.

Ob ich mein Versprechen halte?

Dein Walter.


3.

          Liebe Amalie!

Litt ich schon Schiffbruch in Deinem Herzen, oder komme ich noch zeitig genug, um an einem Strohhalme mich zu retten? Ach, wüßtest Du, welcher Abstand besteht zwischen dem Versprechen auf einsamem Schlosse, wo die Vergehen des Schafbuben eine Woche lang den Text zum Gespräche bilden, und dem Worthalten in der Residenz, wo jede Stunde des Tages ihre Bestimmung eine Woche im Voraus erhält, wo an ein Weltereigniß in der nächstfolgenden Stunde kaum mehr gedacht wird, – Du würdest mildernde Umstände zugeben, Amalie, und verzeihen. Was dachte ich auch nur, als ich Dir versprach, jeden Abend zu schreiben! Der Bericht eines einzigen Tages wird genügen, Dich zu überzeugen, daß hier Wortbrechen keine Sünde ist.

Wenn ich um neun Uhr mit Ernst das Frühstück eingenommen und er in’s Abgeordnetenhaus sich begeben hat, mache ich mich für meine Professoren bereit. Gesang, Musik, Sprachübungen und Literatur füllen den Morgen aus. Nach dem Gabelfrühstück folgen in bunter Reihe Besuche in den Ateliers und Galerien, auf denen allen mein Bruder mich begleitet; kaum komme ich nach Hause, um für Tisch Toilette machen zu können. Nach Tische ist entweder Empfang bei uns, oder wir besuchen das Theater, ein Concert, eine Soirée. Bälle gab es bis jetzt noch nicht. Sind wir endlich wieder daheim, so muß ich Ernst etwas vorspielen, denn das nennt er seine Erholung, und so wird es sehr spät, bis ich auf mein Zimmer komme. Schriebe ich hier noch Briefe, so entständen gewiß traurige, verdrießliche Episteln, an denen Du ebensowenig Freude hättest wie die Verfasserin selbst. Dir Alles zu erzählen, habe ich ja noch lange Muße, wenn ich nächsten Sommer wieder in Heiligenstein bin, wonach ich mich, offen gestanden, wäre Ernst nicht, der meiner bedarf, stets zurücksehnte.

Die Hauptneuigkeiten, gute Amalie, bekommst Du aber dennoch schriftlich, und wenn ich auch heute nichts besonders Wichtiges mitzuteilen habe, so wird es an Stoff zu Briefen künftig nicht fehlen. Eins darf ich nicht vergessen, Dir mitzuteilen. Dein Wunsch, mich gemalt zu sehen, ist erfüllt. Höre, auf welch’ wunderliche Weise! In der Rheinischen Ausstellung befand sich vor Kurzem ein Bild, das als Meisterwerk moderner Kunst gepriesen wurde, und dem schließlich auch noch viele Personen, worunter sogar die Königin, eine Aehnlichkeit mit Deiner Freundin entdeckt haben wollten.

Ernst ging mit mir hin, obgleich er dem Gerüchte wenig Glauben schenke, da er mit Dir irrig meint: gleich Eurer Hedwig gäb’s keine Zweite. Da hatten wir’s! Hedwig, Prinzessin von Waldemberg, blickte uns, wie sie leibt und lebt, aus dem Rahmen an, nur in’s bescheidene Kleidchen eines Schneewittchens gehüllt und etwas idealisiert!

Ernst war, ich weiß nicht ob wütend, ob entzückt. Er hatte nichts Eiligeres zu thun, als sich nach dem Künstler zu erkundigen, um sich das Bild anzueignen. Als solcher wurde uns ein junger Mann, der sich zum Glück gerade in der Galerie befand, gezeigt. Ein hochgewachsener, blonder, blauäugiger Jüngling, mit schwärmerischem echt künstlerartigem Gesichtsausdruck, dessen feste Weigerung, das Bild zu veräußern, indessen von sehr entschlossenem Charakter zeugte. Sogar meinen Bitten widerstand er, Amalie! Zu einer Aufklärung der Aehnlichkeit kam es gar nicht – entweder der junge Mann wich geschickt aus, oder er verstand gar nicht, auf was Ernst’s Fragen anspielten. Er hatte etwas eigenthümlich Scheues, Befangenes.

Unverrichteter Sache weiter zu gehen, ist indessen meines Bruders Art nicht. Er schlug daher dem Maler vor, wenn er durchaus sich nicht vom Bilde trennen wollte, ein zweites zu malen, als dessen Modell ich bereitwilligst selbst sitzen würde. Hierauf ging der junge Mann ein, und so gaben wir ihm Rendezvous auf den nächsten Monat in der Hauptstadt. Vielleicht hätte ich die Geschichte vergessen, wenn nicht Ernst oft darauf zurückgekommen, ja sogar darauf gedrungen hätte, daß ich mir ein Kleid anfertigen lasse, ähnlich wie das, welches Schneewittchen im Bilde trägt.

Gestern kam der Künstler zum ersten Male, und ich erfuhr, daß sein Name Walter Impach sei. Er muß wenig in Gesellschaft gewesen sein, denn sein befangenes Wesen erinnert mich immer an die empfindsame Pflanze in Deinem Blumentisch, die zusammenfährt, sobald man sich ihr nähert. Nach kurzem Gespräche [577] führte Ernst Herrn Impach im Hause umher, damit er ein passendes Zimmer zur Aufnahme wähle. So kamen wir auch in die Galerie, wo der Musensohn in Ekstase gerieth über unsere Sammlung von alten Meisterwerken. Unsere Rembrandts nannte er „unschätzbar“. Du weißt, wie Ernst an seinen Bildern hängt, kannst Dir also denken, daß sich der junge Mann, ohne es zu wissen, durch die Freude, die er bewies, überaus bei ihm in Gunst stellte.

Ich mußte nun noch das Kleid zeigen, auf das der Künstler einen Blick warf und es gnädig gut hieß, worauf er sich mit dem Versprechen entfernte, den nächsten Tag zur Stunde, die ihm Ernst feststellte, wiederzukehren. Als wir allein waren, mein Bruder und ich, sprachen wir noch eine kleine Weile von ihm. Ernst meinte, der junge Mann sei viel zu bescheiden für einen Künstler, der sich sonst als Jedermanns Gleichen betrachtet, und hätte er nicht sein Bild gesehen, so müßte er glauben, einen Anfänger vor sich zu haben. Ich konnte meinen Bruder hierin nicht verstehen; denn daß der Maler zum ersten Mal ein Haus, wie unseres, betrat, war offenbar. Mußte ihm das nicht ein wenig imponiren, zudem die Haltung Ernst’s niemals ihre Wirkung verfehlt? –

Heute Morgen war nun die erste Sitzung. Als ich das Atelier betrat – so tauften wir das Erkerzimmerchen, welches sich Herr Impach zum Felde seiner Thätigkeit auserwählt – war Alles bereit; es roch auch schon bedeutend nach Terpentin, worüber ich mich kaum enthalten konnte, die Nase zu rümpfen. Wie mich Herr Impach eintreten sah, im weißen Schneewittchenkleide, fuhr er von seinem Sitze auf, und blieb, mich anstarrend, eine Weile stehen. Kein Gruß, keine Verbeugung – das Alles kam hinterher. Ich setzte mich; doch jetzt begann erst recht die Verlegenheit. Schon nach einigen Strichen erklärte er mir, daß meine Coiffure zum Anzuge unpassend sei. Wie das? – Ich ließ einen Spiegel bringen und zerstörte Fanny’s schönes Werk. Doch es diesem Sohn der Kunst recht zu machen, wäre unmöglich gewesen. Schließlich rief ich ungeduldig aus: „Ei, so ordnen Sie das Haar selbst!“

Als ich jedoch der fremden Finger gedachte, die mich zum ersten Male berühren sollten, reute mich mein Ausruf. Geschehen war er indessen und Hedwig mußte dabei beharren. Ich fühlte, wie zwei stark zitternde Hände mein Haupt kaum berührten; dann, indem er wieder zu seiner Staffelei ging, erklärte Herr Impach, daß es ihm unmöglich sei, bei mir die gewünschte Anordnung zu treffen. Das klang sehr unhöflich, und doch lag etwas im Tone, das mich davon abhielt, böse zu werden. Lachend rief ich Fanny, und mit dieser verständigte er sich alsbald, indem er ihr am Ende der Leinwand flüchtig eine Skizze hinzeichnete, nach der sie mein Haar ordnete. Noch ehe sie entlassen, war der Künstler an seinem Werke.

Ich hatte mich gefreut, daß ich beim Malen nicht durch langweilige Gespräche unangenehm berührt werden sollte, und doch war ich es, die zuerst das Wort ergriff und den Stillschweigenden zum Sprechen herausforderte. Ich wußte nicht, was ich eigentlich sagen wollte, ich fühlte nur, daß mein Stillschweigen hochmüthig war einem so bescheidenen Menschen gegenüber, daß ich es unterbrechen mußte. Ich frag ihn, welches Bild ihn in unserer Galerie am meisten frappirt hätte.

„Das kann ich erst bei einer zweiten Betrachtung entscheiden; um die Erlaubniß hierzu wollte ich ohnehin noch heute bitten.“

„Die Galerie steht Ihnen natürlich offen, wann Sie wollen. Sehen Sie sich auch das Bild an, welches mein Liebling ist: das weinende Mädchen in der Ecke des Hauptsaales. Es ist ein Meisterstück.“

„Ich habe es gestern bemerkt; es ist schön, aber doch nicht aus einer Zeit, wo gute Sachen gemalt wurden – ein geziertes französisches Bild.“

Natürlich war mir diese sehr zweideutige Antwort nicht recht. Wieder trat Schweigen ein, bis er mich bat, die Augen, welche ich beim Nachdenken halb geschlossen hatte, wieder zu öffnen. Für diese Unaufmerksamkeit war ich ihm etwas Höfliches schuldig. Ich frug ihn, ob er stets nur Portraits male.

„Im Gegentheil – dies ist mein erstes Portrait.“

„Und jenes andere Schneewittchen?“

„Ein Phantasiebild!“

Sonderbar, bei der Höflichkeit meines Bruders, bei meiner eigenen Liebenswürdigkeit wird dieser Mensch zaghaft, befangen. Spricht man zu ihm, wie sich gehört, so sagt er ganz kühl seine Meinung, auf eine Art, als sei auch kein Titelchen mehr daran zu ändern, auch nicht wenn ich mir die Mühe geben wollte, ihn zu anderer Ueberzeugung zu bringen. Ich hatte schon so etwas bei der ersten entschiedenen Weigerung in der Kunstausstellung an ihm bemerkt.

Als er mir jetzt auszuruhen empfahl, forderte ich ihn auf, mit mir in unsere Galerie zu gehen, um uns dort am Anblicke alter Kunstwerke zu erholen. Unsere Schritte lenkten bald in den Rembrandt-Saal ein; Herr Impach wurde nicht müde, ihn zu preisen. Er bat mich, eines der Bilder ganz in der Nähe anzusehen, machte mich auf die schrecklich grobe, hingeworfene Arbeit aufmerksam, die dem Farbenspiel einer benutzten Palette glich. Ich mußte nun in die richtige Entfernung treten, und siehe da! jeder grobe Pinselstrich, jeder Farbenfleck nahm Leben und Bedeutung an. Kein Farbenkörnchen zu viel, Alles Harmonie, Alles Schönheit; ich hatte das nie so bemerkt und glaube auch jetzt noch, daß nur Herrn Impach’s enthusiastische Erläuterungen mich so viel Schönes im Bilde sehen ließen. Meine eigenen Augen hätten mir das niemals gezeigt. Wäre nur Ernst dabei gewesen, der hätte sich noch ganz anders gefreut.

Ich trat jetzt in die Mitte des Saales, wo, wie Du weißt, eine sehr schöne Copie des vom Delphin getragenen Kindes, der vermeintlichen einzigen Bildhauerarbeit Raphael Sanzio’s, steht. Meine Hand auf die marmorne Stirn des Knaben legend, sprach ich, zu Herrn Impach aufschauend:

„Ich habe mit Ihnen Rembrandt bewundert, doch hier zolle ich meine Verehrung. Ach, Ihre Kunst ist doch nur Stümperei gegen das Leben, welches hier athmet!“ – Ich hatte geglaubt, einen recht weisen Satz gesprochen zu haben, trug ihn auch mit großem Selbstbewußtsein vor. Du hättest des jungen Künstlers erstaunten Blick sehen sollen!

Erst nach einer Pause, und durch mein fragendes Gesicht zum Antworten gezwungen, sprach er: „Soll ich verstehen, daß Sie Malerei und Bildhauerei mit einander vergleichen wollen, ja diese auf eine höhere Stufe stellen als jene? Das kann unmöglich Ihr Ernst sein. Ihr natürlicher Geschmack, Ihr Kunstgefühl kann Sie nicht so in die Irre führen. Vielleicht, daß irgend ein Liebling Sie zur Verallgemeinerung verleitete, wie denn dieser Knabe ein sehr schönes Kunstwerk ist, obgleich ich nicht glaube, daß Raphael jemals Hand an ihn gelegt.“ – Eine kurze Pause entstand, in der er sich zu sammeln schien, dann begann er wieder: „Ich fühle mich nicht dazu berufen, Sie von Ihrer Meinung abzubringen, glaube jedoch, Ihnen eines großen Künstlers Worte nicht vorenthalten zu dürfen, der wohl competent sein dürfte, da er beide Künste mit gleicher Vollkommenheit betrieb. Michel Angelo hat einem Schüler, der ihn befrug, welche Kunst die würdigere, Malerei oder Bildhauerei, geantwortet: Nimm Lehm und bilde daraus eine Kugel, und Du hast den ersten Schritt zum Bildhauer gethan; bringe nun dieselbe Kugel auf Leinwand mit Farben hervor, und Du bist noch lange kein Maler!“

Ich stand ein wenig erstaunt da; das schien so unwiderleglich, und dennoch wollte ich mich nicht sogleich fügen. „Aber in der Statue haben Sie das Leben, im Bilde kaum einen Schein davon,“ wagte ich zu sagen. – „Wenn der Schein das darstellt, was die runde Wirklichkeit nicht hervorbringt, und noch die Farbe dazu, so muß doch hier größere Kunst liegen, als im einfachen Nachbilden der Formen aus einem Stoff, der schon an sich dem Fleische gleicht. Man darf nicht vergessen, daß unsre modernen Bildhauer nicht mehr das Bild in den Stein hauen, sondern so lange den Lehm bearbeiten, bis er die gewünschte Gestalt annimmt, und der Lehm ist geduldig.“ Noch immer wollte ich antworten; mich so von einem Fremden, der noch dazu als Interessirter sprach, überzeugen zu lassen, war hart. „Ich kann eine Leinwand nicht so lieb haben wie ein Steinbild. Diesem Knaben die Stirn zu berühren, die runden Arme zu umfassen, das läßt mich das Kunstwerk erst recht genießen – die Bildhauerei ist vierseitiger.“

„Das Heiligste ist nicht für die Berührung,“ sprach der Maler mit sonderbar bewegter Stimme, „zum Schönsten sehen wir nur empor. – Was aber die Vielseitigkeit betrifft, so haben Sie nicht bedacht, daß dem Pinsel die ganze Welt zu Gebot [578] steht, vom Glühen der Sonne auf den Gipfeln der Alpen bis zum Glanz in einem seelenvollen Auge. Der Meißel kann einen Körper, Mensch und Thier, hervorbringen, weiter nichts – das Auge darf er nicht berühren, und was ist ein Antlitz ohne Auge? – es kann nur den Sinnen gefallen, niemals dem Geiste. Es ist, wie Sie treffend andeuteten, zur Berührung gemacht.“ War das nicht zu arg, meine eigenen Worte gegen mich zu gebrauchen? ich war aber doch schon – überzeugt.

Gerade während ich nach Worten suchte, dieses Geständniß zögernd abzulegen, wurde die Thür geöffnet und der alte Thomas trat meldend ein. Der Name, den er nannte, hat in unserem Hause stets einen guten Klang, dennoch war mir Graf von Werdau – ich wußte nicht warum, in diesem Augenblicke kaum willkommen. Er ist ein intimer Freund meines Bruders, ein geistreicher, lebhafter junger Mann, und für mich die Güte und Aufmerksamkeit selbst. Ein Strauß duftender Veilchen war in meiner Hand, ein „Heil, Schneewittchen im Walde!“ erklang in meinem Ohr. „Ich komme soeben von Ihrem Bruder,“ fuhr Graf von Werdau fort, „der mir die Erlaubniß ertheilte, hierher zu eilen, um die ersten Schritte zu beobachten, die das projectirte Kunstwerk macht.“

„Da werden Sie sich wohl in Geduld fassen müssen,“ sprach ich, „denn in’s Atelier darf außer meinem Bruder und der guten Cousine Dorothea mit ihrer Stickerei kein Mensch – auch Sie nicht, bis das Bild vollendet ist. Ich mache mir jedoch die Freude, Ihnen den Schöpfer desselben vorzustellen.“ Ich nannte nun den Namen des Malers und hielt inne, weil ich wähnte, genug gethan zu haben. Was war es nur, das mir mit unwiderstehlicher Gewalt wieder die Lippen öffnete und mich zwang, auch den Grafen dem Künstler vorzustellen? Waren es Ernst’s Worte: „Ein Künstler hält sich für Jedermanns Gleichen!“ oder war es gar ein wenig Respect, den mir das Gespräch mit dem jungen Mann eingeflößt hatte? Werdau war liebenswürdig genug, den Maler mit Complimenten für sein früheres Bild zu überhäufen, die dieser jedoch sehr kühl entgegen nahm. In Werdau’s Worten lag sonderbarer Weise auch mehr Schmeichelei für mich, das vermeintliche Urbild des Schneewittchens, als für das Kunstwerk selbst. Der Graf hatte mir nun viel zu erzählen über eine Soirée, die ich gestern Abend „verdorben“, indem ich ihr nicht beiwohnte.

„Mit Ausnahme dieses Unglücks“ (meiner Abwesenheit) „ein reizendes kleines Fest. Die Baronin A. sang zum Entzücken; Fräulein Ordorf war schön, wie immer“ (hier küßte er seine fünf Fingerspitzen und warf sie verzückt in die Luft), „läge mein Herz nicht schon in Ketten, wer weiß! Wissen Sie auch schon, daß mich Ihr Bruder für übermorgen zum Diner eingeladen?“

„Ich weiß es – auch daß Sie nach Tische seinen Ali reiten sollen, der zu lange in Arkadien gewesen und sich nun dem Zügel nicht fügen will. Wenn mich nichts abhält, werde ich mitreiten und Ihre Bravour bewundern, obgleich ich deswegen meine Toilette für unsern kleinen Ball in aller Eile werde zu Stande bringen müssen. Sie sehen, welche Ehre man Ihren Reitkünsten erweist.“

„Ich werde reiten wie ein zweiter Renz, muß aber dann auch von diesen Rosenlippen ein Bravo zu hören bekommen!“

„Verdienen Sie’s erst. Dann wird’s nicht fehlen.“

Der Maler hatte abseits gestanden, ganz im Anblick eines Bildes vertieft. Was sollte ihn auch unser Gespräch interessiren, nahm er doch nicht an unseren Vergnügungen Theil. Ich frug ihn, ob wir noch am Bilde fortarbeiten würden, und als er diese Frage bejahte, entließ ich den Grafen, um in’s Atelier zurückzukehren, wo die Cousine bei ihrer Stickerei sanft eingeschlummert war.

Ihr monotones Gespräch anzuhören, ist kein Vergnügen; ich dämpfte also meine Stimme, um der guten Seele Schlaf nicht zu stören, und der Maler antwortete in demselben Tone. Er hat mir nämlich erklärt, daß ich weit besser zu malen sei, wenn ich spreche; weil mir dann der natürlichste Ausdruck von selbst im Antlitze stehe, und da Ernst so viel am Bilde gelegen ist, gab ich mir Mühe, jeden Wunsch des Malers zu erfüllen. Er frug mich, ob ich auch schon gezeichnet.

„Ein wenig,“ war meine Antwort; „aber Lehrer und Vorlagen sind so pedantisch. Ich konnte den Landschaften Hubert’s keinen Geschmack abgewinnen.“

„Haben Sie niemals versucht, etwas, das Ihnen gerade auffiel, zu zeichnen? Eine Blume, einen Gegenstand, der vor Ihnen lag, irgend etwas?“

„Niemals! Glauben Sie, dazu sei ich im Stande? Ich bin nicht gern Stümperin, doch würde mich ein Versuch nicht unglücklich machen – ich werde noch heute Abend – nun, was denn? – meine linke Hand zeichnen.“

Dabei legte ich sie auf den Schooß und versuchte ihr eine Stellung zu geben, die mir leicht schien. Der Maler betrachtete mich stillschweigend, endlich sprach er leise:

„Zeichnen Sie Ihre Hand lieber nicht!“

„Warum? Ist die Aufgabe zu schwierig?“

„Nicht schwieriger als eine andere; aber was schadet’s, wenn Sie ein Tintenfaß, das rund sein soll, eckig, eine Blume, die zart ist, schwerfällig darstellen, während – Ihre Hand –“

Er kam nicht weiter, was will er nur? Meine eigene Hand gegen die schreckliche Darstellung, die ich von ihr geben könnte, schützen? Ist das nicht drollig?

Bald hierauf schlossen wir die Sitzung, nachdem Herr Impach gefragt, ob er morgen wiederkommen dürfe.

„Natürlich! – Soll ich meinem Bruder das angefangene Bild zeigen?“ frug ich, indem ich auf die Staffelei zuging.

„Ich bitte Sie, es selbst nicht anzusehen – bis morgen Nachmittag nicht, es auch nicht zu zeigen,“ antwortete er zögernd.

„Auch gut – doch warum?“

„Weil ich Dies und Jenes erklären müßte, warum das Eine so, das Andere anders, und doch nicht verstanden werden würde. Sie werden das Bild nicht zeigen noch ansehen?“

„Ich habe schon versprochen,“ konnte ich nicht umhin in gereiztem Tone zu antworten, so daß Dorothea erwachte. Als ich mit entlassender Kopfbewegung auf die Zimmerthür zuging, sah ich, wie der junge Mann mir mit dem wehmüthigsten Gesichte von der Welt nachblickte. Was betrübte ihn nur so? Es ging mich eigentlich nichts an, ich rief im aber doch ein freundliches „Auf morgen also!“ zu, ehe ich das Zimmer verließ.

Ist das ein langweiliger Brief geworden!

Adieu, meine Amalie! Giebt es wieder etwas Interessantes, so erfährst Du es sogleich. – Ich sitze im Schneewittchenkleide, die Haare noch so wie am Morgen geordnet. Vielleicht trage ich sie, so lange das Malen dauert, aus Bequemlichkeit nicht anders.

Gute Nacht, süße Traute, die alle meine Geheimnisse weiß – gute Nacht!
Deine Hedwig.

Nachschrift. Wie, wenn ich die Kunst mir dienstbar und nützlich machte, den Maler zu Rathe zöge, wie ich mich übermorgen zum Balle kleiden soll?

Fortsetzung folgt.)




Sachsens freisinnige Volksvertreter.


Vor wenigen Wochen, am Ende der jüngsten kampfreichen Landtagszeit, hielten die liberalen Abgeordneten des sächsischen Volks eine Zusammenkunft in Leipzig, um Vergangenes zu besprechen, Zukünftiges zu berathen und den Augenblick zu feiern. Die tüchtigen Persönlichkeiten, welche dabei als besonders beachtenswerth hervorragten, mußten zu dem Wunsch anregen, dieselben in Bild und Wort, wenn in Beiden auch nur mit flüchtiger Hand skizzirt, weiteren Kreisen vorzustellen, und dies soll durch den nachfolgenden Artikel geschehen.

Schon in den „restaurierten Ständen“ seit 1850 gab es ein kleines Häuflein Liberaler, das fest zusammenhielt und in principiellen Fragen Opposition machte. Allein es war ohnmächtig gegenüber der compacten Mehrheit der Conservativen. Die ersten Wahlen nach dem freieren Wahlgesetz von 1868,

[579]

Die Führer der liberalen Abgeordneten in der Zweiten sächsischen Kammer.

Leutzsch. Jordan. Riedel.
Biedermann. Schaffrath. Ludwig.
Panitz.

[580] welche die ganze Zweite Kammer neu gestalteten, lieferten zuerst wieder – nach beinahe zwanzig Jahren der Stagnation des politischen Lebens in Sachsen – eine liberale Majorität, die durch ihre geistige Ueberlegenheit und ihren Zusammenhang mit dem lebendigen Geiste des Volkes das Schwergewicht, das so lange auf der Rechten gelegen hatte, auf die linke Seite herüberzog.

Der Landtag von 1869 bis 1870 war weniger reich an wirklichen Reformen, als an Anregungen oder Vorbereitungen zu solchen. Man hat ihn den „Antraglandtag“ genannt, eine Bezeichnung, deren er sich nicht zu schämen braucht. Reformen des Gemeindewesens, der Staatsverwaltung, des öffentlichen Unterrichts wurden in ihm lebhaft in Angriff genommen.

Die Ergänzungswahlen im Jahre 1871, die etwa ein Drittel der Zweiten Kammer erneuerten, änderten den Stand der Parteien im Ganzen nur wenig. Aber einen großen moralischen Vortheil sicherte sich die liberale Partei dadurch, daß sie schon in die Wahlen geschlossen eintrat und im Landtage selbst ihre abgesonderten Fractionen zu einer einzigen ungetrennten Phalanx verschmolz. Der erste Sieg, den ihr diese Einigkeit eintrug, war schon der Ausfall der Präsidentenwahl. Es gelang ihr, einen der prononcirtesten und darum den Gegnern unbequemsten Vorkämpfer des Liberalismus, einen der „Alten von 1848“, auf den Präsidentenstuhl zu erheben, den Advocat Dr. Schaffrath.

Schaffrath ist von allen Mitgliedern, nicht allein der liberalen Partei, sondern der ganzen Zweiten Kammer dasjenige, welches die älteste parlamentarische Vergangenheit hinter sich hat. Schon beim Landtag von 1845 trat er in die Zweite Kammer ein. Damals bildete er mit Joseph, Hensel II., Metzler, Rewitzer eine „junge“ oder „äußerste“ Linke, die selber die älteren Führer der Linken, Todt, Oberländer, Klinger, bisweilen hinter sich ließ und überflügelte. 1848 bis 1849 saß er zugleich im Frankfurter Parlamente und in der sächsischen Zweiten Kammer. Nach der Auflösung der Kammer im Frühjahr 1849 und den darauf gefolgten Maiereignissen zog er sich vom öffentlichen Leben zurück. Als dann die zweite Kammerauflösung im Jahre 1850 und gleich darauf der Verfassungsbruch erfolgte, der die alten, 1848 beseitigten „Stände“ wieder auf den politischen Schauplatz zurückführte, da gehörte Schaffrath zu jenen Demokraten von der strengen Observanz, welche beharrlich jede Theilnahme am parlamentarischen Leben verweigerten, weder wählten, noch sich wählen ließen, um auch nicht indirect das 1850 Geschehene als zu Recht bestehend anzuerkennen.

Erst nachdem das Wahlgesetz von 1868 die alten Stände zum zweiten Mal aus der Welt geschafft hatte, hielt er sich nicht mehr in seinem Gewissen behindert, für die neue, freigewählte Kammer ein Mandat anzunehmen. Ein städtischer Wahlkreis (Großenhayn etc.) entsandte ihn zum Landtag 1871 bis 1872, und die liberale Partei ehrte ihn als ihren Senior, indem sie seine Wahl zum Präsidenten mit vereinten Kräften betrieb und glücklich, wenn auch nur mit Einer Stimme Mehrheit durchsetzte. Als solcher hat er sein Amt mit anerkennenswerther Unparteilichkeit und Gerechtigkeit nach allen Seiten hin verwaltet. Was ihm die Führung des Vorsitzes immerhin oft erschwerte und bisweilen verleidete, war die angeborene Lebhaftigkeit seines Temperamentes, die sich schwer in die dem Präsidenten aufgezwungene Passivität fügte, zumal wenn die Debatte in ihrer Verbreiterung und Verzettelung des rasch eingreifenden oder zurechtlenkenden Wortes, wie es ihm zu Gebote stand, dringend zu bedürfen schien.

In juristischen Dingen ist Schaffrath eine Autorität, nicht bloß für seine Partei, sondern für die ganze Kammer, und sein Rath, wenn auch nicht öffentlich gemäß seiner Stellung gegeben, wird doch privatim von allen Seiten gern gehört und beachtet.

Schaffrath ist zugleich ein scharfer und eindringlicher Redner. Man merkt ihm die Gewohnheit und Sicherheit des öffentlichen Plaidirens an. In seinen Grundsätzen ist er noch der „alte Demokrat“; allein die Jahre und die Erfahrungen haben ihn, wie er selbst offen bekennt und ungescheut bethätigt, in der Anwendung dieser Grundsätze auf concrete Fragen des öffentlichen Lebens nüchterne Mäßigung und Besonnenheit gelehrt; er weiß das in der Idee Wünschenswerthe von dem praktisch Erreichbaren zu scheiden, oder mag es nicht leiden, daß man dieses über jenem opfere.

Diese demokratische Vergangenheit machte es ihm doch lange schwer, zu der neuen Gestaltung der Dinge in Deutschland mit ganzem Herzen sich zu bekennen. Aber auch dieses innere Widerstreben hat er seit Verwandlung des Norddeutschen Bundes in ein Deutsches Reich wohl so ziemlich überwunden, und wenn er in der nächsten Reichstagsperiode berufen sein wird, im Reichstage über die wichtigen Codificationen, welche bevorstehen, mit zu berathen und zu beschließen, so wird er wahrscheinlich aus der schweigenden Zurückhaltung, die er bisher als Reichstagsmitglied meist beobachtet hat, heraustreten und seine Erfahrungen auf diesem Felde im nationalen Interesse verwerthen.

Nicht so alt im parlamentarischen Leben wie Schaffrath und doch auch wieder älter ist der Gutsbesitzer und Landmann Riedel in Klein-Schönau bei Zittau, an Jahren der Veteran der liberalen Partei in der Kammer. Er trat in diese erst 1848 ein, also um drei Jahre später als Schaffrath; aber er gehört ihr seitdem ununterbrochen an, so daß er am 18. Mai dieses Jahres sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Abgeordneter feiern konnte. Da sah man recht, wie populär im ganzen Lande, wie herzlich geschätzt von seinen Parteigenossen, wie hoch geachtet selbst von seinen politischen Gegnern in der Kammer der „alte Riedel“ ist. Der Festtheilnehmer und Gratulanten, der Deputationen, Adressen und Angedenken war kein Ende. Selbst die Regierung hätte vielleicht – trotz seiner oppositionellen Stellung von jeher –, schon seines gemeinnützigen Wirkens halber, ihm eine Aufmerksamkeit bei einer so seltenen Feier nicht versagt, wäre sie nur sicher gewesen, daß nicht am Ende der Alte sie zurückweise. Ihm selbst war es jedenfalls lieb, nicht zwischen seinen demokratischen Grundsätzen und seiner Lausitzer Gutmüthigkeit in’s Gedränge zu kommen.

In diesen fünfundzwanzig Jahren hat Riedel gar viele und mancherlei politische Wendungen und Wandlungen im Ständehause zu Dresden an sich vorüberrauschen sehen, er hat 1848 das alte Ständewesen mit zu Grabe getragen und ward aus einem Landstand ein Volksvertreter, wie 1850 wieder umgekehrt aus einem Volksvertreter des „Widerstandslandtags“ ein Landstand des „Staatsstreichlandtags“. Hei, was hat Riedel damals oft so scharfe Worte gesprochen, daß selbst Herrn v. Beust das ewige Lächeln bisweilen von seinen Zügen wich! Nach mehr als fünfzehnjährigem Kampf erlebte er noch einmal die Genugthuung, als „Landstand“ zu sterben, um kraft des miterrungenen neuen Wahlgesetzes als „Volksvertreter“ wieder aufzustehen. Bei alledem ist er selber ungewandelt und unentwegt immer derselbe geblieben, der Mann schlichter, aber fester, nicht ausschweifender, aber auch nicht zu beugender, allzeit geradeaus und vorwärts gerichteter politischer Ueberzeugung.

Riedel ist Autodidakt. Aus beengten Lebens- und Bildungsverhältnissen hat er durch eigene Energie sich emporgearbeitet, so daß er nicht nur in den kleineren Kreisen der Gemeinde, sondern auch auf dem weiten Gebiete allgemeiner staatlicher Fragen seinen Platz ehrenvoll und wirksam ausfüllt und das Muster eines ländlichen Abgeordneten darstellt, der mit der sichern Beherrschung der ihm nächstliegenden Interessen auch den freiern und weitern Blick auf ein größeres Ganzes verbindet. Die dem Lausitzer angeborene warme Vorliebe für seine engere Heimath mit ihren mancherlei Vorzügen und ihren zum Theil berechtigten Eigenthümlichkeiten hält ihn so wenig ab von der Unterordnung dieser unter die allgemeinen Interessen seines sächsischen Vaterlandes, als wiederum letztere von der Hingebung an die großen nationalen Anliegen.

Auch Biedermann ist ein alter Parlamentarier. Er begann seine parlamentarische Laufbahn sogleich auf dem weitesten Gebiete national-deutscher Bestrebungen, in der Paulskirche zu Frankfurt. Im März 1848 hatte er mit an der Spitze der Bewegung gestanden, welche in Sachsen das alte System stürzte und eine neue Aera herbeiführte. Von einer Landesversammlung Liberaler in’s Vorparlament entsandt, von diesen in den Fünfzigerausschuß gewählt, ging er als Abgeordneter für die verfassungsgebende Nationalversammlung sogleich aus der ersten in Sachsen vollzogenen Wahl (in Zwickau) hervor. Als einer der Vorstände erst des rechten Centrums (des „Augsburger Hofs“), später der großen „Erbkaiserpartei“ (des „Weidenbuschvereins“), half er eifrig mit, die Idee eines monarchisch-constitutionellen Bundesstaats unter preußischer Führung, wenigstens auf dem Papiere, in der Reichsverfassung durchzuführen. Von dieser Linie

[581] nationalen Strebens hat er sich auch seitdem nie abdrängen lassen, weder nach rechts noch nach links, weder in den Zeiten der Reaction, wo es zum Verbrechen gestempelt ward, ein einiges und kräftiges Deutschland zu wollen, noch da, als ein Theil seiner näheren Parteigenossen selbst die Ziele dieser Einigung viel weiter steckte und das Festhalten am bloßen Bundesstaate für einen überwundenen Standpunkt erklärte.

Als das Werk der Frankfurter Versammlung so traurig scheiterte, wollte Biedermann auch die Abschlagszahlung, die sogenannte preußisch-deutsche „Union“, weil sie doch immer einen deutschen Bundesstaat unter parlamentarischen Formen versprach, nicht zurückweisen und setzte daher seinen Namen unter jenes Programm von Gotha, dessen Anhänger, die vielverschrieenen „Gothaner“, so harte Anfeindungen erdulden mußten.

Dann in die zweite Kammer des sächsischen Landtags von 1849 bis 1850 eingetreten, gerieth er gegen die reactionäre Richtung des Herrn von Beust, der damals Sachsens Geschicke lenkte und mit vollen Segeln wieder auf den alten Bundestag lossteuerte, in einen Streit, in welchem er, einem solchen Gegner gegenüber, den Kürzeren ziehen mußte: er wurde, in Folge eines Preßprocesses, seiner Professur enthoben und so, durch die Unterbindung der Wurzeln seiner Berufsthätigkeit und seiner Existenz im Vaterlande, zur unfreiwilligen Selbstverbannung genöthigt.

Bei der frei- und deutschgesinnten Regierung des Nachbarlandes Weimar fand er freundliche Aufnahme und eine neue Stätte des Wirkens. Acht Jahre brachte er dort außerhalb der Heimath zu, ohne doch deren Interesse aus dem Auge zu verlieren. Als zu Anfang der sechziger Jahre die Zustände Sachsens für ein wiederaufstrebendes öffentliches Leben sich hoffnungsvoller gestalteten, kehrte Biedermann nach Leipzig zurück und griff als Leiter der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, bald auch persönlich, in die neue Bewegung thätig ein, so namentlich 1866, wo er gegen des Herrn von Beust’s österreichische Politik auftrat und sich abermals den Haß der strengparticularistischen Partei in einer Weise zuzog, daß er von fanatischen Feinden der deutschen Sache sogar persönlichen Insulten ausgesetzt war. Sowohl bei den Wahlen zum constituirenden, wie bei denen zum ersten gesetzgebenden Reichstage mußte Biedermann auf jede Möglichkeit einer Candidatur verzichten.

Erst bei den Wahlen zum sächsischen Landtage von 1869 bis 1870 ward Biedermann durch die Wähler der Stadt Chemnitz dem parlamentarischen Leben zurückgegeben. Auch in den ersten gesammtdeutschen Reichstag ward er (1871) gleichfalls von einem erzgebirgischen Wahlkreise, Mittweida-Frankenberg, entsendet.

In der sächsischen zweiten Kammer trat Biedermann an die Spitze der kleinen, aber festgeschlossenen nationalliberalen Fraction, die in allen Freiheitsfragen mit den anderen Schattirungen der liberalen Partei eng zusammenhielt, doch aber bei einzelnen Gelegenheiten, wo es sich um nationale Anliegen handelte, allein stand. Besonders thätig war Biedermann bei allen Anträgen auf politische Reformen, die von der gesammten liberalen Partei ausgegangen waren; so hat er sich namentlich um die Reorganisation der Verwaltung in der Richtung auf größere Selbstregierung der einzelnen Bezirke und ebenso um das Preßgesetz große Verdienste erworben; und als es im jüngsten Landtag galt, gegen die Publication des bekanntlich von der Majorität der zweiten Kammer verworfenen, weil clerical-reactionären Schulgesetzes zu protestiren, forderte Biedermann die Regierung auf, lieber die Kammer aufzulösen, und als die Rechte diese Aufforderung mit Murren begrüßte, rief er ihr mit erhobener Stimme zu: sie habe ja immer behauptet, das Volk stehe in dieser Sache zu ihr und zur Regierung; wohlan! so möge man die Probe machen und an’s Volk appelliren! – So hat sich Biedermann immer als ein deutscher Mann bewährt, der, fest in seinen Grundsätzen und klar in seinen Entschlüssen, ebensoviel Muth der Wahrheit wie Kraft der Ueberzeugungstreue besitzt und Beide bewiesen hat auf seiner politischen Laufbahn, die für ihn meist eine Dornenbahn war.

Der Abgeordnete Ludwig, früher in Chemnitz, jetzt in Leipzig Rechtsanwalt, begann seine öffentliche Laufbahn nicht auf dem weichen, Schall und Bewegung dämpfenden Teppich des Ständesaales, sondern auf dem vulcanisch heißen Boden großer erschütternder Zeitbewegungen. Der vielverheißende, und ach! so kurze Völkerfrühling 1848 warf ihn ruhelos und unstät hierhin und dorthin, trieb ihn zuletzt, nach dem Scheitern aller glühendsten Freiheitshoffnungen, außerhalb der deutschen Grenzen in die Schweiz, wo er eine lange entbehrungs-, aber auch erfahrungsreiche Zeit durchlebte.

Noch jetzt fällt es ihm schwer, in das streng abgemessene Tempo und den ruhigen Ton parlamentarischer Debatten sich zu finden. Wie ein feuriges Roß des Zügels ungewohnt, bricht er bald hier, bald da aus den beengenden Schranken und beschreibt im kühnen Ansprunge so weite Kreise, daß wohl oft dem Präsidenten um die Geschäftsordnung mit ihren ängstlich vorgeschriebenen Formen und Regeln, den Parteiführern um die nothwendige Fühlung mit der Partei und die unerläßliche Einhaltung des gemeinsamen Schlachtenplanes bange wird. Zum Gefecht in geschlossenen Gliedern eignet sich freilich ein solcher Kämpe wenig, um so besser zum Ausschwärmen und Tirailliren, wo es gilt, einen „exponirten Posten“ auszustellen, oder nach Art der gefürchteten preußischen Uhlanen das Terrain zu „klären“.

Ludwig war allerdings in der Kammer bei sehr vielen Verhandlangen „der Geist, der stets verneinte“. So oft ein Gesetzesparagraph oder eine Reihe solcher als „gegen Eine Stimme angenommen“ in den stenographischen Mittheilungen verzeichnet ist, kann man sicher rechnen, daß diese eine Stimme die des Abgeordneten Ludwig gewesen.

Doch würde man irren, wenn man annähme, die politischen Ansichten Ludwig’s seien so ultraradical oder excentrisch, daß sie in den Rahmen keines Gesetzesvorschlages und keiner geschlossenen Parteibildung hinein passen. Die Consequenzen seiner Grundsätze sind durchaus nicht so weit gehend, daß sie nicht in einem ständischen Antrage, ja zum Theil selbst in einer Vorlage vom Regierungstische Platz fänden. Nur pflegt er zuletzt diese Consequenzen mit allzu unerbittlicher Logik überall und zu allen Zeiten zu ziehen, bisweilen auch da, wo sie gegebenen Umständen nach nicht realisirbar sind oder wo sie den momentanen Hauptzweck einer politischen Action vielleicht kreuzen und daher nicht selten den Gegnern willkommene Angriffspunkte bieten.

In einer Kammer, wie die zweite sächsische, wo die viel berufene sächsische „Höflichkeit“ oder „Gemüthlichkeit“ bisweilen bis zum Excesse geht, wo Manche vor jedem kühneren Worte erschrecken und selbst die wohlerwogenste Ueberzeugung gern mit allerhand Abstrichen und Vorbehalten, wie den harten Kern mit einer weichen Schale, überkleiden, in einer solchen Kammer ist ein solches Ferment ganz am Platze – ein Redner, der immer geradeaus auf die Sache losgeht, der keine Rücksichten kennt und Pardon weder giebt noch fordert.

Seine schärfsten Pfeile richtete Ludwig gegen die Bureaukratie und die Orthodoxie beider Confessionen. Er begegnete sich darin mit noch anderen Abgeordneten der liberalen Partei, wie Körner, Krause, Leistner, Uhle, Wigard, allein er übertraf die meisten entweder an Schärfe oder an Beharrlichkeit seiner Angriffe. Wenn daher bureaukratische und geistliche Ultras ihn entweder in ihren erstaunlichen Artikeln oder auch öffentlich, wo sie nur können, als den schrecklichsten der Schrecken, als Revolutionär oder Freigeist mit Hörnern oder Klauen abconterfeien und alle frommen Christen und loyale Unterthanen vor ihm warnen, so kann man ihnen das eigentlich so sehr nicht verdenken.

Daß Ludwig aber hierbei nur die Sache, nicht einen eitlen Kitzel des Scandalmachens im Auge hatte, bewies er unter Anderm bei der delicaten Angelegenheit der „Schwestern vom heiligen Herzen“. Sein Antrag auf deren Entfernung aus ihrer Stellung als Lehrerinnen am Josephinenstift in Dresden hatte in der Kammer die besten Aussichten auf Erfolg. Ehe derselbe indeß zur Verhandlung kam, trat der König persönlich in wohlmeinendster Weise dazwischen, indem er bei der verwittweten Königin, der Protectorin jenes Stifts, die freiwillige Verabschiedung der von ihr berufenen Schwestern für einen gewissen, nicht zu fernen Termin vermittelte. Darauf zog Ludwig unter öffentlicher dankbarer Anerkennung dieses königlichen Actes seinen Antrag zurück.

Der Abgeordnete Jordan, Chef der großen weltberühmten Dresdener „Chocoladenfabrik Jordan und Timäus“, ist ebenso von Haus aus aristokratisch angelegt, wie Ludwig geborener Demokrat ist. Aber wie diesen sein klarer und scharfer Verstand davor bewahrt, in ein Extrem nach links zu verfallen, welches ihn für praktische Politik unfähig macht, so wird Jordan durch sein [582] warmes Gefühl und sein richtiges Verständniß für die heilsamen, namentlich die humanen Wirkungen einer kräftig freisinnigen Politik in die Reihen der Liberalen geführt und darin festgehalten. Wie sehr seinem milden, fast weichen Wesen aller Streit und daher eine scharfe Opposition von Haus aus zuwider ist, so kann ihn doch jedes Unrecht, das er wahrzunehmen glaubt, jede engherzige Abweichung von dem, was er mit seinem klaren Geiste als nothwendig und förderlich für Land und Volk erkennt, so kann ihn namentlich jede Antastung der hohen und heiligen Güter der Gesammtnation tief in seinem Innersten aufregen, so daß alle Rücksichten bei ihm schwinden und der sonst so maßvolle und so sanfte Mann zum flammenden Redner, zum gewaltigen, schlagfertigen Kämpfer wird.

Jede Partei, die öfters in die Lage kommt, der Regierung Opposition zu machen, oder doch die Maßregeln der Verwaltung scharf zu controliren (wie das bei der liberalen Partei der Fall ist), muß eine Anzahl technischer Specialitäten in ihrer Mitte haben, welche im Stande sind, einer solchen Controle oder Opposition Nachdruck oder Gewicht zu geben, namentlich in Bezug auf die wirthschaftlichen und finanziellen Fragen. Die liberale Partei Sachsens besaß auf den beiden letzten Landtagen nicht blos unter den Abgeordneten aus den Kreisen der Handel- und Gewerbtreibenden – wie Schnoor, Penzig, Strauß, Küntzel, Pornitz, Israel, Klemm, Lange etc. – manche finanzielle und wirthschaftliche Capacität, sondern selbst von den ländlichen Abgeordneten hatte mehr als einer sich namentlich in die Budgetfragen tüchtig eingearbeitet, und es war zwar ein ungewohnter, aber nicht unberechtigter Vorgang, einfache Landwirthe wie Oehmichen, Fahnauer, Meyr, Polenz über die wichtigsten Capitel des Staatshaushaltes referiren zu hören. Von allen finanziellen Capacitäten der liberalen Partei war Jordan wohl mit die bedeutendste, daher ein äußerst werthvoller Vorkämpfer der Partei in Budget-, Steuer- und ähnlichen Fragen.

Für die eigentlich volkswirthschaftlichen Aufgaben der Kammer und der Partei standen der letzteren zwei ganz specielle Capacitäten zu Gebote, durchgebildete Theoretiker, zugleich aber durch ihre Berufsthätigkeit auch dem praktischen Leben vertraut. Es waren dies die beiden Secretäre der Leipziger und der Dresdener Handelskammern, Dr. Gensel und Dr. Rentzsch, der gegenwärtig Director der sächsischen Eisenbahn-Baugesellschaft ist. Der erstere zeichnete sich beim jüngsten Landtage namentlich aus durch einen äußerst günstigen Bericht über die schwierige Steuerfrage – einen Bericht, der angeblich selbst in Berlin Aufmerksamkeit erregt und seinem Verfasser eine Anfrage wegen Eintritts in den Reichsdienst angetragen hat. Mehr noch und länger schon ist Dr. Rentzsch in weitesten Kreisen bekannt und angesehen: als vieljähriges Mitglied des Congresses deutscher Volkswirthe, eine Zeit lang auch des ständigen Ausschusses desselben, als einer der Hauptagitatoren für das wichtige nationale Unternehmen des Elbe-Spree-Canals, ferner durch sein großes „Volkswirthschaftliches Handwörterbuch“, das er in Gemeinschaft mit dem verewigten Lette, mit Prince-Smith, Böhmert, Emminghaus, Gensel u. A. herausgab. In politischen und namentlich in nationalen Fragen vertrat Rentzsch jederzeit eine ebenso der Sache nach entschiedene und festgegründete, wie der Form nach maßvolle und daher selbst von der Gegenseite mit Achtung behandelte Ueberzeugung.

In allervorderster Linie der Verhandlungen stand bekanntlich beim jüngsten sächsischen Landtage, sowohl nach der Wichtigkeit der Sache als nach der Lebhaftigkeit der Debatten darüber, das neue Volksschulgesetz. Hier galt es den Entscheidungskampf mit der Orthodoxie, welche die Volksschule nicht aus ihrem Banne entlassen wollte, und mit einer politischen Partei, welche wohl weiß, daß, „wer die Schule hat, das Volk hat“, und welche den freien Geist, den sie fürchtet, frühzeitig gedämpft sehen möchte mit Hülfe eben jener Orthodoxie. In diesem Kampfe stand die liberale Partei wie Ein Mann auf Seiten der Forderungen der Gegenwart für die Volksschule als Pflanzstätte eines freien, selbstdenkenden Gemeinde- und Staatsbürgerthums. Männer von entschiedener Gesinnung, und die zugleich meist dem Volksschulwesen entweder praktisch durch ihren Beruf – als Stadt- oder Gemeinderäthe oder theoretisch durch ihre Bildung oder in beiderlei Hinsicht nahestanden, fanden sich hier zusammen, an ihrer Spitze Dr. Panitz, der soeben zum Director der ersten Bürgerschule Leipzigs berufen war, und als Vorstand der Deputation Professor Biedermann. Die schwerste, aber auch wichtigste Aufgabe fiel dem Referenten Dr. Panitz zu, und er war es, der in seinem Schlußworte als Referent die feurige Mahnung an seine Partei und an die ganze Kammer richtete: „Es handelt sich um eine Machtfrage zwischen der ersten und der zweiten Kammer, zwischen den Vertretern einer exclusiven Gesellschaftsclasse und den Vertretern des ganzen Volkes; es handelt sich zugleich um eine Frage des Gewissens und der innersten Ueberzeugung, in der man nicht feilschen, nicht wegen äußerer Zwecke praktischer Opportunität ein klar erkanntes, unveräußerliches Princip aufgeben darf.“ Er feierte mit dieser Rede einen glänzenden parlamentarischen Triumph, denn eine Majorität blieb fest und standhaft gegenüber der Regierung wie der Ersten Kammer bei dem einmal Beschlossenen stehen; von der ganzen liberalen Partei fehlte nicht Ein Mann bei dem entscheidenden „Nein!“, womit das Gesetz zurückgewiesen ward.

Neue Ergänzungswahlen stehen in Sachsen auf der Tagesorduung, und so ist denn kein Zweifel, daß auf dem Landtage von 1873 bis 1874 wiederum eine liberale Partei erscheinen und ihre Pflichten erfüllen wird, fest und treu im Geiste des deutsch und frei gesinnten Sachsenvolkes.




Aus amerikanischen Gerichtssälen.
1. Der Vatermörder.


Das Gebäude, in welchem der „Oyer und Terminer“ Gerichtshof von New-York seine Sitzungen hält, war am 23. Juni dieses Jahres förmlich belagert. Nicht nur der Gerichtssaal selbst war zum Ersticken voll, auch die Corridors, die Treppen, ja den freien Platz vor dem Hause erfüllte die neugierige Volksmenge. Capitalverbrecher auf der Anklagebank zu sehen, ist in der Stadt New-York eben nichts Außergewöhnliches, und an Sensationsverbrechen jeder Art pflegt wahrlich auch kein Mangel zu sein; es mußte diesmal also wohl ein ganz besonders interessanter Fall vorkommen. So war es in der That. Eines von den Verbrechen, die zu allen Zeiten und unter allen Völkern als namenlos entsetzlich gebrandmarkt und mit ewigem Fluche belegt worden sind, war begangen worden – ein Vatermörder sollte gerichtet werden. Nur mit großer Anstrengung konnten die Gerichtsdiener einen Weg durch die dichtgedrängte Volksmasse bahnen, als Richter Davis erschien, um seinen Platz als Vorsitzender des Gerichtshofes einzunehmen. Es war zehn Uhr vorüber, als der Sheriff den Angeklagten brachte und ihn zu einem Sitze vor der Richterbank führte. Es war ein noch ganz junger Mensch, kaum zwanzig Jahre alt, der hier, mit der erwiesenen von ihm selbst bekannten Schuld des gräßlichsten aller Verbrechen belastet, vor dem ernsten Richter saß. Aber diese Schuld schien ihn nicht niederzudrücken; im Gegentheil, er saß da, mit gleichgültiger, ja frecher Miene den Gerichtshof musternd, während ein höhnisches Lächeln sein blasses feingeschnittenes Gesicht zuweilen durchzuckte, ein Bild des heutigen aristokratischen sogenannten Jung-Amerika, das, auf sein Geld und seine Verbindungen pochend, Allem, was Recht und Sitte heißt, trotzen und hohnsprechen zu können wähnt. Kurz darauf erschienen die vier Anwälte, welche es übernommen hatten, ihre ganze Kunst aufzubieten, den Vatermörder der Strafe oder doch wenigstens dem Stricke des Henkers zu entreißen, an ihrer Spitze der gelehrteste und berühmteste Advocat New-Yorks, ja vielleicht der Union, Charles O’Connor. Sie schüttelten ihrem Clienten herzlich die Hand und setzten sich ihm zur Seite. Eine hohe Greisengestalt schritt jetzt auf den Angeklagten zu; es war sein Onkel, der alte Oberrichter Barbour; ohne ihn zu grüßen, reichte er ihm schweigend die Hand und nahm dann seinen Sitz neben dem Hauptvertheidiger ein. Als öffentliche Ankläger waren die Districtsanwälte Phelps und Rollins erschienen. Richter Davis erklärte die Sitzung für [583] eröffnet und ließ aus dreihundert zu dem Zwecke anwesenden Bürgern eine Jury wählen. Das Gericht hatte sich constituirt und war bereit, die Klage zu vernehmen. Da erhob sich Herr O’Connor und trug auf Vertagung an, indem die Vertheidigung noch nicht bereit sei und einer weiteren Consultation bedürfe. Das Gesuch wurde bewilligt; der Richter vertagte die Verhandlungen bis auf Mittwoch, den 25. Juni. Die neugierige Menge mußte unbefriedigt nach Hause gehen.

Frank Hardin Walworth, der Vatermörder, war der älteste Sohn von Mansfield Tracy Walworth, einem Novellenschriftsteller von einigem Rufe. Die Familie Walworth gehörte zu den besten und angesehensten im Lande. Der Vater des Ermordeten war Kanzler Walworth, einst der hochgeachtete, würdige Oberrichter des Staates New-York, gewesen, dessen Verbindungen und Stellung dem Sohne eine glänzende Laufbahn eröffneten, ohne daß jedoch derselbe bei seinem excentrischen Charakter von diesen Vortheilen, trotz seiner großen Talente, Gebrauch gemacht hätte. Der Kanzler hatte endlich bei seinem Tode den so ganz mißrathenen Sohn unter die Vormundschaft seines Bruders Clarence eines katholischen Priesters, gestellt, der sich seitdem als Haupt der Familie betrachtete und dadurch den ehrgeizigen Mansfield auf’s Tiefste kränkte. Dieser hatte im Jahre 1852 die Tochter des Generals Hardin, der während der Rebellion gefallen war, geheirathet, ein stolzes, grundsatzloses Weib, deren südliche Sympathien sie während des Krieges in hochverrätherische Verbindungen mit den Rebellen verwickelt hatten. Die Ehe war wie tausend andere in den sogenannten aristokratischen Kreisen Amerikas. Ohne gegenseitige Zuneigung, Achtung und Treue ging Mann und Frau, jeder Theil seinen eigenen Weg. Die Kinder waren selbstverständlich die unmittelbaren Opfer dieses zerrissenen, verrotteten Familienlebens. Bei der kalten herzlosen Mutter lebend, wurde ihnen von Kindesbeinen an Haß gegen den Vater gepredigt, der bei all’ seiner moralischen Verkommenheit und oft an Wahnsinn grenzenden Heftigkeit doch im Grunde weit mehr bessere Eigenschaften und Gefühle gehabt zu haben scheint als die ganze übrige saubere Familiensippschaft zusammengenommen.

Im Frühjahre 1871 erfolgte endlich eine legale Scheidung; Walworth lebte seitdem meist in New-York von schriftstellerischen Arbeiten; seine geschiedene Frau hielt in Saratoga, dem bekannten fashionablen Badeorte, ein Pensionat für junge Damen. Walworth hatte schon vor seiner Scheidung sich höchst gewaltthätige Scenen mit seiner Frau zu Schulden kommen lassen, so daß diese sich selbst einmal genöthigt gesehen hatte, ihren Sohn Frank zu ihrem persönlichen Schutze herbeizurufen. Trotzdem hatte sich Letzterer, nach Aussage der Mutter selbst, stets ruhig und höflich gegen den Vater benommen, trug indeß seit jenem Vorfalle beständig einen geladenen Revolver bei sich, um, wie er behauptete, sich und die Mutter zu schützen. Nach erfolgter Trennung schrieb Walworth häufig an seine Frau, in einer Weise, die nur zu deutlich den völlig krankhaften Seelenzustand des unglücklichen Mannes zeigte, welcher, von seiner ganzen Familie verstoßen, an Allem verzweifelnd, sich in seinen Briefen den Ausbrüchen der wildesten Leidenschaft überläßt und der dabei freilich häufig jede Grenze, die Anstand und Sitte gebieten, überspringt. Bald ist es glühende Liebe, bald tödtlicher Haß, die das zerrissene Gemüth mit der Gewalt des Wahnsinns erfassen und es wie ein steuerloses Wrack auf dem wilden wogenden Meere dem Alles verschlingenden Abgrunde entgegentreiben. Einige Stellen aus seinen letzten Briefen beweisen dies klar genug.

„Das verzehrende Fieber verläßt mich,“ schreibt er einmal, „und in wenigen Tagen werde ich ausgehen können. Ich werde bei meinen Kindern vorsprechen. Mein Herz sehnt sich nach deren Liebe. Ich werde die Kinder im Frieden sehen, wenn es möglich ist. Ich werde sie sehen, und sollte eine Tragödie davon die Folge sein. Papistische Grausamkeit (dies bezieht sich auf seinen ihm verhaßten Onkel, den Priester Clarence) muß sich vor der Liebe und Sehnsucht des Vaters beugen, oder der Name der Walworth wird in Blut untergehen. Halte Frank aus meinem Wege! Du hast ihm Haß gegen mich eingehaucht; seine Gegenwart ist mir lästig und würde nur zur Tragödie reizen. Ich will nur meine kleinen Mädchen sehen und Euch dann im Frieden verlassen. Ich muß meine Kinder sehen, und wehe Dir, wenn Du sie im Haß gegen den Vater erziehst! Gott ist mein Anwalt, nicht der brutale, unerbittliche Gott, den Du und der Priester, mein Bruder, verehrt, sondern der Gott, der die Liebe zu meinen Kindern in mein Herz pflanzte, und der dem seiner Jungen beraubten Tiger zuruft: ‚Tödte!‘ … Sollte ich von den unschuldigen Lippen meiner Kleinen hören, daß Du auch in ihre Herzen den tödtlichen Haß gegen ihren Vater gepflanzt hast, dann werden zwei Schüsse durch jenes Haus schallen; der eine wird Dich, der andere mich in die Ewigkeit senden.“

In einem andern Briefe flucht er seinem todten Vater, weil er ihn unter die Vormundschaft des Pfaffen gestellt, und droht mit blutiger Rache, wenn die Familie es versuchen werde, ihm sein Erbtheil gänzlich zu entziehen, in Ausdrücken, die so maßlos brutal sind, daß die Feder sich sträubt, sie wiederzugeben. „Ich werde die Knaben (Frank und Tracy) tödten, des im Grabe ruhenden Schurken Pläne kreuzen und seinen Namen vom Erdboden vertilgen,“ so schließt der Brief, dessen Inhalt auf die momentan sicher an Wahnsinn grenzende Erregtheit des mit Allem zerfallenen, moralisch banquerotten Schreibers schließen läßt. Da aber von seiner Seite niemals ein Versuch gemacht wurde, diese Drohungen zu verwirklichen, so darf wohl geschlossen werden, daß es dem Unglücklichen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, nicht so ernstlich damit gemeint war, oder daß er vielleicht gar nicht mehr Energie genug besaß, seine Worte wahr zu machen. Diese Briefe waren es vorzüglich, welche den ältesten Sohn Frank von Saratoga nach New-York trieben. Derselbe hatte mit seinem Onkel Clarence eine Reise nach Europa verabredet, fürchtete aber während seiner Abwesenheit Gewaltthätigkeiten des Vaters gegen die Mutter, und wollte nun, nach seiner Aussage wenigstens, eine Zusammenkunft mit dem Vater veranstalten, um diesem das Versprechen abzufordern, seine Frau in Zukunft weder durch Briefe, noch durch Besuche zu belästigen. –

Walworth, der Vater, wohnte seit zwei Jahren in dem Kosthause der Frau Sims; er stand bei seinen Bekannten im Rufe eines vollendeten Gentlemans, nüchtern, höflich und zuvorkommend; er war Mitglied des New-Yorker „Männerchors“ und liebte, trotz seiner meist trüben Stimmung, geselligen Umgang, namentlich mit Deutschen. Niemand hatte eine Ahnung von seinen unglücklichen Familienverhältnissen. – Am zweiten Juni Nachmittags erschien ein junger Mann im Hause der Frau Sims und fragte nach Walworth, welcher ausgegangen war. Der Besucher hinterließ deshalb eine Karte ohne Namensunterschrift, des Inhalts: „Ich wünsche einige Familienangelegenheiten zu ordnen. Besuche mich in zwei oder drei Stunden im Sturtevant-Haus[WS 1] und frage nach mir im Comptoir!“ Am Morgen des dritten früh um halb sechs Uhr begab sich Walworth, der Vater, nach dem bezeichneten Hôtel und gab seine Karte ab. Der Herr Sohn war noch nicht aufgestanden, so daß der Vater eine Zeitlang warten mußte, bis er vorgelassen wurde. Als er in das Zimmer seines Sohnes eintrat, saß dieser, völlig angekleidet, den Hut auf dem Kopfe, am Fenster. Er bot dem Vater einen Stuhl an und begann mit ihm über die bewußten Drohbriefe zu reden, indem er ihn aufforderte, feierlich zu versprechen, nie wieder die Mutter belästigen oder ein Glied der Familie bedrohen zu wollen. Der Vater erklärte sich hierzu bereit in einer Weise, die dem Sohne nicht genügend zu sein schien, ohne daß es indeß zwischen Beiden im Geringsten zu harten Worten gekommen wäre. Während des Gesprächs steckte der Vater die Hand in den Busen, als ob er eine Pistole habe herausziehen wollen, wie der noble Sohn im Verhör angab, und dies war für den ritterlichen Sproß der Hardin-Walworth hinreichender Grund, auf seinen nichts ahnenden Erzeuger vier Schüsse aus seinem Revolver in rascher Folge abzufeuern, deren letzter den Unglücklichen zu Boden streckte. Ohne die geringste menschliche Regung ließ der unnatürliche Sohn den in seinem Blute schwimmenden, mit dem Tode ringenden Vater liegen, und begab sich in’s Comptoir, wo er dem Buchhalter ganz kühl und gleichgültig bemerkte: „Ich habe soeben meinen Vater erschossen.“ „Was sagen Sie?“ rief der bestürzte Mann, „was haben Sie gethan?“ „Ich habe meinen Vater erschossen; ich habe ihn drei Mal getroffen. Holen Sie einen Polizisten!“ war die kaltblütige Antwort.

Während nach einem solchen geschickt wurde, dictirte der Vatermörder eine Depesche an seinen Onkel Clarence Walworth, den Priester in Albany: „Ich habe meinen Vater erschossen; sorge für die Mutter!“

[584] Als Sergeant Keet nach wenigen Minuten erschien, zog der Mörder einen fünfläufigen Colt-Revolver aus der Tasche mit den Worten: „Ich heiße Frank Hardin Walworth; dies ist der Revolver, mit welchem ich ihn erschoß, weil er drohte, mich und meine Mutter zu erschießen.“ Als die Beamten das Mordzimmer betraten, war Mansfield Walworth bereits eine Leiche. An seiner Person wurde keine Schießwaffe irgend welcher Art gefunden; er war offenbar in vollem Vertrauen auf die friedlichen Absichten seines Erstgeborenen erschienen, um von diesem ohne jegliche Provocation gemeuchelt zu werden. Der Mörder wurde nach dem Tombs-Gefängniß abgeführt, um seinen Proceß zu erwarten, dessen Eröffnung schon berichtet worden ist. –

Am Mittwoch, den 25. Juni, begann die gerichtliche Verhandlung. Diesmal hatte sich die ganze Hardin-Walworth’sche Sippschaft eingefunden. Districtsanwalt Rollins leitete die Anklage mit einer anderthalbstündigen Rede ein, nach welcher das Vernehmen der zahlreichen Zeugen stattfand, aus dem sich der eben berichtete Thatbestand ergab. Der Mörder selbst hatte nichts geleugnet; im Gegentheil, er schien sich mit seiner That eher zu brüsten, als sei sie eine Heldenthat, die ihm, dem natürlichen Beschützer seiner Mutter, zur Pflicht geworden sei. Die Anklage beantragte daher mit Recht, auf Mord im ersten Grade zu erkennen; und hierin wurde sie vom Urtheil aller rechtlich Denkenden im Lande unbedingt unterstützt. Auch im Gerichtssaale waren wohl Wenige, die nicht das strengste Urtheil über einen Mörder gefällt zu sehen wünschten, dessen kaltblütige Ruchlosigkeit jedes Gefühl der Sympathie oder des Mitleids erstickte.

Andere Gedanken und Hoffnungen hatten freilich der Verbrecher und seine aristokratische Familie. Kalt und höhnisch hatten sie das Zeugenverhör vernommen, und als nun ihr berühmter Vertheidiger Charles O’Connor sich erhob, um die Vertheidigung einzuleiten, da verklärten sich ihre gleichgültigen Mienen zu einem triumphirenden Lächeln der Siegesgewißheit. Und Recht zu hoffen hatten sie allerdings. In New-York war seit Jahren kein reicher und angesehener Verbrecher zur gebührenden Strafe verurtheilt worden. Freisprechung, Begnadigung, heimlich begünstigte Flucht hatten noch jeden der Gerechtigkeit entzogen; dafür hatte man ja berühmte Criminalisten, corrupte Richter und weich- und feigherzige Gouverneure und vor Allem Geld, Geld, das die Riegel der Gefängnisse sprengte und den Strick der Henker verzehrte. Zwei dieser gewaltigen Factoren, das Recht zu beugen, hatten ja die Hardin-Walworths: Geld und den ersten Criminalisten des Landes.

Wir wollen die Leser nicht mit dem Detail der nun folgenden Verhandlungen ermüden; nur die Hauptpunkte der Vertheidigung mögen hier folgen.

Zunächst wurde natürlich Alles aufgeboten, den Charakter des älteren Walworth in’s schwärzeste Licht zu stellen, ihn als einen leibhaftigen Dämon auszumalen, die Mutter und Söhne aber als unschuldige Heilige, die durch die Verfolgung des unnatürlichen Gatten und Vaters zuletzt zur Verzweiflung getrieben worden seien. Der nächste Punkt war der bei allen solchen Fällen beliebte, nämlich zu beweisen, der Angeklagte sei unzurechnungsfähig gewesen, als er die That beging. Man erfand für diesen Fall einen „temporären epileptischen Wahnsinn“, an welchem der Sohn schon seit Jahren gelitten habe, dessen Existenz selbverständlich mehrere „berühmte“ Aerzte bereit waren auf ihre medicinische Ehre zu bezeugen. Der dritte Punkt war, zu beweisen, der Mörder, der bei der letzten Zusammenkunft mit seinem Vater einen solchen Anfall bekommen, habe geglaubt, als der Vater die Hand in den Busen steckte, derselbe wolle ihn erschießen; er habe also nur einen Act der Selbstvertheidigung begangen, als er den Vater niederschoß.

Drei und eine halbe Stunde lang plaidirte O’Connor nach Schluß des Verfahrens und bot seine ganze nicht geringe Kunst auf, die Jury günstig für seinen unwürdigen Clienten zu stimmen. Mit welcher Spitzfindigkeit dabei zu Werke gegangen wurde, mag folgende Stelle seiner Rede beweisen.

„Der Districtsanwalt ist gehalten zu beweisen,“ sagte der Criminalist, „daß die That absichtlich und bei vollem Bewußtsein begangen wurde. Er hat erwiesen, daß vier Schüsse abgefeuert wurden, während der Angeklagte sich nur dreier erinnert. Welcher der vier Schüsse ist nun der tödtliche gewesen? Das ist nicht bekannt; und wäre es nicht möglich, daß es gerade der war, welcher unbewußt abgefeuert wurde? Hat die Jury einen Zweifel darüber, so muß dieser dem Angeklagten zu Gute kommen. Dieser junge Mann wurde gekreuzigt, ehe er überführt worden war, durch das Wort ‚Parricida‘, das der Districtsanwalt gegen ihn schleuderte.“

Der Richter schloß die Sitzung und vertagte die Verhandlung bis zum folgenden Mittwoch. An diesem Tage, dem 2. Juli, entwickelte der Districtsanwalt Phelps in einem meisterhaften Plaidoyer die völlige Unhaltbarkeit der Vertheidigung, bewies aus den allseitig zugestandenen Thatsachen, sowie den eigenen Geständnissen des Angeklagten dessen völlige Zurechnungsfähigkeit sowohl, als die völlige Absichtlichkeit und zugleich Grundlosigkeit seiner Unthat und forderte schließlich die Jury in ergreifenden Worten auf, den feigen Meuchelmörder, der nicht einmal die geringste Reue über seine unnatürliche Schandthat zeige, die volle Strenge des Gesetzes fühlen zu lassen.

Nach einer kurzen Pause erhob sich Richter Davis, um die Jury zu instruiren. Seine Ansprache war ein überaus klares und eindringliches Resumé des ganzen Falles, frei von jeder Parteilichkeit, ein seltenes und darum um so ergreifenderes Beispiel strenger Gerechtigkeit, wie es auf den Bänken unserer Gerichte nicht oft gefunden wird.

Nach dreistündiger Berathung kehrten die Geschworenen zurück; sie waren einig und nahmen ihre Sitze ein. Der Gefangene, von Mutter, Oheim und Bruder begleitet, wurde vorgeführt. Der Obmann erhob sich, und auf die üblichen Fragen erfolgte der Spruch: „Schuldig des Mordes im zweiten Grade.“ Als ginge es ihn nichts an, hörte der Vatermörder den Wahrspruch an und verließ mit seiner ebenso gleichgültig scheinenden Familie den Gerichtssaal, um wieder nach den Tombs abgeführt zu werden.

Am Sonnabend den 5. Juli trat der Gerichtshof zum letzten Male zur Schlußscene dieses entsetzlichen Dramas zusammen. Richter Davis hatte diesen Tag bestimmt, das Urtheil zu verkündigen. Eine sehr erregte Menge füllte den Saal und dessen Umgebung; die öffentliche Meinung war heftig erbittert über den Wahrspruch der Geschworenen, durch welchen der Henker um dieses Opfer, für dessen Verbrechen einfacher Tod nur geringe Sühne zu sein schien, betrogen worden war. Der Volksunwille machte sich in den stärksten Ausdrücken gegen den elenden Mörder Luft; eine starke Polizeimacht war aufgeboten, um die Ruhe zu erhalten. Welch einen Contrast zu dieser gerechten Erbitterung des Volkes bildete die Haltung der Gesellschaft, die sich indeß im Vorzimmer des Gerichtshofes versammelt hatte! Im gleichgültigsten Tone und von den allergewöhnlichsten Dingen conversirten da, als befänden sie sich im behaglichen Salon ihres Hauses, die nächsten Verwandten des Vatermörders. Nicht einmal die Mutter zeigte die geringste Spur von Kummer oder Trauer über das Elend ihres blutbefleckten Hauses; ja, es schien diesem schamlosen aristokratischen Weibsbilde gar nicht erst zum Bewußtsein zu kommen, daß sie Alle, ohne Ausnahme, durch die Aufdeckung dieses bodenlosen Abgrundes moralischer Verworfenheit, in welchem die ganze Familie versunken dalag, an den Pranger gestellt und als Auswurf der Gesellschaft gebrandmarkt seien. Die ganze Rohheit und Frechheit dieser mit dem Firniß äußerer Cultur überstrichenen, im Grunde aber durchaus ungebildeten amerikanischen Pseudo-Aristokratie zeigte sich hier in einer wahrhaft empörenden Weise.

Unter den Flüchen und Verwünschungen des aufgebrachten Volkes wurde nach zehn Uhr der Vatermörder unter starker Bedeckung in’s Vorzimmer geführt; mit lächelnden Mienen begrüßte ihn die ganze Familie und setzte ihre schale Unterhaltung fort, an welcher er, völlig gleichgültig im Zimmer auf- und abgehend, bald ganz gemüthlich Theil nahm.

Der Districtsanwalt erhob sich und redete den Richter an: „Euer Ehren, der Proceß des Frank H. Walworth ist durch den Wahrspruch einer intelligenten und unparteiischen Jury beendet worden. Der Gefangene vor den Schranken des Gerichts ist demnach des Mordes im zweiten Grade schuldig, indem er am Morgen des dritten Juni Mansfield Tracy Walworth in verbrecherischer Absicht und unter dem Frieden des Volkes des Staates New-York vom Leben zum Tode brachte. Meine Pflicht als öffentlicher Ankläger erlischt in diesem Falle, indem ich hiermit auf die Urtheilsfällung nach dem Gesetze antrage.“

[585] „Haben Sie, Frank H. Walworth, etwas hiergegen einzuwenden?“ fragte der Gerichtsschreiber den Gefangenen.

Walworth murmelte einige unverständliche Worte: seine Vertheidiger rührten sich nicht. Todtenstille lag auf dem weiten Saale, als nach einer kurzen Pause der Gerichtsschreiber ausrief: „Walworth, erheben Sie sich!“

Ohne auch nur den gewöhnlichsten Anstand, den der Ort und die Gelegenheit geboten, zu beobachten, erhob sich der elende Bursche langsam und nachlässig, steckte die Hände in seine Rocktaschen und blickte den Richter mit der frechen Miene eines ungezogenen, trotzigen Schulbuben an. Ja, es war deutlich zu bemerken, daß er kaum im Stande war, das Lachen zu unterdrücken und mehrere Male gezwungen war, sich auf die Lippen zu beißen. Eine solche teuflische Ruchlosigkeit mag als ein psychologisches Räthsel erscheinen, die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger wahr. Wer freilich die heranwachsende Jugend New-Yorks sieht, begegnet diesem psychologischen Räthsel so oft, daß es kaum mehr als solches auffällt. Verachtung alles Guten, Edlen und Schönen, mit Füßentreten alles Anstandes und alles Rechtes ist nicht mehr Ausnahme, sondern Regel, und wir kennen mehr als Einen geldaristokratischen Sprossen, der dieselbe Frechheit zur Schau tragen würde, wenn über ihn ein ähnliches Urtheil gesprochen werden sollte, wie es jetzt Richter Davis über den Vatermörder aussprach.

„Walworth,“ begann der selbst tieferschütterte Richter, „ich habe in meinem ganzen Leben keine peinlichere Pflicht zu verrichten gehabt, als die mir jetzt obliegt. Nach einem Processe, in welchem Sie die Wohlthat eines Anwaltes hatten, der an Fähigkeit und Gelehrsamkeit nicht übertroffen wird, und einer Jury, die Sie im Wesentlichen selbst erkoren, sind Sie des Verbrechens des Mordes im zweiten Grade überführt worden. Die Strafe für dieses Verbrechen ist durch das Gesetz festgesetzt. Dem Gericht ist keine Wahl gelassen: Sie ist streng, aber, wie das Gericht in Ihrem Falle erachtet, nicht zu streng. Es trennt Sie von Ihren Freunden und von Ihrer Familie, und sendet Sie für Ihr Leben in’s Staatsgefängniß, das Sie wahrscheinlich nicht verlassen werden, außer vielleicht in künftiger Zeit durch die Gnade der Vollzugsgewalt. Die Beweise haben nach meinem Urtheile den gegen Sie gegebenen Wahrspruch vollkommen gerechtfertigt und ich habe schwere Zweifel, ob sie nicht den Wahrspruch ‚Mord im ersten Grade‘ gerechtfertigt hätten, denn ich kann nicht begreifen, welche Beweggründe Sie haben konnten, sich mit einer geladenen Pistole auszurüsten, nach New-York zu kommen, eine Zusammenkunft mit Ihrem Vater zu suchen und ihn fast unmittelbar darauf niederzuschießen, ohne daß ich annehme, daß Sie mit Ueberlegung beschlossen hatten, daß sein Leben durch Ihre Hand enden sollte. Die Pflicht, die ich zu üben habe, wird mir doppelt schmerzlich durch den Umstand, daß Sie einer in den Civil- und Militärannalen des Landes geehrten und ausgezeichneten Familie angehören. Ihr Großvater väterlicherseits war der oberste Richter dieses großen Staates und hinterließ einen reinen unbescholtenen Namen, während Ihr Großvater mütterlicherseits auf dem Schlachtfelde für das Vaterland fiel. Ihre arme Mutter hatte allerdings Ursache, ihre Beziehungen zu dem Vater zu bedauern, den Sie erschlugen; auch Sie hatten Ursache, nicht blos bekümmert, sondern beschämt und zornig zu sein über die lange Reihe von Beschimpfungen gegen sie und seine Familie; doch so schlecht er war, an Ihnen war es nicht, der Rächer dieses Unrechtes zu sein. Er hatte nichts gethan, um sein Leben selbst nach den Gesetzen des Landes zu verwirken, und am wenigsten hatte er etwas gethan, um sein Leben durch die Hand seines eigenen ältesten Sohnes zu verlieren. Wenn ich auf den Augenblick zurückblicke, wo Sie sich zu seinem Nachrichter machten und ihn in jenem Zimmer tödteten, wo Niemand außer Euch Beiden zugegen war, ist mir’s, als ob dieser Tod grauenhafter, als tausend Tode in anderer Form gewesen sein müsse. Von Ihnen zu einer Besprechung zu anscheinend friedlichen Zwecken eingeladen, um Familienzwiste zu schlichten – und fast unmittelbar der Todeswaffe in der Hand seines eigenen Sohnes gegenübergestellt – welche Gedanken müssen ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen sein, als er den bleiernen Todesboten von den Händen seines ältesten Knaben in seiner Brust empfing! Ich schaudere, wenn ich daran denke“ – bei diesen Worten verzog sich das Gesicht des Vatermörders zu einer höhnisch grinsenden Grimasse; der Richter, der es wohl bemerkte, unterbrach sich und rief, indem er einen durchbohrenden Blick auf den elenden Buben schleuderte: „der Gedanke an das Entsetzliche, das Sie vollbrachten, sollte Sie bis in’s Innerste erbeben lassen; ich schaudere, wenn ich daran denke, und fühle, daß Sie Ihr ganzes Leben einer Reue widmen sollten, wie sie Gott allein für eine so grauenhafte That annehmen kann. Der Spruch des Gerichts ist, daß Sie im Staatsgefängniß in Sing-Sing bei harter Arbeit für die volle Dauer Ihres Lebens eingesperrt werden.“

Nicht nur der Mörder, sondern ebenso die Mutter und sämmtliche Verwandten hörten den erschütternden Worten des Richters mit einer so empörenden Kaltblütigkeit zu, daß es selbst den gewiß nicht zu feinnervigen Zuhörern zu viel wurde. Anzeichen eines Ausbruchs des öffentlichen Unwillens gaben sich deutlich kund; der Richter beschleunigte die nöthigen Formalitäten, so sehr er konnte, und befahl dann schnell die Räumung des Saales und die Entfernung des Mörders und seiner Familie. Lachend nahm die verrottete Gesellschaft im Vorzimmer Abschied von einander; die Familie, um in Saratoga dem Begräbniß des Gemordeten beizuwohnen und dadurch ihrem ganzen ekelerregenden Gebahren die heuchlerische Krone aufzusetzen, der Sohn, um wieder nach den Tombs und von da weiter nach Sing-Sing in’s Zuchthaus abgeführt zu werden. Unterwegs äußerte sich der Verurtheilte gegen den Sheriff:

„Ich bin froh, daß ich die lange Strafpredigt nicht auszuhalten hatte, die ich von Seiten des Richters befürchtete. Ich weiß selbst gut genug, woran ich bin, und bedarf deshalb durchaus keiner Belehrung. Ich verlange weiter nichts, als einige Frist, um meine Angelegenheiten zu ordnen, und dann werde ich mich mit der größten Gemüthsruhe in mein Schicksal finden.“

Frank Walworth ist seitdem nach Sing-Sing abgeführt worden, wo ihm bis jetzt wenigstens nicht die geringste Vergünstigung vor andern Gefangenen zu Theil geworden ist. Die Gemüthsruhe, mit der er so sehr prahlte, scheint auch schon feiger Verzweiflung Platz gegeben zu haben, indem er, wie es wenigstens heißt, versuchte, sich selbst zu Tode zu hungern. Doch möchte auch hierzu dem erbärmlichen Wichte die Energie fehlen, denn die Aussicht ist doch zu verlockend, vielleicht schon nach wenigen Jahren den Pardon eines gefälligen Gouverneurs zu erbetteln oder zu erkaufen, und dann als Löwe des Tages und gefeierter Held der gesammten Noblesse New-Yorks, trotz Vatermord und Zuchthausjacke, in den Salons der fünften Avenue umherzustolziren.

Der vorstehende Fall hat, wie schon bemerkt, selbst in diesem von den schändlichsten Verbrechen strotzenden Lande außergewöhnliche Sensation erregt; das Gefühl des besseren Theils des Volkes hat sich empört gegen solche Ruchlosigkeit eines neunzehnjährigen Buben sowohl, als auch gegen eine so elende Handhabung der Gerechtigkeit, wie sie in dem Wahrspruch der Jury erscheint. Man spricht hier von einem psychologischen Räthsel. Und doch ist dasselbe nicht so gar schwer zu lösen. Es ist nicht die Absicht dieses Artikels, auf die Ursachen solcher entsetzlicher Erscheinungen ausführlicher einzugehen, nur einige Bemerkungen mögen schließlich dem Schreiber erlaubt sein.

Der Schlüssel solcher dunklen Thaten liegt hauptsächlich in der Weise, wie die amerikanische Jugend, namentlich diejenige von New-York, aufwächst, in der Erziehung oder richtiger Nicht-Erziehung derselben. In sehr vielen Familien, vorzüglich der sogenannten höheren Classen, das heißt derjenigen, welche mehr Geld als Andere haben und darum einen höheren Rang in der Gesellschaft beanspruchen, kann von vornherein von Kindererziehung keine Rede sein. Ist es einmal ausnahmsweise dem Kinde erlaubt worden, das Licht der Welt zu erblicken (denn Mord der Ungeborenen ist fast zur Regel geworden), dann beginnt trotz aller scheinbaren Sorge für dasselbe die lange Reihe von Vernachlässigungen und Versündigungen gegen dasselbe. Die Mutter ist viel zu träge oder zu vergnügungssüchtig, als daß sie sich die Last der Sorge für ihr Kind aufbürden könnte, und der Vater hat zu nichts Zeit, nur zum Geldmachen, er ist fast nie zu Hause. Amme, Gouvernante, Lehrer nehmen sich nach einander die Sorge für den Sprossen des edlen Hauses ab, während der Vater nach Geld und Courtisanen jagt und die Mutter vollauf mit Putzmacherinnen und galanten Freunden zu thun hat. Das Gefühl, Eltern zu haben, die es wahrhaft lieben, wird einem solchen Kinde nie in’s [586] Gemüth gepflanzt. Wie soll also Gegenliebe zu den Eltern entstehen? Von nichts als Hohlheit und Lüge umgeben, vom ersten Erwachen des Bewußtseins an Zeuge des zerrissenen Familienlebens, der gegenseitigen Untreue der Eltern, ihres Betrugs in Handel und Wandel, ihrer Verachtung aller moralischen Grundsätze, alles Rechts und Gesetzes, wenn nur ihre Habsucht und ihre Begierden befriedigt werden können – wie kann ein Kind in einer solchen verdorbenen Atmosphäre aufwachsen, ohne bis in’s innerste Wesen hinein angefressen zu werden und schließlich den Weg des Lasters und Verbrechens zu betreten? In solchen Familien hört das wahre natürliche Verhältniß zwischen Eltern und Kindern auf; die Gefühle kindlicher Liebe und Achtung können da nicht gedeihen, und fühlt das Kind sich erst selbstständig – was hier sehr früh der Fall zu sein pflegt –, dann steht es nur zu häufig den Eltern als Fremder gegenüber, und es bedarf oft nicht langer Zeit und nicht vieler Umstände, um die schwachen Fäden zu zerreißen, die beide noch, vermöge der leiblichen Abstammung, an einander ketten. Losgelöst von allen religiösen und moralischen Grundlagen, sinkt das Familienleben zu einem blos äußerlichen, sinnlichen Zusammensein herab, dem jede höhere sittliche Verbindung der einzelnen Glieder unter einander völlig fehlt. Ist der Nestling einmal flügge geworden, dann kennt er die Alten nicht mehr. Und was die Erziehung im Elternhause versäumt hat, holt die Erziehung in der Schule nicht nach. Niedere und höhere Bildungsanstalten geben in der Regel nichts als den oberflächlichsten Bildungsfirniß, ohne es im Geringsten auf wahre gründliche Entwickelung des Geistes oder gar des Gemüthes anzulegen.

So wächst der größte Theil der Jugend auf, und wenn die Zeit kommt, die nach unsern Begriffen für den Jüngling die Zeit des reinsten, edelsten Strebens sein soll, die goldene Zeit der Ideale, wo Begeisterung für alles Schöne und Gute die jugendliche Brust schwellt: da steht der arme junge Mann da, im besten Falle ein kalter Geschäftsmann, der nie ein jugendliches Gefühl empfunden hat, oder ein vollendeter Materialist, der im habgierigen Jagen nach dem Dollar oder im wüsten Rennen nach sinnlichem Genuß seine einzige Befriedigung sucht, im schlimmsten Fall aber ein total ruinirter Wüstling, für den es nichts mehr zu genießen giebt, oder ein verhärteter Bösewicht, der dem ergrauten Dieb und Mörder, der ihn in den Wegen des Verbrechens unterrichten will, lachend ein Schnippchen schlägt und sich ihm als Lehrmeister anbietet. Aus dem Sumpfe dieser unserer moralisch völlig verrotteten fashionablen Gesellschaft steigen dann nicht vereinzelt, sondern in erschreckend zunehmender Anzahl solche Ungeheuer auf, wie der neunzehnjährige Vatermörder Walworth. – Und wo ist der St. Georg, um diese Lindwürmer unschädlich zu machen und das Land von ihnen zu befreien? Wo ist die Gerechtigkeit, die mit Wage und Schwert dem Verbrechen entgegentreten soll? Was man hier Gerechtigkeit nennt, ist wohl auch eine blinde Göttin und ihre Diener sind’s meistens nicht minder; aber blind nur gegen den reichen und angesehenen Verbrecher, blind gegen klare Beweise und Thatsachen, wenn nur ein geschickter Advocat sein Netz von Intriguen und Sophismen darüber werfen kann, blind gegen Wahrheit und Recht. Aber das Gold, das der Millionär in der Hand hält, die Stellen und den Einfluß, die der Politiker, der Demagog zu vergeben hat, die sieht das scharfe Auge dieser Priester der Gerechtigkeit ganz vortrefflich; so geschieht es, daß in vielen Fällen der Arme schwer, ja gar nicht zu seinem guten Rechte kommt, während der reiche Verbrecher frei und triumphirend ausgeht. Ist es doch vielfach so weit gekommen, daß die Idee, einen reichen Mörder zur Strafe zu bringen, förmlich verlacht wird. Wie kann da Achtung vor dem Gesetz bestehen? Kein Wunder, wenn jede Schranke schließlich fällt und das Verbrechen, im Bewußtsein seiner Straflosigkeit, sich als Macht im Staate fühlt, die unter Umständen unantastbar ist.

Diese beiden Factoren: Mangel an wahrer Erziehung und Straflosigkeit des Verbrechens, erklären Erscheinungen, wie die in diesem Artikel geschilderte, und bis diesem doppelten Krebsschaden gesteuert ist, wird unsere Republik immer erschreckendere Beiträge zur Verbrecherchronik der Menschheit liefern.



.


Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
XI.


Dienstags den 7. November von 1775 Morgens fünf Uhr langte der Dichter in Weimar an und fand zunächst im Hause des alten Kammerpräsidenten von Kalb Herberge. Sein Aufgang war, dem Zeugnisse Knebel’n zufolge, wie der „eines Sterns“. Jedenfalls ist es ein culturgeschichtliches Ereigniß gewesen, daß ein junger Stürmer und Dränger in der Wertherstracht – (blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Kannevasweste, weiße Lederbeinkleider und Stiefeln mit gelbbraunen Stulpen) – in einen der bisher chinesisch um- und abgemauerten deutschen Hofkreise einbrach und jedermänniglich und jederweibiglich ad oculos demonstrirte, das „Von Genius’ Gnaden“ sei dem „Von Gottes Gnaden“ ebenbürtig, zum mindesten ebenbürtig. Es scheint sehr lächerlich, ist es aber nicht, wenn ich sage, daß das Smollis, welches Karl August seinem Gaste Wolfgang antrug, ein Stück socialer Revolution gewesen sei. Es war das in Wahrheit eine deutschburschikose „Erklärung der Menschenrechte“, und zwar erlassen vor jenem 4. Juli von 1776, an welchem die Amerikaner die ihrige ausgehen ließen in eine hoffnungsvoll aufathmende und die neue frohe Botschaft gläubig empfangende Welt. Ein regierender deutscher Herzog – und wär’s auch nur ein Herzog von Lillipuzien oder Miniaturia – mit einem Frankfurter Bürgerssohn auf du und du – nein, so was war noch nicht dagewesen! Von rechtswegen hätte sich darob das ganze Junkerthum auf den Kopf stellen und mit zappelnden Beinen gegen sothane Ketzerei protestiren müssen. Sehr möglich auch, daß ein solcher Protest im stillen Kämmerlein mitunter von denselben Hofjunkern erhoben wurde, welche dem Smollisbruder ihres herzoglichen Herrn öffentlich noch so eben ihre Verehrung gezollt hatten. Gewiß ist jedenfalls, daß Goethe’s Glück bei Hofe viel Neid von der grüngelbsten Sorte weckte.

Und wie war es denn eigentlich mit dem „Glück bei Hofe“? Gar nicht so glänzend, wie die Neidharte sich’s einbilden mochten. Der Mensch Goethe hat ja, wie wir’s uns bereits früher von ihm sagen ließen, sein wirkliches und eigenstes Glück nur in seinem „dichterischen Sinnen und Schaffen“ gesucht und gefunden. Aber wir wissen auch, das Hofglück war ihm viel häufiger eine schwere Last als eine leichte Lust. Noch mitten im Saus und Braus der weimarer Kraftgeniezeit[1] hat er einmal schmerzlich-zornvoll ausgerufen: „Der Fluch, daß wir des Landes Mark verzehren, läßt keinen Segen der Behaglichkeit aufkommen!“ Aber warum betheiligte er sich an dieser Zehrung? Warum ist er überhaupt zu Hofe gegangen? Warum hat er serviler Weise dort ausgehalten, wenn es ihm nicht gefiel? fragt Reptilius Demophiles mit hoch emporgezogenen Brauen und tief herabgezogenen Mundwinkeln. Guter Reptilius, es ist nicht jedermanns Sache, im Staube zu kriechen wie du, das Paradies in der Kafferei zu suchen und die Majestät des Menschenthums in Pöbelkneipen thronen zu sehen. Der Goethe war nun einmal eine vornehme Natur und blieb es auch dann immer noch, wann er, wie er später that, in den „Wanderjahren“ seines Wilhelm Meister mit der prophetischen Vorwegnahme des echten Dichters und Zukunftssehers stark socialisirte und im zweiten Theile der Faustdichtung herrlich das Evangelium der Arbeit verkündigte, dessen werkthätiger Apostel er übrigens all sein Leben lang gewesen und geblieben ist.

Und wo sollte denn ein Mensch, der dazu gemacht war, auf der Menschheit Höhen zu leben, diese im damaligen Deutschland suchen? Seht euch doch das unendliche Jammersal der deutschen Gesellschaft von damals etwas näher an! Ein Chaos von Verrottung da, von unklarer Gährung dort. Die Bauerschaft kaum dem Halseisen der Hörigkeit entschlüpft, das

[587] 

„Ihr liebsten und herzigsten Studien, ade!“
Originalzeichnung von F. Kels in Düsseldorf.

[588] Bürgerthum kläglich verkrähwinkelt, der Adel entweder wüst verkrautjunkert oder im schlimmsten Sinne verfranzos’t. Es gab einzelne bürgerliche, es gab auch einzelne adelige Kreise, wo ein edlerer Sinn und ein eifriges Bildungsstreben daheim; aber solche Kreise waren leicht zu zählen. Nur gerecht ist es daher, zu sagen, daß zu jener Zeit an deutschen Höfen, auf welche das Beispiel Friedrichs des Großen, wie später Josefs des Zweiten, denn doch nicht ohne Einwirkung blieb, ein gut Stück deutscher Kulturarbeit gethan wurde, insofern derartige Höfe Mittelpunkte und Rückhalte abgaben für die gleichzeitigen Bildungstendenzen und zwar – was ebenfalls günstig wirkte – häufig untereinander rivalisirende und wetteifernde Mittelpunkte und Rückhalte. Nun war aber der weimarische Hof ohne alle Frage ein solcher, ein richtiger Kulturhof so zu sagen. Schon die Herzogin Amalie, Karl August’s Mutter, hatte ihn dazu zu machen gestrebt, und zwar dadurch, daß sie Männer wie Wieland und Knebel, das heißt ausgesprochene Träger des Aufklärungsgeistes der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, zu Erziehern ihrer Söhne berief. Keine prächtige, aber eine höchst liebenswürdige und anziehende Erscheinung, diese Herzogin Amalia, welche noch als Dreiundvierzigjährige griechisch lernte, um mit dem guten Papa Wieland den Grazienlümmel Aristophanes lesen zu können, leichtlebig, warmherzig, liberal und human, eine Humoristin, die gern jung war mit jungen und froh mit fröhlichen Leuten, selbst auf die Gefahr hin, daß Worte flogen, welche weit mehr aristophanisch oder auch mephistophelisch als hofmäßig und etiketteglatt klangen. Wesentlich anders geartet war die Schwiegertochter der verwittweten Fürstin, Luise von Hessen, ernst, hochgestimmt, sehr gottesgnadenthümlich-bewußt, prinzeßlich eingeschnürt und zugeknöpft, ohne rechtes Talent für Liebe und Freundschaft, eine einsame Natur, aber grundgut, pflichttreu und später in schweren, in napoleonischen Prüfungszeiten einen Muth bewährend, wie ihn eben nur wahrhaft edle Frauen bewähren können. Die Fassung und Würde, womit die Herzogin Luise am 15. Oktober von 1806 dem in seiner Wachtstubenmanier roh sie anrasselnden Sieger von Jena entgegengetreten ist, umgeben ihre Gestalt mit einem nie erbleichenden historischen Nimbus. Nur allzu viele deutsche Weiber – ich sage sehr absichtlich Weiber und nicht Frauen – haben in jenen Schmachzeiten dem französischen Uebermuth und der französischen Zuchtlosigkeit gegenüber die eigene Würde und die ihres Landes schmählich preisgegeben; aber diese Würde wurde in ruhmvoller Weise gewahrt und behauptet durch Frauen, wie Luise von Preußen, Luise von Weimar und jene Luise von der Recke, welche zu Erfurt (1808) dem allmächtigen Empereur Achtung vor ihrem Patriotismus abzwang.

Vaterländisches Fühlen, das war der Punkt, worin die Herzogin Luise mit ihrem Gemahl zusammenstimmte. Sonst gingen ihre Anschauungen und Stimmungen weit auseinander. Karl August ist eigentlich ein ewiger Student gewesen, und als er starb, starb ein „bemoos’tes Haupt“. Es war ein wesentlich genialer Zug, ein Erbtheil von seiner Mutter her, in dem Herzog und dieser Zug hat bis zuletzt vorgehalten. In jungen Jahren sprühte ihm das Kraftgenie gleichsam aus allen Poren und dieser fürstliche Stürmer und Dränger hätte nur statt auf einem Thrönlein auf einem Throne zu sitzen gebraucht, um die Welt von sich reden zu machen und zwar sehr. Dieses, das heißt den peinlichen Widerspruch zwischen dem großen Wollen und dem kleinen Können seines herzoglichen Freundes hat Goethe unter dem „engen Schicksal“ verstanden, wenn er und zwar noch im Jahre 1783, wo doch die Weimarer Kraftgeniezeit schon vorüber war, in der tiefbewegten Rhapsodie „Ilmenau“ von Karl August sagte:

„Ein edles Herz, vom Wege der Natur
Durch enges Schicksal abgeleitet,
Das ahnungsvoll, nun auf der rechten Spur,
Bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet,
Und was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt,
Mit Müh’ und Schweiß erst zu erringen denkt.
Kein liebevolles Wort kann seinen Geist enthüllen
Und kein Gesang die hohen Wogen stillen.
Gewiß ihm geben auch die Jahre
Die rechte Richtung seiner Kraft;
Noch ist bei tiefer Neigung für das Wahre
Ihm Irrthum eine Leidenschaft.“

Freilich, wie und wo hätte im damaligen Deutschland Karl August die „rechte Richtung seiner Kraft“ finden können? Etwa im preußischen Militärdienst? Nun ja, er that bekanntlich als preußischer General im Unglücksjahre 1806 seine Pflicht so rühmlich wie wenige; aber was konnte er bei Lage der Sachen Ersprießliches ausrichten? Nichts. Mehr allerdings konnte er thun und that er, indem er später seinen Hof zu einem der Herde machte, worauf das Feuer der Vaterlandsliebe, die Glut des Hasses der Fremd- und Zwingherrschaft unablässig-treu genährt und geschürt wurde.

Zur Zeit, von welcher hier zuvörderst die Rede, war Karl August noch ein Unband von Jüngling, zwar schon verheiratet, aber mit einer Frau, welche ihm nicht wahlverwandt und die sich gegen die mit Goethe’s Ankunft am Hofe aufgethane Geniewirthschaft entschieden ablehnend verhielt, während ihre Schwiegermutter gutlaunig darauf einging. Die Herzogin Luise mag seltsam dazu gesehen haben, daß ihr Herr Gemahl die Werthertracht seines dichterlichen Gastes annahm, worauf natürlich auch die Herren vom Hofe, die Wedel, Einsiedel, Seckendorf und wie sie sonst hießen, in Wertherfräcken herumliefen. Denn Karl August – so hat Goethe in alten Tagen zum Eckermann gesagt – war „eine dämonische Natur“ und „das Dämonische war in ihm in dem Maße vorhanden, daß niemand ihm widerstehen konnte“. Kein Wunder daher, daß auf Betreiben des jungen Fürsten das Wertherthum und der Faustismus für eine Weile – und zwar für eine nicht ganz kleine Weile – am Hofe von Weimar, welches, als Stadt genommen, dazumal noch ein gar armsälig Nest gewesen, Trumpf und Mode wurden. Die Mode ist aber, wie weltbekannt, für die Frauen allzeit und überall eine Päpstin, deren Unfehlbarkeit nicht erst durch irgendein Blödsinns-Conventikel, genannt Concilium Vaticanum, dogmatisirt zu werden braucht. Ganz in der Ordnung also, daß es auch in dem Damenkreis der Weimarer „Welt“ – man zählte zu diesem Kreise Lotte von Stein, Luise von Imhof, die Gräfin Werthern, die bucklige, will sagen witzige Thusnelda von Göchhausen, die Kammerpräsidentin von Kalb, dann auch Lotte von Kalb, die hellenisch-schöne Sängerin Corona Schröter – zu werthern und zu fausten begann, mehr oder weniger merklich, mehr oder weniger naiv oder bewußt, mitunter wohl auch mehr oder weniger bedenklich. Denn so ganz ohne Verwüstungen ging der Sturm keineswegs vorüber. Schiller und Jean Paul sahen, als sie zum erstenmal in die Gegend kamen, noch die deutlichen Spuren und haben sich, jener gegen Körner, dieser gegen Otto, auch deutlich genug darüber geäußert …

Wohl, „wie ein Stern“, also ging unser Wolfgang am Hofe von Weimar auf, mit seinem Gestrale und Geleuchte Männlein und Weiblein gleichermaßen bezaubernd. Papa Wieland, der kurz zuvor von dem Ankömmling so scharf satirisch gemaßregelte Papa Wieland, war einer der ersten von ihm Bezauberten. Schon drei Tage nach Goethe’s Ankunft schrieb der Verfasser der Abderiten an Jakobi: „Oh, bester Bruder, was soll ich Dir sagen? Wie ganz der Mensch beim ersten Anblick nach meinem Herzen war! Wie verliebt ich in ihn wurde, da ich an der Seite des herrlichen Jünglings zu Tische saß! Alles, was ich Ihnen nach mehr als einer Krisis, die in mir diese Tage über vorging, jetzt von der Sache sagen kann, ist dies: Seit dem heutigen Morgen ist meine Seele so voll von Goethe wie ein Thautropfen von der Morgensonne.“ Gerade zwei Monate später hat Wieland, nachdem der Wolfgang im Schlosse Stetten bei Erfurt (Eigenthum einer Frau von Bechtoldsheim) ihn und alle entzückt hatte, an die Schloßbesitzerin eine Epistel in Versen gerichtet, worin es von dem „herrlichen Jüngling“ hieß:

„Und als wir nun so um und um
Eins in dem andern glücklich waren
Wie Geister im Elysium:
Auf einmal stand in unsrer Milte
Ein Zaubrer! Aber denke nicht,
Er kam mit unglückschwangerem Gesicht
Auf einem Drachen angeritten.
Ein schöner Hexenmeister es war
Mit einem schwarzen Augenpaar,
Zaubernden Augen mit Götterblicken,
Gleich mächtig, zu tödten und zu entzücken.
So trat er unter uns, herrlich und hehr,
Ein echter Geisterkönig, daher
Und niemand fragte: Wer ist denn der?
Wir fühlten beim ersten Blick: ’s war er!

[589]

So hat sich nie in Gottes Welt
Ein Menschensohn uns dargestellt,
Der alle Güte und alle Gewalt
Der Menschheit so in sich vereinigt;
So feines Gold, ganz innrer Gehalt,
Von fremden Schlacken ganz gereinigt!
Der, unterdrückt von ihrer Last,
So mächtig alle Natur umfaßt,
So tief in jedes Wesen sich gräbt
Und doch so innig im Ganzen lebt!
Was macht’ er nicht aus unsern Seelen!
Wer schmilzt wie er die Lust in Schmerz?
Wer kann so lieblich ängsten und quälen?
In süßen Thränen lösen das Herz?
Wer aus der Seelen innersten Tiefen
Mit solch entzückendem Ungestüm
Gefühle wecken, die ohne ihn
Uns selbst verborgen im Dunkeln schliefen?
Oh, welche Gesichte, welche Scenen
Hieß er vor unsern Augen entstehen!
Wir wähnten nicht zu hören, zu seh’n,
Wir sah’n. Wer malt wie er so schön
Und immer ohne zu verschönen
So wunderbarlich wahr, so neu?
Und dennoch Zug für Zug so treu?
Doch wie? Was sag’ ich malen? Er schafft
Mit wahrer, mächtiger Schöpferkraft!

So spiegelte sich unser siebenundzwanzigjähriger Dichter auf der Netzhaut von des enthusiastischen Wielands Augen, als er im Spätherbste von 1775 das Signal zum Beginne der „lustigen Zeit von Weimar“ gegeben hatte. Und wie sah denn, die Wieland’sche Netzhaut oder auch Idealisirungsbrille beiseite gethan, der „schöne Hexenmeister“ in seiner wirklichen Leibhaftigkeit dazumal aus? „Sehr mager, behende und zierlich, so daß ich ihn leicht hätte tragen können,“ giebt uns der alte Kammerdiener Goethe’s zur Antwort, das heißt er sagte so am 13. November 1823 zum Doctor Eckermann.


Blätter und Blüthen.

Ein unklares Vorkommniß beim Consulat in Genua. Ein solider junger deutscher Handwerker, Sohn achtbarer Eltern aus einer der größeren Städte unseres gewerbreichen Thüringens, theilt seinen Eltern ein selbsterlebtes Vorkommniß bei dem deutschen General-Consulat (Leupold) in Genua mit, bezüglich dessen in der That zu wünschen ist, daß es sich als irgend ein Mißverständniß aufkläre, und dessen hier mit dem Wunsche Erwähnung geschieht, womöglich eine befriedigende Aufklärung herbeizuführen. Wir lassen, nach den Mittheilungen der Eltern, den jungen Mann (J. M. aus G. in Thüringen), ohne weitere Randbemerkungen beizufügen, selbst reden. Derselbe schreibt an seine Eltern Folgendes.

„Ihr wart nicht einverstanden mit meinem Stellenwechsel und schriebt, daß mein Platz in Luzern sicher von größerem Werthe sei, als eine Stelle in Italien. Das weiß ich wohl. Ich habe die Reise auch nur gemacht, weil ich so nahe an der Grenze Italiens und sie mit so wenig Kosten verknüpft war. Das man einmal gesehen hat, das hat man gesehen und behält es für’s Leben. Ich habe aber diesmal mehr gesehen und erlebt, als mir lieb war. So hört denn, wie ein deutsches Generalconsulat mit Rath suchenden Deutschen im Ausland verfahren ist. Ich war bis Genua gekommen. In Genua hatte ich einen Reisegefährten gefunden, einen Schwaben, der von Rom kam, wo er ein Vierteljahr am kalten Fieber krank gelegen, und der, obschon genesen, doch noch sehr schwach war. Ich traf ihn im Vorzimmer im Consulatsgebäude; seinem Reisepaß nach hieß er Paul Topang und war Maler, aus Ravensburg in Würtemberg. Da wir der italienischen Sprache Beide noch zu wenig mächtig waren, so lag uns viel daran, deutsche Adressen zu erhalten, durch welche wir zu Beschäftigung zu gelangen hofften. Dies war der Zweck, zu welchem wir uns an das deutsche Generalconsulat wendeten. Nachdem wir unser Anliegen in aller Demuth und Bescheidenheit vorgebracht hatten, wurde uns bedeutet, zu warten. Die Ansprache des betreffenden Beamten, an mich speciell gerichtet, war, meinem guten Gedächtnis nach, folgende: ‚Wer seid Ihr? Was wollt Ihr? Zeigt Eure Schriften!‘ Und ohne ein Wort weiter anzuhören, ging der Beamte in’s Bureau. Nachdem wir eine Stunde gewartet, wurde uns ein Schreiben übergeben, welches wir auf die Präfectur bringen sollten, wo wir, nach der Aussage des Schreibers, ‚Freikarten‘ empfangen würden. Obschon wir nun dergleichen nicht, sondern nur deutsche Adressen gewünscht, so nahmen wir doch, im Vertrauen auf die Fürsorge der deutschen Reichsgewalt für die Deutschen im Ausland, das Schreiben arglos in Empfang und verwahrten es gar sorgfältig. Gehorsam gingen wir nunmehr, wie befohlen, nach der königlich italienischen Polizeipräfectur, stolz darauf, was man dort für Augen machen werde über die allgegenwärtige Fürsorge des deutschen Reichs für jeden seiner Angehörigen. In der Präfectur ließ man uns nicht warten, sondern bestellte uns auf zwei Stunden später. Wir nahmen das Schreiben vorsichtig wieder mit, nahmen inzwischen einen Imbiß und stellten uns dann, wie befohlen, pünktlich wieder ein. Als wir das Schreiben in der Kanzlei abgegeben und der dort fungirende Beamte es gelesen hatte, schellte er; im Nu standen – denkt Euch! – drei Carabinieri hinter uns. Wir wußten nicht, ob das Ernst oder Spaß sein sollte, und waren ganz verblüfft. Wir wurden abgeführt, um Mitglieder der geschlossenen Gesellschaft im Genueser Präfecturgefängniß zu werden. Alles Protestiren, so gut es mit unserer dürftigen Kenntniß der italienischen Sprache gehen wollte, half nichts, die stereotype Antwort war: ‚Conforme al Regolamente per Consule tedesco!‘ Als ich mich mit unserem kellerartigen Haftlocal, in welchem man es vor Chlorgeruch kaum aushalten konnte, ein wenig bekannt gemacht hatte, merkte ich bald, daß wir nicht die ersten Deutschen waren, die sich solcher Fürsorge zu erfreuen gehabt. Denn an den Wänden las man noch viele deutsche Namen, unter Anderm aus Sömmerda, Rothkappel bei Dresden, Stuttgart, Constanz, Wernigerode. Leserlich sind mir nur die folgenden Namen gewesen: Anton Cubeus aus Rothkappel bei Dresden, 8. März 1873; Julius Ebeling aus Wernigerode am Harz, 11. März 1873; Sänger von Sömmerda. Alle wohl ebenso ,conforme al Regolamente per Consule tedesco‘, wie es schien, hier untergebracht! Aber so tröstlich das Bewußtsein, im Leiden Genossen zu haben, nach dem lateinischen Dichter auch sein soll, wie ich immer von meinem Schulmeister gehört habe, wenn wir gemeinschaftlich Prügel bekommen hatten, – trösten über die ganz unerwartete scheinbare Enthüllung der Natur der deutschen Reichsvertretung in Italien konnte uns auch diese Entdeckung doch nicht. Da mein guter Schwabe sich in seiner Gesundheit noch nicht ganz wieder erholt hatte und überhaupt kränklich war, so bekam derselbe vor Schreck und Aufregung seine Anfälle und raste förmlich. Wären wir über Nacht in dem Keller geblieben, der Mann wäre sicher und gleichviel ob ‚nach‘ oder ‚gegen‘ das ‚Regolamente‘ am andern Morgen kalt gewesen. Zeichen konnten wir nicht geben; eine Schelle gab es nicht. Durch anhaltendes Treten mit den Füßen an die Thüre machten wir uns endlich doch verständlich. Es kam die Wache, und als diese sah, was vorging, dauerte es nicht lange, so wurden wir, nur durch deren menschenfreundliche Vermittlung, wenigstens aus dem Keller herausgelassen; aber auch nur, um am andern Morgen, conforme al Regolamente per Consule tedesco, mit Gensdarmeriebegleitung an den Bahnhof gebracht zu werden.

So scheint das deutsche Reichsconsulat in Genua seine Aufgabe aufzufassen, gegenüber rathsuchenden anständigen Deutschen. Ich möchte wohl einmal auch die Lieder von Denen aus Rothkappel, Sömmerda, Wernigerode etc. singen hören. Mißverständniß ist unter diesen Umständen nicht wohl denkbar. Und wenn etwa die Herren Schreiber in der deutschen Consulatscanzlei in Genua nicht ordentlich deutsch verstehen sollten, so wäre es wohl Sache des Herrn Generalconsuls, sich solche Beamte anzuschaffen, die es wirklich verstehen und nicht, statt Rath und Auskunft zu ertheilen, den deutschen Reichsbürgern Uriasbriefe an die königliche italienische Polizeipräfectur ausstellen.

Ihr wißt, ich war mit Euch sehr begeistert für die ganze Herrlichkeit des neuen deutschen Reichs und über allen nunmehrigen Glanz und Schutz der Deutschen im Ausland. Nehmt mir’s nicht übel, wenn ich in dem Genueser Präfecturkeller gar sehr abgekühlt worden bin und jetzt gar keine rechte Vorstellung mehr habe von dem Wesen der deutschen Reichsvertretung im Ausland und ob, wenn das überall so sein sollte, die Ausländer den richtigen Begriff vom Schutz der Deutschen durch ihre Reichsgewalt erhalten werden. Doch genug davon!

Als ich aus Italien zurückkam, führte mich mein Weg über den St. Gotthardt. Etwas ermattet durch das Schneelaufen, kehrte ich im Hospiz ein. Hier traf ich einen jungen Schweizer, welcher auch aus Italien kam, und ohne daß ich ihm mein Abenteuer in Genua erzählte, sagte er mir: daß er in Genua beim schweizer Consul gewesen wäre, von diesem ganz freundlich aufgenommen und in Begleitung des Secretairs an den Bahnhof gebracht worden sei. Dort habe der Secretair für ihn Fahrt und Mittagsessen bezahlt und darauf sich von ihm verabschiedet. Ich schämte mich mein Erlebniß zu erzählen, aber ich dachte, wenn das schweizer Consulat es so machen kann, warum kann das deutsche Reichsconsulat nicht Gleiches?

Lebt wohl für diesmal! Seit ich wieder in der Schweiz bin und mit unserm Reichsconsulat nichts mehr zu thun habe, befinde ich mich wieder ganz wohl. Euer dankbarer Sohn J. M.“

Vorsicht vor amerikanischen Landagenten! Ein vielerfahrener deutscher Freund schreibt aus Missouri Folgendes: Ich habe letzthin in einem unserer deutschen Blätter mehrere Auszüge aus deutschen Zeitungen gelesen, die mich interessirt und gefreut haben. Es scheint aus diesen Artikeln hervorzugehen, daß sich in Deutschland sogenannte amerikanische Landagenten herumtreiben und an auswanderungslustige, aber natürlicher Weise mit den hiesigen Verhältnissen ganz unbekannte Personen Eisenbahnländereien zu verkaufen suchen. Die Warnungen vor solchen Landkäufen sind ganz vom rechten Standpunkte aufgefaßt und solche Landverkäufer sollten abgefaßt werden, denn neunundneunzig Hundertstel solcher Anerbietungen sind offenbar Schwindel. Große Vorsicht ist selbst solchen zu empfehlen, die schon eingewandert sind; Niemand sollte Land kaufen, der es nicht gesehen hat und zwar im Beisein eines Sachverständigen, und dann muß erst der Rechtstitel untersucht werden. Viele, ja die meisten der hier ansässigen Farmer, die aus irgend welchem Grunde verkaufen wollen, verkaufen im guten Glauben und in redlicher Absicht und wissen vielleicht gar nicht, daß ihr eigener Rechtstitel mangelhaft ist, denn die Friedensrichter und Notare auf dem Lande, die dergleichen Kaufbriefe ausfertigen, sind nicht selten so unerfahren und so unbeholfen, daß sie die Beschreibung des Landes unrichtig copiren, und wenn früher oder später solche Fehler zu Tage kommen, so sind Schwierigkeiten und Geldopfer die unausbleiblichen Folgen. Ebenso sollte auch immer durch competente Leute untersucht werden, ob das zu verkaufende Land nicht durch Hypotheken belastet ist, die vor dem Verkauf gelöscht werden müssen. Weit vorsichtiger aber muß man sein, wenn man mit eigentlichen Landspeculanten oder ihren Agenten handeln will. [590] Der Congreß der Vereinigten Staaten hat ungeheure und unsinnige Schenkungen von Regierungsländereien an Eisenbahncompagnien gemacht, die nach Millionen von Aeckern zählen und sich über das ganze westliche Gebiet der Vereinigten Staaten erstrecken. Daß diese Ländereien sehr werthvollen Boden enthalten, ist wahr; aber es sind in diesen verschenkten Strecken auch unermeßliche Striche, die ganz unbrauchbar und unfruchtbar sind, und es wird kein Mensch so unvernünftig sein zu glauben, daß jene Landagenten dieses Land im Detail kennen; wenn sie es überhaupt kennen, so können sie blos einen Begriff in Bausch und Bogen davon haben, und wenn diese Agenten auch wirklich so ehrlich sein wollten, wie es die Umstände erlauben, so ist es dennoch ein bloßer Zufall, wenn sie ein gutes Stück verkaufen, denn sie haben blos eine Liste der Landesnummern und vielleicht eine oberflächliche Beschreibung der Regierungsfeldmesser zu ihrer Verfügung. Die besten Strecken dieser Ländereien, vorzüglich solcher, auf denen voraussichtlich eine Station oder eine Stadt angelegt wird, sind meistentheils schon reservirt und belegt, und nur der Schund soll so theuer wie möglich an den Mann gebracht werden. Es sind hier zu Lande aber auch schon Verkäufe ausgeführt worden, bei denen das Land nur in der Einbildung existirt hat und nirgends zu finden war. Daß gewissenlose Schwindler solche Experimente auch in Europa versuchen sollten, wo die Untersuchung eines Rechtstitels gar nicht möglich ist, ist mehr als wahrscheinlich. Du begreifst, daß eine eingehende Beschreibung und Erklärung der amerikanischen Landverhältnisse hier zu weitläufig wäre. Auswanderer mögen nur vorsichtig sein und positiv nicht kaufen. Wenn sie erst Eingewanderte sind, werden sie schon gescheidt werden.


Schwarzes Brett für die Volksschule. Nr. 2. Schullehrer oder Handwerker? – Es sind nun fast drei Jahre her, wo wir (in Nr. 44 des Jahrganges 1870 der Gartenlaube) „Zwei Preisfragen“ veröffentlichten über die Besetzung einer mecklenburgischen ritterschaftlichen Schulstelle durch einen Lehrer, welcher „seine Mußestunden durch Betreibung eines passenden Handwerks ausfüllen“ dürfe. Dieselben hatten mehrere Einsendungen veranlaßt, die zu einer ausführlicheren Beantwortung verpflichteten. Die Stoffüberfüllung der Kriegszeit drängte den fertig vorliegenden Artikel auf die Seite; die großen Ereignisse jener Tage ließen den kleinen Hader in Vergessenheit kommen, und erst jetzt fühlt sich ein Dr. G. Flemming in Lübz gedrängt, indem er uns den Tod des Pastors Haeger anzeigt, „die Ehre seines verstorbenen treuen Jugendlehrers, Beichtvaters und väterlichen Freundes zu retten“.

Nur der Familie des Verewigten wegen nehmen wir das vergilbte Manuscript wieder hervor und geben es hiermit wie folgt in den Druck.

Die einzige dankenswerthe Mittheilung über jene Art von Schulstellenbesetzung machte damals „ein Mecklenburger in Westpreußen“; er sagt: „In Mecklenburg stellt jeder Rittergutsbesitzer, der auf seinem Gute eine Schule hält, den Schulmeister (dort die landübliche Bezeichnung) selbst an, der vorher bei dem Ortspfarrer ein sehr unschuldiges Examen zu bestehen hat. Der Rittergutsbesitzer hat gesetzlich das Recht, irgend einen kleinen Handwerker dazu zu wählen, und er wählt einen solchen, weil er ihm einen Gehalt zahlt, von dem allein eine Familie nicht leben kann. Wenn nun der Prediger die Verpflichtung hat, die Vacanz einer Schulstelle anzuzeigen und zu Bewerbungen aufzufordern, so kann er nicht anders, als die Sachlage mittheilen.“ Danach hat Herr Pastor Haeger Alles, was er thun mußte, sogar in möglichst milder Form zu vollbringen gesucht, und indem wir das anerkennen, fügen wir noch hinzu, daß alle Einsender und öffentlichen Nachrufe ihn einen in seiner Gemeinde, die ihn sich zum Nachfolger seines Vaters und Großvaters erbeten hatte, und in weiteren Kreisen hochgeachteten Ehrenmann nannten. Diese Bemerkung möge der Familie des Pastors Haeger eine Genugthuung sein, da ihn selbst unsere Stimme nicht mehr erreichen kann.

Wenn der Einsender weiter behauptet: „Von einer Entwürdigung des Lehrerstandes kann demnach in diesem Falle wohl nicht die Rede sein, da kein Mann des Lehrerstandes, sondern geradezu ein kleiner, verkommener Handwerker zu solchem Lehrerposten gesucht wird“ – so spricht er eine entsetzliche Wahrheit aus. Denn dann treiben eben dort nicht etwa arme Lehrer nebenbei ein Handwerk, sondern arme Handwerker besorgen nebenbei die Schulmeisterei. Die von uns gerügte Erniedrigung der Volksbildung ist damit aber schlagend dargethan, und daß diese heute noch sogar auf gesetzlichem Rechte beruhen kann, daran tragen nicht blos die gesetzgebenden Herren Ritter die Schuld: sie vertheilt sich auf alle gebildeten selbstständigen Männer des Landes, welche in egoistischem Behagen Volk und Schule sich selbst überließen und den einzelnen Kämpfern für dieselben theilnahmlos den Rücken kehrten.

Jedem tüchtigen Staat und Volk ist unter allen seinen Anstalten die Schule der Augapfel. Man sehe, welche Sorge und welche Summen die Union Amerikas, die Schweizer Eidgenossenschaft auf ihre Bildungsanstalten verwenden – und man wird den Hut abnehmen vor solcher Würdigung der Volksbildung. Und wenn der Ritterschaft des Obotritenthrons diese Beispiele zu republikanisch duften, so stellen wir ihr das fürstenreichste deutsche Land als Muster hin: das ist Thüringen mit seinen acht Kleinstaaten. Der größte Theil derselben liegt am und im Gebirge, nur der geringere Theil ist fruchtbares, ebeneres und Hügelland. Aber wie letzteres, hat auch ersteres treffliche Unterrichtsanstalten und selbst das höchste und ärmste Gebirgsdorf ist stolz auf seine gute Schule mit seinem pädagogisch tüchtig gebildeten Lehrer, dem man keine andere Nebenbeschäftigung zumuthet, als die Pflege der Musik und namentlich des Orgelspiels. Thüringen ist für Schul- und Volksbildung ein deutsches Musterland: ihm muß man vor Allem da nachstreben, wo man in der Würdigung und Pflege von beidem noch am weitesten zurücksteht.

Leider hat das mecklenburgische Landvolk Leidensgenossen im Nord und Süd, in Alt- und Neu-Preußen. Vor uns liegt ein „Hannöversches Zeitblatt“, in welchem unter Anderem folgende „vacante Schulstellen“ ausgeboten sind: ein Rectorat mit 391 Thlr. 5 Gr. 7 Pf. Einnahme, als der glänzendste Dienstposten, dann aber eine Schulstelle zu 127 Thlr. 15 Gr., eine andere zu 121 Thlr., eine dritte zu 100 Thlr. und endlich eine Schulstelle zu 30 Thaler und dem Reihetisch! Da beträgt also für den Lehrer dieses Dorfes – es ist Duden-Rodenbostel im Fürstenthum Calenberg – der Bargehalt täglich 2½ Groschen. Das Mittagessen hat er, denn er ißt jeden Mittag an einem andern Bauerntisch; Morgen- und Abendimbiß, Kleidung und menschliche Erholung hat er aber mit seinen 2½ Groschen zu bestreiten. So etwas wird man gewiß in Mecklenburg nicht wiederfinden.

Den Handwerkern, die sich in großer Entrüstung gegen uns darüber äußerten, daß es eine „Entwürdigung“ der Schule sein solle, wenn ein Handwerker auch Lehrer werde – sagen wir als unsere Meinung Das: Nur ein ungebildeter Handwerker kann sich einbilden, daß er jeden Augenblick auch Lehrer sein könne. Der tüchtige, gebildete Handwerker verabscheut jede Pfuscherei.
Fr. Hfm.

Ein unbekannter Todter. Am 14. Januar 1870 fand man in einem Canal unweit Perleberg, der Kreisstadt von Westpriegnitz in Brandenburg, die Leiche eines jungen Mannes, der offenbar dort verunglückt war. Die Behörde beeilte sich, den Todten begraben zu lassen, und erst vierzehn Tage später veröffentlichte sie den Vorfall und das Signalement des Verunglückten. Für dieselbe Zeit hatte eine Perleberger Familie die Heimkehr eines Sohnes und Bruders erwartet, der vor elf Jahren nach Amerika ausgewandert war. Eltern und Geschwister wollten in den geschilderten Zügen eine Aehnlichkeit mit ihrem erwarteten Lieben entdecken; es ließ ihnen Tag und Nacht keine Ruhe, sie mußten sich Gewißheit verschaffen und bewirkten endlich die Ausgrabung der Leiche. Und nicht blos die Eltern, die jüngeren Brüder, die Schwester, auch einige Schulfreunde erkannten in den schon stark angegriffenen Resten der Leiche ihren heimgekehrten Amerikaner. Alles stimmte mit dem Bilde, welches den Seinen noch in der Erinnerung vorschwebte, überein: die junge, kräftige Gestalt, das rothbraune, halblang gewachsene Haar, die vollen Zähne, die blauen Augen und sogar an der rechten Hand eine Narbe am Zeigefinger. Der Todte ward nun bitterlich beweint, wieder bestattet, und trotz der Winterzeit schmückten Mutter und Schwester das Grab mit den schönsten Blumen und nahmen den theuren Rasenhügel fortan in ihre sorglichste Pflege. Mutter und Schwester weinten dem Unglücklichen noch manche Thräne nach, und so vergingen volle anderthalb Jahre.

Anfangs August 1871 kommt ein Brief aus Amerika an; es ist des Todten, Begrabenen und Beweinten eigene Handschrift; der angeblich Verunglückte lebt noch frisch und gesund – die Familie hat das Grab eines Fremden gepflegt! Aber sie unterläßt diese Pflege nicht, der Angehörigen des Begrabenen gedenkend, welche vielleicht keine Ahnung davon haben, daß sie einen wer weiß wie Lieben verloren und mit wie vielen Thränen der Arme schon von den Pflegern des Grabes betrauert worden ist.

Wir haben den Brief, welcher uns dies erzählte, schon mehreren Familien mitgetheilt, welche auf deutschem Boden spurlos verschwundene Söhne vermissen, aber immer vergeblich. Vielleicht erkennen die Verwandten den Verunglückten an seinen Kleidern und sonstigen Sachen wieder: er trug einen Pelz, zwei kurze Röcke, lederne Beinkleider, hohe Stiefeln, Tuchweste, ein schwarzseidenes Halstuch, einen dunkelgrünen Calabreser mit Feder, graulederne Fingerhandschuhe mit zwei Knöpfen. Außerdem fand man bei ihm eine silberne Ankeruhr, daran eine kurze dreisträhnige silberne Kette mit goldenen Schiebern, ein gelbes und ein braunes Kattuntaschentuch, einen Spazierstock mit Bleikugel als Knopf, ein Portemonnaie, jedoch ohne Geld. – Alle diese Gegenstände hat die Behörde verkauft; nur weniges davon hat jene Perleberger Familie zum Andenken erworben.

Wird dieser Todte für immer unbekannt bleiben?



Ihr liebsten und herzigsten Studien, ade!
(Schnaderhüpfl zu der Abbildung auf Seite 587.)

Wohl ziehen den Künstler
     „die Studien“ allein
In die Lande hinaus,
     in die Berge hinein.

Den Wald und den See,
     die malt er von fern’,
Die Staffage studirt er
     recht nahe so gern!

Und kommt es zum Scheiden,
     vom Wald und vom See
Geht’s leicht wohl, nur von der
     Staffage thut’s weh!

Wie schad’, daß ihr bleibt,
     und wie schad’, daß ich geh’!
Ihr liebsten und herzigsten
     Studien, ade!



Kleiner Briefkasten.

W. Fr. in Chemnitz. Die Redaction der Gartenlaube ist in der That nicht im Stande, die Menge derartiger in Folge des Kriegs erhobener Klagen Einzelner alle nur zu beantworten, geschweige zu berücksichtigen. Dazu ergiebt es sich leider mehr und mehr als eine bequeme Sache, statt im eigenen Ort für unschuldig Leidende selbst zu sammeln, einfach an die Gartenlaube zu schreiben. Wir versichern, daß es wirklich auf die Länge nicht gut thut, wegen jeder Calamität Einzelner, denen recht gut ein enger Kreis helfen kann, an die große Gartenlauben-Glocke zu schlagen; wir müssen diese Sturmlaute für große, allgemeine Unglücksfälle aufsparen, mit denen wir ja fast noch kein Jahr ganz verschont worden sind.

Hr. Fl. in Straßburg i. E. Die Nachfragen nach den in Nordamerika vermißten Deutschen (also auch nach Karl Zinser) geschehen auf den Umschlägen der amerikanischen Heftausgabe der Gartenlaube.

Adolph H. in Eilenburg. Ueber die Anschaffung eines Aquariums theilen wir Ihnen mit, daß dasselbe in der Größe und Einrichtung des in Nr. 26 unseres Blattes abgebildeten und erklärten nach Aussage des Besitzers Ihnen etwa sieben bis acht Thaler (mit Verpackung zehn Thaler) kosten würde. Der Besitzer ist gern bereit, über Einzelnheiten, wie über Bezugsquelle etc., Auskunft zu ertheilen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vorlage: „Krafgeniezeit“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sturvesant-Haus