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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[559]

No. 35.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Schuster Lange.

Novelle von Ernst Wichert.
(Schluß.)


Der junge College suchte mit einem schnellen Blick auf meinem Gesicht etwas, das dieser harmlosen Frage eine besondere Bedeutung geben konnte, erröthete ein wenig und sagte wegsehend: „Allerdings, das Mädchen – der Knabe ist fünfzehn und in der Schulbildung etwas zurück, übrigens sonst ein aufgeweckter Junge, von dem unter günstigeren Umständen das Beste zu erwarten wäre. Was kann nun aus ihm werden?“ Er sprach so noch eine Weile über den Vetter fort, ohne der Cousine zu erwähnen. War das ganz zufällig?

„Wenn übrigens die Tante meinem gutgemeinten Rathe folgt,“ schloß er, „so kommt sie hierher. Sie hat Verwandte in der Stadt, die zwar ebenfalls unbemittelt sind, aber ihr doch eine Art von Halt gewähren. Dazu ist es hier billiger und für die Kinder läßt sich leichter sorgen, wo man den Vater nicht in Erinnerung hat. Wenn Ihnen vom dortigen Gericht die Acten zugehen sollten, haben Sie die Güte nicht zu genau zu prüfen, ob sich die Sache vielleicht auch ablehnen ließe. Sie thun ein gutes Werk, wenn Sie die Vormundschaft leiten.“

Ich merkte wohl, daß der brave junge Mann sich der armen Familie bereits auf’s Treueste angenommen hatte, und versicherte ihn gern seines Beistandes. Was er nur als eine Möglichkeit hingestellt hatte, war sicher schon fest verabredet, und so vergingen nur wenige Wochen, bis wirklich die Wittwe mit den Kindern anlangte und fast zur gleichen Zeit auch die Vormundschaftsacten aus B. eingesendet wurden. Die Angaben des Assessors in Betreff der Vermögensverhältnisse ergaben sich durchweg als richtig: es war der Wittwe nichts geblieben, als ein großer Titel zu einer ganz geringfügigen Pension.

Ich lud sie zu einem Termin vor, um mit ihr Rücksprache zu nehmen, und lernte eine Dame kennen, der ich das tiefste Mitleid nicht versagen konnte. Der Assessor hatte Recht: sie war wohl auch in ihrer blühendsten Jugend nicht schön gewesen, aber ihr ganzes Wesen muthete auf den ersten Blick an, und die schlichte doch vornehme Art, wie sie sich ausdrückte, erweckte Vertrauen. Von ihrem Gesicht war das Leiden abzulesen, mit dem sie sich so viele Jahre getragen hatte; es war ganz nervöse Anspannung, wie so oft bei Menschen, die eine sehr schreckhafte Katastrophe in gewisser Aussicht haben, unausgesetzt darauf warten, vor jedem Geräusch erzittern und sich dabei noch verpflichtet fühlen, ihre Erregtheit zu verstecken; an den Schläfen zeigte sich die Haut wie transparent, so daß die feinsten blauen Aederchen sichtbar wurden, und die Lippen waren beinahe farblos geworden.

Ihre Kinder hatte sie mitgebracht. Die Tochter war größer als die Mutter, stattlicher in ihrer Erscheinung, feiner in ihrem Auftreten, wahrscheinlich dem Vater ähnlicher als der Knabe, der körperlich zurückgeblieben und gedrückt erschien. Frische Farben ließen sich auch bei ihr vermissen, aber ihr Auge war lebhaft und ihre Haltung zuversichtlich. Die reiche Fülle des schönsten blonden Haares mußte auffallen, ein Schmuck, der jeden künstlichen entbehrlich machte.

„Meine Lage ist sehr schwierig,“ sagte die Geheime Räthin, nachdem sie mich im Allgemeinen orientirt hatte. „Ich möchte gern arbeiten, aber es wird mir schwerer als Andern, Arbeit zu erhalten. Wenn ich mich nenne, hält man mich für eine große Dame, mit der man sich genirt in einen Verkehr dieser Art zu treten, und so werde ich überall höflich abgewiesen. Man giebt mir auch wohl zu verstehen, daß der Verdienst zu gering sein würde, um davon drei Menschen unterhalten zu können, und daß ich weiter käme, wenn ich die Wohlthätigkeit der reichen Leute in Anspruch nehmen wollte, die immer ein gewisses Interesse dabei haben, Personen ihres Standes nicht ganz sinken zu lassen; ich kann mich aber nicht entschließen, Bettelbriefe zu schreiben, so lange ich rüstig bin, und will lieber darben als –“

„Rege Dich nicht auf, Mutter,“ bat das Mädchen, dem diese Erörterung sehr peinlich zu sein schien; „es wird uns besser gehen, als Du glaubst, wenn Du mir nur erlauben willst, Handarbeit zu übernehmen; mit einem jungen Dinge, wie ich bin, macht man weniger Umstände, und Du kannst ja hinterher zu Hause helfen.“

Die Wittwe seufzte bekümmert. „Ich verstehe mich sehr ungern dazu“, antwortete sie, mehr zu mir, als zu ihrer Tochter gewendet. „Könnte es nach meinen Wünschen gehen, so müßte Ottilie in ein Seminar, um sich zur Lehrerin vorzubilden; leider ist bei ihrer bisherigen Erziehung wenig Bedacht genommen, sie zu einem selbstständigen Erwerbe vorzubereiten, und es würde mindestens ein Jahr dauern, bis sie das vorgeschriebene Examen bestehen könnte. Was bis dahin?“

„Man muß nicht verzagen,“ tröstete das Mädchen „Du meinst nur immer, wenn der Himmel voll Wolken hängt, es werde nie wieder schönes Wetter werden, und die liebe Sonne richtet’s doch ein, wie sie es will.“

„Wenn du meine Erfahrungen hättest –!“ wandte die Mutter mit leisem Vorwurf ein. „Aber ich will dich nicht schelten; es ist das schöne Vorrecht der Jugend, hoffen und vertrauen zu dürfen.“

[560] „Und haben wir nicht einen Freund?“ fragte Ottilie mit leuchtenden Augen und gleich darauf erröthend und scheu zur Erde blickend, als ob sie in der Lebhaftigkeit des Zuspruchs etwas verrathen hätte, das geheim bleiben sollte. „Er ist ja doch mein Cousin,“ setzte sie schüchtern entschuldigend hinzu, als die Geheime Räthin nicht sogleich antwortete.

„Mein Neffe, der Assessor Lange, ist gemeint,“ wandte sich Letztere nun an mich. „Freilich ein Freund, dem wir uns aber hüten müssen Ungelegenheiten zu bereiten.“

„Haben Sie denn nicht seinen Vater, den sehr ehrenwerthen Meister Lange, aufgesucht?“ fragte ich ausforschend.

„Freilich,“ bestätigte sie, „aber er hat mir durch seine Magd sagen lassen, daß er nicht zu Hause sei – ich muß es aufgeben, ihn versöhnlicher gegen die Familie seines Bruders zu stimmen.“

„Der Querkopf!“ rief ich unwillkürlich. „Wen gedenken Sie zum Vormund Ihrer Kinder in Vorschlag zu bringen?“

„Ich wollte eben meinen Schwager bitten, dieses Amt zu übernehmen,“ antwortete sie, „aber jetzt weiß ich Niemand –“

„Bleiben Sie dabei!“ rieth ich, „trotz alledem.“

„Wie? nachdem er mir deutlich genug die Thür gewiesen hat?“

„Trotz alledem.“

„Er wird das Amt ablehnen – eine neue Demüthigung für mich.“

„Lassen wir’s darauf ankommen! Es muß durchaus etwas zu einem vernünftigen Ausgleich geschehen.“

„Aber dieses Mittel –?“

„Wir fassen ihn da beim Ehrenpunke – darf ich schreiben?“

„In Gottes Namen,“ sagte sie; „ich werde den Kelch bis zur Neige leeren.“

Sie unterzeichnete darauf das Protokoll mit zitternder Hand und entfernte sich mit der rührenden Bitte, ihr fernern Beistand nicht zu versagen. –

Ich weiß nicht, wie mir der Rath so schnell auf die Lippen gekommen war, den widerhaarigen Meister zum Vormund zu berufen, und worauf ich eigentlich rechnete, wenn ich daran so beharrlich festhielt. Als ich allein war, fiel es mir auf’s Gewissen, daß ich einen bestimmenden Einfluß auf Verhältnisse versucht hatte, die ich in keiner Weise beherrschte. Aber das Protokoll war nun einmal geschrieben, und die Sache mußte ihren Gang haben. Mehr noch: ich war auch verpflichtet, mich persönlich dafür zu bemühen, daß sie nicht schief ging. Ich besuchte also den störrischen Freund Nachmittags zu der Zeit, wo er, wie ich wußte, mit der alten Mama Kaffee zu trinken pflegte.

Er begrüßte mich nicht ganz mit der gewohnten Offenheit und Herzlichkeit, obgleich er es an freundlichen Worten nicht fehlen ließ. Es war, als ob er merkte, daß ich diesmal mit Absichten komme oder daß ich mit ihm nicht zufrieden sei. Ich hielt es für das Beste, geradeaus auf’s Ziel zu gehen.

„Als Sie mir neulich Ihre Familiengeschichte anvertrauten, lieber Meister,“ sagte ich, glaubte ich nicht in die Lage zu kommen, an der Fortsetzung mitarbeiten zu müssen. Nun ist’s aber doch so.“

Er schlürfte aus der Untertasse, in die er den heißen Kaffee zum Kühlen gegossen hatte, in langen Zügen und enthob sich so der Nothwendigkeit zu antworten.

„Wissen Sie denn, daß Ihre Schwägerin, die Geheime Regierungsräthin, hier ist?“ fragte ich weiter, ohne ihm Ruhe zu gönnen.

„Und wissen Sie denn,“ fuhr er auf, „daß sie es gewagt hat, mein Haus zu betreten – sie, die Frau meines Bruders – nach dem, was zwischen uns –“ Er setzte die Tasse heftig ab, daß der Kaffee überschüttete.

„Ruhig, Gotthilfchen, ruhig!“ beschwichtigte die Alte. „Unser Haus steht ja Jedem offen – mag da kommen, wer will!“

„Und es sollte Ihnen doch erfreulich sein,“ meinte ich, „daß Ihre Schwägerin –“

„Ich habe keine Schwägerin,“ rief er aufgebracht, „ich habe keinen Bruder! Glaubt die vornehme Dame mir eine Ehre zu erweisen, wenn sie gnädigst über meine altbürgerliche Schwelle tritt? Sie irrt! Ihre Herablassung ist eine Beleidigung für mich, und in meinem Hause wenigstens soll mich Niemand beleidigen.“

„Laß doch nur Deinen Kaffee nicht kalt werden, Gotthilfchen!“ bat die alte Mama. „Du hast ihr ja schon Deine Meinung zu wissen gethan, und sie kommt Dir gewiß nicht wieder.“

„Da sehe ich doch,“ sagte ich gelassen, „daß ich über manche Dinge viel besser unterrichtet bin als Sie, und wenn nun Ihre Schwägerin eine sehr würdige und unglückliche Frau wäre“ – er schüttelte abweisend den Kopf – „wenn sie gekommen wäre, um Sie, den reichen Mann, in der Noth um eine Unterstützung zu bitten – wie?“

Er zuckte die Achseln. „Eine so vornehme Dame –? schwerlich!“

Ich erzählte umständlich, was ich von seinem Sohne erfahren hatte, ohne meine Quelle zu nennen, und er wurde doch nachdenklich gestimmt. Es war ihm sogar etwas Neues, zu erfahren, daß sein Bruder zum zweiten Male geheirathet hätte, und daß aus dieser zweiten Ehe Kinder hinterblieben seien.

„Giebt’s also doch eine Vergeltung?“ rief er, als ich mit einer Schilderung des Nothstandes schloß, in dem die Familie sich befand. „Giebt’s eine Vergeltung? Ja, mein Vater hat Recht gehabt: es ist Niemand glücklich, der nicht seinen Frieden mit sich selbst machen kann – Niemand, wie er sich auch vor der Welt ausstaffire. Was ist er anders geworden als ein vornehmer Lump, der sich mit Füßen treten ließ, um nur auf der Treppenstufe geduldet zu werden, auf die er sich hinaufgewedelt hatte? Und kaum schließt er die Augen, so fällt das ganze Kartenhaus seiner Herrlichkeit zusammen. Betrogene Gläubiger fluchen hinter ihm her. Die eigenen Kinder verleugnen ihn – saubere Früchtchen von so einem Stamme! Nicht alle – einige läßt er auch mit ihrer Mutter im bittersten Elend zurück, damit sein Maß voll werde, und sie können nicht einmal betteln gehen, ohne sein Andenken zu beschimpfen. So steht’s also – so? Ja, es giebt eine Vergeltung!“

Er war aufgestanden und ging in der Stube auf und ab, immer mit den Armen fechtend und bald hier, bald dort einen Stuhl oder andern Gegenstand anstoßend.

„Sie werden dem Unglück Ihr Mitleid nicht versagen können,“ äußerte ich. „Sie können helfen und Sie müssen helfen, wenn Sie ein Christ sind.“

Er sah mich erstaunt an.

„Ich?“ sagte er höhnisch, „ich? Bin ich dazu gut genug? Ist nun der armselige Schuster wirklich auf der Welt? Hoho! Weiß die Frau Geheimräthin nicht, daß sich besudelt, wer Pech anfaßt? und Pech gehört nun einmal zur Schusterei.“

„Das sind unvernünftige Reden, lieber Meister,“ bedeutete ich ihn. „Sie wissen freilich nicht, wie sehr unrecht Sie Ihrer Schwägerin thun, denn Sie kennen sie nicht.“

„Erzählten Sie nicht, daß ihr Großvater ein armer Tischler gewesen ist?“ fragte die alte Mama, ängstlich theilnehmend.

Ich bejahte es.

„Und daß sie in der Schule etwas Tüchtiges gelernt hat, was für ein Handwerkerskind seine Schwierigkeiten hat, und Lehrerin in einem angesehenen Hause geworden ist? Sehen Sie, das will doch etwas sagen. Und hat’s dann gar zur Geheimen Räthin gebracht – eines armen Tischlers Enkelin. Passirt selten einmal – sehr selten. Ei, ei –! sehr selten!“ Sie sprach das zu mir, aber es schien doch auf ihren Gotthilf gemünzt zu sein und blieb auch nicht ohne Wirkung.

„Hat auch recht was von der seltenen Ehre gehabt,“ brummte er. „Du hörst ja. Ihres Großvaters Altgeselle hätte sie vielleicht glücklicher gemacht.“

Sie goß aus der Kanne heißen Kaffee in seine noch halbgefüllte Tasse.

„Das ist etwas Anderes, Gotthilfchen,“ sagte sie kopfschüttelnd. „Und wer weiß auch –? Hat Eine erst Bildung gelernt und sich bei feinen Leuten umgethan, die braucht auch einen Mann, dem sie nicht über den Kopf sieht. Für das Unglück kann freilich Niemand – wenn’s wirklich Unglück ist und nicht Verschuldung.“

Ich drückte ihr die Hand.

„Die alte Mama spricht gut,“ bemerkte ich. „Aber der Meister Lange ist, wie ich sehe, ein hartherziger Mann, der gar nicht verdient, eines christlichen Pfarrers Sohn zu sein. Er kann nicht vergessen und nicht vergeben.“

[561] Der Alte schnaufte ein paar Male zu. „Pah – pah – pah! Vergessen und vergeben – ja, dazu ist man gut genug – nach einem langen Leben voll Kränkungen. Aber es soll mir nicht darauf ankommen, auch einmal an der unrechten Stelle eine Wohlthat zu üben – Gott sei Dank! wir haben’s dazu. Wenn die Frau also Geld braucht – sagen Sie nur, wie viel? Aber in runder Summe, Alles in Allem, damit’s abgethan ist. Sie nehmen ja so viel Antheil an den Leuten: vielleicht haben Sie die Güte, es ihnen zu geben. Daß es von uns kommt, brauchen Sie wohl nicht zu sagen. Die Herren Regierungsräthe haben das zusammengelegt oder so etwas – Sie werden sich schon eine Ausrede finden. Also wie viel?“

„Es handelt sich nicht darum,“ lehnte ich ab, innerlich auch schon über dieses Anerbieten erfreut. „So dürftig die Umstände Ihrer Schwägerin sind, sie würde sich gewiß zuletzt an Sie mit der Bitte um eine Geldunterstützung gewandt haben. Und nun gar so – sich eine milde Gabe zuwerfen lassen – ! Da kennen Sie eben Ihre Schwägerin nicht. Nein, sie hatte besseres Vertrauen zu Ihnen, lieber Meister; sie wünscht, daß Sie der Vormund ihrer Kinder werden sollen.“

„Was? der Vormund ihrer Kinder – ich?“ rief er auf’s Aeußerste überrascht. „Daraus wird nichts!“

„Daraus wird etwas,“ sagte ich ruhig. „Die Vorladung ist unterwegs und wird Ihnen in den nächsten Tagen zugehen.“

„Ich nehme diese Berufung nicht an,“ opponirte er weiter; „ich nehme sie auf keinen Fall an. Ich habe das Recht, eine Vormundschaft abzulehnen, die ich nicht pflichtmäßig führen kann. Es ist wider mein Gewissen – wider mein Gefühl! Und ich will doch sehen, ob das Gericht einen Bürger, der sonst jedes Ehrenamt bereitwillig übernommen hat, durch Geldstrafen zwingen darf –“

„Wer spricht denn von Zwang, lieber Meister?“ begütigte ich. „Es ist ja bekannt, daß Sie Sich aus so und so viel Thalern nicht viel machen. Nein, Niemand will Sie zwingen. Sie werden volle Freiheit haben, die Vormundschaft über Ihres Bruders Kinder anzunehmen oder abzulehnen, aber Sie werden sich darüber vor Gericht zu Protokoll zu erklären haben, und ich weiß, daß Sie dort nicht ablehnen werden.“

„Woher wissen Sie das?“

„Weil ich Ihre Ehrenhaftigkeit kenne. Sie werden nicht wollen, daß da in den Acten stehe: der Meister Gotthilf Lange weigert sich, der Vormund von seines Bruders Kindern zu sein, weil er mit seinem Bruder in Feindschaft gelebt hat und ihm das über das Grab hinaus nicht vergessen kann.“

Er blieb stehen und sah mich eine Weile starr an. „Das wird nicht geschrieben werden,“ sagte er dann mit etwas unsicherer Stimme.

„Das wird geschrieben werden,“ antwortete ich fest, „ich habe darüber nicht den mindesten Zweifel, denn der Termin steht vor mir selbst an.“

„Vor Ihnen?“ Ihm wurde heiß, und er schob das Sammetkäppchen von der Stirn fort.

„Vor mir.“

„Aber warum thun Sie mir Das?“ fragte er wieder nach einer Pause in plötzlich ganz weichem Ton. „Sie kennen ja doch meine Lebensgeschichte –“

„Eben weil ich sie kenne,“ versicherte ich. „Sie wissen, daß Niemand glücklich wird, der nicht zum Frieden mit sich selbst kommt; und in Ihrem Herzen giebt es an einer bösen Stelle noch Kampf und Streit. Sie haben gemeint, mit sich fertig geworden zu sein, und es war ein Irrthum. Das Leid, das Ihnen angethan worden, ist noch nicht überwunden, und Sie möchten sich gar einbilden, daß Ihnen am wohlsten wäre, wenn man es ruhig fortwühlen ließe. Aber Ihr Freund weiß es besser und er müßte ein schlechter Freund sein, wenn er Ihnen nicht volle Gesundheit und ein frohes Alter wünschte. Und darum –“

„Er wird sich’s überlegen,“ fiel die alte Mama sanft ein, indem sie sich eine Thräne aus dem Auge wischte. „Nicht wahr, Gotthilfchen, Du wirst Dir’s überlegen? Ein frohes Alter – das ist etwas Schönes, und es ist doch wahr: ganz froh sein kann man nicht, wenn man auf der Welt noch irgend Einen weiß, auf den man einen Groll hat. Lassen Sie ihn nur – er wird sich’s überlegen.“

Der Meister sagte kein Wort dazu; sein Gesicht sah noch immer finster aus, und er drückte mir nicht die Hand, die ich ihm zum Abschied reichte. –

Aber ich behielt doch Recht. Zum bestimmten Terminstage erschien er im Sonntagsrock auf dem Gericht, trat in sehr feierlicher Haltung hinter meinen Stuhl und legte mit einem unterdrückten Seufzer seine Vorladung auf den Tisch. „So Gott will!“ sagte er ernst. Es wurde unter uns über die Sache nicht weiter gesprochen, sondern als selbstverständlich angenommen, daß kein Hinderniß obwalte. Und so schrieb ich das Protokoll, hielt ihm die Pflichten eines Vormundes vor und verpflichtete ihn durch Handschlag, wie das Gesetz es will, und er ließ Alles ruhig geschehen, ja, man würde ihm nicht einmal irgend welche Erregtheit angemerkt haben, wenn er nicht zur Unterschrift die Feder zu tief in’s Tintenfaß getaucht und einen großen Klecks auf’s Papier gemacht hätte.

„Punktum!“ sagte ich lachend.

„Ist’s nun gut?“ fragte er, nachdem er die Brille in’s Futteral gesteckt und in der Rocktasche verwahrt hatte. Das konnte heißen sollen, ob er abgefertigt sei; aber ich nahm’s anders.

„Je nach dem,“ meinte ich; „ein treuer Vormund wird doch zum Wenigsten seine Mündel kennen lernen müssen.“

„Darum eben!“ sagte er, drehte seinen Hut zwischen den Händen, schielte seitwärts nach den Referendarien, die an demselben Tisch arbeiteten, und hüstelte verlegen. „Wenn ich mit Ihnen ein Wörtchen im Stillen – –“ Ich stand auf und nahm ihn in eine Ecke. „Ich möchte zu der Frau Geheimen – zu meiner Frau Schwägerin wohl hingehen,“ äußerte er sich zögernd, „zumal sie doch schon zuerst bei mir gewesen ist; aber das wird anfangs sehr peinlich für uns Beide sein, da wir einander doch nicht kennen, und so mancherlei vorgewesen ist. Da habe ich denn gedacht, wenn Sie die Güte haben wollten –“

„Mitzukommen und Sie einzuführen?“ half ich ein. „Sehr gern, lieber Meister, sehr gern. Und sogleich, wenn Sie wollen. Warten Sie dort zehn Minuten! Ich erledige nur noch die dringendsten Geschäfte, und wir gehen zusammen.“

Das schien ihn nicht wenig zu erleichtern. Auf der Straße verhielt er sich zwar noch ziemlich schweigsam, aber was er sprach, klang doch heiterer und zuversichtlicher. Nur als wir in das Haus kamen, in dessen dritter Etage die Geheime Räthin wohnen sollte, blieb er eine Weile, auf den Stock gestützt, stehen und grübelte in sich hinein. „Ich hätt’s doch nicht gedacht,“ knurrte er leise. Dann aber schüttelte er sich, als ob er alle Bedenken von den Schultern werfen wollte, und schritt entschlossen die Treppen aufwärts.

Eine Ueberraschung ganz eigener Art konnte ihm nicht erspart werden. Als ich anklopfte, entstand innen ein Geräusch, als ob ein Stuhl hastig fortgeschoben würde, und als wir auf das schüchterne „Herein“ einer weiblichen Stimme eintraten, stand – der Assessor vor uns. Vater und Sohn betrachteten einander verwundert, und der Alte hatte wahrscheinlich in diesem Augenblick überhaupt keinen andern Gedanken, als daß es höchst verwunderlich sei, seinen Sohn an diesem Orte zu treffen.

„Du hier?“ fragte er endlich, noch ganz betroffen.

„Bei meiner Tante,“ antwortete der Assessor, indem er sich der Dame im Trauerkleide zuwandte, die aufgestanden war und mich mit einem forschenden Blick ansah.

„Bei Deiner Tante,“ wiederholte der Meister mit halber Stimme, „so – so!“

Auf einem Stuhl am Fenster saß Ottilie. Sie hatte ein Knäul in den Händen, das zu der Baumwolle gehörte, die lose auf einem zweiten, mehr in die Stube hineingeschobenen Stuhl lag, den wahrscheinlich der Assessor verlassen hatte. Halb erschreckt, halb neugierig blickte sie, ohne sich zu regen, den Eintretenden entgegen, und eine dunkle Röthe überlief ihre Wangen, als sie begriff, um was es sich handelte. Sie nahm nun schnell das Gebinde Baumwolle auf und warf es in einen Arbeitskorb.

Ich machte der peinlichen und doch für den bloßen Zuschauer sehr komischen Scene ein Ende, indem ich den würdigen Meister Lange der Geheimen Räthin vorstellte und hinzufügte, daß derselbe die Güte gehabt habe, sich so eben als Vormund ihrer Kinder verpflichten zu lassen. Das bekümmerte Gesicht der armen Wittwe verklärte sich. „O! wie dankbar bin ich [562] Ihnen!“ rief sie vortretend und seine Hand ergreifend. „Ich hatte so wenig Hoffnung – so wenig! Und ich würde auch gar nicht gewagt haben, wenn nicht der Herr Richter selbst –“ sie drückte nun auch mir die Hand und wandte sich gleich wieder zu dem Alten – „ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von Herzen.“

Lange schien durch dieses freundliche Entgegenkommen innerlichst erwärmt zu werden; er hatte sich die „Geheime Räthin“ sicher ganz anders vorgestellt, und es kam über ihn selbst eine Bewegung, die sich sehr sonderbar in einem wohlbehaglichen Lächeln auf dem eben noch starren Gesicht äußerte. „Wenn’s Ihnen nur ein einfacher Handwerker recht machen kann,“ sagte er, sich nach seinem Sohne umsehend, dessen Gegenwart ihn offenbar genirte.

„O, wie sprechen Sie doch, lieber Herr Schwager!“ verwies die Wittwe sanft. „Weiß ich denn nicht längst von Ihrem lieben Sohne, mit wem ich’s zu thun habe? Und sollte es Ihnen nicht bekannt geworden sein, in wie traurigen Umständen mein Mann seine Familie hat verlassen müssen? Ich wünschte, mein Sohn könnte ein so achtbarer und nützlicher Bürger werden, wie Sie es sind, und ich bitte Sie, ihn zu allem Guten anzuleiten, damit er einmal ein braver Mensch wird und sein Brod in Ehren verdient. Er ist noch in der Schule; aber dort meine Tochter – Ottilie! danke Deinem lieben Onkel, daß er Dein Vormund sein will.“

„Was ist da zu danken? Was ist da zu danken?“ wehrte der alte Herr ab. Aber das Mädchen war schon auf ihn zugegangen, hatte ihm Hut und Stock abgenommen und gab ihm einen hellklingenden Kuß.

„Ich wußte es ja schon,“ sagte sie, indem sie ihm nun auch einen Stuhl hinsetzte und ihn am Arme niederzog.

„Sie wußten es?“ fragte er überrascht und zugleich wieder durch die Aufmerksamkeiten abgeleitet, die ihm die stattliche und hübsche junge Dame bewies; „aber ich bitte Sie, Fräulein, bemühen Sie sich doch nicht!“

„Fräulein!“ lachte sie auf. „Nein, das ist nicht hübsch, Onkelchen, daß ein so naher Verwandter so fremd thut. Gesehen haben wir uns im Leben zwar noch nicht, aber dafür kann doch Keiner, und Onkel und Nichte bleiben wir doch immer. Oder soll ich den Herrn Vormund ganz feierlich Sie tituliren?“

Der Meister schüttelte schmunzelnd den Kopf, sah bald mich, bald die Räthin an, als ob er fragen sollte: „Was meint Ihr dazu?“ hustete, wie Einer, der etwas in die unrechte Kehle bekommen hat, und murmelte dazwischen: „Es gewöhnt sich doch nicht so leicht. Aber wenn wir öfter zusammen sein werden – und es macht sich auf gute Art – und die Frau Mama hat nichts dagegen –“ Sein Blick schweifte über den Assessor hin, der vergebens ein schelmisches Lächeln zu unterdrücken suchte, und nun fing der Alte sich über sich selbst zu ärgern an und richtete sich höher auf. „Freilich, Onkel und Nichte,“ sagte er, „und alles Andere ist sehr gleichgültig, und mein Sohn ist denn doch auch, was mein Bruder gewesen ist, und kann, so Gott will, auch noch höher hinauf, und wenn der Onkel auch nur ein Schuhmacher ist, so braucht sich doch Niemand seiner zu schämen – und so ist’s gut!“ Er zog das Taschentuch hervor und trocknete die Stirn.

„Und ich darf also ‚Du‘ sagen, Onkelchen?“ fragte das Mädchen, ohne sich durch seine wunderlichen Exclamationen verwirren zu lassen. „Natürlich! Ich weiß ja, daß Du ein seelenguter Mann bist. Soll ich sagen, von wem ich das erfahren habe?“

Er ließ sich’s gefallen, daß sie sich auf seine Schulter stützte und ihm die Hand streichelte. „Dummes Zeug,“ murmelte er in den Bart.

„Soll ich’s sagen? – Von der Tante!“

„Von –?“ Er drehte rasch den Kopf zurück.

„Von der Tante – von Deiner Frau nämlich, die muß es doch am besten wissen. Ach! das ist ein vortreffliches altes Mütterchen!“

„Sie waren – Du warst bei meiner Frau?“ fragte er ganz verblüfft. „Und sie hat mir nichts davon erzählt?“

„Weil ich sie gebeten habe, es zu verschweigen, bis ich es selbst erzählen könnte. Ich mußte doch meiner Tante einen pflichtschuldigen Besuch machen, nicht wahr? Und weil ich doch nicht wußte, wie ich aufgenommen werden würde, nannte ich mich lieber der alten Magd gar nicht und sagte nur, ein armes Mädchen komme, um sich nach Näharbeit zu erkundigen. Und so kam ich hinauf in die Stube, und als ich erst dort war, fand sich das Andere leicht. Wir haben ein Bischen zusammen geweint und ein Bischen zusammen gelacht, und sie hat mich endlich mit gutem Troste entlassen, daß der Onkel gar nicht so schlimm sei und sich schon halb und halb entschlossen habe, unser Vormund zu werden. Siehst Du, so weiß ich’s.“

Meister Lange zupfte seinen grauen Bart und wiegte nachdenklich den Kopf. „Darum redete sie auch so halsstarrig zu,“ sagte er vor sich hin, „ei, ei – die alte Mama – !“ Dann stand er auf und meinte, es sei genug für heute, man müsse auch etwas auf den andern Tag lassen, und die Frau Schwägerin wüßte ja, wo er zu finden sei, wenn der Vormund einhelfen solle. Offenbar wollte er gegen die Festung, in der sich der alte Groll verschanzt hatte, nicht zu heftig anrennen lassen, weil er die Mauern schwach werden fühlte. Es sollte nicht so schnell gehen mit der Freundschaft. „Bleibst Du noch?“ fragte er seinen Sohn; aber es klang, als ob er eigentlich sagte: „Du kommst doch mit?“

Der Assessor verstand ihn sehr gut und empfahl sich gleichfalls. Aber auf der Straße trennte er sich sehr bald von uns unter irgend einem Vorwande. Ich konnte mir denken, daß er jetzt ein Gespräch mit seinem Vater unter vier Augen zu vermeiden wünschte.

Wir Beide gingen noch eine Strecke schweigend fort. Erst als unsere Wege sich trennten, sagte der Meister: „Was halten Sie nun davon?“

„Wovon?“ fragte ich, wirklich nicht errathend, wohin seine stillen Gedanken sich gewandt haben mochten.

„Ach – daß mein Sohn da –“

„Ihr Sohn? Was weiter?“

„Hm – ich glaube, die Bekanntschaft ist gar nicht hier erst angeknüpft.“

„Kann wohl sein.“

„Aber gegen mein ausdrückliches Verbot –“

„Er ist ja kein Kind mehr.“

„Hm – aber er hat noch einen Vater am Leben, und in gewissen Fällen –“

„In gewissen Fällen, lieber Meister,“ sagte ich, indem ich ihn beim Knopfe faßte und ein wenig zu mir heranzog, „in gewissen Fällen ist’s allemal gut, wenn die Väter nicht weiser sein wollen als die Kinder. Es giebt Dinge, über die man sich nicht den Kopf zerbrechen muß. Der Fromme hat einen Spruch: ‚Der Mensch denkt, und Gott lenkt‘ – mag sein, daß wir dem alten Herren da oben zu viel zumuthen, aber daß der Mensch ‚denkt‘, ist wohl gewiß, und daß die Weltregierung nach unserem Denken herzlich wenig fragt, nicht minder. Es hat auch seine guten Gründe, lieber Meister.“

Er folgte meinen Worten mit so gespannter Aufmerksamkeit, als ob irgend ein wichtiges Geheimniß enthüllt werden sollte, und er sah mich noch immer erwartungsvoll an, als ich schon schwieg. Dann ließ er langsam den Kopf auf- und abnicken, murmelte ein leises „Hm – hm,“ zog ehrerbietig den Hut und ging. –

Von Dem, was noch zu berichten ist, bin ich nicht durchweg Augenzeuge gewesen, wie bei dem Vorigen, aber es ist gleichwohl gut verbürgt. Keine Eiche fällt auf einen Hieb, und Meister Lange gehörte zu diesen knorrigen Gewächsen, die meine Heimath noch erzeugt. Nachdem einmal Bahn gebrochen war, half kein Sträuben weiter – der Verkehr der beiden Familien wurde, wenn auch nicht von Tag zu Tag, so doch von Woche zu Woche intimer. Man muß es der alten Mama zur Ehre nachsagen, daß sie reichlich das Ihrige dazu beitrug, eine aufrichtige Versöhnung zu Stande zu bringen. Erst jetzt lernte ich diese merkwürdige Frau recht schätzen, die in dem Stübchen hinten auf ihrem Lehnstuhle am Spinnrade so sicher saß und ihre kleine Welt beherrschte, daß Alles, was sich ihr näherte, ungezwungen in ihren Bann kam und sich ihrer Weise anbequemen mußte. In ihrer Schlichtheit lag zugleich eine ganz eigene Vornehmheit, die Jedem seine Ehre gab, um ihrer Ehre gewiß zu bleiben, und daraus erwuchs eine solche Sicherheit des Benehmens, daß man sich in ihrer Gegenwart immer behaglich

[563]

Der Pflug-Pavillon in der Wiener Weltausstellung.

[564] fühlte, auch wenn man über ihre altmodische Art lächeln mußte. So fand sich denn auch bald zwischen ihr und der Geheimen Räthin ein Verhältniß, das keinen Theil beengte und bei aller Verschiedenheit des Bildungsgrades und der Lebensstellung dadurch, daß immer nur das Gleichartige und Gemeinsame berührt wurde, selbst der Vertraulichkeit nicht entbehrte. Ottilie wurde ihr erklärter Liebling. Das muntere und kluge Mädchen lauschte ihr alle ihre kleinen Eigenheiten ab und ließ es sich nicht nehmen, sie bei ihren Besuchen in der Wirthschaft zu unterstützen. Wenn dann einmal ihre Mutter ansprach, so hatte die alte Frau immer über das liebe Kind zu sprechen, und die Räthin unterließ dann ihrerseits nicht, zu dem trefflichen Sohne Glück zu wünschen, der ein rechter Stolz der Familie sei. Dann leuchteten ihr die Augen und sie sagte: „Er hat’s von seinem Großvater, aber von meinem Gotthilfchen ist auch etwas dabei.“

Meister Lange nahm seine vormundschaftlichen Pflichten sehr ernst; es war ihm lieb, daß sie jederzeit den besten Vorwand zu den mancherlei Wohlthaten abgaben, die eigentlich auf Rechnung der verwandtschaftlichen Rücksichten und seines guten Herzens kamen. Er gab nicht verschwenderisch, aber immer an der rechten Stelle und auf die beste Art, oft durch seine Frau. Sein Hauptaugenmerk war mit der Räthin darauf gerichtet, daß „aus den Kindern etwas würde“; er sorgte deshalb auch dafür, daß Ottilie nun wirklich ein Seminar besuchte und sich zum Gouvernantenexamen vorbereitete. „Ob ein armes Mädchen aus gutem Stande einen Mann findet,“ meinte er, „ist ja doch zweifelhaft, und wer auf eigenen Füßen stehen kann, steht am sichersten.“ Gewisse Gedanken und Vorstellungen ließ er sich noch immer ungern nahe kommen.

Uebrigens legte die Räthin auch ihrerseits die Hände nicht in den Schooß. „Ich bin Ihnen für jede Wohlthat dankbar,“ sagte sie zu Lange, „die Sie mir und den Kindern zufließen lassen, wenn Sie aber der gute Wirth sind, für den ich Sie halte, so vertrauen Sie mir lieber leihweise ein kleines Capital an, mit dem ich eine Pension für Mädchen begründen kann; ich will es nebst den Zinsen ehrlich abtragen.“ Das gefiel ihm, und die Angelegenheit wurde sofort eifrig betrieben.

Das Lob, eine sehr verständige Frau zu sein, erwarb sich seine Schwägerin aber im vollsten Maße, als sie nach der Einsegnung ihres Knaben, die der Herr Vormund übrigens ganz aus eigener Tasche besorgte, dessen guten Rath einholte, was nun weiter mit ihm anzufangen sei. „Er hat nicht den besten Kopf zum Studiren,“ meinte sie, „und wenn es auch daran nicht fehlte, so werde ich doch bei allem Fleiß nicht die Mittel gewinnen, ihn noch viele Jahre zu unterhalten. Schließlich ist es nicht einmal ein Glück, wenn er sich mühsam durchquält, um eine dürftige Anstellung zu erreichen. Mag er werden, was sein Urgroßvater gewesen ist, ein Handwerker, und mag es ihm dabei so gut gelingen, wie seinem Onkel, an dem er das trefflichste Muster hat! Was meinen Sie, lieber Herr Schwager, wenn Sie ihn selbst in die Lehre nähmen? Ich würde dann wegen seiner Zukunft ganz beruhigt sein.“ Das war für Meister Lange eine Genugthuung, die das letzte Körnchen Eis zum Schmelzen brachte: der Sohn seines Bruders, der den armen Handwerksgesellen verleugnet hatte, sein Lehrling – ! das hatte er sich nicht träumen lassen. Die Sache schien ihm so wichtig, daß er mich besuchte, nur um mir Mittheilung davon zu machen, und aus jedem seiner Worte sprach die Befriedigung über diese unerwartete Wendung der Geschicke.

Aber ganz gegen seine Gewohnheit war er nach wenigen Tagen schon wieder da, und diesmal sehr niedergeschlagen und kleinlaut. Die alte Mama hatte Bedenken gehabt und er hinterher auch. „Es ist doch eigentlich eine Niederträchtigkeit,“ drückte er sich in seiner verärgerten Stimmung etwas hart aus, „daß man immer zuerst an sich und seine kleinen Vortheile denkt. Da freut es mich, daß der Sohn eines Regierungsraths Schuster werden soll, und ich vergesse ganz darüber, was ich selbst davon zu leiden gehabt habe, daß eines Pfarrers Sohn Schuster wurde. Und Jeder hat doch nicht einen Querkopf, wie ich, der allenfalls auch eine Mauer niederwirft. Wenn’s dem Jungen nun aber einmal schlecht bekommen sollte, und er würde mir Vorwürfe machen – seinem leiblichen Onkel und verordneten Vormund – daß ich nichts an ihn gewandt hätte, ob ich es doch konnte, ich würde mich, glaube ich, im Sarge umdrehen und mich mit dem Gesicht nach unten legen – vor Scham. Denn wenn es auch schade ist um das alte Schusterhaus, das mein Sohn doch nicht brauchen kann, und wenn sich’s auch ganz gut denken ließe, daß ich den Jungen zu einem tüchtigen Meister ausbildete und daß er dann mein Gehülfe bliebe, so lange ich lebte, und nach meinem Tode das Geschäft übernähme, und wenn es dann auch nicht einmal nöthig wäre, den Namen Lange vom Schild draußen fortzupinseln – es geht doch nicht an, ich kann’s nicht verantworten. Mag meine Schwägerin auf etwas Anderes denken!“

Ich konnte mich nur über diese auch jetzt probehaltige Gewissenhaftigkeit freuen und seine Vorsicht loben, aber das alte Handwerkerhaus lag mir doch selbst schon zu sehr am Herzen, als daß ich nicht nach einem Beruhigungsmittel hätte suchen sollen. „Studiren wird Ihr Neffe sicher nicht,“ calculirte ich laut; „er lernt schwer und ist in allen Fächern zurück. Aber damit ist freilich noch nicht gesagt, daß er gerade Schuhmacher werden muß, wennschon ich nicht einsehe, warum er nicht ebenso gut Schuhmacher werden soll, wie etwas Anderes, besonders wenn er schon mit so glänzenden Aussichten in die Lehre tritt. Aber Jeder hat seinen Geschmack, und Zwang thut niemals gut. Ich will Ihnen etwas rathen: nehmen Sie den Knaben in Ihr Haus; lassen Sie ihn vorläufig noch in die Schule gehen, damit er sein Wissen vervollständigt, unterrichten Sie ihn nebenher auch in Ihrem Handwerk, und mag er sich dann nach einem Jahre selbst entscheiden. Will er dann auslernen – gut! Aber dabei dürfen Sie es nicht bewenden lassen; er muß dann auch noch zu einem Kaufmann in die Lehre, damit er später einen Schritt vorwärts kann. Jede Zeit hat ihre Erwerbsweise und die unsere drängt auf den Betrieb im Großen; dazu aber gehören kaufmännische Kenntnisse. Ich denke mir, es wird dem alten Hause kein Abbruch an seinem Ruhm geschehen, wenn ein Fabrikant sein Geschäftslocal darin hat. Eine Frau Meisterin, wie Sie einmal, findet ja doch Niemand wieder darin.“

Eine dicke Thräne rollte ihm in den grauen Bart. „Nein – Niemand wieder“ – sagte er, „und mit den zünftigen Meistern ist’s auch Matthäi am letzten. Sie haben Recht, und so soll es geschehen.“ Er preßte meine Hand, als ob er sie gar nicht loslassen könnte. Ich versprach ihm, ihn zu begleiten, um der alten Frau die Sache plausibel zu machen. „Mir traut sie in diesem Punkt nicht recht,“ gestand er.

Die alte Mama aber hatte, als wir bei ihr anlangten, den Kopf von ganz anderen Dingen voll und hörte kaum auf unsere Reden. „Ich bin’s zufrieden, Gotthilfchen,“ sagte sie, „wie Dir’s gut scheint – so oder so; wenn Du nur auch mit dem andern – “ Sie stockte und zupfte an ihrer Schürze und zog sie über die Kniee hin noch breiter aus, als sie schon an sich war. „Was in aller Welt hast Du denn?“ rief der Meister, ärgerlich über ihre Gleichgültigkeit. „Letzte Nacht hat Dich’s doch gar nicht schlafen lassen und jetzt –“

„Es ist ja gut,“ meinte sie hüstelnd, „daß sich’s so einrichten läßt, und morgen werde ich mich vielleicht darüber in aller Ruhe freuen können, aber heute, Gotthilfchen –“

„Was ist denn seit einer Stunde vorgegangen?“

„Es ist ein Brief angekommen, Gotthilfchen, mit einem großen Siegel, und er ist auch schon aufgemacht“ – sie holte unter ihrer Schürze ein Papier vor und reichte es ihm – „der da!“

„Was wird’s denn sein?“ sagte er, den Bogen öffnend. „Mein Sohn ist Kreisrichter geworden,“ wandte er sich gleich darauf an mich. „Daran ist ja doch nichts Besonderes!“ Sein ganzes Gesicht war aber heller Sonnenschein.

„Ja, aber nun er eine Stelle und ein selbstständiges Einkommen hat,“ schmunzelte die alte Mama, „will er auch gleich heirathen.“

„Was?“ Das Blatt fiel auf den Tisch.

„Heirathen will er, Gotthilfchen, und seine Frau mitnehmen. In der kleinen Stadt ist’s sonst gar zu langweilig, meint er.“

„Aber dazu muß er dann doch zuerst eine Braut haben, sollt’ ich denken.“

„Gewiß – und die hat er auch schon.“

„Er hat –?“

„Eine Braut, Gotthilfchen, und sie ist ein sehr hübsches und gebildetes Mädchen, die ihn wohl glücklich machen kann –“

„Was? Du kennst sie gar schon?“

[565] „– nur ein Bischen arm. Ja, mein Gott, dafür hat er ja sein Einkommen, und er sagt, daß er von uns gar nichts haben wolle und auf sich selbst stehen könne, jetzt und künftig, aber daß ihm da Niemand widersprechen solle, der ihn lieb habe – auch der Vater nicht.“

Der Meister wurde feuerroth. „Was ist’s denn aber?“ rief er, „das wird der Vater doch wohl wissen können?“

Sie nahm seine Hand und streichelte sie. „Thu’ doch nicht so, Gotthilfchen,“ schmeichelte sie, „als ob Du nichts gemerkt hättest! Siehst Du, mir hat Keiner etwas gesagt und ich habe doch Alles gewußt. Aber wenn Du ein Weilchen warten willst – er ging seine Braut abholen. Und da geht eben die Thür, wenn ich recht höre, und wahrhaftig! – da sind sie.“

Der Assessor trat mit Ottilie in’s Zimmer. „Vater,“ sagte er, „wenn Du sie nicht anerkennst, hast Du keinen Sohn mehr!“ Ottilie aber warf sich an seine Brust und rief: „Ich kann ja doch nichts dafür, daß er mir gut ist.“

Meister Lange kämpfte noch mit sich, aber nur einen Augenblick. Dann schloß er die beiden Verlobten in seine Arme und küßte sie herzlich. „Ich werde bald sterben,“ schluchzte er, „ich habe gar keine Galle mehr.“ – –

Zur Hochzeit bin ich auch eingeladen gewesen und habe zwischen dem Meister Lange und der Frau Geheimräthin gesessen. Gegenüber saß der Doctor, der mich einmal in das Haus eingeführt hatte, zwischen der alten Mama und einer Schwester des Meisters, die aus dem Stift herübergekommen war, um das wichtige Familienfest mitzufeiern. Obenan hatten Bräutigam und Braut ihren Platz und unten der Altgeselle den seinigen neben dem Bruder der Braut. Das hatte Meister Lange sich nicht nehmen lassen. Der kleine Schuh der Prinzessin von Polen stand mitten auf dem Tisch unter vielen Blumen; der aber über dem Sopha, der alte Herr Pfarrer im schwarzen Talar, mit dem eisernen Kreuz auf der Brust, sah heute so froh aus, als ob er sagen wollte: der Starke zwingt’s!



Federzeichnungen von der Wiener Weltausstellung.
2. Der Tempel des Pflugs.


Wenn man den gewaltigen Industriepalast der ganzen Länge nach von Westen nach Osten durchschritten hat und, durch die wunderliche japanische Galerie mit ihren sorgsamst ausgeführten Mißformen wandernd, gen Norden in’s Freie tritt, so befindet man sich einem zierlichen Bauwerke gegenüber, das mit spitziger Kuppel und vielen Eckthürmchen, auf deren Flaggenstöcken die Fahnen des Kaisers und des Landes wehen, sich in der bunten Umrahmung gut genug ausnimmt, um an und für sich Beachtung zu beanspruchen. Es wird überragt von mächtigen Mastbäumen, Producten der Urwaldgebiete des vielgegliederten Länderconglomerats; vor ihm erheben sich Felsgruppen aus dinarischem Alpengestein, überrieselt von murmelnden Wassern; zwischen den Spalten drängt sich die reiche Alpenflora in’s Sonnenlicht heraus; üppig blühen die Rhododendren, das Edelweiß, die Gentiane, der Alpenehrenpreis und hundert andere Gewächse der Gletschernähe in der völlig fremden Umgebung. Daneben steigt scharf zerrissenes Gestein auf; es wölbt sich zu einer kühlen Karstgrotte, deren Stalaktiten der berühmtesten aller europäischen Höhlen, der Adelsberger im Lande Krain, entstammen. Riesige Schiffsbauhölzer auf der einen, vielhundertjährige Weinstöcke auf der andern Seite schließen den Rahmen des stimmungsvollen Bildes. Sein Mittelpunkt aber ist der „Tempel des Pflugs“.

So kann mit Recht der Pavillon des österreichischen Ackerbauministeriums genannt werden, denn er enthält, neben anderen höchst schätzenswerthen Objecten, eine Sammlung, wie sie nie und nirgends zuvor gesehen worden ist, ein Unicum in der ganzen Welt. Es ist dies die „historische Pflugsammlung“, welche in nahezu zweihundert Exemplaren aus allen Theilen der Erde die Geschichte, die Entwickelung des unentbehrlichsten Geräthes der Menschheit von seinen ersten Anfängen bis zu der höchsten Vervollkommnung der Neuzeit darzustellen beflissen ist. Sie nimmt den größten Raum des umfangreichen Ausstellungsgebäudes ein und gehört unstreitig zu den interessantesten Gegenständen der großen Industrieschau, zu denen, welche auch den Laien anziehen; kaum eine andere Sammlung erfreut sich eines solchen Zuspruchs und Verweilens seitens des Publicums, wie diejenige des „Dings, das Wenige schätzen“. Es war ein guter und zeitgemäßer Gedanke, der sie in’s Leben rief, die Ausführung würdig eines Staates, dessen unerschöpfliche Hülfsquellen wesentlich der Bodencultur entfließen, der in den Bestrebungen für deren Hebung und Veredelung allen anderen neuerdings mit leuchtendem Beispiele vorangeht. Dieser Tempel, der dem Pfluge errichtet worden, strahlt heller, als alle die Altäre der Weltgötzen, mögen sie noch so sehr flimmern und glitzern: denn er ist dem wahrhaft Göttlichen im Menschen gewidmet, der Arbeit! Der Pflug ist das Symbol der Menschheit: Erst als er erfunden oder gefunden war, schied sie sich von dem thierischen Barbarenthume der dunkelsten Vorzeit. In dem prachtvollen Gedichte „Das Eleusische Fest“ hat Schiller dieser Thatsache poetischen Ausdruck verliehen: als die Göttin die Wucht des Speeres aus des Jägers rauher Hand nahm, um damit den Boden zur Aufnahme des goldenen Saatkorns zu furchen, da begann die Civilisation durch die Stiftung des ewigen Bundes mit der mütterlichen Erde, „auf daß der Mensch zum Menschen werde“.

Und doch, wie gering ist auch heute noch der Pflug geachtet, wie wenig gekannt. Nicht viele unter den Gebildeten haben sich ihn mehr als oberflächlich angesehen, wissen mehr davon, als daß er ein Werkzeug ist, bestimmt, die Erde zu bearbeiten; das aber ist, ihrer lächerlichen Meinung nach, das niedrigste Thun, nicht werth, daß man davon redet.

Damit aber die hohe Bedeutung des Pfluges für das Wohl und die Sittlichkeit des Menschengeschlechts völlig erfaßt, damit er und der Stand, der ihn führt, nicht mißachtet, über die Achsel angesehen werde, dazu müssen Bildung und Belehrung vor Allem helfen. Diese zu bieten ist denn auch der Zweck der Ausstellung im „Tempel des Pflugs“, und fürwahr, wer hier lernen will, der kann es, ohne viel mehr Anstrengung, als mit offenen Augen und empfänglichem Sinn zu betrachten und zu vergleichen. Die mit vieler Mühe und großen Kosten aufgebrachte Sammlung der Pflüge aller Länder und Zeiten umfaßt die merkwürdigsten Instrumente, sowohl an und für sich, durch ihre Construction oder Herkunft interessant, als auch dadurch, daß nicht wenige davon Originale sind, welche sich in der Hand berühmter Landwirthe befunden haben, so in der von Thaer, Schwerz, Burger, Dombasle, Grangé und Anderen mehr. Einige davon sind von den Gebrüdern Schlagintweit aus Innerasien, andere von der österreichischen ostasiatischen Expedition mitgebracht, die meisten aber durch die Consulate im Auslande, durch die Landwirthschaftsgesellschaften im Inlande bezogen worden. Es befinden sich die wunderbarsten Formen und Seltenheiten darunter. Hier der schottische Fußpflug, Cashroom, nur noch in Roßshire und auf den Hebriden gebräuchlich, der, mit Hand und Fuß geschoben, zum Abschälen der Haideplaggen dient; neben ihm der zierliche Reispflug von der Insel Ceylon, den ein Kind auf der Achsel davontragen kann. Dort ein Ackerwerkzeug aus Siam, welches genau den altägyptischen Pflügen entspricht, wie sie vor sechstausend Jahren an die Wände der Gräber und Tempel gemalt wurden; nicht weit davon das ungefügige Monstrum, das heute noch zum Umbrechen des „Römischen Ackers“ der Campagna dient, offenbar ein Nachkomme des alten Römerpfluges. Von diesem letzteren ist ein eisernes Schar vorhanden, das auf den berühmten Feldern von Aquileja neben Kaisermünzen gefunden worden ist. Es befindet sich, als eine Kostbarkeit ersten Ranges, in einem besonderen Glaskasten neben den Nachbildungen zweier altägyptischer Hakenpflüge des Museums zu Bulak bei Kairo, und zwar aus vieltausendjährigem Holze der Pyramiden von Sakkarah; sodann sind hier die ältesten Bodenculturgeräthe der Menschheit, Original-Feldhauen aus der Steinzeit, in mehreren Exemplaren angebracht. Höchst interessant ist auch ein sonderbarer Pflug aus dem südlichen Tirol; er wurde nach einem Wandgemälde von Tizian im Palazzo delle Albere, welchen Cardinal Madruzza in den Jahren 1540 bis 1545 erbaute, getreulichst angefertigt. Sonst reichen die vorhandenen ältesten Pflüge wenig über ein [566] Jahrhundert hinaus; der notorisch bejahrteste stammt aus 1733, er ist ebenfalls ein Tiroler, wo überhaupt in früheren Zeiten eine bessere Cultur geherrscht haben mag, als heutzutage, wie dies die Pflugsammlung durch ein anderes, sehr altes Geräth aus dem Pusterthale darthut. Das einfache Ackerwerkzeug, früher zum größten Theil nur aus Holz gefertigt, forderte und erlangte keine Pietät; war es abgängig geworden, so wurde es zusammengeschlagen und das Brauchbare anderweit benutzt, daher kommt es leider selten genug vor, daß es erhalten bleibt und auf die Nachwelt gelangt.

Einen Pflug hat aber doch die Pietät eines dankbaren Volkes vor der Vernichtung gerettet und ihm einen Cultus der Erinnerung gewidmet. Es ist dies der Kaiser-Joseph-Pflug. Er bildet den Mittelpunkt der Sammlung, den Hauptaltar mit dem Allerheiligsten im „Tempel des Pflugs“. Auf erhöhtem Postament – den Angriffen reliquiensüchtiger Touristen entrückt – steht das schlichte, armselige Werkzeug, das des großen Kaisers Hand berührt und geheiligt hat. Es ist ganz aus Holz, mit Ausnahme des Schars und der kleinen Pflugschippe, kein Stückchen Eisen daran, sogar die Räder des Vordergestells, deren Kranz aus einem Aste gebogen ist, sind völlig unbeschlagen; das Streichbrett ist ein gerades Holz, und als Befestigung zwischen Baum und Karre dient ein gedrehter Weidenring. Der Zahn der Zeit hat das ehrwürdige Geräth schon stark geschädigt; nichtsdestoweniger bildet es einen Schatz des Museums für Landeskunde in Brünn, welches denselben dem österreichischen Ackerbauministerium für die Dauer der Ausstellung überlassen hat; denn in Mähren ist es gewesen, auf den Feldern bei Wischau, wo am 19. August 1769 Kaiser Joseph der Zweite diesen Pflug geführt hat. Es war nicht blos eine Anwandlung fürstlicher Laune, die den Monarchen dazu antrieb; er wollte das mißachtete Geräth zu Ehren bringen und er hat es dazu gebracht; seit Kaiser Joseph den Pflug geführt, ist Ackern „adelig Handwerk“ geworden und die Landwirthschaft, vordem gut genug für Solche, die zu nichts Anderem taugten, wieder in den Rang jener Berufe getreten, die nach Cicero’s Ausspruch „des freien Mannes würdig sind“. Der Kaiser war aus dem Wagen gestiegen und zu dem Bauer getreten, der eben sein mageres Gespann anhielt, um den Fürsten vorüber fahren zu sehen. „Laß mich einmal probiren, Alter,“ sagte er gütig, „wie sich’s im Felde arbeitet.“ Und er nahm dem erschrockenen Landmanne die Sterzen aus der Hand, während dieser auf sein Geheiß die Pferde lenkte. Der hohe Herr fand sich leicht in das ungewohnte Thun. Dort ist der Boden mild, und die Art des Werkzeugs verbot jede größere Kraftanstrengung. „Eine gute Arbeit,“ sprach der Kaiser mehrere Male für sich, während er in der Furche ging; nebenbei fragte er das Bäuerlein über mancherlei aus, und erhielt Antworten, die ihn öfters den Kopf schütteln ließen. Neun Furchen – nach Andern siebzehn – zog der Kaiser, dann gab er den Pflug mit einer Handvoll Ducaten seinem Eigenthümer zurück. „Es ist mir doch warm dabei geworden,“ sagte lächelnd der Monarch, „aber jetzt weiß ich auch, wie man im Schweiße des Angesichts sein tägliches Brod erbaut. Hier,“ fuhr er fort, auf das simple Werkzeug deutend, „hier ist das Instrument des Friedens und der Cultur, das die Welt sicherer erobern wird, als alle Schwerter und Kanonen. Und der es führt, der Stand, er ist die sicherste Stütze der Staaten und der Fürsten; darum Ehre ihm und dem Pflug!“ –

So sprach der große Kaiser, als er sich wegwandte von dem Felde, dem er seine Spuren unvergänglich eingeprägt. Der Pflug ward dem glücklichen Besitzer, dem Bauern Joseph Nowotny, und seiner Ehegattin Barbara von den mährischen Ständen abgekauft und im Triumph im Landesmuseum zu Brünn aufgestellt; schon wenige Jahre darauf erhob sich auf der Stelle der ackerbaufreundlichen That des vielgeliebten Fürsten ein Monument, und zwar an der Straße von Brünn nach Olmütz bei Wischau. Dasselbe ward in den Kriegszeiten vernichtet; ein zweites fiel ebenfalls den Nöthen des Jahres Neun zum Opfer. Erst am hundertjährigen Gedächtnißtage dieser Begebenheit, am 19. August 1869, wurde ein neues Monument an der Stelle gesetzt und feierlich inaugurirt.

Beinahe wäre aber dieses unschätzbare Werthstück selbst jüngst verloren gegangen auf immer. In der Nacht vom 1. auf den 2. August brach in dem elsässischen Bauernhofe der Ausstellung ein furchtbares Schadenfeuer aus, das denselben zu drei Viertheilen in Asche legte. Die Nordseite des ganz aus Holz erbauten Pavillons des Ackerbauministeriums war aber nur sechs Fuß entfernt von der in den Himmel emporlodernden Gluth; schon schwärzten sich ihre Planken und knisterten und glimmten; schon flammte der Vorhang empor, der dicht hinter dem Pflugaltar ein großes Fenster verdeckte, dessen Scheiben sämmtlich gesprungen waren – noch eine Minute vielleicht, und der edle Kaiserpflug wäre unrettbar in Asche verwandelt gewesen. Aber gerade in diesem verhängnißvollen Augenblicke ging es mit einem Male wie ein Lauffeuer durch die erregte Menge, welche mit Todesverachtung an dem Rettungswerke arbeitete: „Der Kaiser-Joseph-Pflug! Der Kaiser-Joseph-Pflug – er muß gerettet werden, und wenn alles Uebrige zu Grunde geht!“ „Und die Aexte krachten gegen die geschlossenen Thüren; die Schläuche von zwanzig Spritzen richteten sich gegen die glimmende Wand; im Nu waren kühne Gesellen im Innern, und triumphirend brachten sie das ärmliche Holzwerk in Sicherheit. Dann erst retteten sie den großen Silberblock[WS 1] im Werte von fünfzigtausend Gulden und warfen ihn auf die Straße. Ohne den Kaiser-Joseph-Pflug wäre wahrscheinlich die kostbare und großentheils unersetzliche Ausstellung des Ackerbauministeriums verloren gewesen. Und so wurde er gerettet und mit ihm der Pavillon. Jetzt steht er wiederum auf seinem Piedestal wie vorher, und Tausende freuen sich nun doppelt, wenn sie ihn betrachten; die Gefahr hat ihn nur werther gemacht.

Nicht uninteressant ist die Thatsache, daß das Bauernpaar, dem der Pflug und der Acker des Kaisers gehörte, durch dessen Werk zum Wohlstand gekommen ist. Die braven Leute erhielten viele Besuche und Geschenke, man lud sie überall hin ein, und ihre Portraits wurden wiederholt veröffentlicht. Zwei ausgezeichnete Miniaturen, welche Beide mit sprechenden Zügen darstellen, sind an dem Postamente des Kaiserpfluges angebracht; sie stammen, ebenso wie das daneben aufgehängte Bild Joseph’s des Zweiten, aus einer Wiener Privatgalerie.

Es wäre noch viel zu erzählen von dem „Tempel des Pflugs“ und seinem Inhalt; aber mit dem vorher Berichteten ist doch jedenfalls das Beste hinweggenommen. Fachmänner könnten Tage lang in dem einfach aber geschmackvoll verzierten Raume umherwandeln, ohne das Interesse zu erschöpfen. Wenn sie sich von den langen Reihen der Pflüge und ihren oft höchst sonderbaren Formen wegwenden, trifft ihr Auge allenthalben auf Bemerkenswerthes: da ist zunächst an den Wänden eine reiche Galerie von trefflich ausgeführten Aquarellen, welche die verschiedenen Bespannungsarten des Pfluges in den verschiedenen Ländern getreu nach der Natur darstellen. Ist es nicht merkwürdig, daß nicht zwei davon ihre Zugthiere gleichmäßig anschirren und vor das Ackergeräth hängen? Dann wieder ist da eine Sammlung der Handgeräthe, welche neben dem Pflug oder anstatt desselben zur Bodenbearbeitung verwendet werden, darunter ebenfalls höchst eigenthümliche Exemplare aus allen Gegenden des Erdballs.

Weiter wandernd, findet der Besucher die wissenschaftlichen Grundlagen des Landbaues ausgestellt, soweit dieselben sich in Bild und Materie darstellen lassen; daran reihen sich die zahlreichen Producte und Illustrationen der österreichischen Staatsforstwirthschaft, welche bekanntlich noch über Gebiete verfügt, von deren Productionskraft man lange Zeit hindurch kaum eine Ahnung hatte.

Eine besondere Abtheilung des Pavillons birgt die andere Hälfte der Urproduction, das Bergwesen mit seinen Schätzen, darunter am meisten umstanden und bewundert das Idrianer Quecksilbermeer mit einer darauf schwimmenden fünfzigpfündigen Vollkugel. Es ist in der That ein reiches Museum hier aufgethan, und zwar in systematischer Ordnung, Eines in das Andere überführend, so daß Jedem, selbst dem Laien, reiche Belehrung geboten wird. Wer daher nach dem schönen Wien reist, um die Weltausstellung zu bewundern, der wird uns dankbar sein für unsern Wegweiserdienst, und wer dort gewesen ist, vielleicht auch für die Auffrischung der Erinnerung an den „Tempel des Pflugs“.
Ph. E–ch.

[567]

Aus dem Lager der Carlisten.
1. Im Kloster von Montserrat.
Von Fred. John Apel.[1]


Die wilden Parteikämpfe, welche gegenwärtig noch die pyrenäische Halbinsel verheeren, fordern das Interesse der gesammten civilisirten Welt um so lebhafter heraus, je dramatischer sie hier und da sich gestalten und je tiefer die politische Stille in den sonst tonangebenden Staaten ist. Möge daher ein Bild des carlistischen Lagerlebens aus eigener Anschauung, welches zugleich ein Stück meiner Streifzüge abgiebt, freundliche Aufnahme finden.

Nach zweimonatlichem Aufenthalt in Navarra wanderte ich über Arragon nach Catalonien, wo ich mich der Abtheilung des Prinzen Alfonso als Berichterstatter anschloß und, in dieser Eigenschaft Catalonien durchstreifend, hinreichend Gelegenheit fand, mich über die Anzahl, Organisation, Bewaffnung und die Aussichten der Carlisten genau zu unterrichten. Es war während dieser Zeit, daß Don Alfonso nebst seiner ihn stets begleitenden Gemahlin Donna Blanca, oder, um ihren vollen Titel zu nennen, Donna Maria de las Nieves, Tochter Dom Miguel’s aus dem königlichen Hause Braganza, in Verbindung mit Saballs und andern Carlistenführern beim Dorfe Alpens die Colonne des Generals Cabrinetty angriff und gänzlich aufrieb; hierauf trennte sich der Prinz von Saballs mit der Verabredung, daß sie sich drei Tage später in dem Dörfchen Odena, drei Stunden von Igualada, wieder vereinigen wollten.

Nachdem wir im Prado de Llusanes übernachtet hatten, zogen wir nach Sellent und schlugen von hier aus die Richtung nach dem Montserrat ein, an dessen Fuße die kleine Stadt Monistrol liegt, mitten in einem grünen Laubmeer und von dem reißenden Llobregat bespült. Wir näherten uns diesem Orte auf einer wohlerhaltenen Hochstraße, bepflanzt mit laubreichen Kastanien- und Wallnußbäumen; links von der Straße breiteten sich, bis hoch an den Fuß des Berges, in üppiger Fülle goldene Aehrenfelder und Weingärten aus. Gegen acht Uhr Abends marschirten wir ein, aber ich kann nicht sagen, daß uns die ehrsamen Bürger von Monistrol mit heller Begeisterung empfangen hätten; sie zeigten im Gegentheil den Getreuen des Carlos Septimo ziemlich verdrießliche Mienen und schienen entweder sehr republikanisch gesinnt zu sein oder zu fürchten, daß ihre Eigenthumsrechte von den Streitern für das heilige Legitimitätsprincip nicht genügend dürften respectirt werden; eine Befürchtung, die allerdings, wie sich nachher zeigte, nicht ganz unbegründet gewesen war.

Inmitten ihres düsteren Schweigens marschirte unsere Colonne nach der Plaza oder dem Marktplatze, wo auf das Commando: „Descansan armas!“ (Nieder ’s Gewehr) mit dem erfreulichen Zusatze: „Hora y medio!“ (Anderthalb Stunde) Alles auseinander ging. Es war uns also anderthalb Stunde Zeit gegeben, ausreichend, einen vortrefflichen Abendimbiß einzunehmen, dessen Genuß uns weder durch die Nähe einer republikanischen Truppe, noch durch die immerhin nahe liegende Möglichkeit gestört ward, irgend einen auf Bezahlung dringenden trotzigen Bürger füsiliren zu müssen. Die tapferen Streiter Don Alfonso’s blieben dieser unangenehmen Nothwendigkeit überhoben; nachdem dann auch noch das Geschäft, den Stadtsäckel der guten Bürger Monistrols um 25,000 Duros (gleich 125,000 Pesedas) zum Besten der „guten Sache“ zu erleichtern, in aller Ruhe vor sich gegangen war, ertönte das Signal zum Aufbruch.

Als Donna Blanca sich mit gewohnter Grazie in den Sattel schwang, hielt der Alcalde von Monistrol ihr mit der Miene tiefster Zerknirschung, die keineswegs mit einem so freudigen Ereignisse, wie es der Besuch des königlichen Bruders doch hätte sein müssen, harmonirte, den Steigbügel. Der Marsch wurde wieder angetreten, und ich bemerkte nach wenigen Minuten, daß es den Montserrat hinan ging. Obgleich nun, wie fast überall, wo Klöster auf Bergeshöhen liegen, auch der Montserrat zur Bequemlichkeit dickbäuchiger Mönche und Tausender von Wallfahrern mit vielen breiten und gemächlichen Straßen versehen ist, schien doch unser militärischer Führer, General Miret, die allerschlechteste und steilste gewählt zu haben, die wir mit aller Anstrengung in tiefer Finsterniß ersteigen mußten. Rings umher waltete gespenstige Stille, die nur mitunter durch ein indiscretes Säbelgeklirr, das Poltern eines thalwärts rollenden Felsstückes oder das Wiehern eines ungeduldigen Rosses unterbrochen wurde. Eine Stunde später schwebte der Mond am klaren Himmel empor und verbreitete rings um die gigantische Bergmasse und über die tief unten gelegene Ebene mit dem Städtchen Monistrol eine Fülle weißen Lichtes.

Donna Blanca, eine schöne, stolze, kalt gemessene Dame, war auf ihrem prachtvollen schneeweißen Rosse immer unter den Vordersten. Plötzlich wendete sie ihr vom Mondlicht verklärtes Antlitz nach mir hin und redete mich deutsch an; sie ist bekanntlich in Deutschland erzogen und spricht mit Vorliebe die Sprache dieses Landes, obwohl ich ihr als Engländer galt, wußte sie doch auch von mir, daß ich das Deutsche (meine Muttersprache) leidlich spreche.

„Gestehen Sie mir, Herr Engländer,“ begann sie mit schelmischem Lächeln, „wir sind in Ihren Augen doch nur eine Räuberbande – mein Gemahl ist der Räuberhauptmann und ich bin die Frau Hauptmännin.“

„Meiner Treu’, Hoheit,“ erwiderte ich, mit einem Blicke aufrichtiger Bewunderung in ihr hübsches Antlitz, „wenn dem auch so wäre, so möchte ich doch denjenigen sehen, der unter einer so schönen Führerin nicht überall in der Welt gern Räuber sein würde.“

Laut auflachend ging sie flüchtig zu einem andern Thema über. Nach einer weiteren halben Stunde näherten wir uns dem Kloster, zugleich aber auch der steilsten Partie unseres Weges, wie das Hinabstürzen einiger armer Gesellen unseres Zuges, das Fluchen der in den Sturz ihrer Cameraden mit Verwickelten und das Hinabdonnern losgerissener Gesteinsmassen hinreichend bewies. Endlich erreichten wir einen geräumigen Rasenplatz unmittelbar unter den Mauern und vor dem Eingange des Klosters. Unser Erscheinen war jedenfalls den Herren Confratres bereits angekündigt, denn nachdem wir uns ordnungsgemäß aufgestellt hatten, marschirten wir ohne Aufenthalt durch den weiten Klostergarten nach dem bereits offenen, mit einer prächtigen zweistöckigen Façade geschmückten Portal.

Das Kloster von Montserrat ist eine geschichtliche Berühmtheit. In seiner Capelle war es, wo Ignatio von Loyola vor der Madonna Wache hielt, bevor er sich zu ihrem Ritter erklärte und den Orden Jesu gründete, und hier legte er auch auf ihrem Altare das Schwert nieder, welches nun im El Belem zu Barcelona aufbewahrt wird. Die Capelle selbst ist in die von der Natur gebildete, einem Amphitheater gleichende Nische eines hoch emporstrebenden, niederhangenden Felsens eingebaut, der jeden Augenblick herabzustürzen und das Dach der Capelle zu zerschmettern droht. In der That wurde vor einigen Jahren das daneben liegende Krankenhaus durch eine herabsinkende Felsmasse zertrümmert, ungeachtet der täglichen Messen, welche in der Capelle zu Ehren der heiligen Jungfrau gelesen werden.

Das ganze Kloster gleicht mit seinem Krankenhaus, seinem Collegium, seinen Schulen, Verkaufsläden, Weinschenken und einer vortrefflichen Fonda (Gasthaus) einer kleinen Stadt; es breitet sich mit der hochgelegenen Esplanade, umgeben von üppigen Baumanlagen, prächtig aus und gewährt einen herrlichen Ausblick auf die Tiefebene mit dem Städtchen Monistrol.

Unter dem Portale durchmarschirend und einen von zwei Gebäudeflügeln flankirten, mit Marmorplatten belegten Hof betretend, wurde uns ein wahrhaft magischer Anblick. Die Mönche begrüßten in der Annäherung einer carlistischen Truppe, welche der eigene Bruder des strengkatholischen „Königs Karl des Siebenten“ führte, gleichsam das Wiederaufleben ihrer etwas in Mißcredit [568] gekommenen Glorie; sie hatten jedes Winkelchen der Capelle mit hunderten von strahlenden Kerzen versehen, die alle in silbernen Leuchtern brannten, und schon versammelte sich der Chor der Priester in vollem Ornate, um zu Ehren der „guten Sache“ eine feierliche Messe zu halten.

Compagnieweise aufgestellt, marschirte unsere Truppe langsamen Schrittes in die Capelle hinein und stellte sich im Schiff derselben auf. Bei dem Commandoruf „Armos!“ senkten sich siebzehnhundert[2] Musketen und Alle fielen auf die Kniee. Links vom Altare waren auf einer künstlichen Erhöhung zwei mit rothem Sammet bekleidete thronartige Sessel aufgestellt, die von Don Alfonso und Donna Blanca eingenommen wurden. Zur Rechten und Linken des Prinzen standen die beiden jungen bourbonischen Prinzen, Söhne des unglücklichen Don Enriquez, welcher bekanntlich vom Duc de Montpensier im Zweikampf erschossen wurde. Hinter diesen Beiden die vornehmsten Officiere der Carlisten: die Generale Miret und Tristany, Oberst Sampo und Wheeles, Befehlshaber der „Zuaven“, umgeben von ihrem Stabe. Feierliche Orgelklänge durchtönten die Capelle und in dieselben mischten sich, wenn auch nicht immer ganz harmonisch, die Stimmen von siebzehnhundert begeisterten „Defensores de Dios, Patria y Rey“. Selbst für den freisinnigen, vorurtheilslos Beobachtenden, für den hartgesottensten Parteigänger hatte die Scene etwas ungemein Feierliches und Packendes – sie ist mir unvergeßlich. Die von schlanken Marmorsäulen getragene, mit werthvollen Gemälden alter Meister behangene Capelle, die buntfarbigen Fenster, der geschmückte Altar, bildeten einen prachtvollen Rahmen für das lebensvolle Bild, welches sich darin entfaltete: die Schaar celebrirender Priester in scharlachnen und weißen Gewändern, in deren feisten oder von allerlei Leidenschaften durchfurchten Gesichtern wenigstens momentan das Bewußtsein, daß Don Carlos als Sieger dem mittelalterlichen Priesterthum wieder seinen Glanz verleihen werde, eine gewisse Verklärung hervorrief, dann das schöne aristokratische stolze Weib, die sich wie eine in spanische Grandezza übersetzte Johanna d’Arc von ihrer prunkvollen Umgebung abhob, die scharlachblauen, von Gold strotzenden Uniformen des Generalstabes Don Alfonso’s und im wirksamsten Gegensatze dazu diese siebzehnhundert carlistischen Streiter aus aller Herren Länder, welche entblößten Hauptes und erhobenen Antlitzes mehr oder weniger inbrünstig, mit mehr oder weniger Rührung für den Sieg ihrer Sache beteten. War doch kaum Einer darunter, der sich nicht hätte sagen können, daß er bei irgend einer ungünstigen Wendung für die carlistische Sache so recht eigentlich seine Haut zu Mark zu tragen bestimmt sei; aber es gab wohl auch Manchen, der über dem seltsam ergreifenden Eindrucke des Schauspiels Vergangenes und Zukünftiges vergaß.

Die letzten Klänge der Orgel verhallten in den Klostergängen; der Priester ertheilte mit feierlicher Stimme seinen Segen – ein Moment tiefen Schweigens, und dann erhoben sich die Soldaten und marschirten, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, gemessenen Trittes wieder aus der Capelle. Kurze Zeit später waren Alle in Klosterräumen untergebracht. Von dem Walle des Klosters dröhnte ein dumpfer Kanonenschuß – das Zeichen der Retraite. Bald lag Alles im tiefen Schlafe.

Am folgenden Morgen wurde die Truppe abermals zur Messe commandirt, dann folgte das Signal zum Aufbruch, welcher um neun Uhr stattfand. Die frommen Väter entließen uns mit ihrem Segen und ihren Glückwünschen, die schon um ihrer selbst willen aufrichtig gemeint waren. Die Colonne schlug den Weg nach Manresa ein; kaum mochten wir eine Meile zurückgelegt haben, so erhielt General Miret durch einen berittenen Boten eine Nachricht; es erfolgte ein kurzer Kriegsrath und dann der Befehl an die Truppe, wieder nach dem Kloster zurück zu marschiren. Zum zweiten Male vor dessen Pforten erscheinend, empfing uns eine heitere Musik und im Klostergarten fanden wir hundertfünfzig Barceloneser in kleidsamen Uniformen; sie trugen eine weiße Tunica mit grünem Kragen, weiße Pantalons mit grünen Streifen, graue Garibaldihüte, Alles carlistische Parteigänger. Diese Truppe hatte ein Musikcorps und stand eben im Begriff, sich ein Mittagsmahl im Freien zu bereiten; hier wurden Hühner und Gänse gerupft, dort in großen, über loderndem Holzfeuer aufgehangenen Kesseln eine Olla Potrida von mehreren Hasen und Kaninchen bereitet; weiterhin erblickte man Gruppen mit großen „porrones“ rothen Weines und Schüsseln voll rosiger Pfirsichen und Aprikosen, goldgelber Birnen und Orangen.

Auch wir machten uns nach gegebenem Commando eilend auf, den sehr guten Gasthof, die Weinschenken und Proviantläden zu belagern, um die starken Gelüste unseres schwachen Fleisches zu befriedigen, und erst als wir dem allgemeinen Götzen, welchem selbst die Frommgläubigsten nicht widerstehen können, reichliche Opfer gebracht hatten, durchwanderten wir gemächlich die schönen Gartenanlagen des Klosters.

Dem Nordländer würde gewiß die Leichtigkeit und Schnelligkeit aufgefallen sein, mit welcher hier die Carlisten sofort mit den barcelonesischen Weißvögeln fraternisirten. Ueberall bemerkte man Gruppen von Personen, die, wenn sie anderswo und in anderen Stimmungen zusammengetroffen wären, sich ohne allen Zweifel fanatisch geschlagen haben würden; hier aber schien Alles Ein Herz und Eine Seele; Landsknechte, Republikaner, Alfonsisten, Moderados, ja sogar schwarze Intransigentes (Communisten) sah man Arm in Arm in fröhlichem Geplauder, kauend, trinkend, rauchend, in buntem Durcheinander. Hier eine Gesellschaft Tanzlustiger bei Mandolinenkang und Castagnettengeklapper, da die scharlachrothen Männer Saballs’, dort stattliche Guias, Zuaven und schlichte Voluntarios, welche im lauten Chorus Carlistenlieder sangen.

Meine besondere Aufmerksamkeit erregte eine Procession jugendlicher Chorsänger mit reichgestickten Fahnen, die goldene Inschriften enthielten. In meiner Unkenntniß südländischer Gebräuche hielt ich die geistliche Musik, die sie mit Geige, Flöte und Clarinet machten, für lustige Walzer und Polkas, was sie im Grunde auch war. Voran watschelten, mit zweifelhafter Inbrunst fromme Lieder singend, schwere Kränze tragend, dickbäuchige Mönche in Prunkgewändern. So bewegte sich der ganze Zug langsam durch die Anlagen, und die Neugierigen schlossen sich ehrerbietig den frommen Leitern an.

Auf der Esplanade standen Reihen von Verkaufsbuden, deren Inhaber Reliquien und allerlei Andenken an den Montserrat und seine Klosterstadt feilboten. Da sah der tapfere Streiter für Gott, König und Vaterland überaus bunt colorirte Bilder rothhaariger Heiligen mit carminrothen Wangen und gurkenartigen Nasen, Madonnen mit goldfarbigen Locken und kornblumenblau angestrichenen aufwärts gerenkten Augen voll seelenvoller Resignation, Löffel und Gabeln, aus den geweihten Baumstämmen der Klosterumgebung gefertigt, welche die erstaunliche Eigenschaft haben sollten, die Verdauung der sonst unverdaulichsten Nahrungsmittel zu befördern.

Ferner sah man blaue und rothe Bändchen, Kreuzchen und Betkränze, Schnüre vielfarbiger Perlen und Amulete als sicherste Schutzmittel gegen Schuß, Hieb und Stoß, Medaillen und Ketten und hundert andere Kleinigkeiten ähnlicher Art und zu ähnlichen Zwecken, die alle unter unversiechbarem Wortschwall ausgeboten und unter Feilschen eifrig erhandelt wurden. Hier handelte ein riesiger Zuave um einen rothköpfigen Heiligen, der, wie sein Verkäufer betheuerte, zu fünfzehn Cuartos spottbillig war; da weilte an einer andern Bude der Commandant der Zuaven persönlich, um sich einige Ellen blauen Bandes eigenhändig an seine Boena zu befestigen. An seiner Seite stand ein sonnenverbrannter fast greisenalter Guia, der sehnsüchtig eine blauäugige in krebsfarbiges Gewand gekleidete heilige Jungfrau beschaute und offenbar in schwerem Kampfe zwischen seiner angestammten Frömmigkeit und seiner Liebe zu schnödem Mammon hin und her schwankte. Einige Schritte weiter feilschte einer der rothen Ritter Saballs’ eine ganze Sammlung von Kettlein, Amuleten, Medaillen etc. zusammen, um hernach damit unter seinen Cameraden einen ersprießlichen Zwischenhandel zu treiben.

Hierbei darf ich der schlanken schwarzäugigen Sennoritas nicht vergessen, die mit ihren schneeweißen Händchen und netten Füßchen umher tändeln und kokettiren, bald frei mit den bewehrten Mannen scherzend, bald verschämt vor den Ermahnungen der feisten Mönche die langbewimperten Augen zu Boden schlagend. Selbst die stolze Tochter des Hauses Braganza konnte dem allgemeinen Zuge nicht widerstehen und heftete zwei himmelblaue Bändchen kokett an ihre schneeweiße Boena. Ihr folgten wie ein Schweif von Trabanten ihr Gemahl, Don Francisco [569] und Don Alberto de Bourbon, sämmtliche Generale und Officiere, und Alle trugen, gleich ihr, Bänder an ihren Kleidern oder Kopfbedeckungen.

Endlich gegen Abend wurde der Weitermarsch angetreten. Gegen vier Uhr Morgens erreichten wir, nach zweistündiger Rast um Mitternacht, den verabredeten Sammelplatz Odena. Hier trafen wir bereits den General Saballs mit fünfzehnhundert Mann Infanterie und zweihundert Mann Cavallerie. Der Zuzug weiterer Partidos steigerte bald die Gesammtmacht auf viertausend Mann, womit ein Handstreich gegen Igualada geführt werden sollte; er gelang auch in der Folge, doch nur mit einem Verluste von vier- bis sechshundert Mann.



Der Vampyr-Schrecken im neunzehnten Jahrhundert.
II.

Der Vampyr-Aberglaube hätte wahrscheinlich ebensowenig wie der Hexenglaube jemals eine größere Gewalt über die Gemüther gewonnen, wenn demselben nicht die Kirche ihre Autorität geliehen hätte. Als die Trennung der griechischen Kirche von der römischen eine Thatsache geworden war, hielten es die Patriarchen der ersteren vor Allem nöthig, eine straffe Kirchendisciplin einzuführen, wozu sich wiederum nichts zweckmäßiger zeigte, als die Ausstattung des Kirchenbannes mit übernatürlicher Gewalt. Sei es, daß man auf einem in Osteuropa vorhandenen Aberglauben fußte oder denselben neu schuf, es schlich sich in die kirchliche Verfluchungsformel der Abtrünnigen der Satz ein: „Dein Platz sei bei dem Teufel und dem Verräther Judas! Nach Deinem Tode sollst Du in Ewigkeit nicht zu Asche werden, sondern unverweslich liegen wie Stein und Eisen!“ Während die katholische Kirchenlehre in vielen Fällen die Unverweslichkeit eines Todten als Zeichen besonderer Heiligkeit auffaßte, bestrebte sich die griechische Kirche, denselben Zustand als Zeichen ihres Fluches darzustellen, und bald bildete sich die neue Lehre dahin aus, daß der Teufel sich des unverweslichen Leichnames als seines Eigenthums und einer Maske bemächtige, um damit die überlebenden Verwandten so lange zu plagen, bis sie dafür gesorgt hätten, daß der Verstorbene vom Kirchenbanne losgesprochen sei. Die griechische Kirche brauchte, wie man sieht, einen Ersatz für das von ihr verworfene, aber für die Kirche sehr einträgliche Fegefeuer. Man nannte solche im Kirchenbanne gestorbene unverwesliche Leichen Tympaniten, weil sie sich durch Aussaugen des Blutes Lebender nähren und dadurch aufschwellen wie eine Trommel oder Schafzecke.

Seit der Mitte des elften Jahrhunderts, in welchem die griechische Kirche selbstständig geworden war, wurden eine Menge Geschichten in Umlauf gesetzt, welche die bindende und lösende Macht des Priesterwortes in dieser Richtung an Beispielen beweisen sollten. Viele sind von Reisenden des fünfzehnten, sechszehnten[3] und siebzehnten Jahrhunderts gesammelt worden; Heineccius hat eine besondere Abhandlung „über die Erlösung der Tympaniten“ verfaßt, in welcher viele Beispiele erzählt werden, die in der Hauptsache alle auf dasselbe hinauslaufen, so daß man gezwungen wird zu glauben, Experimente, wie das nachfolgend erzählte, welches dem dritten Bande der Geschichte der griechischen Kirche von Heineccius entnommen ist, seien wirklich öffentlich in den Kirchen zur Beförderung des Glaubens angestellt worden. Mahomed der Zweite hatte diesem Berichte zufolge davon vernommen, daß die im Banne der griechischen Kirche gestorbenen Todten erst nach Aufhebung des Fluches zu verwesen begännen, und befahl dem Patriarchen des von ihm eroberten Constantinopel der Curiosität wegen, einen derartigen Leichnam aufsuchen zu lassen und das Experiment vor Zeugen zu wiederholen. Man erinnerte sich, daß der Patriarch Gennadius vor vielen Jahren eine Priesterwittwe in den Bann gethan, die darin ohne Absolution gestorben war. Als man das Grab öffnete, fand man einen gräulichen Anblick, nämlich einen Körper, der wie eine Trommel aufgeschwollen und so hart wie Stahl und Eisen war. Man legte denselben in einen Sarg, der zur Verhütung aller Täuschung mit des Sultans Siegel verschlossen wurde, und trug ihn in die christliche Kirche. Daselbst hielt der Patriarch das Amt, sprach die Frau vom Banne los und verlas das darüber ausgefertigte Schriftstück. Sobald er damit fertig war und Amen gesagt, vernahm man innerhalb des Sarges ein gewaltiges Prasseln, und als man ihn öffnete, fand man nichts in demselben, als ein Häufchen Asche mit einigen Knöchelchen.

Diese und ähnliche Geschichten, bei denen das Poltern im Sarge immer zum Handwerk gehört, möchten manchem Leser spanisch vorkommen, und ich will sie in unsere Sprache übersetzen. „Sie sehen hier, meine hochverehrten Herrschaften, ein hölzernes, außen schwarz angestrichenes Kästchen, ganz leer, ohne doppelten Boden oder irgend welche Vorrichtung – bitte, sich selbst zu überzeugen! – und hier eine große, massiv gearbeitete Puppe, – wollen Sie sich gefälligst durch Anfassen überzeugen? – die ich in das Kästchen lege, welches sie so vollkommen ausfüllt, daß ich, wie Sie sehen, nur mit Mühe den Deckel schließen kann. Ich decke ein Tuch darüber, damit nichts heraus und nichts hinein kann, und bitte Sie, Ihre Aufmerksamkeit genau auf das Kästchen zu richten. So wie ich spreche: ‚Hocus, pocus, fiat‘ und den Deckel mit der Spitze meines Zauberstabes berühre, hören Sie ein Klimpern im Kästchen, und finden nach dem Oeffnen die Puppe in’s Land der Dummen abgereist und an ihrer Stelle einen niedlichen Kranz, an welchen die Taschenuhren geknüpft sind, welche Sie die Güte hatten, mir vorhin zu leihen, und an denen Sie, obwohl ich sie vorher in jenem Mörser zerstieß, ganz genau sehen können, was die Glocke geschlagen hat.“ Damit man mich nicht eines frivolen Spottes über Gegenstände des griechischen Glaubens zeihe, erlaube man mir noch ein historisch verbürgtes Parallelstück aus der Geschichte der katholischen Kirche zu erzählen, bei welchem die Taschenspielerei direct nachgewiesen wurde.

Im Beginne des sechzehnten Jahrhunderts kam ein wunderthätiges Madonnenbild im Augustinerkloster zu Genf plötzlich in den Ruf, durch eine besondere Gnade kleine, ohne Taufe gestorbene und somit, gleich den Trommelflüchtigen der griechischen Kirche, dem Teufel verfallene Kinder auf seinem Altare so lange wiederzubeleben, daß die Taufe an ihnen vollzogen werden könne. Diese raffinirte Erfindung führte Hunderte von Kinderleichen nach jener Kirche, die man in Reih und Glied auf den Altar legte, jede mit einer Flaumfeder vor den Mund, die sich dann zum Zeichen des Lebens während der heiligen Handlung rhythmisch bewegte. Bisweilen sah man Schweißtropfen auf dem Leibe der Kleinen, fand ihre Glieder nach der Taufe warm, und bemerkte noch andere unbeschreibliche Erinnerungen an ihr zeitweiliges Aufleben auf dem Altare. Indessen am 11. Mai 1535 wurde die Klosterkirche auf Antrag des Stadtrathes geschlossen, weil man in Erfahrung gebracht, daß hinter dem Altare einige fromme Schwestern angestellt worden, mit Hülfe einiger Blasebälge die keinen Leichen für die Zeitdauer der Taufe athmen zu lassen und sie durch heiße Steine in Schweiß zu bringen. Anton Froment und Agrippe d’Aubigné sind meine Gewährsmänner.

Es wird nach dem Obengesagten für Niemanden mehr auffallend erscheinen, daß der Vampyrismus stets nur in Ländern griechischen Bekenntnisses und in den nächsten Nachbarländern epidemisch aufgetreten ist. Sein Vorkommen im übrigen Europa ist stets nur sporadischer Art gewesen. Nach den Berichten zahlreicher Reisenden wurde der Vampyrismus dort zeitweise zu einer förmlichen Pest und Landplage, denn die vom Teufel besessenen Vampyre beschränken ihr Kommen endlich nicht mehr auf die Nacht; sie liefen hellen Tages, zum Beispiel auf den Weinbergen der Insel Chios umher, übten auf der Landstraße allerlei Schabernack und tödteten Thiere und Menschen; aber sie erscheinen nicht immer blos Leben nehmend, sondern zuweilen – und das ist der Humor von der Sache – Leben gebend. Ein Reisender notirt es als einen besondern Vorzug des griechischen Archipels, daß man daselbst die Vaterschaft unehelicher Kinder auf einen Vampyr schieben könne. Vorwiegend blieb indessen ihre Erscheinung im höchsten Grade unheimlich und gefürchtet. Auf der Insel Chios bildete man sich, wie Leon Allatius

[570] im sechszehnten Jahrhundert erzählt, ein, die Brukolaken riefen des Nachts vor den Häusern den Namen der Bewohner; wer darauf antworte, müsse sterben; sie antworteten daher immer erst auf den zweiten Ruf oder auf wiederholtes Klopfen. Brukolaken, Broukolaken, Zorzolaken, Nomolaken sind die griechischen Benennungen der Tympaniten; auf der Insel Kandia nannte man sie Katakhanes, in Serbien Vukodlaken, in Dalmatien, wo man sie als Mädchennachsteller und Urheber der Bleichsucht ansieht, Wudlowaken; in der Moldau Prekolitschen; in der Walachei Murony; in Polen Uziers. Die Walachen unterließen früher bei keiner Leiche gewisse Vorsichtsmaßregeln, die den Teufel hindern sollten sich ihrer zu bemächtigen.

In den älteren Vampyrgeschichten, die in so großer Zahl vorhanden sind, daß man damit Bände anfüllen könnte, tritt der kirchliche Ursprung dieser Aberglaubensform besonders deutlich hervor. So namentlich in einer Geschichte, die Erasmus Franciscus erzählt, welche 1672 in dem Marktflecken Kring in Krain passirt sein soll. Daselbst war vor sechszehn Jahren ein Mann, Namens Georg Grando, gestorben, der seitdem in den Straßen umherlief und bei den Leuten, die sterben sollten, Nachts an die Thür klopfte, insbesondere aber seine lebende Frau durch seine Nachtbesuche beständig belästigte. Dieselbe floh zum Supan (Bürgermeister) und bat ihn um Beistand. „Der Supan bittet deswegen einige beherzte Nachbarn zu sich, giebt ihnen zu saufen, spricht ihnen zu, sie sollen ihm Beistand leisten, daß solchem Uebel möge abgeholfen werden; weil dieser Georg bereits viele ihrer Nachbarn gefressen hätte, dazu die Wittwe alle Nächte überwältige. Worauf sie sich entschlossen, den unruhigen Nachtgänger anzugreifen und ihm das Handwerk zu legen. Diesem nach haben sich ihrer Neun aufgemacht, mit zwei Windlichtern und einem Crucifix und das Grab geöffnet. Da sie denn des entdeckten todten Körpers Angesicht schön roth gefunden, welcher sie auch angelacht und das Maul aufgethan. Worüber diese streitbaren Gespenstbezwinger dermaßen erschrocken, daß sie alle mit-einander davon gelaufen. Solches kränkte den Supan, daß ihrer neun Lebendige mit einem einzigen Todten nicht sollten zurecht kommen können, sondern bei bloßem Anblick desselben das Hasenpanier ergriffen. Derohalben sprach er ihnen zu und frischte sie an, daß sie mit ihm wieder umkehrten zum Grabe und ihm einen geschärften Pfahl vom Hagedorn durch den Leib zu schlagen sich bemühten, welcher Pfahl allemal wieder zurückprallte. Indessen hielt der Supan inzwischen dem Todten das Crucifix vor’s Gesicht und sprach also: ‚Schau, Du Strigon! hier ist Jesus Christus, der uns von der Hölle erlöset hat und für uns gestorben ist‘ etc. Dabei drangen dem Gespenst die Thränen aus den Augen. Da man den Pfahl nicht einzutreiben vermochte (was bei ihrer Betrunkenheit nicht zu verwundern gewesen sein möchte), begannen sie ihm den Kopf abzuhacken. Worauf der Todte ein Geschrey gethan und sich gewunden nicht anders, als ob er lebendig wäre, auch das Grab voll geblutet. – – Von welcher Zeit das Weib und andere Leute Ruhe vor ihm gehabt.“ Mit das Wunderbarste an der Sache bleibt, daß diese lachenden, weinenden und sich windenden Vampyre, die sonst so geschwind zu Fuße sind, der Execution niemals entfliehen. Wir sehen hier einen förmlichen Exorcismus dem besessenen Leichnam gegenüber, und da nach späterer Vorstellung nicht blos der ausdrücklich vollzogene Kirchenbann, sondern auch ein des Kirchenbannes würdiges Leben dem Teufel Gewalt über die Leichen der griechischen Christen gab, so war in Südosteuropa bald im eigentlichen Sinne des Wortes „der Teufel los“.

Es sind vornehmlich zwei Fälle, die zu amtlichen Ermittelungen im Anfange des vorigen Jahrhunderts geführt haben und ein ungemeines Aufsehen in ganz Europa hervorriefen, wovon die Protokolle noch heute den Vampyr-Gläubigen als Hauptbeweise ihrer Theorie dienen. Beide kamen bald nacheinander in der Nähe der ungarischen Grenze gegen Bosnien und Serbien vor, in Ortschaften, deren Bevölkerung aus sogenannten Raizen oder Ratzen, einer griechisch-katholischen Secte, bestand. In dem Dorfe Kisolova, Rahmerdistrict, starben 1725 innerhalb einer Woche neun Personen nach vierundzwanzigstündiger Krankheit, die vor ihrem Tode zum Theil ausgesagt hatten, sie seien in der Nacht von einem gewissen Peter Plogojowitz, der vor zehn Wochen im Dorfe gestorben und raizischer Manier beerdigt war, besucht worden, der sich auf sie gelegt und sie im Schlafe gewürgt habe. Man frug bei der Gradisker Behörde um die Erlaubniß an, den Körper auszugraben und nach Gebrauch damit zu verfahren, um weiterem Unheile vorzubeugen. Da man sich weigerte einen Bescheid von der Belgrader Regierung abzuwarten und mit Auswanderung drohte, wurde in Gegenwart des Popen und des „kaiserlichen Provisor“ (Serbien gehörte bekanntlich seit dem Frieden von Passarowitz, 1718, zu Oesterreich) aus Gradisk die Leichenbesichtigung vorgenommen, welche ergab, daß die Leiche nach zehnwöchentlicher Bestattung mit Ausnahme der eingefallenen Nase noch frisch und ohne Geruch erschien, daß Bart und Haar gewachsen war, daß die Oberhaut und Nägel abgestoßen waren und unter denselben Neubildungen befindlich. Man pfählte und verbrannte den Vampyr, dessen Mund und Leib mit rothem Blut gefüllt waren.

Der zweite Fall spielte 1728–1732 in Meduegia (Medvegya) in Serbien, einem damals ganz von raizischer Bevölkerung bewohnten Dorfe. Die Seuche war dort angeblich eingeschleppt worden von einem Haiducken Arnod Parle (Paul), der sich geäußert hatte, er sei früher im türkischen Serbien von einem Vampyr geplagt worden, habe sich aber mit Vampyrblut gesalbt und Erde vom Grabe seines Angreifers gegessen und sei so vom Tode gerettet worden. Kurz nachdem er von einem Heuwagen gestürzt und gestorben war, folgten ihm vier Personen, die ihn als den Urheber ihres Todes bezeichneten. Man grub Alle aus, fand sie vierzig Tage nach ihrem Tode in demselben Vampyrenstand, wie den obengedachten Plogojowitz, pfählte und verbrannte sie.

Inzwischen wurde behauptet, daß ein später eintretendes Viehsterben auch auf ihre Rechnung zu schreiben sei, und eine sechzigjährige Frau, Namens Miliza, welche von dem Fleische der von Vampyren getödteten Schafe (!) gegessen hatte, wurde 1731 als Urheberin eines neuen größeren Sterbens bezeichnet. Innerhalb dreier Monate starben siebzehn Personen in dem kleinen Dorfe, unter denen Einige behaupteten, Vampyrbesuche gehabt zu haben, und die Belgrader Regierung beauftragte den Regimentschirurg Flickinger, im Beisein zweier andern Chirurgen, mit einer Untersuchung. Das von ihnen am 7. Januar 1732 verfaßte und außerdem von zwei Officieren des Alexander von Würtemberg’schen Regimentes unterschriebene Protokoll besagt im Auszuge Folgendes: Es wurden vierzehn Leichen von Männern, Frauen und Kindern ausgegraben, die in den letzten drei Monaten gestorben waren. Vier derselben, die erst fünf resp. sieben Wochen im Grabe lagen, waren völlig verwest, zehn andere dagegen befanden sich nach Ansicht des Chirurgs im „Vampyrzustande“, ihre Eingeweide waren frisch, voller „balsamischen“ Geblüts, Haut und Nägel zum Theil abgestoßen und durch neue ersetzt. Die Leiche der Urheberin, welche durch Essen des an der Seuche gestorbenen Schaffleisches das Sterben eingeleitet hatte und seit drei Monaten beerdigt war, zeigte sich besser genährt und fetter, als sie – nach Ansicht der Ortsbewohner – bei Lebzeiten gewesen war. Man begrub die verwesten Leichen, ließ den andern durch Zigeuner die Köpfe abschlagen, den Leib verbrennen und die Asche in den Fluß Morava werfen. Der erwähnte amtliche Bericht ging durch alle Zeitungen Europas und rief eine ungeheure Aufregung hervor. Alle Welt sprach von den serbischen Vampyren, und in den Jahren von 1728 bis 1760 erschienen mindestens ein halbes Hundert verschiedene, mehr oder weniger umfangreiche und gelehrte Abhandlungen und Bücher über den Gegenstand. Einige derselben sollen direct auf Wunsch des deutschen Kaisers und des Königs von Preußen geschrieben worden sein.

Ich habe bei Abfassung dieses Aufsatzes sechs dieser Abhandlungen vor mir liegen, von denen vier im Jahre 1728 und 1732 bei August Martini in Leipzig erschienen sind. Dieser Buchhändler hatte sich, nebenbei gesagt, ganz auf Sterbeliteratur gelegt, die damals sehr in Mode gewesen sein muß. In seinem einer Abhandlung angedruckten Verlagskataloge zähle ich sechszig verschiedene Bücher, die alle vom Tode handeln und unter denen zehnmal der Titel Sterbekunst, Sterbeschule, „ohnfehlbare Kunst zu sterben“ wiederkehrt. Obige Autoren betrachteten die serbischen Vampyre auf die verschiedenste Weise. Die Einen schieben die Urheberschaft kurzweg dem Teufel zu; Andere glauben die Belebung und Erhaltung der Leichen einem Astral- oder Weltgeiste in die Schuhe schieben zu dürfen; Andere erblicken eine Seuche darin mit häufigem Vorkommen von Scheintod; noch Andere halten

[571]

Ein Nest russischer Bettler in Riga.
Originalzeichnung von Ludwig Löffler.


Alles für leere Einbildungen und Lügen, so wahnsinniges Zeug aber, wie in dem 1872 gedruckten Buche des Professor Dr. Perty in Bern, habe ich in keinem dieser Berichte gefunden. Der gelehrte Rector der Stiftsschule zu Gandersheim, Christian Harenberg, ist der einzige unter den mir zu Gesicht gekommenen Autoren, welcher mit Nachdruck darauf hinweist, daß der amtliche Bericht selber den Schlüssel zur Erklärung des Sterbens der siebzehn Personen zu Meduegia enthält, indem er es auf den Genuß des Fleisches von Thieren zurückführt, die an einer herrschenden Seuche crepirt waren.

Einen ganz entsprechenden Fall berichtete vor einiger Zeit die Temesvarer Zeitung aus dem Jahre 1873, von welchem man glauben möchte, die Buchstaben der Jahreszahl seien durch ein Versehen des Setzers so zusammengefügt und sollten eigentlich 1738 heißen. In der Gemeinde Belotincz war nämlich die Cholera ausgebrochen und hatte bereits zahlreiche Opfer gefordert, so daß die Einwohner dieses Fleckens sehr bestürzt waren und in ihrer Furcht vor der Seuche ihre Zuflucht zu allerlei abergläubischen Mitteln nahmen. Als dieselben nichts fruchteten, beschloß man, zu dem energischen, vor hundertundfünfzig Jahren in diesen der serbischen Grenze nahen Gegenden oft bewährten Mittel seine Zuflucht zu nehmen. Die Einwohner von Belotincz gruben nämlich aus dem Kirchhofe elf Leichen von an der Cholera verstorbenen Personen aus, ließen dieselben durch einen gemietheten „Hexenmeister“ öffnen und ihnen die Herzen herausnehmen, über welche der Zauberer dann allerhand wahnsinnige Beschwörungsformeln sprach. Hierauf vertheilte er die Herzen unter die Bewohner als Mittel gegen die Cholera. Sie sollten natürlich genossen werden. Die Gemeinde Petirs, wo ebenfalls Cholerafälle vorgekommen waren, hörte von dieser Geschichte und dingte denselben Hexenmeister für dasselbe abgekürzte Verfahren mit ihren Cholera-Vampyrs; zum Glück erfolgte jedoch die Verhaftung desselben, bevor er in Petirs seine Kunst üben konnte.

Das Wenige, was die Naturwissenschaft zur Vampyrsage zu bemerken hat, werden wir in einem Schlußartikel zusammenstellen.

[572]
Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.
4. Die Theatermütter.


Die originellsten Typen in der Theaterwelt sind die sogenannten Theatermütter; ihre Sippe theilt sich in verschiedene Abarten. Ich will es versuchen, einige interessante Genrebilder aus ihrer Gattung dem freundlichen Leser vorzuführen. Theatermütter kommen als echte, wirkliche und unechte bei der Bühne sehr häufig vor. Die echte, natürliche Theatermutter, von der ich zuerst reden will, gleicht einer alten Henne, die ihr Küchlein, Tochter genannt, mit Argusaugen bewacht – ihre Rechte dictatorisch vertritt und stets kampfbereit ist, wo es gilt, ihrem Kinde nachzutreten. Auch ist sie unerschöpflich im Lobe ihres Kindes. Alles, was dem zur Seite mitwirkt, ist unbedeutend talentlos. Sie spricht stets mit Pathos und gesticulirt bei jedem Worte heftig mit beiden Armen; ihre Kleidung ist auffallend und wird nur aus der abgelegten Garderobe ihrer Tochter für sie angefertigt, so daß ihre Toilette stets alle Farben des Regenbogens schillern läßt. Einen jeden Satz beginnt sie gewöhnlich mit: „Meine Tochter“. Ist diese nun in irgend welchem Schau- oder Lustspiel oder in einer Oper nicht beschäftigt, so zieht sie ohne Erbarmen die größten Meisterwerke herunter, wären sie auch von Goethe, Schiller oder Mozart. Mit verächtlicher Miene, den Kopf zurückwerfend, sagt sie dann wegwerfend: „Es ist mir sehr lieb, daß meine Tochter nicht in diesem langweiligen Kram von Goethe beschäftigt ist“ oder: „Meine Tochter ist immer froh, wenn sie in dieser Mozart’schen Dudelei nicht mitsingen muß.“ Ist nun gar diese Tochter ein wirkliches Talent und nimmt demnach bei der Bühne eine erste, künstlerische Stellung ein, dann ist ganz der Teufel los. Mama tritt in solchem Falle jedem Intendanten oder Director resolut entgegen; sie ist dann der Barometer, welcher das Repertoire genau verkündet; um zu wissen, ob die Abänderung einer Vorstellung stattfindet oder nicht, braucht man nur ihr Gesicht zu beobachten.

Ich kannte eine solche eben beschriebene Theatermutter, welche eine sehr talentvolle Tochter besaß, die, bei der großherzoglichen Bühne in K. engagirt, dort erste Liebhaberin mit großem Erfolg spielte; ihre Mutter war ein Original von Theatermutter und eines von der bösesten Sorte. Sie war der Schrecken der ganzen Hofbühne. Vom Intendanten bis zum Theaterdiener herab war Frau E… gefürchtet wie der Satan, denn Recht und Unrecht waren der guten Frau E… böhmische Dörfer; sie hatte stets Recht. Diese wahrhaft böse Frau trug allein die Schuld, daß ihr so reich begabtes Kind von der deutschen Bühne spurlos verschwand; ihre Herrschsucht trieb es aus einem Engagement in das andere. Frau E… riß die erste beste Gelegenheit, Scandal zu veranlassen, gleichsam vom Zaune; sie bereitete durch ihr rücksichtsloses Gebahren ihrem Kinde manche bittere Stunde und raubte so demselben eine vielleicht glänzende Zukunft. War ein Stück angesetzt, worin ihre Tochter eine unbedeutende Rolle zu spielen hatte, so trachtete Mama danach, sofort das Stück zu hintertreiben.

„Laura, Du hast den Schnupfen. Du spielst mir heute Abend auf keinen Fall! Dein Organ ist nicht frei. Ich lasse abändern, oder sie können diese Lumpenrolle durch die erste beste Choristin spielen lassen.“

„Aber, lieb’ Mütterchen, weshalb soll ich denn den Intendanten unnöthig in Verlegenheit setzen? Ich fühle mich ja vollkommen wohl. Auch ist kein anderes Stück vorbereitet,“ entgegnet dann schüchtern Laura.

„Gerade deshalb spielst Du nicht. Du mußt dem Volke hier zeigen, daß Du unentbehrlich bist; man muß vor Dir Respect haben.“

„Aber Mütterchen –“ wirft Laura bittend ein.

„Nichts da!“ schreit die jetzt schon leidenschaftlich erregte Mama, „Du spielst nicht und damit Punktum!“ Mit diesem kategorischen Imperativ eilt sie in’s Nebenzimmer, aus welchem sie nach kurzer Zeit in voller Toilette in’s Zimmer tritt. „So, nun werde ich dem Herrn Intendanten mit seiner ganzen Sippschaft den Staar stechen.“ Sofort verläßt sie, ohne weiter ein Wort mit ihrer Tochter zu wechseln, das Haus und eilt im Sturmschritte dem Hoftheater zu, wo eben der Intendant, Capellmeister und Regisseur beschäftigt sind, das Repertoire für die nächsten vierzehn Tage festzustellen. Plötzlich öffnet sich mit großem Geräusch die Thür des Bureau’s und Frau E… stürmt, zum Schrecken sämmtlicher Herren, mit glühendem Gesicht in’s Bureau. „Guten Morgen, Excellenz!“ ruft sie, sinkt wie eine Königin unaufgefordert in einen Sessel und ordnet ganz ungenirt ihre knatternde, sich aufbauschende Seidenrobe in künstlerische Falten, ohne weiter von den anwesenden Herren Notiz zu nehmen.

„Ah, Frau E…! Was verschafft mir die Ehre?“ fragt sie höflich der Intendant. „Was wünschen Sie, Frau E…?“

„Ich für meinen Theil gar nichts, Excellenz,“ erwidert Frau E…, „aber meine Tochter, mein Kind, wünscht heute Abend nicht zu spielen. Meine Laura hat den Schnupfen und aus dem Schnupfen entstehen allerlei Krankheiten, wenn man sich nicht in Acht nimmt; dem will ich mein Kind nicht aussetzen. Sie können ja die kleine Rolle, die meine Tochter spielen soll, von der ersten besten Choristin spielen lassen, brauchen also deswegen nicht Abänderungen vorzunehmen.“

„Meine beste Frau E…, das geht mit dem besten Willen nicht. Das Stück muß mit den ersten Kräften der Hofbühne in Scene gehen,“ wirft bescheiden der Regisseur ein; „auch hat es der Großherzog befohlen.“

„Ach, was Sie da Alles sagen, Herr Regisseur! Befohlen hin, befohlen her! Meine Tochter spielt nicht, wenn sie commandirt wird. Meine Tochter ist eine Künstlerin ersten Ranges. Verstanden?“

Um den Scandal nicht auf die Spitze zu treiben, beginnen die Herren, ohne weiter von Frau E… Notiz zu nehmen, die Arbeit wieder.

„Sie machen wohl das Repertoire für die nächsten vierzehn Tage?“ beginnt sie wieder, indem sie ihre Robe in malerische Falten zu bringen sucht; „darf man wissen, was Sie Alles ausgeheckt haben?“

„Nein, Frau E…,“ erwidert sehr pikirt der Intendant; „das Repertoire wird, wie üblich, den Mitgliedern der Hofbühne durch den Theaterdiener überbracht, wenn es festgestellt ist.“

„Also nicht? Na, mir auch recht! Meine Tochter spielt aber nicht jeden Abend; das merken Sie sich, Excellenz. Das Kind soll sich hier für diese miserable Gage nicht die Schwindsucht an den Hals spielen.“

„Es ist dafür bereits gesorgt, daß Ihr Fräulein Tochter nicht allzu sehr in Anspruch genommen wird,“ erwidert unwillig der Intendant; „sie spielt in jeder Woche nur ein Mal.“

„Was? Nur ein Mal spielt mein Kind? Das will ich doch abwarten. Meine Tochter spielt jetzt in jeder Woche drei Mal, und das lauter Hauptrollen,“ ruft Frau E… entrüstet, „oder sie spielt ebenso wenig wie heute! Verstehen Sie mich, Excellenz?“

Mit diesen drohenden Worten rauscht sie wie ein entschleußter Wasserfall zum Bureau hinaus. Alle schlagen mit Andacht ein Kreuz.

Die Folgen des unanständigen Gebahrens dieser stets muthigen Theatermutter ließen nicht auf sich warten. Der armen, unschuldigen Tochter wurde der Contract nicht wieder erneuert. Engagementslos zog sie mit ihrer Megäre von Mutter, lange Zeit bei Wanderbühnen gastirend, umher, bis sie mit ihrer stets wüthenden Mama aus der Theaterwelt spurlos verschwand. Die soeben beschriebene Art von Theatermutter nennt man in der Bühnensprache „Lärmkanone“. Sie ist der Schrecken aller Intendanten, Directoren und Regisseure. Darum ist auch gleich die erste Frage eines Directors, wenn er ein Engagement mit einer Primadonna, oder mit einer ersten Liebhaberin und Heldin abzuschließen gedenkt: „Haben Sie eine Mutter bei sich?“ Fällt eine solche Frage bejahend aus, so zieht sich sofort die Stirn des Directors in düstere Falten, und ist die Errungenschaft nicht hochfein, so wird aus dem Engagement nichts.

Eine andere Spielart von Theatermüttern, die auch noch zu den echten, natürlichen gehören, sind die Zudringlichen, Schwatzhaften; sie sind lange nicht so schlimm, wie die dominirenden; denn hält man sie sich ein wenig vom Leibe, so verschaffen sie den Bühnenangehörigen oft die heitersten Augenblicke [573] durch ihr drolliges, komisches Gebahren. Lobt man ihre Töchter – Söhne findet man selten bei der Bühne von einer Mutter begleitet –, sagt man ihnen, daß dieselben die oder jene Rolle gut gespielt haben, so werden sie sofort klettenartig, tragen dem Lobspender ewige Freundschaft an und beehren ihn mit dem traulichen „Du“; kurz, man hat sie am Halse. Bei alledem tragen sie eine rührende, innige Liebe für ihr Kind im Herzen, die jeder Aufopferung fähig ist.

Eine solche originelle Theatermutter war die alte Frau F…, deren Tochter einst die Zierde der Berliner Hofbühne war. Diese alte, drollige, schwatzhafte Frau wird Jedem, der nur einmal mit ihr zusammen gekommen ist, unvergeßlich bleiben. Es war rührend mit anzuhören, wenn sie von ihrer Tochter sprach, die sie abgöttisch liebte. Jedem, der es hören wollte, erzählte sie, wie brav, wie gut ihr Kind, ihre liebe Line sei, was sie für gute Tage bei ihrem Töchterchen habe etc. Der Schluß solcher Lobrede war dann jedesmal: „Meine Line ist ein Engel in Menschengestalt.“ Und darin hatte die alte Frau vollkommen Recht. Fräulein Lina F … verdiente dieses Prädicat im vollen Maße; denn sie war nicht nur eine hervorragend hochbegabte Künstlerin, sie war auch in ihrem Privatleben eine hochgeachtete Persönlichkeit. Die alte Frau hatte, wie schon gesagt, Recht, auf ihre Tochter stolz zu sein. Aber Stolz kannte die gemüthliche Matrone nicht, und deshalb verzieh man ihr so Manches, was sonst im gewöhnlichen Leben Anstoß erregt haben würde. Nichts Drolligeres, aber auch zugleich oft Störenderes gab es, als das Gebahren der Mama F… Abends in der Loge, wenn ihre Tochter eine bedeutende Rolle zu spielen hatte. Fast dreiviertel Stunden vor Beginn der Vorstellung trat Mutter F… in eine Loge des zweiten Ranges. Ihr erstes Geschäft war, sich den besten Platz auszusuchen; war das geschehen, so breitete sie bedächtig den Theaterzettel über die Logenbrüstung aus, so daß er gleichsam für Jedermann praktikabel war. Trat nun Jemand in die Loge, so suchte sie sich sofort mit ihm bekannt zu machen. Wehe ihm, wenn er sich mit Mama F … in eine Conversation einließ! Das ganze Stück war dann für ihn verloren. Kam nun zufällig eine dicke Persönlichkeit in die Loge, so machte sie sich sofort so breit als möglich und sagte ganz harmlos: „Sie, bitte, rücken Sie mir nicht so dicht auf den Leib! Diesen Platz habe ich contractlich: denn ich bin die Mutter von der ersten Schauspielerin hier,“ und indem sie mit dem Finger auf den Theaterzettel tupfte, sagte sie: „Hier steht sie. Das ist mein Kind. Meine Line spielt heute Abend die Ophelia in Hamleten. Na, da passen Sie mal auf! Da können Sie was zu sehen kriegen, daß Ihnen die Augen übergehn. Die Andern, die mitspielen in Hamleten, sind gegen meine Line gar nichts. Und die Toilette, die mein Engel von Kind macht, der reine Zucker! Die Andern sehen immer dagegen aus wie die Schlampampen.“ Dabei zog sie alle Augenblicke die Uhr und rückte auf ihrem Platze hin und her. Kaum war das erste Zeichen gegeben, so rief sie überlaut: „Nun geht es los! Nun passen Sie Alle recht auf! Sie werden eine Freude über mein Götterkind haben. Ach, ich bin die glückliche Mutter, die einen Engel geboren hat. Heute Abend ist meine Line verrückt; na, ich sage Ihnen, wie aus der Charitée herausgegriffen. Ich sollte es eigentlich nicht sagen, denn ich bin ja die Mutter von dem Wunderkinde, aber wenn meine Tochter als Ophelia mit dem Strohkranze auf dem Kopfe angewankt kommt, Verrückteres können Sie sich gar nichts denken, meine Herrschaften.“ So plauderte die von ihrer Tochter entzückte Alte unaufhörlich fort, bis sich der Vorhang hob, um des großen Briten Werk in Scene gehen zu lassen. Alles lauschte auf des großen Dichters Worte, nur Mutter F… nicht; unaufhörlich wisperte sie ihrem unglücklichen Nachbar etwas zu. „Sie, das Alles ist nichts; das Beste kommt noch. Wenn meine Tochter kommt, dann geht es erst los.“

„Pst!“ schallt es plötzlich aus dem Parterre hinauf, doch das kümmert Mutter F… nicht, denn sie flüstert abermals dem unglücklichen hin- und herrückenden Nachbar ziemlich laut zu:

„Sie, da brauchen Sie jetzt gar nicht so genau aufzupassen. Aber wenn Hamlet meine Tochter in’s Kloster schickt, da passen Sie auf – da sollen Sie was erleben, wie meine Line dabei spielt, ohne ein Wort zu reden. Sie werden Ihr blaues Wunder sehen.“

„Ruhig da oben!“ brüllen mehrere Stimmen aus dem gefüllten Parterre. Aengstlich und leise versucht der bedrängte Nachbar Frau F… begreiflich zu machen, daß sie die Vorstellung durch ihr fortwährendes Geplauder störe.

„Ach was,“ erwidert sie, „ich habe hier meinen Platz contractlich; mir hat hier Niemand den Mund zu verbieten.“

„Ruhig!“ donnert’s von Loge, Parterre und Galerie.

Da öffnet sich plötzlich geräuschlos die Logenthür und der ehrwürdige Kopf des alten Theaterdieners[4] Zagner zwingt sich durch die schmale Oeffnung. „Sie, Frau F…!“ wispert er leise, „Sie sollen augenblicklich zu Ihrer Tochter kommen; sie will was.“

Sofort erhebt sich der Störenfried und verläßt mit den Worten: „Ich komme gleich wieder, meine Herrschaften,“ die Loge, deren Thür der alte Zagner leise mit den Worten schließt:

„Die kommt heute Abend nicht wieder, meine Herrschaften. Die ist besorgt und aufgehoben.“

Obgleich die alte Frau F… das Urbild einer echten Theatermutter war, so hatte sie doch das Gute für sich, sich nie in Kunstangelegenheiten, wozu sie wohl von vornherein nicht fähig war, zu mischen; ihre liebenswürdige Tochter suchte stets ihre Schwächen, die ihr gar oft Verdrießlichkeiten bereiteten, auf freundliche Weise zu verdecken. Nie beklagte sie sich über das Thun und Lassen ihrer alten Mutter; sie war ihr ein Heiligthum. Für die Mutter sorgte sie mit kindlicher Liebe, bis der Tod sie von ihrer Seite nahm.

Die gefährlichste Sippe ist die der sogenannten unechten Theatermütter. Dieses Genre wird jedem jungen Mädchen gefährlich, ja oft verderbenbringend, durch ein einschmeichelndes Wesen, durch Lobhudelei und aufdringliche Gefälligkeit. Die unechte Theatermutter ist der personificirte Eigennutz; sie ist ein Vampyr, der unnachsichtlich sein Opfer aussaugt und um guten Namen und Ehre bringt. Dem Raffinement dieser Geschöpfe fällt manch schönes Talent zum Opfer, noch ehe es sich entfaltet hat. Diese Hetären schänden den reinen Cultus der Kunst, indem sie ihn zum Deckmantel ihres unreinen Treibens bei der Bühne benutzen. Gewöhnlich gehören sie nicht einmal dem Theater an, und wenn dem so ist, so sind es alte, talentlose, unbrauchbare Schauspielerinnen, die nicht mehr anderweitig im Stande sind, bei der Bühne ihr armseliges Dasein zu fristen, als eben durch Bemutterung junger, unerfahrener Mädchen, die sich dem Theater widmen. Sie spielen dann die Beschützerin, Lehrerin, wenn sie auch von der Schauspielkunst keinen Begriff haben, ordnen, wenn ihr Opfer Abends zu spielen hat, die Garderobe, benehmen sich in Gegenwart Uneingeweihter stets gesittet, spielen die Ehrbaren, um sich so in Familien zu drängen, die theatersüchtige Töchter haben. Hat nun auf diese Weise so eine unechte Theatermutter ein Opfer erwischt, so führt sie es in die Welt, damit es auf kleinen Bühnen die Schwingen regen lernt; sie spielt dann vollkommen die Mutter, weist jeden Zudringlichen energisch zurück, bis er sich durch ein bedeutendes Geschenk bei Frau Mama legitimirt hat; denn jede unechte Theatermutter hat die Natur des Hamsters: Alles heimset sie ein, ob auf rechtlichem Wege oder nicht, das gilt ihr gleich. Bei Diners und Soupés ist sie unersättlich, beseitigt heimlich alles übriggebliebene Confect und trinkt übermäßig Wein. Kurz, sie ist die Fäulniß der Bühne, die leider durch keine Desinficirung vertrieben werden kann. –

Jedes junge Mädchen, das sich der Bühne zu weihen gedenkt, möge die vorstehenden Zeilen mit Ernst und Bedacht lesen und sie im Herzen bewahren, wenn sie jenen verhängnißvollen Pfad betritt! Sie möge dann sorgsam die geheimnißvoll aufgestellten Netze dieser Spinnen zu vermeiden suchen, um nicht in ihre vernichtende Gewalt zu kommen!

Ich könnte hier, um das nichtswürdige Treiben dieser unechten Theatermütter, zuweilen auch Tanten genannt, zu kennzeichnen, noch Beispiele der empörendsten Art anführen, welche darthun, wie dieselben, eigennützig, kein Mittel scheuend, so manch schönes Talent durch ihre raffinirte Habsucht zu Grunde gerichtet und schließlich dem Elend preisgegeben haben. Doch lassen wir den Vorhang über ihr schmachvolles Walten sich senken!
Adolf Meyer.

[574]
Blätter und Blüthen.

Russische Bettler in Riga. (Mit Abbildung, S. 571) Als ich in Riga den engen, gewundenen Straßen und den schiefen Häusern, die trotz der angebahnten Russificirung durchaus den Charakter einer kleinen, urdeutschen Stadt tragen, meinen ersten Gruß dargebracht hatte, überschritt ich die einstigen Festungsgräben. Sie sind jetzt zu heiteren Parkanlagen umgewandelt, welche zur Petersburger Vorstadt führen. Wenn Riga äußerlich Kleinbürgerthum in der Altstadt, Schmutz und Verkommenheit in der Moskauer Vorstadt zur Schau stellt, so bietet es hier die prunkhaften palastartigen Neubauten der wohlhabenden Kaufmannswelt dar; denn was man auch klagt über das allmähliche Sinken des dortigen Handels, des einstigen Reichthums – die jetzigen Kaufherren sind immer noch die würdigen Enkel jener Bremer, welche den Handelsplatz gründeten und ihm zu einer gewissen Macht verhalfen. Hier gleicht Riga jeder andern vornehmen Stadt, und nur vereinzelt erblickt man die grauen zerlumpten Gestalten der niedrigen Russen und Letten, die sich mehr in den anderen Stadtvierteln aufhalten.

Ich verwerthete meine Empfehlungen, fand die glänzendste Gastfreundschaft, hatte einen Theil der Zeit in dem brillanten Wöhrmanns-Park bei „Ertal“ zugebracht und schlenderte nun, begleitet von einigen neuen Bekanntschaften, nach der Altstadt zurück. Es war in der Dämmerungsstunde. Wir näherten uns der Verbindungsbrücke der Parkanlagen, als plötzlich aus dem Dunkel eines der Gebüsche eine große, fast formlose Gestalt zu Boden fiel und ein vorübergehendes Paar, einen Russen mit seiner Dame, zurückschrecken machte. Gleichzeitig tauchten aus demselben Winkel noch andere patriarchalische Gestalten hervor, die, auf den Knieen rutschend und sich bekreuzend, in leisen unarticulirten Tönen sich an die Mildthätigkeit der Vorübergehenden wandten.

Schon in Dünaburg hatte ich das Elend in seiner widerwärtigstem Gestalt kennen gelernt, als ich beim Grauen des Morgens mich in der Nähe der Wartesäle herumtrieb und auf den Abgang des Rigaer Zuges wartete. Allerlei Volk stand gelangweilt umher. Ich durchstöberte die nächste Umgebung und trat in eine Art Hofraum, dessen grauer Fußboden ein eigenthümlich coupirtes Terrain zeigte. Beobachtend und zögernd näherte ich mich den Unebenheiten und, wunderbarer Weise, die Hügel bewegten sich, sie entwickelten Formen, ja, es waren lebende Wesen, es waren menschliche Körper, die, in graufriesenen Mänteln, zusammengekauert dasaßen und durcheinander lagen. Nur dem Nahenden streckten sie die knöchernen Arme entgegen, wie das umgestürzte Steinbild eines Wischnu. Selten habe ich einen so abstoßenden Anblick gehabt, wie diese Haufen von Verkommenheit, und ich möchte behaupten, daß ein Nest jener erdfahlen Schlangenart, die, eine in die andere verschlungen, in unheimliche Knäuel geballt, daliegen, einen gewissen Grad von Lieblichkeit entwickelte, verglichen mit diesem Menschenklumpen.

Rigas Armenpflege scheint im Allgemeinen gut organisirt zu sein, so daß kein eigentlich Nothleidender ohne besondere Hülfe bleibt; denn waren mir auch Lumpen und Dürftigkeit hinreichend begegnet, so waren dies doch die ersten privilegirten Bettler, welche ich hier vor mir hatte. Es war ein Bild, dessen Stimmung der auf Seite 571 befindliche Holzschnitt nur oberflächlich andeuten kann.
Ch.

Nachklänge der Alliteration in der deutschen Sprache. Bekanntlich waren bis gegen Ende des neunten Jahrhunderts die poetischen Erzeugnisse der alten Deutschen nicht in Reimen abgefaßt, sondern man bediente sich des sogenannten Stabreims oder der Alliteration, das heißt in einer oder in zwei aufeinander folgenden Zeilen hatten die bedeutungsvollsten Wörter denselben Anfangsbuchstaben, welcher von dem vortragenden Sänger noch besonders accentuirt wurde. Unsere biederen Altväter lagen hierbei auf ihren Bärenhäuten, tranken aus gewaltigen Trinkhörnern Meth oder Bier und begleiteten die alliterirenden Worte durch Anschlagen an die Schilde. Einige neuere Dichter haben Versuche gemacht, die Alliteration wieder einzuführen, haben jedoch wenig Beifall gefunden. Vielleicht wäre indessen für einzelne Fälle die Einführung derselben so übel nicht; manche stürmische Versammlung würde viel friedlicher verlaufen, wenn die Zuhörer die Reden ihrer Wortführer und Agitatoren alliterirend durch Klappern mit den Gläsern begleiteten, und mancher fromme Andächtige würde durch sanfte, alliterirende Rippenstöße vor dem fatalen und anstößigen Kirchenschlafe bewahrt werden.

Ist nun auch in unserer Poesie die Alliteration fast vollständig verschwunden, so sind doch noch mancherlei Nachklänge derselben vorhanden. Redensarten wie: sammt und sonders, hoch und heilig, Wehr und Waffen, Küche und Keller etc. giebt es allein hundert und mehr. Hierzu kommen noch andere mit ähnlich klingenden Anfangsbuchstaben, wie: kurz und gut, kreuz und quer, Gras und Kräuter, und wieder andere, wie: Schiff und Geschirr, Kraut und Rüben, die jedenfalls auch als alliterirende zu betrachten sind, da G in Geschirr und K in Kraut bei der Aussprache sehr wenig, dagegen das sch und r scharf hervortreten. Wir freuen uns über den goldgelb schimmernden Wein; ein Anderer wird quittengelb vor Aerger oder weiß wie die Wand; ein gesättigtes Grün nennen wir grasgrün; mancher Ehemann seufzt unter dem Joch einer wetterwendischen Frau oder gar einer bitterbösen Schwiegermama; oft wird Jemand windelweich gehauen und ist in Folge dessen lendenlahm etc. Wir rufen: Guter Gott, gerechter Gott, gütiger Gott, gnädiger Gott, und selbst der Teufel mußte sich schon von Alters her der Alliteration als Belzebub und Fliegenfürst unterwerfen, und jetzt gar, wo der arme Mann vollständig antiquirt und pensionirt ist, muß er sich als dummer Teufel brandmarken lassen.

Wahlsprüche und Büchertitel sind nicht selten ebenfalls alliterirend; so das „frisch, fromm, fröhlich, frei“ der Turner, treu bis in den Tod, ferner Blüthen und Perlen, Kreuz und Kelle, Hammerschläge und Historien. Ja auch die Gartenlaube rubricirt die kleineren Mittheilungen nicht unter „Blätter und Knospen oder Früchte“, sondern alliterirend unter „Blätter und Blüthen“. Fernere Beweise unserer noch bestehenden Vorliebe für die Alliteration sind Wörter wie: die blaue Blume der Romantiker, Griesgram, Zickzack, Singsang, Mischmasch und viele andere. Manche Dichter haben – bewußt oder unbewußt – neben dem Reim noch durch Alliteration eine besondere Wirkung hervorzubringen gesucht, besonders Bürger. Beispielsweise will ich den Schluß der „Lenore“ anführen:

„Geduld! Geduld! Wenn’s Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
Des Leibes bist du ledig;
Gott sei der Seele gnädig!“

und den Vers aus „Lenardo und Blandine“:

„Wohl schwellen die Wasser, wohl hebet sich Wind;
Doch Winde verwehen, doch Wasser verrinnt.
Wie Wind und wie Wasser ist weiblicher Sinn,
So wehet, so rinnet dein Lieben dahin.“ –

Sollte nun die geehrte Redaction der Gartenlaube vorstehendes Product eines sehr heißen Nachmittags für nicht „gehauen und gestochen“ und für „ganz und gar“ unpassend zur Aufnahme unter die „Blätter und Blüthen“ erklären, so ist das kein „Schimpf und Schande“ für mich und geht mir auch nicht an „Kopf und Kragen“; mein „Wohl und Wehe“ wird dadurch gar nicht afficirt und mein „Haus und Hof“ und „Hab und Gut“ geht auch nicht verloren; ich ärgere mich weder „grün und gelb“, noch speie ich „Feuer und Flammen“; ich bin weder voll „Gift und Galle“, noch fluche ich „Tod und Teufel, Himmel und Hölle“ und „Donner und Doria“ – sondern ich gehe in „Friede und Freude“ an meine Geschäfte, trinke vielleicht ohne „Scham und Scheu“ einen „Kirsch und Kümmel“ und sage „frank und frei“: Ich war sehr „matt und müde“, der Tag war höllenheiß und: Viele sind berufen und Wenige auserwählt!!
A.

Ein Soldatenvater. Der verstorbene General von Hartmann, der Führer des zweiten bairischen Armeecorps. war im Dienst scharf und streng, sorgte aber dabei für seine Untergebenen in wahrhaft väterlicher Weise. Zeugniß davon giebt unter Anderem ein Brief, welcher im Schwaighof bei Tegernsee, einem von biederen Bauersleuten gehaltenen Schwefelbad, aufbewahrt wird. Dieser Brief, schön hinter Glas und Rahmen gebracht, befindet sich in einem Raume, welchen wir Badegäste die „Bildergalerie“ nennen, eine einfache Kammer, deren Holzwände mit zahlreichen Neu-Ruppiner Schlachtgemälden aus dem letzten Franzosenkrieg geschmückt sind. Welchen Eindruck die weltbewegenden Ereignisse dieses Krieges überhaupt auf das Volk der bairischen Alpen gemacht haben, davon sprechen die Bilder des Kaisers Wilhelm, des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des Prinzen Friedrich Karl, Bismarck’s und Moltke’s, die man neben den Bildern des bairischen Königs und der beiden bairischen Führer, von der Tann und von Hartmann, hier in so mancher Bauernstube findet.

Zur Erläuterung jenes Briefes sei vorausgeschickt, daß die vom Tegernsee stammende Frau eines Dachdeckers in Nürnberg, der im Juli 1870 mit hinausgezogen war in den Krieg, zu Anfang des Jahres 1871 Mutter ihres ersten Kindes geworden war. Da sie mittellos und in bedrängten Verhältnissen war, so hatte sie sich nach vorläufigem Abschluß des Friedens an General von Hartmann mit einem Gesuch gewendet, in welchem sie um Beurlaubung ihres Mannes bat. Darauf erhielt sie von Jenem folgenden eigenhändigen Brief, welcher zum ehrenden Gedächtniß Hartmann’s bekannt zu werden verdient:

Coulommiers, 9. April 1871.

     Liebe Frau Kretschmann!

In Erwiderung auf Ihren Brief vom 28. vorigen Monats benachrichtige ich Sie, daß ich Ihrem Manne heute Urlaub gegeben habe, um nach Hause zu gehen. Damit Sie aber bis zu seiner Heimkehr nicht hungern, sondern Ihrem kleinen Kinde gute Muttermilch geben sollen, lege ich einen Fünfthalerschein hier bei.

Empfangen Sie Ihren Mann nur recht freundlich und seien Sie ihm eine liebevolle und aufmerksame Frau, um ihn für die großen Anstrengungen zu entschädigen, die er, wie wir Alle, in dem vergangenen schweren Krieg haben aushalten müssen.

Ich grüße Sie herzlich als die Frau eines braven, mir untergebenen Soldaten, die ich Alle als meine Kinder betrachte.

Hartmann, G. d. J.“

Wirklich traf der Mann kurze Zeit darauf bei seiner jungen Frau glücklich wieder ein, die ihm zum Willkomm ein gesundes Töchterchen auf den Armen entgegenbrachte. Leider sollte die Freude der Wiedervereinigung nicht lange dauern. Es war ein tragisches Geschick, daß kaum drei Monate nach seiner Rückkehr aus Frankreich der Dachdecker von dem First eines hohen Hauses in Nürnberg herabstürzte und augenblicklich seinen Geist aufgab. So mußte gerade der Urlaub, welchen die sorgende Gattin ihrem Mann ausgewirkt hatte, diesem daheim den Tod bringen, welchem er in allen Kriegsgefahren glücklich entgangen war.

General von Hartmann, welcher von diesem Unglücksfall in den Zeitungen gelesen hatte, nahm sich der armen Wittwe an und unterstützte sie wiederholt mit ansehnlichen Geldbeträgen. Dieselbe zog später mit ihrem kleinen Kinde zurück in ihre Heimath am Tegernsee, wo sie als Büglerin in einer Waschanstalt für die Wäsche der Sommergäste ihr Fortkommen sucht. Ihr zweiundeinhalbjähriges Mädchen, das sie nicht mit in die Arbeit nehmen kann, hat sie in einer Bauernfamilie für sechzig Gulden jährlich untergebracht. Da sie täglich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein und sogar fast den ganzen Sonntag über beschäftigt ist, so kann sie höchstens Sonntagabends ihr Kind einmal sehen und mütterliche Liebe genießen lassen.
Dr. Adolf Müller.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Gartenlaube schwärmt nicht für die Carlisten, nimmt aber gern die objectiven Schilderungen eines Landsmannes auf, der sich augenblicklich als Correspondent einer englischen Zeitung bei dem Prinzen Alfonso befindet.
    D. Red.
  2. Vorlage: „stebzehnhundert“
  3. Vorlage: „sechssehnten“
  4. Vorlage: „Theaterdienes“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Silberblick; vergl. Berichtigungen (Die Gartenlaube 1873/45)