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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Der Loder.

Eine Geschichte aus den bairischen Bergen
Von Herman Schmid
(Fortsetzung.)


Draußen angekommen, hatte der alte Lindhamer bereits sich selber wieder gefunden: er athmete ein paar Male hoch auf, als ob er eine Last von seiner Brust wegbringen wolle, und machte sich von Th’res frei.

„Es ist wieder vorbei,“ sagte er dann vollkommen gelassen, „über dem dummen Zeug da drinnen wär’ mir fast ein Bischen schwindelig geworden;, aber ich spür’s, wenn auch die Augen auslassen, mein Kopf ist doch noch der alte, Gott sei Dank! Aber jetzt wollen wir uns bald auf den Heimweg machen – Du hast ja alleweil’ gesagt, Th’res, Du willst allerhand einkaufen. Thu’s! Mir ist just ein Gang eingefallen, den ich noch machen muß. … In einer Stund’ triffst Du mich im Bräuhaus, wo wir eingestellt haben … der Dickel geht mit mir – und so b’hüt’ Dich Gott, Th’res, und kauf’ gut ein!“

Aufrecht und hastig, wie lange nicht, schritt er hinweg. Th’res wollte ihm überrascht folgen, mußte aber bald erkennen, daß es unmöglich sei, Den einzuholen, der nicht eingeholt sein wollte. Unruhig, von ängstlichen Sorgen und Befürchtungen erfüllt, kehrte sie bald zurück; das Einzige, was sich ihr als jetzt noch möglich zeigte, war, bei dem Sohne zu versuchen, was beim Vater nicht gelungen war, und zu verhindern, daß sich Beide begegneten, ehe die erste Aufregung des Vaters dem Verlaufe einiger Stunden gewichen war. Es galt vor Allem, Wolf zu finden und aufzuhalten, und dazu bot sich die Gelegenheit von selbst, denn eben war die Vorstellung in der Gauklerbude zu Ende gegangen; unter den herausdrängenden Zuschauern mußte sich auch der Erwartete befinden; aber Secunde um Secunde verging; bald hatte die Hütte sich vollständig entleert, und Wolf war nicht sichtbar geworden.

Unter gemischten, sehr eigenthümlichen Empfindungen war ihm die Aufführung des Tanzes vorübergegangen; so entschieden und rasch er sonst in allen Dingen war, so befangen fühlte er sich, als der Vorhang fiel und er sich auf der kleinen Bühne den Blicken Aller ausgesetzt sah. Am liebsten wäre er wieder aufgesprungen und hätte Cither und Tanz im Stiche gelassen, aber sofort war ihm auch klar, daß das nur noch größeres Aufsehen hervorgebracht haben würde; so nahm er sich zusammen, sah starr auf seine Cither nieder und spielte seinen Part ab, ohne einen Blick in den Zuschauerraum zu werfen. Er gewahrte daher wohl, daß dort etwas vorging und Einige die Bude verließen, aber er war nicht im Stande, die Personen zu erkennen. Wie von einer Kette befreit, hatte er dann sogleich seinen Platz verlassen und wollte sich durch die Hinterthür entfernen, denn es war ihm unerträglich, sich jetzt unter die Leute zu mischen; dort hoffte er unbeachtet entschlüpfen zu können, aber noch am Thürvorhange fühlte er sich von einer weichen Hand gefaßt und zurückgehalten.

Die Tänzerin, erregt von Tanz und Beifall, das Tamburin noch in der Hand, stand vor ihm.

„Wollt Ihr schon fort, guter Freund?“ sagte sie mit schmeichelndem Tone. „Und noch dazu heimlich, daß ich Euch nicht einmal danken kann? Das ist nicht recht von Euch.“ Dabei legte sie ihre Hand auf die seinige, eine Hand, so fein, wie er noch keine berührt hatte.

„Da ist nichts zu danken,“ sagte er kurz und störrisch und wollte seine Hand losreißen; er unterließ es aber, als er dem Mädchen in Gesicht und Auge sah, deren Aehnlichkeit ihn schon einmal milder gestimmt hatte. Da war diesmal jener eigenthümlich schmerzliche Zug um den Mund zu sehen, der ihr einen Ausdruck gab, als ob ihr das Weinen näher stünde als das Lachen. „Es ist gern geschehen – schon der Leut’ wegen, die sonst die Tänzerin nicht zu sehen gekriegt hätten.“

„Ich glaube das wohl,“ entgegnete sie mit leichtem Anfluge von Kränkung, „meinetwegen habt Ihr’s nicht gethan, hättet auch keine Ursache dazu gehabt, aber mir kommt’s demungeachtet zu, Euch zu danken. … Ihr habt sehr gut gespielt. Der Tanz ist mir noch selten so gelungen; ich wollte, ich könnte immer nach Eurem Spiele tanzen.“

Wolf lachte; es war eine halb verlegene Antwort, da er eine solche in Worten nicht fand.

„Ich weiß, warum Ihr lacht,“ fuhr sie fort, „ich kann mir’s denken, wenn Ihr’s auch nicht sagt. Ihr lacht, weil ich eine herumziehende Komödiantin bin und Ihr ein Bauer; aber es kommt mir so vor, als wenn Ihr einen Rock anhättet, für den Ihr nicht geboren seid. Ihr könnt mehr und Gescheidteres, als hinterm Pfluge dreingehen; das können Andere auch, bei Euch aber wär’ es schade, wenn eine solche Anlage zum Künstler vergraben würde. Wenn Ihr mit uns ziehen könntet, Ihr würdet bald ein berühmter Mann sein und gewiß Gefallen finden an dem lustigen Komödianten-Wanderleben.“

Wolf lachte wieder, aber diesmal laut und von Herzen, es kam ihm lustig vor, daß man ihm einen solchen Vorschlag machte. [416] „Ich dank’ schön,“ sagte er, „Du meinst es schon ein Bissel gar zu gut mit mir. Mein Vater ist der reichste Mann und der Bauernhof, den ich einmal kriege, der schönste in der ganzen Gegend. Mir ist das Haus auf den Buckel gewachsen wie einem Schnecken; ich kann nit heraus.“

Die Tänzerin sah ihn mit den mächtigen Augen wehmüthig an; sie waren von einer Thräne verschleiert. Durch den Sinn der Landfahrerin ging, vielleicht zum ersten Male, das verlockende Bild einer festen, trotz ihrer Beschränkung geliebten Heimath, das Bild eines Glückes, das in ihren wenn auch noch so eng umschriebenen Grenzen liegt. Sie faßte abermals nach Wolf’s Hand, die er ihr auch ließ; aber mit der andern schlug er schon den Vorhang zurück, der den Ausgang verhüllte.

„So lebt wohl!“ sagte die Tänzerin, „mög’ es Euch recht gut gehen und Ihr Alles erreichen, was Ihr wünscht! Laßt es Euch nicht gereuen, der wandernden Komödiantin eine Freude gemacht zu haben!“

Das Tuch fiel zwischen ihm und ihr nieder. Er wandte sich um und – stand vor Th’res. Nach langem vergeblichen Warten war es ihr wie ein Blitz durch den Sinn geschossen, er könne wohl gar noch bei den Gauklern sein; sie ging an die Rückseite der Bude und stand wenige Schritte vor dem Abschied nehmenden Paare, das ihr Näherkommen nicht gewahrte.

Ueberrascht, wortlos blickten Wolf und Th’res einander an, aber die Ursache, die sie verstummen machte, war bei Jedem eine verschiedene, ja geradezu entgegengesetzte, bei ihm ein Erschrecken der Freude, bei ihr ein Aufzucken des Entsetzens. In dem Burschen wallte bei Th’resens unvermuthetem Anblicke eine so warme innige Empfindung auf, wie er sie noch nie gekannt hatte, aber Th’res war ihm auch nie so schön vorgekommen, sei es, daß ihm das Lob des Schützenpeters die Augen geöffnet hatte, sei es, daß die Anmuth und liebliche Eigenart ihres Wesens ihm gerade jetzt durch den Gegensatz der trotz aller Aehnlichkeit so sehr von ihr verschiedenen Tänzerin aufgegangen war. Th’res dagegen, die mit einem Herzen voll Sorge, Rührung und Schmerz gekommen, war es bei dem Anblicke, der ihr geworden, als ginge ein Eishauch über sie dahin, der, wie im Frühling der Reif, alle die zarten Knospen und Keime versengte und welken machte, die sich eben angeschickt, zu Blüthen aufzugehen. War es ihr auch unsäglich schwer gefallen, den Burschen, den sie vor Allen hoch hielt, in der Bude unter den Gauklern wie Einen von ihnen zu erblicken, so hätte sie das vielleicht doch zu erklären vermocht, sie hätte es vielleicht sogar über’s Herz gebracht, es zu entschuldigen, aber daß sie ihn jetzt wieder antraf, Hand in Hand und in vertrautem Gespräch mit der Landstreicherdirne, erfüllte sie mit unsäglicher Bitterkeit. Einen Augenblick war sie gesonnen, ihr Vorhaben ganz aufzugeben und Wolf dem Schicksale zu überlassen, das er sich selber bereitete. Der herb trutzige Zug ihres Wesens gewann die Oberhand in ihr und machte den Blick kalt und den Mund so streng, als hätten Beide dem Lächeln für immer Valet gesagt.

„Ja, seh’ ich denn recht,“ rief Wolf, der sich zuerst sammelte und mit dem Ausdrucke strahlender Freude auf sie zueilte. „Du bist da, Th’res? Bist Du’s denn wirklich? Das ist schön, das ist lieb von Dir, das … das … ich kann’s Dir gar nicht sagen, wie mich das freut, daß Du auch auf den Markt hereingekommen bist und wir uns da so schön treffen.“

Er streckte ihr die Hand zum Gruße hin, aber mit einer Hast, die an Abscheu grenzte, zog sie die ihrige zurück; sie wollte die Hand nicht berühren, die er noch eben vor ihren Augen der Komödiantin gereicht hatte.

„Ja, wir haben uns recht schön ’troffen,“ sagte sie, „ich bin aber nit allein da; der Vater ist auch mit herein; ich glaub’, er hat Dich gesucht.“

„Weil ich nit heim’kommen bin,“ rief Wolf erbleichend, „ich hätt’ mir’s denken können. Ich weiß selber nit recht, warum ich’s gethan hab’; es ist halt so gekommen, Eines aus dem Andern. Ist er recht zornig gewesen? Aber um das brauch’ ich nit erst zu fragen. Wenn er aber Alles weiß, und ich hab’ mir’s vorgenommen, daß ich ihm Alles sag’, gerad’ heraus und ohne Umschneiderei, dann wird er schon wieder gut werden – und Du auch …“ setzte er zögernd und in etwas unsicherem Tone hinzu.

„Was hab’ ich damit zu schaffen?“ entgegnete Th’res so hart, als sie es nur zuwege brachte. „Der Vater hat nichts geredt, aber das hat man ihm wohl anmerken können, daß es ihn justament nit viel gefreut hat. Und damit Du nur gleich Alles weißt: er war vorhin da in der Komödiantenhütten drinn und hat Dich gesehen, wie Du der Springerin zum Tanze aufgespielt hast – ich hab’ Dich aufsuchen und Dir’s sagen wollen, damit Du doch weißt, wie Du daran bist, und Dich darnach richten kannst.“

Wolf hatte es fast die Rede verschlagen. „Der Vater in der Hütten?“ rief er beinahe stammelnd. „Das ist das Letzt’! ich fürcht’, das stoßt dem Faß den Boden aus. Was soll ich jetzt thun? Wo ist der Vater?“

„Das weiß ich nit. Ich soll ihn im Bräuhaus wieder treffen, wo die Bräuneln eingestellt sind; er hat gesagt, er hätt’ noch einen Gang zu machen, wohin aber und wegen was, das weiß ich nit.“

„Ich könnt’ mich gleich selber zerreißen vor lauter Gift,“ rief Wolf. „Ich hab’ mir Alles so schön aus’denkt gehabt und vorgenommen, wie’s werden sollt’ in der künftigen Zeit – und jetzt, was soll ich jetzt thun?“

„Das mußt mich nit fragen,“ entgegnete Th’res, sich kalt abwendend. „Du hast mir’s ja erst gestern in der Früh’ ausgedeutscht, daß Eins dem Andern nichts einreden soll und wie’s bald überall so sauber werden thät, wenn Jeder vor seiner Thür kehrt; das hab’ ich mir wohl gemerkt und denk’, Du brauchst auch Unsereins gar nit … wenn Du einen guten Rath willst, darfst ja nur die Tänzerin, die Komödiantendirn’ fragen, mit der Du so gut freund bist.“

Mit einem flüchtigen halblauten „Behüt’ Gott!“ war sie verschwunden und ließ ihn niedergeschmettert zurück, unfähig sofort den Entschluß zu fassen, der bei der nun eingetretenen Wendung der Dinge nicht zu verschieben war. Er stand da mit der Miene eines Mannes, der eben angefangen, die Fehler und Gebrechen seines Hauses durch einen Umbau zu ändern und dem dabei das Gebäude durch eine plötzliche Erschütterung überm Haupte zusammenstürzt. – Vergangenheit und Gegenwart, Mängel und Entwürfe des Bessern lagen in Trümmern durcheinander und hatten den Platz verschüttet, auf welchem die Zukunft vielleicht etwas entstehen lassen konnte. Er war sich im Herzen bewußt, daß er redlich das Rechte gewollt hatte, und nun war ein neues, wie es schien, unübersteigliches Hinderniß in die beabsichtigte neue Bahn gewälzt – sein Leid, seine gramvolle Reue war also vergeblich gewesen; er hatte nichts damit erreicht, als eine innere Demüthigung vor sich selbst; nun begann es ihm wieder dessen leid zu werden, der alte Groll der Verkennung und das grimmige Gefühl erlittenen Unrechts stieg in hohen Wogen wieder in ihm auf, aus denen die früheren Vorsätze nur noch wie Baumspitzen oder Hügel aus einem überschwemmten Lande hervorragten.

In diesen gedankenschnellen Betrachtungen wurde er durch den Gerichtsdiener unterbrochen, der ihn von rückwärts auf die Schulter klopfte und mit rauher Stimme anrief. „He da, Du Loder!“ sagte er, „bist Du nicht der Lindhamersohn von Lindham, der …“

Er konnte nicht vollenden, denn Wolf war mit einem wilden Fluche auf ihn losgefahren, wie ein auf’s Höchste gereizter Hund, der seine Kette zerreißt. „Wer untersteht sich, so mit mir zu reden?“ rief er. „Sag das Wort noch einmal, Du Schergenknecht, und Du hast Deinen letzten Schnaufer gemacht …“

Der Gerichtsdiener, welchen der graue mit blauen Schnüren eingefaßte Rock und die Schirmmütze mit dem Löwen deutlich machte, war zurück getreten und hatte die Hand an den Säbel gelegt, den er an einem Gurt um die Mitte geschnallt trug. „Oho,“ sagte er, „Du wirst schon der Rechte sein, weil Du so aufbegehrst. Probir’s aber einmal und rühr’ mich an, nur mit dem kleinen Finger, dann kehr’ ich den Stiel um und mache Dir den Garaus … Ich bin von Gnaden Herrn Landrichter geschickt, Dich zu suchen. Du sollst gleich zu ihm kommen, der wird Dir dann schon sagen, ob ich Dir einen unrechten Namen gegeben hab’.“

„Zum Herrn Landrichter – ich?“ fragte Wolf betroffen. „Was soll ich denn bei dem?“

„Das wird er Dir wohl selber sagen,“ entgegnete der Gerichtsdiener, „also spute Dich, daß Du hinaufkommst, und [417] wenn Du’s thust, daß ich nicht noch einmal den Markt nach Dir ablaufen muß, dann will ich Dich allein geh’n lassen und thun, als wenn ich den ‚Schergenknecht‘ nicht gehört hätte, der Dir sonst theuer genug zu stehen kommen sollte.“

Wolf erwiderte nichts; er schlug den Weg durch die Kirchgasse ein, festen Schritts und mit aufgerichtetem Kopfe, auf dem er den Hut zurecht gerückt hatte, daß die Spielhahnfeder nach vorne sah, als ob er einem Kampfe entgegengehe. Er wußte kaum, wie er den steilen Schloßhügel hinan gekommen war, aber er war um vieles ruhiger geworden und klopfte an der Thür des Gerichtszimmers so vernehmlich an, als es wohl selten geschehen mochte; ein ebenso vernehmliches Herein erscholl und der Eintretende stand – nicht, wie er erwartet hatte, dem Landrichter, sondern seinem Vater gegenüber.

Der Alte saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der Leuten von Ansehn, die vor Gericht zu thun hatten, geboten zu werden pflegte; er sah erschöpft und angegriffen aus und starrte nachdenklich vor sich hin, als wären ihm die leidenden Augen noch dunkler geworden, als vorher. Hinter ihm, mit ehrbar demüthiger Miene, stand Dickl. Der Beamte war seitwärts an seinem Pulte beschäftigt; er legte, als er Wolf gewahrte, die Papiere, in denen er gelesen, zusammen und trat ihm mit finsterer Miene entgegen. „Na, Du hast mir ein schönes Sonntagsvergnügen gemacht,“ sagte er, „Du bist wirklich unverbesserlich.“

„Ich?“ entgegnete Wolf kurz. „Was hab’ ich denn schon wieder angestellt?“

„Nur immer trotzig!“ rief der Beamte mit einem Unwillen, der gegen die wohlwollende Art abstach, in der er sonst mit den Parteien zu verkehren pflegte. „Ich will mich aber in keine Erörterung einlassen und sage Dir mit ein paar Worten, um was es sich handelt. Dein Vater ist zu mir gekommen, und weil er mir leid thut und ich sehr viel auf ihn halte, habe ich die Sache gleich vorgenommen, obwohl Feiertag ist … er glaubt, daß er es nicht mehr lang treiben wird; er will daher seine Angelegenheiten ordnen und den Lindhamerhof übergeben.“

Wolf war auf’s Höchste überrascht; mit einer herzlichen Aufwallung trat er einen Schritt gegen den Alten vor und rief: „Nein, Vater, das müßt Ihr nit thun! Ihr könnt wohl wieder besser werden, und könnt den Hof noch lang regieren – ich wünsch’ mir gar nichts Anderes!“

„Du!“ unterbrach ihn der Landrichter. „Auf Das, was Du wünschest, kommt es nicht an – der Hof wird nicht Dir übergeben, sondern Deinem jüngeren Bruder.“

Wolf stand, als ob ihn ein unerwartet schwerer Schlag vor die Stirn getroffen, der ihm die Besinnung raubte und die Gedanken wirbeln machte. Seine Brust hob sich krampfhaft; sein ganzer Körper erbebte, und seine Muskeln spannten sich, wie die eines Menschen, den man im Schlafe in Bande geschlagen und der sich erwachend vergeblich anstrengt, dieselben zu zerreißen. „Wie wär’ Das?“ stieß er mühsam hervor. „Nicht ich soll den Lindhamerhof kriegen, sondern der Bruder, der Dickl? … Vater, ist das wahr?“

Ein dumpfes kurzes Ja war die Antwort des Alten.

„Und warum, Vater, warum?“ rief Wolf bewegt, keuchend und beinahe lallend vor Zorn.

Die Gemüthsbewegung des Alten war nicht geringer, als die des Sohnes; er richtete sich an der Stuhllehne auf und mußte erst Athem holen, ehe er zu sprechen vermochte. „Warum?“ erwiderte er erst matt, dann aber mit immer steigender Kraft; es war klar, die widerstreitenden Mächte standen sich gegenüber, um den unterbrochenen Kampf um Sein und Nichtsein ihrer Eigenart zur vollen Entscheidung zu bringen. „Warum? Ich mein’, das brauch’ ich Dir nit erst zu sagen, wenn Du an Das denkst, was ich Dir erst gestern gesagt hab’ … Warum? Weil ich haben will, daß der Lindhamerhof nach meinem Hinend’ nit verludert und verthan wird, sondern bei Ehren bleiben soll, wie er alleweil gewesen ist. – Weil ich das nit erwarten kann von einem Burschen, der in der Erntezeit bei der dringendsten Arbeit faullenzt und davon geht, der den ganzen Tag mit lüderlichen Gesindel herumtrinkt und Eisenbahner und solches Gelichter zu seiner Gesellschaft hat. Von einem Burschen, der über Nacht aus dem Haus bleibt und im Bierkeller mit dem Krügelteller sammeln geht, wie ein Bettelmusikant, der Springern und Komödianten auf öffentlichem Jahrmarkt zu ihren Kunststücken aufspielt –, von einem Tagedieb, einem …“

„Vater,“ schrie Wolf ihn unterbrechend, „sag’ Das nit, was Dir auf der Zung’ sitzt – sprich das Wort nit aus! … ich vertrag’s nit’; ich kenn’ mich selber nimmer, wenn ich’s hör’ … ich weiß nit, was ich thu …“

„Dann will ich Dir’s sagen,“ fiel der Landrichter ein, „nichts wirst Du thun, Du kecker Bursche, als zuhören und auf Das, was man Dich fragt, Red’ und Antwort geben – Du stehst vor Gericht.“

„Red’ und Antwort geben?“ rief Wolf mit funkelnden Blicken. „Wer will mich zwingen, wenn ich’s nit thu? Wollen Sie mir den Proceß machen und mich ausfratscheln? Meinen Sie vielleicht, ich werd’s leugnen, was ich gethan hab’? Fallt mir nit ein! Meinen Sie, ich soll fein demüthig zum Kreuz kriechen und um schönes Wetter bitten? Ich denk’ nit dran. Ich mein’, es hätt’ wohl einen andern Ort gegeben, wo der Vater mit mir hätt’ reden können und mir das Alles vorhalten – und dort, dort hätt’ ich auch Red’ und Antwort gegeben; hier aber, vor Gericht, hab’ ich keine.“

„Es wird Mittel geben, die Dich reden machen,“ entgegnete der Landrichter. „Zuerst hast Du mir eine Frage zu beantworten. Du kennst nun die Absicht Deines Vaters; er ist Herr von Haus und Hof und kann damit schalten, wie er will, und sein Vorhaben auch unbeanstandet durchführen, aber es ist Brauch in der Gegend, ein rechtliches Herkommen aus uralter Zeit, daß immer der ältere Sohn Nachfolger auf dem Gute wird. Dieses Gewohnheitsrecht ist zu Deinen Gunsten. Du kannst Dich darauf berufen und Deinem Vater und mir gegenüber vor Gericht darauf bestehen, daß der Hof Dir als dem Aeltesten gehört. Erkläre Dich nun, wie Du gesonnen bist! Willst Du streiten – oder giebst Du Dich drein?“

In Wolf ging Unbeschreibliches vor.

Schmerz und Wuth rangen in ihm wie zwei sich begegnende Strömungen, aber wie ein Felsstück ragte aus ihnen der Trotz empor, der ihn seinem Vater so ähnlich machte und an dem jedes weichere Gefühl sich brach, daß er nichts so deutlich erkannte und so brennend empfand, als die Schmach, die der eigene Vater ihm angethan. Er sah ein, daß es nur einiger begütigenden Worte, eines warmen Entgegenkommens bedurfte, eines Zeichens der Nachgiebigkeit, um den Vater umzustimmen und seinen verhängnißvollen Entschluß zu hintertreiben; er war sich bewußt, daß er nur die innere Geschichte der gestrigen Ereignisse zu erzählen brauchte, um Alles in anderem Lichte erscheinen zu lassen, aber es war ihm unmöglich, das Eine oder das Andere zu thun. Hatte sein Vater es über sich gewonnen, ihm das Erbe, das ihm von Gottes und Rechts wegen gebührte, aus reiner Willkür zu entreißen, ihn gewissermaßen selber anzuklagen und vor Gott und Welt als einen verlornen Sohn, einen hoffnungslos aufgegebenen Menschen zu brandmarken, so war er viel zu stolz, um sich dagegen zu wehren und gegen ein solches schon vorher gefälltes Urtheil zu vertheidigen. Einer solchen Schwäche, einer so tiefen Herabwürdigung seiner selbst war er nicht fähig, und wenn es gegolten hätte, sich damit noch einen größeren Reichthum zu gewinnen, als den Lindhamerhof; es war ihm aber auch klar, daß das Opfer, selbst wenn er es seinem Stolze abzuringen vermocht hätte, dennoch ein vergebliches sein würde. Für ihn war kein Bleiben und Gedeihen mehr. Es war zweifellos, daß das Vorgefallene allgemein bekannt werden würde, und er hätte es nicht ertragen, sich vielleicht über die Achsel angesehen oder darum betrachtet zu wissen, daß er verstoßen und nur gegen Aufgebung seines eigenen Selbst wieder zu Gnaden aufgenommen worden sei. Er konnte keinem Menschen mehr gerade in’s Gesicht sehen; er mußte darauf gefaßt sein, daß die Leute hinter seinem Rücken einander anstießen und sich flüsternd seine Geschichte erzählten, oder mußte fürchten, daß der nächste beste Knecht, den er wegen einer Ungehörigkeit tadeln wollte, sich gegen ihn auflehnte und ihm sagte, daß er einmal in denselben Schuhen gestanden sei und ihm nichts vorzuwerfen habe. Der Riß, der durch alle seine Verhältnisse gethan war, kannte keine Heilung; zwischen ihm, den Seinen und der Heimath hatte sich ein Abgrund aufgethan, für den es weder Ausfüllung noch Brücke gab und der ihn für immer von seiner ganzen Vergangenheit schied.

Wie Blitze zuckten all diese Gedanken wirr und dennoch [418] tödtlich hell durch seine Seele; ihn denselben zu entreißen, bedurfte es einer wiederholten Frage des Landrichters, was er zu thun und welchen Bescheid er zu geben gedenke.

„Was kann ich wollen?“ entgegnete er dann mit höhnischer Gelassenheit. „Ich kann ja gar nichts wollen. Sie sagen ja selber, der Vater ist Herr im Haus und kann es machen, wie er will. Wenn der Vater in seinem Sinn findet, daß es so recht ist, werd’ ich gewiß nicht dawider streiten – dann ist es mir auch recht …“

Der Vater hatte der Antwort des Sohnes mit größter Spannung entgegengesehen; er hatte im Stillen wohl noch immer gehofft, daß die Nähe und Wucht des Schlages, der ihn treffen sollte, als ein starkes Heilmittel wirken und den Irrenden zur Besinnung und Umkehr bringen werde – statt dessen zeigte er eine fast an Unempfindlichkeit grenzende Stumpfheit, einen so grenzenlosen Leichtsinn, daß er sogar das reiche väterliche Besitzthum wie eine Kleinigkeit hingab, nur um sich nicht fügen und seiner lockern Lebensweise nicht entsagen zu müssen. Mit einem nicht völlig unterdrückten Seufzer sank er in den Stuhl, aus dem er sich wie wartend erhoben hatte, zurück. Ueber Dickl’s Angesicht, so sehr er sich Mühe gab, betrübt auszusehen, ging ein Flugfeuer tückischer Freude. Der Landrichter war auf’s Tiefste entrüstet; auch er hatte noch immer gehofft, Wolf werde im letzten Augenblick noch einlenken und die ganze Angelegenheit in das gewohnte und von Gesetz, Herkommen und Sitte ausgefahrene Geleise zurück gleiten; um so mehr empörte ihn ein solcher Grad leichtsinniger Verblendung, wie er in seiner ganzen Praxis ihm noch nicht vorgekommen. „Nun, das ist ja recht schön von dem jungen Herrn,“ rief er aus, „er macht uns ja die Verhandlung recht leicht. Da brauchen wir nur ein kleines Protokoll aufzunehmen, worin der Wolf seine Zustimmung zu dem Vorhaben seines Vaters erklärt und vielleicht Jemand zu seiner Vertretung bevollmächtigt – der Vertrag selber, der kann dann später aufgenommen werden.“

„Ja, das ist mir auch am liebsten, wenn wir’s so in der Geschwindigkeit und mit einem Male abmachen,“ entgegnete Wolf. „Der Rosenheimer Advocat soll Vollmacht von mir haben; der kann dann meine Sachen in Empfang nehmen und das, was mir gehört – heißt das,“ setzte er mit bitter höhnischem Auflachen hinzu, „wenn mir überhaupt etwas gehört.“

„Unverbesserlich,“ murmelte kopfschüttelnd der Landrichter, indem er die Klingel zog, den Schreiber herbeizurufen. „Ich glaube, er will noch obendrein seinen Spaß mit uns treiben … Dein Vater will Dir geben,“ fuhr er dann im Amtstone fort, „was er nach dem Gesetz Dir geben muß. Du erhältst Deinen Pflichttheil, aber erst nach seinem Tode; jetzt bekommst Du nur, was Du von Deiner Mutter hast. Du wirst wohl wissen, daß sie als Magd auf den Lindhamerhof gekommen ist und ihr Vermögen in einem Bündel mitgebracht hat.“

„Ja wohl weiß ich das,“ rief Wolf mit noch spotthafterem Gelächter; „da ist es ja ganz in der Ordnung, wenn der Sohn wieder mit einem Bündel hinaus wandert. Ich denk’, ich werd’ keinen starken Stecken dazu brauchen.“

„Unterbrich mich nicht!“ sagte der Landrichter barsch. „Dein Vater hat, als Deine Mutter starb, einem Jeden von Euch tausend Gulden Muttergeld ausgewiesen – die kannst Du jeden Augenblick erheben.“

„Das ist mir noch das Allerliebste,“ höhnte Wolf; „das langt gerade zu einem ordentlichen Reisgeld. Der Advocat soll’s erheben für mich; ich kann mich nicht aufhalten; ich muß heute noch fort.“

„Wie, Du willst fort?“ fragte der Landrichter mit einem Staunen, das an Entsetzen grenzte. „Willst Deine Heimath verlassen und gar nicht mehr auf den Lindhamerhof zurück?“

„Was hätt’ ich etwan noch dort zu thun?“ entgegnete Wolf. „Sollte ich mich wie ein Wunderthier anschauen und von den Ehhalten auslachen lassen oder den Knecht machen, wo ich der Herr sein sollt’? Ich hab’ keine Heimath mehr; ich geh’ in die weite Welt.“

„Bruder!“ rief hier Dickl dazwischen, dem es gerathen schien, sich nicht gänzlich stumm zu verhalten. „Bruder, das solltest Du nit thun. Bleib’ bei uns. Wir könnten uns ganz gut vertragen und leben wie die Engel im Himmel. Du glaubst gar nit, wie leid mir das ist, daß es so gegangen ist!“

„Du hast Recht, das glaub’ ich Dir wirklich nit,“ rief Wolf und griff lachend nach der Feder, die ihm der Schreiber, der inzwischen das Protokoll gefertigt, zur Unterzeichnung darbot. „Drum gieb Dir keine Müh’, Dickl – ich wünsch’ Dir alles Glück zum Lindhamerhof. So!“ setzte er dann hinzu, während er mit fester Hand unterschrieb, „b’hüt Dich Gott, Heimathl! Jetzt sind wir Zwei mit einander fertig. Und jetzt bin ich wohl zu End’ und kann gehen?“

„Ich halte Dich nicht,“ entgegnete geringschätzig der Landrichter; „wenn Du sonst nichts mehr da zu thun hast, bist Du frei wie der Vogel in der Luft.“

„Ja wohl, vogelfrei!“ lachte Wolf auf und wandte sich der Thür zu, blieb aber gleich nach den ersten Schritten stehen, um auf den Vater zurück zu blicken, der die ganze Verhandlung wortlos mit angehört und so viel wie möglich mit angesehen; er hatte die Regung voll Weichheit und Ergriffenheit, die ihn einen Augenblick angewandelt, mit trotziger Strenge niedergerungen, den Lehnstuhl zurück geschoben und stand nun wieder fest und hoch aufgerichtet da, ganz wieder der Herr und Gebieter, wie er Tags zuvor dem ungerathenen Haussohn gegenüber gestanden.

„Ob ich sonst noch ’was zu thun hab’?“ fragte Wolf zögernd und in weicherem Tone – „das kann ich nit sagen – es müßt’ nur sein, daß mir Jemand noch was mitzugeben hätt’ auf den Weg …“ Er schien einen Laut, eine Geberde des Abschiedes zu erwarten; der Alte aber that, als ob er es nicht gewahre, und wendete sich kalten Bluts gegen den Landrichter hin. „Jetzt wird das Unterschreiben wohl an mir sein,“ sagte er. Wolf wandte sich kurz ab und verließ das Zimmer, während der Alte unsichern Blicks und mit bebender Hand unterschrieb; der Landrichter, der ihm die rechte Stelle dazu bezeichnete, betrachtete dabei Wolf’s Unterschrift und rief: „Es ist trotz Allem und Allem ein merkwürdiger Bursche – eine Schrift hat er, die manchen Schulmeister zu Schanden machen würde.“ –

Wolf verließ des Schloßgebäude und eilte an der Kirche dahin, wo der Weg an einigen geringen Häusern vorüber unmittelbar in’s Freie führte. Zwischen den Fruchtäckern, auf denen der Wind schon über die Stoppeln ging, hatte er flüchtigen Schrittes bald die Waldspitze erreicht, nach der er sich schon am Morgen geflüchtet hatte, und warf sich an derselben Stelle nieder, die Zeuge seiner Kämpfe und Entschließungen gewesen. Wie reich, wie gehoben und kraftvoll war er von ihr weggeeilt, wie matt, gebeugt und arm kehrte er wieder – für die Ruhe und Zuversicht, die er mit hinweggenommen, brachte er neue Stürme zurück und neue Ungewißheit. Was sollte er nun beginnen? Er stand wie am Ursprung eines Quells, der, sich in mehrere Arme theilend, verschiedenen Landen und Geschicken entgegen zieht – der eine floß ruhig und gleichmäßig dahin zwischen bebautem Ackergelände und Mühlwerken, die er treiben mußte, und lud ihn ein, sich irgendwo als Oberknecht oder Baumeister zu verdingen und dort, wo man ihn nicht kannte, als Landmann ein stilles arbeitsames Leben zu führen – ein anderer murmelte und sprudelte mit fröhlichem Rauschen über Felsen hinunter durch abwechselndes Gartenland, mit Lusthäusern und einladenden Schenken an seinem Gestade, ein Bild des Lebens, das ihn erwarten mochte, wenn er, den Lockungen der schönen Tänzerin folgend, ein zielloses Wanderleben beginnen wollte – wieder ein anderer schlich sich in langsamen Windungen durch flachen, allmählich immer tiefer sinkenden feuchten Grund dahin, um zuletzt in den faulen stehenden Tümpeln eines Sumpfes zu verschwinden, auf dem nur nutzloses dürres Geröhricht raschelte – so konnte es kommen, wenn er die Genossen des vorigen Tages aufsuchte, mit ihnen in alltäglich gleichmäßiger Schlemmerei fort zu wirthschaften. Ueber den Vorgängen auf dem Jahrmarkte und bei Gericht war der Mittag lang vorübergegangen; die Sonne hing schon tief über den Hügeln und warf die Baumschatten immer länger auf den Rasen, aber Wolf war noch immer zu keinem andern Schlusse gekommen, als daß er zunächst nach Rosenheim hinein müsse, um dem Advocaten seine Angelegenheit zu übergeben; dahin kam er noch immer früh genug; auch war es schwer, sich von dem Orte loszureißen, denn zwischen den alten Tannenstämmen hindurch, über den tiefer liegenden Wipfeln und Sträuchern that sich eine weite Fernsicht auf und zeigte eine schöne Anhöhe mit einer Baumgruppe darauf,

[419]

Susanna, aus der Hochzeit des Figaro.
Nach dem Oelgemälde von Wilhelm Souchon in Weimar.


die nicht zu verkennen war. Es war, als ob der Lindenhain des Vaterhauses sich höher hebe und strecke, um dem scheidenden Sohne nachzusehen und ihn zu mahnen, auf daß er seiner nicht ganz vergessen solle. Und mitten aus den grünen Wipfeln schien eine Gestalt aufzutauchen, eine Gestalt mit Augen, die ihn wie bannend festhielten, wenn er sie auch zuletzt nicht anders als zürnend angesehen hatte.

Mit vergehenden Blicken starrte er nach der Anhöhe und auf die unten am Abhange hinziehende Landstraße hinaus; dann raffte er sich auf, um schärfer hinzusehen; wie aus dem Schlafe erwachend rieb er sich die Augen und glaubte zu träumen, denn die Gestalt, die er von ferne wie ein Wahnbild geschaut, war wirklich geworden und kam immer näher heran.

Es war kein Zweifel – die Straße her kam Th’res gegangen, langsamen Schrittes, oft innehaltend und zurückblickend, als suche sie Jemand.

(Fortsetzung folgt.)
[420]
Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
VIII.


Der Prophet war in Wetzlar nicht zu dem Berge gekommen, das heißt nicht zu dem hochaufgebauten Berge der Reichskammergerichtsakten: Lotte war ja davor gestanden, und da auch der Berg seinerseits sich nicht zu dem Propheten bemüht hatte, so kam der Wolfgang aus der Lahnstadt als derselbe Nichtjurist zurück, als welcher er vordem aus der Pleißestadt und der Rheinstadt zurückgekehrt war. Wie soll das Corpus Juris unter einer Gehirndecke Platz haben, wo ein Werther zum „Stern der dämmernden Nacht“ hinaufklagt und daneben verschiedene Unbände von Kraft- und Saftgeniestreichen herumrumoren? Etliche davon mußten auch heraus, wollten nicht länger innerhalb der dichterlichen Schädelwände eingesperrt bleiben, da half nichts, und die Kobolde haben, freigegeben, in ihrem jugendlichem Uebermuth mit Pritsche und Knittel (reim) nach rechts und links wacker dreingeschlagen. Das geschah in den Puppenspielen und Possen, welche Goethe, theils durch persönliche und lokale, theils durch literarische Bezüge angeregt, in der Zeit ausgehen ließ, welche zwischen seiner Heimkunft aus Wetzlar und seinem Abgang nach Weimar verstrich: – also in den Fastnachtsspielen „Pater Brei“ (gegen Leuchsenring, das heißt gegen die warmbrüderliche Anschmiegerei und Ränkelei gerichtet) und „Satyros oder der vergötterte Waldteufel“ (gegen Basedow, den kynischen Philanthropen und Pädagogen, oder gegen Heinse, den lüsternen Schwarmgeist, das heißt gegen die nebenbei nach Pöbelgunst lechzende Affektation des von Rousseau erphantasirten sogenannten Naturzustandes), ebenso in dem „moralisch-politischen“ Puppenspiel „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweiler“ (auf allerhand Kameelhöcker der übergestiegenen Aufklärerei wie der süßen Lammfrömmelei losschlagend) und in der Farce „Götter, Helden und Wieland“ (gegen den Dichter der Musarion, das heißt gegen die Verhunzung des Griechenthums durch Beimischung moderner Sentimentalität und gegen die wohlfeile Plattheit abstrakter Tugendlichkeit). Die derbste und tollste dieser Possen, „Hannswursts Hochzeit“ (mit Ursel Blondine), ein sehr bengelhafter Nachschößling der deutschen Fastnachtsspiele des fünfzehnten Jahrhunderts, wagte sich kluger Weise über den engeren Freundeskreis des Dichters nicht hinaus und fand auch später keine Aufnahme in die Gesammtwerke. Alle diese Feuerspeiteufel erregten natürlich ebenso viel Aergerniß als Ergötzen. Die Getroffenen und Gebrannten geiferten, schimpften und zeterten nach Noten, den feinen Wieland ausgenommen, welcher bei dieser Gelegenheit erwies, daß er doch trotz alledem der „Dichter der Grazien“ sei, indem er in seinem Deutschen Merkur das gegen ihn gerichtete goethe’sche Pasquill „allen Liebhabern der pasquinischen Manier als ein Meisterstück von Persiflage und sophistischem Witz“ zu empfehlen sich beeilte …

Also mit des Wolfgangs Rechtsanwaltschaft war und blieb es so, daß er Advocat hieß und Herr Johann Kaspar die Processe führte. Bei sothaner Arbeitstheilung der juristischen Praxis hatte der Herr Advocat ausreichende Zeit zum leben, lieben und lustigsein. Ließ es auch nicht daran fehlen, bewahre! und ließ sich sogar die Trennung von seiner ihm doch immerhin sehr lieben Schwester Kornelia, welche im Spätherbste von 1773 ihrem Gatten Schlosser nach Emmendingen folgte, um schon nach vierthalbjähriger nichtglücklicher Ehe zu sterben, nicht allzusehr anfechten. Hatte anderes zu thun, stand eben wieder einmal in Flammen, der gute Junge. Die „Max“ war ja jetzt in Frankfurt, vom ehrenwerthen Handelsherrn Peter Brentano im Januar von 1774 als Ehefrau in sein etwas dunkles und winkeliges Haus heimgeführt. „Die Max ist noch immer der Engel“ – schrieb Goethe – „der mit den simpelsten und werthesten Eigenschaften alle Herzen anzieht, und das Gefühl, das ich für sie habe, worin ihr Mann eine Ursache zur Eifersucht finden wird, macht nun das Glück meines Lebens.“ Frau Brentano war aber verständig, Herr Brentano war auch verständig, Herr Goethe war, nachdem er sich des Lotte- und Max-Feuerstoffes durch das Niederschreiben von Werthers Leiden entladen hatte, ebenfalls verständig und aus dieser dreifältigen Verständigkeit ergab sich das allgemeine Wohlgefallen einer dauerhaften Freundschaft. Unser Wolfgang hatte auch hierin Glück, wie noch in so vielem anderen. Denn der Weg von der Liebe zur Freundschaft ist unendlich viel schwieriger zurückzulegen als der umgekehrte. Es hat auf jenem schon mancher und manche nicht gerade den Hals, aber doch das Herz gebrochen.

Solche Fatalitäten überließ unser frisch und fröhlich wachsender und gedeihender Olympier den armen Sterblichen, welche kein Flügelroß Bellerophons aus dem Dunkel und Düster ihrer Herzensbedrängnisse in die heiteren Gestirnregionen künstlerischen Schaffens emporträgt. Und zudem erging es dem Wolfgang dazumal auch herunten auf der „nährenden Muttererde“ ganz erträglich. Ein Kreis von lieben Freunden und lieberen Freundinnen umgab ihn. Der originelle Rath Krespel war in diesem Kreise der Spiritus humoristicus, der Jugendkamerad Horn (seiner possirlich kleinen Figur halber „das Hörnchen“ genannt) hatte die Rolle der an Scherzen unerschöpflichen „lustigen Person“. Auch ein katholischer Prälat, Se. Hochwürden Damian Dumeitz, Dechant zu St. Leonhard, that unbefangen mit. Damals gab es nämlich noch vernünftige, helldenkende und liebenswürdige katholische Priester in deutschen Landen, Priester, welche zu leben und leben zu lassen verstanden. Die guten, gescheiden, fried- und duldsamen „Dicken“! Man wird ordentlich gerührt, so man jetzo ihrer gedenkt, vollends angesichts ihrer Nachfolger, der „Dünnen“ unserer Tage, und unwillkürlich wird in uns der Wunsch wach:

„Oh, ihr Dicken, steigt doch wieder lebend aus der Todesurne!
Doch mit altem, guten Magen! Werdet christliche Saturne
Und verschlingt den magern Nachwuchs! Oh, dann sind wir beider los;
Denn nicht lange mehr kann leben, wer solch’ gift’ge Kost genoß.“

Im Winter von 1773–74 war unserem Dichter das Dasein, wie er sich in einem Briefe an seine düsseldorfer Freundin Betti Jakobi ausdrückte, „recht raritätenkastenmäßig aufgeputzt“. Zu den vergnüglichsten „Raritäten“ gehörte auch das durch Klopstock in die Mode gebrachte und vom Wolfgang leidenschaftlich betriebene Schlittschuhlaufen. Einer seiner Läufe gab Veranlassung zu jener allerliebsten Scene, welche er im 16. Buche seiner Selbstbiographie beschrieb. Bettina hat im 2. Bande ihres angeblichen „Briefwechsels Goethe’s mit einem Kinde“ diese Scene in ihrer Art „aufgeputzt“, aber, wie man gestehen muß, recht hübsch. Sie behauptet, die Frau Aja habe ihr also erzählt: – „An einem hellen Wintermorgen, als ich Gäste hatte, schlug mir der Wolfgang vor, mit den Fremden an den Main zu fahren, indem er sagte: ‚Mutter, Sie hat mich ja noch nicht Schlittschuh fahren gesehen und das Wetter ist heut so schön!‘ – Ich zog meinen karmosinrothen Pelz an, der einen langen Schlepp hatte und vorn herunter mit goldenen Spangen zugemacht war, und so fahren wir hinaus. Da schleift mein Sohn herum, wie ein Pfeil zwischen den andern durch. Die Luft hatte ihm die Backen roth gemacht und der Puder war aus seinen braunen Haaren geflogen. Wie er nun den karmosinrothen Pelz sieht, kommt er herbei an die Kutsche und lacht mich ganz freundlich an. ‚Nun, was willst Du?‘ sagt’ ich. – ‚Ei, Mutter, Sie hat ja doch nicht kalt im Wagen; geb’ Sie mir Ihren Sammetrock!‘– ‚Du wirst ihn doch nicht gar anziehen wollen?‘ – ‚Freilich will ich ihn anziehen.‘ – Ich zieh’ halt meinen prächtig warmen Rock aus, er zieht ihn an, schlägt die Schleppe über den Arm und da fährt er hin wie ein Göttersohn auf dem Eise. Bettine, wenn Du ihn gesehen hättest! So was Schönes gibt’s nicht mehr! Ich klatschte in die Hände vor Lust. Mein Lebtag seh’ ich noch, wie er den einen Brückenbogen hinaus und den andern wieder herein lief und wie da der Wind ihm den Schlepp lang hintennach trug. Damals war Deine Mutter (die ‚Max‘) mit auf dem Eise; der wollt’ er gefallen.“ Sieht man da nicht die Frau Rath leibhaft vor sich, wie sie mit von Stolz und Zärtlichkeit leuchtendem Antlitz sich aus dem Kutschenschlage beugt und mit den Händen klatscht, um zu dem Jubellied ihres Mutterherzens über den „Göttersohn“ den Takt zu schlagen?

[421] An Gästen hat es von jetzt an im goethe’schen Hause nicht gefehlt. Die aufsteigende Ruhmessonne des Sohnes lockte von nah und fern seine Jugendgenossen an, ebenso wildfremde Wallfahrer zum Born des Genius, mitunter auch schmarotzendes Geziefer, das sich ja der Sonne ebenfalls freuen will. Von Jugendgenossen schwirrten zu und ab Leopold Wagner, ein Kraftgenie, das bald ausgekraftgeniet hatte, und Maximilian Klinger, dessen der ganzen Epoche ihren Namen gebendes Schauspiel „Sturm und Drang“ 1775 erschien. Die harte Lehrerin Noth hat ihn nachmals in ihre herbe Schule genommen und ihn zu einem Manne gemacht, der ohne Frage zu den bedeutendsten Charakteren seiner Zeit gehörte; schon darum, weil er unter der Uniform eines russischen Generals eine Menschenwürde und einen Stoicismus bewahrte, welche eines Republikaners der besten Zeit Roms würdig waren. Humorist Krespel hatte derweil ein neues Spiel angegeben, das Mariagespiel, allwobei je ein Männlein mit je einem Weiblein der Goethe-Gesellschaft auf Zeit zusammengegeben wurde, – in aller Unschuld und in allem Anstand, versteht sich. Diese Scherz-Ehen förderten die Munterkeit und den Zusammenhalt des Kreises nicht wenig. Zweimal war in dieser Ehestandslotterie das große Loos dem Wolfgang zugefallen, nämlich die hübsche, aufgeweckte, sechszehnjährige Anna Sibylla Münch, eines angesehenen Kaufmanns Tochter und in jedem Betracht eine „gute Partie“, so daß Herr Johann Kaspar und Frau Katharina Elisabeth es gar nicht ungern gesehen hätten, wenn der Herr Sohn aus dem Scherz einen Ernst gemacht haben würde. Aber der Herr Sohn, in welchem es dazumalen sehr heftig wertherte, ja, und auch faustete – wir werden bald mehr davon hören – hatte zum heiraten entschieden kein Talent. Seiner hübschen Scheinfrau Anna Sibylla that er indessen manches zu Liebe, unter anderem auch das Trauerspiel „Clavigo“, welches er, falls kein Gedächtnißfehler mitunterläuft, seiner eigenen Versicherung zufolge ihr zu gefallen binnen acht Tagen verfaßte. Es ist eine artige Geschichte. Caron de Beaumarchais, welcher zehn Jahre später (April 1784) seine vorweg losgelassene, mit Höllenfeuerkomik geladene Revolutionsbombe „Le mariage de Figaro“ auf die Bühne des Theatre Français schleuderte, war im Februar von 1774 das Opfer jener schnöden Rechtsbeugung geworden, welche die in Feuer getauchte Feder des Opfers aus einer Privatsache zur „cause de la nation“, ja zu einer europäischen Angelegenheit zu machen wußte. In allen gebildeten Kreisen sprach man von Beaumarchais und er verdiente diese Aufmerksamkeit als eine der abenteuerlichsten Charakterfiguren, welche über die Vorspielsbühne der französischen Revolutionstragödie gegangen sind.

Eines Tages hatte unser Wolfgang den Freunden und Freundinnen das vierte „Mémoire“ des quecksilbernen Parisers vorgelesen, worin dessen Reise nach Madrid und seine dortigen Verwickelungen mit dem Don Clavijo y Flaxardo erzählt sind. Nachdem man darüber hin- und hergesprochen, sagte Anna Sibylla zu ihrem angeloosten Ehegemahl:

„Wäre ich Deine Gebieterin und nicht blos Deine Frau, so würde ich Dich beauftragen, dieses Mémoire zu einem Schauspiele zu verarbeiten, wozu es mir ganz geeignet erscheint.“

Unser galanter Dichter alsogleich:

„Damit Du, meine Liebe, siehst, daß Gebieterin und Frau auch in einer Person vereinigt sein können, so verspreche ich Dir, heute über acht Tage das gewünschte Stück unserer Gesellschaft vorzulesen.“

Ob dieses Versprechen wörtlich erfüllt worden, wissen wir nicht; wohl aber, daß im Mai 1774 das Trauerspiel „Clavigo“ – denn Goethe hatte es angezeigt gefunden, der dramatischen Verwickelung eine tragische Wendung zu geben – in raschem Zuge niedergeschrieben wurde, so daß am 1. Juni der Dichter die Beendigung seiner Arbeit brieflich einem Freunde melden konnte. Ein anderes in Prosa geschriebenes Trauerspiel, „Stella“, dürfte wenigstens in seinen Anfängen ebenfalls in diese Zeit zu setzen sein, welche aller Herzensunruhen, Zerstreuungen und Wanderungen unseres Wolfgang’s ungeachtet eine Zeit vielseitigsten Empfangens und regsten Schaffens gewesen ist. Er schrieb damals das heitere Singspiel „Erwin und Elmire“ voll leichthinfließender Melodie, er versuchte sich im Balladentone („Der König von Thule“ – „Der untreue Knabe“), er stiftete mit tiefempfundener Pietät und den guten alten Knittelreim schön wiederum zu dichterischen Ehren bringend und literaturfähig machend dem trefflichen Meistersänger von Nürnberg ein unvergänglich Denkmal („Hanns Sachsens poetische Sendung“). Wenn Freund Merck den „Clavigo“ und die „Stella“ wirklich als „Quark“ bezeichnet hat, wie ihm Goethe nachsagt, so that er hinsichtlich des erstgenannten Drama’s entschieden unrecht. Der Clavigo ist sicherlich eines der bühnengerechtesten und wirksamsten deutschen Stücke und die Figur des Carlos einer der lebenswahrsten, in sich geschlossensten Charaktere, die jemals von einem deutschen Dramatiker geschaffen wurden. Zugleich mag man in diesem Charakter eine psychologisch-biographische Merkwürdigkeit erblicken, insofern derselbe deutlich darthut, daß in seinem Schöpfer doch schon zu dieser Zeit, inmitten von all dem Sturm und Drang, jener Weltverstand sich zu entwickeln begonnen hatte, welcher aus den Werken Goethe’s jeden Kenner und jede Kennerin von Welt und Menschen so sympathisch anspricht. Im Uebrigen hat der Dichter den Clavigo für eine Ergänzung der im Götz abgelegten Beichte seiner an Friederike Brion begangenen Sünde erklärt. Die „Stella“ geben wir preis. Es zucken darin wohl einzelne blendend prächtige Blitze der Leidenschaft auf, deren Naturwahrheit beweist, daß wir es auch hier mit einem Stücke goethe’scher Confession zu thun haben; aber das Ganze ist doch nur ein künstlich überwürztes Residuum der Wertherei und hat einen – einen – wie soll ich sagen? nun ja, einen mormonischen Beigeschmack.

Die schöpferische Hauptsorge unseres wachsenden Titans war jedoch zu dieser Zeit viel großartigeren Problemen zugekehrt, während er untergeordnetere so zu sagen spielend bewältigte und abthat. Den tragischen Stoff „Cäsar“, welcher, wie wir sahen, zu Straßburg ihm nahegetreten, ließ er fallen und hat auch denselben nie wieder aufgenommen; auch dann nicht, als ihm am 2. October 1808 Napoleon zu Erfurt sagte:

„Sie, Monsieur Goethe, sollten den Tod Cäsars auf eine vollwürdige Weise und großartiger als Voltaire schreiben. Das könnte die schönste Aufgabe Ihres Lebens werden. Die Tragödie müßte die Schule der Könige und der Völker sein; das ist das Höchste, was der Dichter erreichen kann.“

Goethe hatte aber schon um 1773–1774 zwar nicht klar erkannt, aber doch mit genialem Instinct herausgefühlt, was die „schönste Aufgabe“ seines Lebens sei – die Faust-Dichtung. Freilich hatte dieses Unternehmen dazumal noch für eine Weile die Concurrenz anderweitiger hochbedeutsamer Entwürfe zu bestehen. Denn es drängten sich gestaltungheischend zugleich auch der „Mohammed“, der „Prometheus“ und der „Ewige Jude“ an unseren Dichter heran – auch drei gewaltige Kerle, fürwahr.

Mit dem großen arabischen Propheten hat sich der Wolfgang am meisten eingelassen. Nur eine einzige Probe seiner dichterischen Beschäftigung mit diesem Stoffe gelangte zur Aufnahme in seine Werke: – „Mohammeds Gesang“ (unter die „Hymnen“ eingereiht), in welchem Monolog, wie mir scheint, der Stifter des Islam das Werden und Wachsen seines weltgeschichtlichen Werkes natursymbolisch weissagt. Weiter gediehen ist der goethe’sche „Prometheus“, auch in seiner fragmentarischen Gestalt verständlich genug als das weitaus kühnste Manifest, welches der Titanismus deutscher Sturm- und Drangzeit, das sich selbst erfassende menschliche Bewußtsein in seinem souveränsten Trotze rebellisch gen Himmel geschleudert hat. Der Protest gegen die Ueberlieferung spitzt sich zu ihrer schneidigsten Schärfe zu in dem Schlußmonolog des Gott-Titan, wie ihn Sophokles nennt, des „Feuerbringers“ Prometheus, und nicht allein an die Adresse des hellenischen Zeus ist das Trotzwort gerichtet:

„Ich Dich ehren? Wofür?
Hast Du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast Du die Thränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren – und deine?
Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei.
Zu leiden, zu weinen.
Zu genießen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten
Wie ich!“

[422] Wenn das goethe’sche Prometheusgedicht für ein culturgeschichtliches Document der in den siebenziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland eingetretenen Gährungsepoche anzusehen ist, so muß die gleichzeitig von unserem Dichter unternommene und ebenfalls nur fragmentarisch ausgeführte Ahasverdichtung als ein höchst wichtiges Actenstück zu seiner eigenen religiösen Entwickelungsgeschichte betrachtet werden. Schon in seinen Knabenjahren hatte er sich mittels fleißiger Volksbücherlesung die christliche Legende vom ewigen Juden fest eingeprägt. Jetzt ergriff er dieselbe, um sie zum poetischen Vehikel einer ebenso sehr pathetischen als auch polemischen Auseinandersetzung mit der kirchlichen Tradition zu machen. Er wollte die Figur des ewig wandernden Juden benutzen, um mittels der Ahasverabenteuer die wichtigsten Erscheinungen des religions- und kirchenhistorischen Processes dichterisch zu veranschaulichen, und er hoffte wohl auch, als Resultat seiner Bemühung „ein Christenthum zu seinem Privatgebrauche“ zu gewinnen. Der Ahasverustorso ist, wunderlich zu sagen, eine von Goethe’s im großen Publicum am wenigsten bekannten Dichtungen, und doch muß dieser Torso als eine seiner genialsten, ursprünglichsten, so recht als ein Nummer-Eins-Ding anerkannt werden. Der Eingang:

„Um Mitternacht wohl fang’ ich an,
Spring’ aus dem Bette wie ein Toller;
Nie war mein Busen seelenvoller,
Zu singen den gereisten Mann. …“

ist reines Kraftgenie, nicht minder die allerdings nicht gerade schmeichelhafte, jedoch naturgetreue Conterfeiung des Priesterthums: –

„Die Priester vor so vielen Jahren
Waren, als wie sie immer waren
Und wie ein jeder wird zuletzt,
Wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt.
War er vorher wie ein’ Ameis’ krabblig
Und wie ein Schlänglein schnell und zapplig,
Wird er hernach in Mantel und Kragen
In seinem Sessel sich wohlbehagen.
Und ich schwöre bei meinem Leben,
Hätte man Sanct Paulen ein Bisthum geben,
Poltrer wär’ worden ein fauler Bauch
Wie caeteri confratres auch.“

Ebenso klingt der kraftgeniale Ton vor in der Charakteristik des jerusalemischen Schusters, der „halb Essener, halb Methodist, Herrnhuter, mehr Separatist“, und dann in der Scene zwischen Gottvater und Gottsohn: –

„Der Vater saß auf seinem Thron,
Da rief er seinen lieben Sohn,
Mußt’ zwei- bis dreimal schreien.
Da kam der Sohn ganz überquer
Gestolpert über Sterne her
Und fragt, was zu befehlen?“

Der Vater hat zu befehlen, daß der Sohn zum zweitenmale zur Erde niedersteigen sollte, weil es da drunten wieder einmal ganz elend herginge und alles aus Rand und Band wäre. Du aber –

„Du hast ein menschenfreundlich Blut
Und hilfst Bedrängten gerne“ –

auf welche in ironischem Tone vorgebrachte Bemerkung der Sohn entgegnet:

„Du fühlst nicht, wie es mir durch Mark und Seele geht,
Wenn ein geängstet Herz bei mir um Rettung fleht,
Wenn ich den Sünder seh’ mit glühenden Thränen. …“

und damit wendet sich der Ton in’s Pathetische hinüber, zu einer herrlichen Schilderung des zweiten Herabkommens Christi. Auf der Spitze des Berges, auf welchem er vormals vom Satan versucht worden, hält er an und: –

„‚Wo,‘ rief der Heiland, ‚ist das Licht,
Das soll von meinem Wort entbronnen?
Weh’! und ich seh’ den Faden nicht,
Den ich so rein vom Himmel ’rab gesponnen.
Wo haben sich die Zeugen hingewandt.
Die treu aus meinem Blut entsprungen?
Und, ach, wohin der Geist, den ich gesandt?
Sein Weh’n, ich fühl’s, ist all verklungen!‘“

Von meisterlicher Kaustik ist dann wieder das letzte Bruchstück, wo Christus, nachdem er „der Länder satt, wo man so viele Kreuze hat“, in protestantische Gebiete und zu dem lutherischen Oberpfarrer kommt. Die Reformation kriegt da auch was ab: –

„Sie nahm den Pfaffen Hof und Haus,
Um wieder Pfaffen ’nein zu pflanzen,
Die nur in allem Grund der Sachen
Mehr schwätzen, weniger Grimassen machen.“

Mohammed, Prometheus und Ahasver mußten jedoch zurücktreten vor der einheimischen Sagengestalt des Doctor Faust. Diese war unserem Dichter ebenfalls schon von seinen Knabenjahren her bekannt und lieb aus dem Volksbuch, welches ja in seiner Vaterstadt Frankfurt im Jahre 1587 in ältester und echter Gestalt zum erstenmal gedruckt worden. An demselben Orte also, wo der ganze Sagenkreis, welcher sich im Verlaufe des sechszehnten Jahrhunderts um die abenteuerliche Figur des Wunderarztes aus Knittlingen in Schwaben hergelegt hatte, zuerst in literarischer Form in die Oeffentlichkeit gelangt war, dort stand der Dichter auf, welchem gegeben war, diesen deutschen Stoff zu einem universalen Kunstwerk, zu einem Weltgedichte zu gestalten, und zwar – ein Wort Gödeke’s zu entlehnen – mittelst der „Herausbildung des Einfachst-Menschlichen aus einem Wust mittelalterlicher Abenteuerlichkeit.“ Ich sagte mit Bedacht, zu einem „Weltgedicht“ habe Goethe die Faustsage gestaltet; denn es ist meine volle Ueberzeugung, daß dem goethe’schen Faust für das moderne Weltalter dieselbe Bedeutung zukommt, welche für das antike den homerischen Gesängen und für das mittelalterliche der göttlichen Komödie des Dante zukam.

Das Faust-Thema hat für einen richtigen Deutschen so viel Anziehendes, daß es nicht leicht, dasselbe nur im Vorübergehen zu berühren und nicht dabei zu verweilen. Wir aber dürfen uns trotzdem hier noch nicht dabei aufhalten, sondern müssen dies bis dann versparen, wann vom Abschluß und dem Erscheinen des ersten Theils der Faust-Dichtung zu handeln sein wird. Der faustischen Arbeit Goethe’s werden wir inzwischen freilich noch mehrmals zu gedenken haben. Zur Stunde jedoch ist es nur angezeigt, auf die Anfänge des eigentlichen Lebenswerkes unseres Dichters aufmerksam zu machen, eines Werkes, welches auch das Einzig-Eigenthümliche hat, daß es im stürmischen Saus und Braus der Jugend angehoben und im stillen Dämmerungsfrieden des höchsten Greisenalters beschlossen worden ist. … Die Einwirkung seiner frommen Freundin Klettenberg hatte, wie wir gesehen, den jungen Streber von Wolfgang zur Lesung von allerhand mystischen, alchymistischen und kabbalistischen Scharteken geführt und er war schon zu seiner straßburger Zeit im „Geisterreich“, das heißt in der vom antiken und mittelalterlichen Zauberglauben aufgebauten, eingerichteten und bevölkerten Phantasiewelt wohlbewandert. Ob ihn die Faustsage, wie einige wollen, in Gestalt des alten Puppenspiels schon in seinen Kinderjahren mit nachhaltiger Gewalt ergriffen habe, steht dahin. Aus der frankfurter Messe von 1773 sah er dies alte Marionettenstück wieder einmal tragiren und da scheint ihn allerdings das Thema so recht gepackt zu haben. Wir sind aber zu der Annahme berechtigt, daß er schon während seines Verweilens in Wetzlar nicht nur häufig faustisch gestimmt gewesen sei, sondern auch Faustdichtungsabsichten gehabt habe. Einer seiner wetzlarer Freunde nämlich war F. W. Gotter, welcher im Jahre 1770 gemeinsam mit Boie den ersten „Musenalmanach“, das Organ des göttinger „Hainbundes“, herausgegeben hatte. Diesem Freunde, der ihn mit den Hainbündlern und Musenalmanächlern in Beziehung brachte, mag der Dichter seinen Faustgedanken vertraut haben. Denn nachdem er zu Ostern 1773 ein Exemplar seines Götz mit einer, wie zu vermuthen steht, kraftgeniemäßig stilisirten Scherzepistel in Versen an Gotter geschickt hatte, antwortete dieser im gleichen Tone, theilte mit, daß seine „Epistel über Starkgeisterei“ in Wieland’s „Deutschem Merkur“ erscheinen werde, und schloß also:

„Du nächstens im Mercurius
Wirst finden was von meiner Mus’,
Und freut mich recht von Herzensgrund,
Wenn dir der Dreck gefallen kunnt’.
Schick’ mir dafür den Doctor Faust,
Sobald dein Kopf ihn ausgebraus’t.“

Mit dem „Ausbrausen“ ging es aber nicht so rasch, wie der gute Gotter wünschen mochte. Zunächst verlangte der Werther „ausgebraus’t“ zu werden. Doch fällt die Schaffung der Anfänge von Faust – also der das Gedicht eröffnende große Monolog des Helden und das daran sich knüpfende Gespräch mit dem [423] Famulus Wagner – gerade in die Wertherzeit. Im Sommer von 1774 sodann muß der Dichter fortgefaustet haben. Denn als im September Klopstock als Gast im goethe’schen Hause weilte, las ihm der Wolfgang, wie er uns selbst erzählt, die „neuesten“ Scenen des Faust vor. Von da ab ist die Arbeit an dem großen Werke bis zum Abgange des Dichters nach Weimar wohl nie wieder ganz ausgesetzt worden. Denn wir dürfen zuversichtlich glauben, daß der labyrinthische Lebenswirrwar und das peinvolle Herzenswirrsal, worein Goethe gerade jetzt durch seine Beziehungen zu Lavater, zu Basedow, zu Jakobi, zu den Stolbergen und zu dem Erbprinzen von Weimar, sowie durch seine Leidenschaft für Lili geworfen wurde, die Fauststimmung mächtig in ihm genährt und ihn zu zeitweiligen vulkanischen Ergüssen derselben getrieben haben.




Neueste Streiche des abessinischen Räuberfürsten.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.


Noch kein Jahr ist verflossen, seit ich den Lesern der Gartenlaube von dem erbaulichen Lebenslauf des abessinischen Räuberfürsten Aba Kaissi, Schwiegersohnes des berühmten deutschen Naturforschern Dr. Schimper, erzählte. Ich vermeinte damals so ungefähr das Ende dieses abenteuerlichen Lebens geschildert zu haben, denn zu der Zeit, welche der Schluß meiner Erzählung begriff, lebte ihr Held, hülflos und verlassen, nicht viel besser, als ein gemeiner Landstreicher, in den Bergen, mitten unter den Thieren des Waldes und schien alle Aussicht zu haben, dort elend zu Grunde zu gehen. Aber ein wahrer Abenteurer ist unberechenbar. In den acht Monaten, die verflossen sind, seit meine Leser zuletzt von Aba Kaissi gehört haben, hat dieser Tausendsasa schon wieder so viel Stoff für’s Erzählen abgegeben, daß man mit einigem Mühlbach’schen Talent daraus füglich einen historischen Roman machen könnte. Ich will jedoch den Leser mit solchen hochromantischen Ausschmückungen nicht langweilen, sondern ihm lediglich die Thatsachen mittheilen. Den Roman daraus wird er sich mit Leichtigkeit selber machen können.

Am Schluß meiner letzten Erzählung also lebte Aba Kaissi (zuweilen auch Käse ausgesprochen, wobei man aber nicht an das deutsche Wort denken darf), nachdem er in allen Gefechten geschlagen worden war, mit einigen wenigen Getreuen im Hochland von Abessinien. Die Bauern der umliegenden Dörfer hatten alle Furcht vor ihm verloren, und so konnte er keine Lebensmittel mehr erpressen. So blieb ihm also zum Lebensunterhalt nichts, als die Erzeugnisse der Jagd. Und was für einer Jagd! Der Jagd auf Löwen, Elephanten, Rhinocerosse, Panther, Leoparden. Aber, lieber Leser! Ich wünsche dir nicht, daß du jemals genöthigt würdest, vom Fleisch dieser Raubthiere zu leben. Die Jagd auf solche Thiere mag für den Liebhaber sehr angenehme Aufregungen mit sich bringen. Aber – leben kann man von ihr nicht. Das Fleisch dieser Herren des Waldes ist durchweg ungenießbar. Es ist so hart ungefähr wie altes Leder und so unverdaulich wie Schuhsohlen. Aba Kaissi hatte dies bald empfunden, und da ihm bei solcher Kost dauernd fortschreitende Abmagerung und schließlich ein elendes Ende bevorstand, so entschloß er sich, den Wald zu verlassen. Wo aber sollte er hingehen? In der ganzen Umgegend waren die Landleute so sehr gegen diesen Räuberhauptmann ergrimmt, daß sie ihn unfehlbar todtgeschlagen hätten, wenn anders sie die Macht dazu hatten. Daß sie aber nunmehr diese Macht bekommen hatten und daß der geringe Anhang des einstigen gefürchteten Räuberfürsten ihnen jetzt keinen großen Widerstand mehr zu leisten vermochte, davon glaubten sie überzeugt zu sein. Der Abenteurer selbst wagte es nicht mehr, den offenen Kampf aufzunehmen. Aber fort mußte er aus dem grausigen Walde und dazu bediente er sich einer List.

Diese List kam eigentlich nicht von ihm selbst, sondern von seiner bessern Hälfte, seiner Frau nämlich, die, wie sich der Leser erinnern wird, die Tochter eines Deutschen war. Unser Vaterland kann sich also rühmen, auf mittelbare Weise auch etwas zur Rettung Aba Kaissi’s beigetragen zu haben. Diese Tochter eines Deutschen, obgleich sie von ihrem Manne auf eine sehr wenig ritterliche Art entführt oder vielmehr geraubt worden war, hatte ihn doch lieben gelernt und war ihm so anhänglich, daß sie, kaum von seinem Unglück unterrichtet, ihn aufsuchte, um seine Gefahren zu theilen und ihn womöglich zu retten. Im Wald bei ihrem Gatten angekommen, sah sie ein, daß derselbe dort zu Grunde gehen würde, daß es aber für ihn noch gefährlicher sei, sich offen durch die Umgegend zu wagen. Sie schlug ihm deshalb eine Verkleidung vor. Man sagt, diese Verkleidung sei ganz einfach die gewesen, daß sie mit ihrem Mann den Anzug wechselte, daß also der fürchterliche Räuberhauptmann als Frau verkleidet das Gebirge verlassen hätte. Die Sache klingt etwas schwer glaublich, ist aber doch nicht unmöglich, denn Aba Kaissi konnte in der That so der Beachtung der Männerwelt gänzlich entgehen, wenn diese nicht vorbereitet war. Ein sehr häßliches Frauenzimmer schaut Niemand an, und Aba Kaissi soll in seinem Weibercostüm abschreckend genug ausgesehen haben. Wie dem auch sein mag, das Endergebniß war sein glückliches Entkommen mitten durch die von seinen Feinden bewohnten Dörfer.

Nun war er zwar frei, aber seines Bleibens konnte einstweilen in Abessinien nicht sein, da der König Kassa, der ihn besiegt und fast alle seine Anhänger theils hingerichtet, theils gefangen hatte, ein zu wachsames Auge auf seine Schritte gehabt hätte. Er entschloß sich also, auf ägyptisches Gebiet zu fliehen und zwar in die Hafenstadt Massaua, die zwar staatlich nicht mehr zu Abessinien gehört, aber örtlich ihm so nahe liegt und von so innig mit den Abessiniern verwandten Menschen bewohnt wird, daß ein Abessinier sich dort nicht in der Fremde fühlt. Indeß er irrte sich, wenn er glaubte, daß er dort wie ein gewöhnlicher Reisender würde leben können. Dazu war er viel zu berühmt. War doch Massaua voll von Anekdoten über den Räuberfürsten. Die ägyptische Regierung verweigerte ihm zwar die Gastfreundschaft nicht, aber sie gewährte sie ihm – im Gefängniß!

Indeß bald scheint diese Regierung zur Einsicht gekommen zu sein, daß ein so berühmter Mann mehr Rücksicht verdiene. Man beschloß also, ihm eine beschränkte Freiheit zu lassen, und begnügte sich damit, ihn in der Stadt zu interniren. Er bekam ein schönes, großes Haus als Wohnung angewiesen, das ich Ihnen Zimmer für Zimmer beschreiben könnte, denn ich habe es selbst im Jahre 1871 einige Monate lang bewohnt. Dort sammelten sich viele Abessinier um ihn, so daß er sich in kurzer Zeit von einem kleinen Hofstaat umgeben sah. Dieses gesammte Volk wurde von der ägyptischen Regierung ernährt und lebte herrlich und in Freuden, besonders da auch für geistige Getränke gesorgt war. Solche erhielt er zwar nicht von der Regierung, sondern von den Neugierigen aus der Stadt, die den Räuberfürsten gern von seinen Thaten erzählen hörten und wohl wußten, daß ein Abessinier nur im geistig (das heißt durch geistige Getränke) erregten Zustande gut erzählt. Auch das sämmtliche dunkelhäutige schöne Geschlecht von Massaua schwärmte für Aba Kaissi, und dieser war für solche Verehrung keineswegs unempfindlich. Die Frauen von Massaua sind gar nicht häßlich, ja vielleicht die schönsten unter allen Schwarzen. Ein Europäer freilich wird immer ein kleines Grauen vor ihnen empfinden, und zwar wegen der allzureichen und allzufetten Salbung und Oelung ihrer Haare und ihres Körpers. Die kleinen schwarzen Ringellocken, genau von der Form eines Pfropfenziehers, triefen oft dermaßen von flüssiger Butter, und diese Butter ist nach unsern Begriffen so wenig appetitlich, daß selbst die reizendsten Formen dieser butterbegossenen Schönen bei dem Europäer ihre Anziehungskraft verfehlen. Indeß Aba Kaissi hatte keine so feinen Nerven. Bald hatte eine oder die andere dieser schwarzen Schönheiten seine Gunst errungen, um die sich sehr viele bewarben, denn es kann einmal nicht in Abrede gestellt werden, daß ein Räuber für das zarte Geschlecht große Anziehungskraft besitzt, wahrscheinlich des Contrasts wegen, der darin liegt, daß derjenige, der für andere Menschen ein Tiger, für sie ein frommes Lamm ist. Welch ein Triumph für die weibliche Eitelkeit, einen solchen Tiger, sei es auch nur für wenige Stunden, gezähmt zu haben!

Damit hatte aber Aba Kaissi finstere Wolken am ehelichen [424] Himmel heraufbeschworen. Wäre seine Frau eine echte Abessinierin gewesen, sie würde sich wahrscheinlich in das Unvermeidliche gefügt haben; denn die Abessinier, obgleich Christen, sind doch sehr lax in ihren Ehebegriffen, und jede Abessinierin weiß, daß sie ihren Mann nicht für sich allein zu besitzen hoffen darf. Indeß seine Frau hatte im elterlichen Hause andere Begriffe empfangen und sie wollte es nicht dulden, daß man ihr Nebenbuhlerinnen gab. Sie ließ also ihrem Gatten die Wahl zwischen ihr und den andern, und da dieser undankbar genug war, die Vielheit der Einheit vorzuziehen, so schied sie sich von ihm, kehrte zu ihrem Vater zurück und, wie ich höre, soll sie jetzt schon an einen Andern verheirathet sein; eine echt abessinische Weise, Rache zu nehmen.

Nach dem Abzug der Gattin ließ Aba Kaissi völlig seinen Neigungen den Zügel schießen. Das Leben im Regierungshause wurde nun noch viel toller. In Saus und Braus, in steter ausgelassener Lustigkeit vergingen die Tage. Die Abessinier befanden sich sehr wohl dabei und wünschten nichts Besseres, als die stete Fortdauer dieses Jubels. Nur Einer fühlte sich nicht von diesem Schlaraffenleben befriedigt. Dieser Eine war Niemand anders, als Aba Kaissi selbst. So lange ihm dieses Leben neu war (und in seiner früheren Laufbahn hatte er niemals ähnliche Mußestunden feiern können), so lange hatte es einen Reiz auf ihn ausgeübt. Aber der echte Abenteurer vermag keine Ruhe zu ertragen. Lieber im Feld mit einem Stück trockenen Brod, das er sich noch dazu mit seinen Waffen erkämpfen muß, als üppig leben in der Stadt und nichts thun und keine Abenteuer bestehen. Ein Freund aus Massaua schrieb mir über Aba Kaissi’s Zustand, nachdem derselbe einige Monate in der Stadt gelebt hatte:

„Der Mann ist ganz melancholisch geworden. Er kann das civilisirte Leben offenbar nicht vertragen. Ihm, der acht Jahre in der Wildniß zugebracht hat, ist die Zimmerluft tödtlich, die Stadt viel zu enge. Tage lang sitzt er auf der Dachterrasse, schaut sehnsüchtig nach dem Festland (Massaua ist eine Insel), nach den Bergen Abessiniens und wünscht sich zurück in seine frühere aufregende Thätigkeit. Seine größte Klage ist die, daß er hier keine Beschäftigung in seinem Fache findet.“

Diese Klage lautet etwas naiv. Allerdings ist es schwer, einem Menschen, dessen Fach das Rebellenthum und der Raub ist, in einer wohlregierten Stadt „Beschäftigung in diesem Fache“ zu geben. Umsonst suchte man ihm vorzustellen, daß in dieser Beziehung das „Recht zur Arbeit“ nicht gelte. Er sehnte sich fort und plante und plante so lange, bis er endlich Mittel und Wege fand, zu entfliehen, denn freiwillig hätte die ägyptische Regierung diese Landesgeißel nicht wieder losgelassen. Indeß Aba Kaissi hielt seine Absicht vor der Regierung geheim. Als er diese daher eines Tages ersuchen ließ, ihm die Erlaubniß zu einer Spazierfahrt auf dem Meere, die er seiner Gesundheit wegen machen müsse, zu ertheilen, so gestattete man es ihm ohne Arges zu fürchten, besonders da die Schiffer in Massaua von der Behörde beeidigt und ganz in ihren Händen sind. Aber kaum auf offenem Meere, zwang er die Schiffer, ihre Richtung zu wechseln und ihn an einer unbesetzten Stelle der Küste zu landen. Er hatte nur einige Männer bei sich, aber entschlossene Kerle, und nebenbei gute Waffen und Munition, womit er sich so ganz in der Stille in Massaua versorgt hatte.

Kaum hatte man die Kunde von der Flucht des Räuberfürsten in der Stadt vernommen, als auch sehr kurze Zeit darauf schon die ersten Nachrichten von der wieder aufgenommenen „Beschäftigung in seinem Fache“ einliefen. Der erste Streich, von dem man Kunde erhielt, war spaßhaft. Dieser bestand nämlich darin, daß er einen Engländer, wie es hieß – beerbt hatte. Letzterer hatte einen längeren Jagdzug in’s Innere unternommen, sich aber dabei mit der seinen Landsleuten eigenen Nichtbeachtung des Klimas (was in England geht, das muß auch überall gehen) der tropischen Mittagssonne unvorsichtig ausgesetzt, und war am Sonnenstich gestorben. Die zahlreichen Effecten, die er bei sich gehabt, sollten nun nach Massaua zurückbefördert werden. Da kam aber Aba Kaissi herbei, wählte sich aus der „Erbschaft“ das, was ihm am besten gefiel, nämlich die Waffen, Munition und die geistigen Getränke, aus, und nahm sie mit sich. Das Andere, das heißt viele Conserven von Lebensmitteln, die der Europäer zwar sehr theuer bezahlt, aber der Abessinier gar nicht zu schätzen weiß, die Bücher, englischen Kleider und Instrumente ließ er als werthlos zurück.

Dadurch war ihm nun die Möglichkeit gegeben, wieder eine Menge verwegener Kerle zu werben und zu bewaffnen und bald sah er sich abermals an der Spitze eines kleinen Trupps, geringzählig zwar, aber wegen der europäischen Waffen, vor denen die Abessinier eine fast abergläubische Angst haben, desto mehr gefürchtet. Noch hatte er das ägyptische Gebiet nicht verlassen. Dies mußte er indeß schleunigst thun, denn die ägyptische Regierung versteht keinen Spaß mit Raubrebellen. Er wollte jedoch auch in diesem Gebiet ein Andenken hinterlassen, wahrscheinlich als Dank für die genossene Gastfreundschaft oder aus Rache für die ausgestandene Langweile.

An der ägyptisch-abessinischen Grenze lebte ein kleiner Fürst, dessen Vorfahren noch vor wenigen Menschenaltern unabhängig und mächtig waren, der aber jetzt von Aegypten mediatisirt worden und nicht viel mehr, als ein ägyptischer Beamter ist. Dieser Mann soll die Grenze bewachen, da man ihm jedoch nicht ganz traut, so hat man ihn nie so recht mit den modernen Waffen ausgestattet, wie sie die eigentliche ägyptische Armee besitzt. Er zählte zwar mehr Truppen, als Aba Kaissi, aber dieser war ihm an Bewaffnung überlegen. Es wurde ihm daher ein Leichtes, das Dorf des kleinen Herrn zu umzingeln und Alles dort in seine Gewalt zu bekommen. Er hatte es jedoch nur auf eines abgesehen, nämlich auf die Casse der Provinz, in welcher ganz beträchtliche Steuergelder niedergelegt waren. Diese nahm er natürlich in Besitz, gab aber dafür eine regelmäßige Quittung: „Empfangen als Steuerertrag im Namen des Vicekönigs von Aegypten, gezeichnet: Aba Kaissi“. Bald darauf zog er ab, nachdem er vorher noch den kleinen Fürsten seines langen Purpurgewands entkleidet und dieses mitgenommen hatte. Dieses Purpurgewand kenne ich auch von Ansehen. Es ist der einzige Rest aus der Machtzeit des kleinen Fürstengeschlechts und dem jetzigen Schattenfürsten als solcher doppelt theuer. Gemacht ist es wie ein ungeheuer weiter und langer Schlafrock, mit Schleppe und Goldstickereien, auch fürchterlich großen Knöpfen. Dieses Kleidungsstück entführte nun Aba Kaissi, einer übermüthigen Laune folgend, mit in die Wildniß. Indeß bald sah er die Zweckwidrigkeit eines solchen Schleppgewands in den Wäldern ein, und da er dem edlen Grundsatz huldigt, nur das zu nehmen, was er brauchen kann, so war er großmüthig genug, es zurückzuschicken, eine Handlung, wofür ihn der Besitzer noch heute segnet. Man sieht, Aba Kaissi hat auch seine guten Seiten, ebenso wie der Dieb, der eine Brieftasche zurückschickte, nachdem er die in derselben befindlichen Banknoten an sich genommen, „weil er zu zartfühlend sei, um die darin enthaltenen Privatbriefe zu lesen und sich in fremde Familienangelegenheiten zu mischen.“

Aba Kaissi drang nun wieder in das abessinische Gebirge ein, das sich, eine kurze Strecke von der Küste, bereits zu beträchtlicher Höhe erhebt. Wundervolle Bergesgipfel mit majestätischen Felszacken, tiefdunkle Wälder, eine reiche Pflanzen- und Thierwelt umgaben ihn. Indeß für Naturschönheiten hatte er diesmal wenig Sinn. Es lag ihm vor Allem daran, in seine alte Provinz zu kommen; denn nur dort hatte er unter dem Landvolke noch einen gewissen Anhang. Ueberall sonst waren ihm die Bauern feindlich. Dies sollte ihm indeß nicht gelingen; seine Provinz war in festen Händen und er hatte keine Aussicht, deren Statthalter zu vertreiben. So irrte er denn an der Grenze umher, war bald hier, bald dort, schweifte mitunter auch in benachbarte Landschaften und führte ein wilderes Räuberleben, als je. Unzählige Streiche werden aus den drei Monaten, die sein neuestes Räuberleben gedauert hat, von ihm erzählt. Sie gleichen jedoch im Ganzen sehr den schon beschriebenen und ich muß daher fürchten, bei ihrer Schilderung den Leser zu langweilen. Endlich ging ihm die Munition aus. Da kein Engländer mehr da war, den er „beerben“ konnte, so wurde es ihm sehr schwer, sie zu erneuern. Er stieg zwar oft in die Dörfer hernieder, suchte die Bauernhäuser auf, fand aber wenig Brauchbares. Da er dann seinem Aerger Luft ließ und die Bauern mit Bastonnade und anderen Süßigkeiten heimsuchte, so war bald die ganze Gegend gegen ihn in Waffen. Die Bauern wurden um so muthiger, als sie wußten, daß es ihm an Schießbedarf fehlte, und veranstalteten eine allgemeine Hetzjagd gegen den verhaßten Raubrebellen.

[425] Aba Kaissi sah sich in der schlimmsten Klemme. Auf der einen Seite die wüthenden Bauern, die ihn unfehlbar todtgeschlagen hätten, wäre er in ihre Hände gerathen, auf der andern die abessinische Regierung, gegen welche er so vielfache Sünden auf dem Herzen hatte. In dieser Verlegenheit entsann er sich des abessinischen Sprüchworts, „daß unter zwei Spitzbuben der große immer noch zuverlässiger ist als der kleine“. (In diesem anarchischen Lande pflegt man nämlich den Herrscher oft Spitzbube zu nennen.) Diesem Sprüchworte gemäß zu handeln entschloß er sich, stieg vom Berge herab, begab sich in die abessinische Hauptstadt und lieferte sich selbst der Regierung aus. Der Statthalter, der die Hauptstadt in Abwesenheit des auf einem Kriegszuge begriffenen Königs Kassa verwaltete, gerieth in nicht geringe Verlegenheit, als er den gefürchteten Raubrebellen plötzlich in sein Haus treten sah. Und wie trat dieser auf? Durchaus nicht etwa wie ein zerknirschter Sünder, sondern wie ein tapferer Haudegen, der sich seiner Verdienste bewußt ist. Auch kam er bis an die Zähne bewaffnet und begleitet von einem Dutzend ebenfalls von Waffen strotzender Spießgesellen, so daß es aussah, als wolle er den Statthalter überfallen, statt sich ihm vertrauungsvoll ausliefern. Seine Sprache war ebenso stolz, wie sein Auftreten.

„Ich komme,“ sagte er, „um mich der Gnade und Gerechtigkeit des Königs anzuvertrauen. Er kennt mich und weiß, welche Dienste ich ihm als Kriegsmann leisten kann. Wenn er seinen Thron befestigen will, so wird er meine Rebellion vergessen, mich gut aufnehmen und mich an die Spitze seiner Armee stellen.“

Der Statthalter war nicht berufen, das Wort des Königs im Voraus zu verpfänden. Er sah nur eine Nothwendigkeit ein, die nämlich, den Rebellen zu entwaffnen und gefangen zu setzen. Es war nicht leicht, ihn zur Uebergabe seines Säbels zu bewegen. Er lieferte ihn erst aus, als man alle seine Gefährten durch List von ihm entfernt hatte und er sich allein sah, stolz bis zum letzten Augenblicke seiner Freiheit. Diese sollte er gleich darauf verlieren, denn kaum war er entwaffnet, so ließ ihn der Statthalter in Ketten legen und in’s Gefängniß führen.

Dort sitzt er nun, da König Kassa, bei dessen Rückkehr sich sein Loos entscheiden wird, einstweiten noch nicht zurückgekommen ist. Was wird dieses Loos sein? Die Meisten glauben, der Tod. Aber Abessinien ist ein so unberechenbares Land, daß es ebenso gut möglich ist, daß Kassa ihm verzeiht und ihm ein Commando giebt, ja sogar, wie Aba Kaissi es selbst meinte, ihn an die Spitze seiner Armee stellt.



Meinem Zwillingsbruder.


Nicht nur daheim im Schatten deutscher Eichen, –
Im Lorbeerwald, vom blauen Meer umsungen,
Hat Thränen mir die Sehnsucht abgerungen,
Daß meine Worte Dich nicht mehr erreichen.

5
Herz meines Bruders, Echo sonder Gleichen,

Das meines Jugendtraums Erinnerungen,
Das all mein Glück und Hoffen nachgeklungen,
Welch’ einen Lenz sah ich mit Dir entweichen!

Den Kranz des Nachruhms will ich gerne missen;

10
In Einem nur rankt sich hinan mein Streben:

Gleich Dir, Verklärter, mich geliebt zu wissen.

Du warst das bess’re Theil von meinem Leben;
Der bitt’re Stachel ist dem Tod entrissen,
Wenn Sterben heißt: zu Dir empor zu schweben.

Wilhelm Buchholz.


Mein Stuben-Aquarium.

Wohl viele von unseren Lesern haben schon Abhandlungen über ein Aquarium gelesen, sind auch vielleicht im Besitze eines solchen, belehrende Unterhaltung gewährenden Glashauses, und darum wird es ihnen nicht ganz uninteressant sein, wenn ich hier über die Einrichtung meines Aquariums durch Wort und Bild einige Mittheilungen mache. Ich habe hinsichtlich der nutzbringenden technischen Anwendung vorzüglich denjenigen Leser im Auge, welcher von größeren Städten entfernt wohnt; denn nur dort findet man fertige Aquarien, sogar solche, welche ohne jegliche Einfassung ganz aus Glas bestehen. Die Aufgabe dieses kleinen Artikels ist nun die, durch einfache Angabe der Construction meines Glashauses Jedermann in den Stand zu setzen, die Anschaffung, beziehungsweise Anfertigung eines Aquariums zu bewerkstelligen. Es sind hierzu nur einige überall vertretene Handwerker nöthig.

Die Größe seines Aquariums möge der geneigte Leser nach eigenem Ermessen dem Standorte desselben anpassen. Um ihm jedoch einen ungefähren Ueberblick zu geben, theile ich demselben über mein Aquarium Folgendes mit:

Dasselbe ist ein viereckiger, mit 0,003 Meter dicken Glasscheiben versehener Kasten, von 0,54 Meter Länge, 0,38 Meter Breite, 0,33 Meter Höhe. Die Scheiben sind mit einer zierlichen Blecheinfassung, ähnlich der einer Laterne, versehen und ruhen unten auf einem angestrichenen, durch Löthung mit der äußern Blecheinfassung verbundenen Boden, auf dem zur größern Reinlichkeit und Solidität vermittelst rothem Mennigkittes ein Glasboden eingefügt ist. Dieselbe Verkittungsweise kommt überall in Anwendung, wo die Scheiben zusammenstoßen, doch so, daß erst die Kanten derselben mit Oelfarbe bestrichen werden, damit der Kitt haften kann. Ungefähr acht bis vierzehn Tage sind erforderlich zur völligen Trocknung; denn würde diese auf künstliche Weise beschleunigt, so würde das Gewicht des Wassers den Kitt lösen und alsdann das Wasser des Behälters fortwährend rinnen.

Der so construirte Glasbehälter ruht auf einem angestrichenen Holzboden mit Füßen, der mit 0,025 Meter hohen Holzkohlleisten, welche erstern fast umschließen, versehen ist, um das Rutschen beim Tragen des Aquariums zu verhindern. Der Blecheinfassung und dem Boden gebe man einen Anstrich nach Belieben; ich habe den einer grauen Steinfarbe gewählt.

Das Innere des Aquariums ist in zwei Hälften eingetheilt; die untere ist bis zur Höhe von 0,16 Meter mit Wasser gefüllt, wozu zwei Eimer desselben erforderlich sind. Der Boden dieses Wasserparterres besteht aus einer leichten Sandschicht von reinen Steinchen in mehreren Farben; hin und wieder erheben sich größere Steine und Schlacken von verschiedener Formation und Structur mit allerlei Höhlungen zum Schutz und Schirm der darin sich tummelnden Thierwelt, welche aus Fischen, mehreren Arten Wasserkäfern, den kleinsten wie den größten, und deren Larven besteht, worunter die Gattung dytisci mit ihrem dunkelgrünen, gelb umrandeten Halsschild und gelb gesäumten Flügeldecken, mit ihren borstenförmigen Fühlern und breitgedrückten, am Rande langbewimperten Hinterfüßen, die als Ruder zum Schwimmen dienen, einen höchst anziehenden Anblick, besonders im Sonnenscheine, gewähren.

[426] In der Mitte ist aus verschiedenen Steinarten und kleinen Muscheln vermittelst Cement ein Fels gebaut, welcher über den Wasserspiegel ragt. Ein mit Cement ausgekittetes cylinderähnliches Gefäß, das mittelst Bohrungen mit Löchern versehen ist, damit die Circulation des Wassers stattfinden kann, und welchem eine durchlöcherte, abnehmbare Blechkapsel als Deckel dient, auf welcher man auch ein Thermometer anbringen kann, verwende ich als abgeschlossenes Bassin. In seinem Innern birgt das so hergestellte Aquarium meist Libellen- und Wasserlarven, welche ich anfänglich im Bassin desselben unterbrachte; nach und nach aber wurde ihre beträchtliche Menge von den Fischen, hauptsächlich so lange sie noch klein waren, auf eine bedeutend kleinere Anzahl reducirt. Da diese Larven, je größer sie werden, wiederum den Fischen nachstellen, so kam ich auf den Gedanken, ein zweites Bassin im Hauptbehälter zu schaffen, um die Entwickelung der Larven beobachten zu können, bei welcher die Libellenlarven mit ihren merkwürdigen, den Kopf maskirenden Fangarmen, ähnlich einem Menschen, welcher sein Gesicht mit den Händen bedeckt, eine hervorragende Rolle spielen. So kommt oft in die Nähe einer solchen Libellenlarve, welche ahnungslos der Gefahr entgegengeht, eine andere kleinere Larve; diese enthüllt plötzlich ihr Gesicht, streckt die Fangarme nach ihrem Opfer weit vor und faßt es mit ihren nun erst sichtbaren scharfspitzigen Hackenzangen.

Auch die Schwimmkäfer und die Wasserwanzen stellen den kleinen Fischen und Kaulquappen nach; der Fleischfütterung der Käfer kann ich es nach meinen Beobachtungen nur zuschreiben, daß in den letzten sechs Wochen kein Fisch von denselben angefallen und verzehrt wurde, während anfänglich, ehe ich Fleisch reichte, wöchentlich fast zwei Fische den Räubern als Leckerbissen dienten. Regenwürmer, ein todter Frosch etc. sind ihnen willkommen; auch verachten sie gekochtes Rindfleisch, in kleinen Fasern in’s Wasser geworfen, durchaus nicht; die kleinen Wasserschnecken der Teiche aber ziehen sie allem Andern vor.

Dicht über dem Wasser befinden sich zu beiden Seiten Glasplatten, welche mit Moos, Steinen, Muscheln, Gräsern, Farren und Schlingpflanzen bedeckt sind. Die Platten ruhen hinten auf einem Blechvorsprunge der Einfassung, während sie vorn ihren Stützpunkt auf einem im Wasser mit Cement angebrachten Pfeiler in der Weise finden, daß sie zusammen vier Siebentel der Länge des Aquariums einnehmen, in der Mitte also drei Siebentel freier Raum für den Blick auf den Wasserspiegel bleibt.

Die Bevölkerung dieser „Gärten der Semiramis“ besteht aus Amphibien – richtiger noch Reptilien –, einer kleinen Gattung von Fröschen, Eidechsen etc., welche mit Fliegen gefüttert werden können, da ein Glasdeckel, in dessen Mitte sich ein Glasknopf als Handhabe befindet, das Aquarium verschließbar macht, doch so, daß die nöthige Luft zu allen Seiten freien Zutritt hat.

Eine Brücke, theils aus nicht zu schwerem Steingeschiebe, theils aus Baumrinde und knorrigen Wurzelästen erbaut und durch Cement zusammengehalten, stellt die Verbindung der beiden Landpartien dar. Dieselbe wird gern von den Thieren benutzt, es sei denn, daß ein Amphib in der Hitze des Kampfes entweder freiwillig den Wasserweg wählt, oder ihn wählen muß, um seiner Beute nachzuschleichen. Ein munteres Treiben beginnt in dem kleinen Weltall, besonders bei heiterm Wetter. Es ist interessant, zu beobachten, wie die Thiere auf dem Kampfplatze erscheinen und wieder von demselben verschwinden, mit welcher Lust und Raubgier der Bewohner des Wassers sowohl, als das theilweise Land-, theilweise Wassertier seiner Beute mit oft stieren, aber wie Edelgestein funkelnden Augen folgt.

Eine drollige und zugleich spannende Ueberraschung gewährt es, wenn eine Fliege sich einen Spaziergang über das Maul eines Frosches erlaubt, ohne von diesem im geringsten belästigt zu werden; sobald sie aber den Körper des Feindes verlassen hat, verfolgt dieser sie in Sprungweite und gewöhnlich wird sie ein Opfer ihrer Harmlosigkeit.

Des Abends verlassen die Wasserkäfer gern ihr Naß, kommen, durch den Schein der Lampe angezogen, auf’s grüne Ufer, zu oft nicht geringem Schrecken der Froschwelt, welche sich von rauher, borstiger Hand betastet fühlt, so daß es scheint, als wenn es selbst einem Frosche kalt über den Rücken laufen könnte. Zuweilen schwirren die Käfer, nachdem sie sich wie die Katzen geputzt haben, um sich der an ihren Füßen haftenden Wassertheilchen zu entledigen, so viel und lange es ihnen der beschränkte Raum gestattet, im Glashause umher, um in der nächsten Secunde, von der glatten Glaswand zurückgeworfen, im Wasser wieder ihr Heim zu finden, das sie als geübte Schwimmer nach allen Richtungen in der urbehaglichsten, ergötzlichsten, aber auch zugleich in der elegantesten Weise durchrudern, während der größere, mit keulenförmigen Fühlern versehene Kolbenwasserkäfer und alle anderen noch dieser Gattung angehörigen Käfer in gleicher, dem Auge wohlthuender Weise, doch hundemäßig schwimmend, das heißt einen Fuß um den andern bewegend, das nasse Element durchziehen. Alle diese Schwimmkäfer in der Größe von zwölf bis sechszehn Linien sind in ganz Deutschland verbreitet und in stehenden Gewässern zu finden, wo man sie vermittelst eines Schmetterlingsnetzes, am sichersten durch Ablassen eines Teiches fängt, in dessen Schlamm sie sich gern verbergen.

Anders wieder schwimmt der bedeutend kleinere Taumel- oder Drehkäfer. Ein ewig munterer Bursche, beschreibt er unaufhaltsam und unermüdlich mit Blitzesschnelle auf der Oberfläche des Wassers feine Kreise und Spiralen im tollen Gaukelspiel. Die wegen ihres eigenthümlichen Baues der Vorderbeine ihren Namen tragende Wasserscorpionwanze (Nepa grandis) und der höchst originelle abenteuerliche, oberhalb perlmutterähnlich glänzende gemeine Rückenschwimmer, gleichfalls eine Wanze (Notonecta glana), fehlt auch nicht. Das Auge wird nicht müde, seinen mehr stoßweise und auf dem Rücken ausgeführten Schwimmbewegungen zu folgen. Ja, wer gern Luftschlösser baut, jedoch an der Consistenz derselben zweifelt, hat Gelegenheit, im Aquarium, wenn auch ein kleines und bescheidenes, so doch ein wirklich existirendes Luftschloß, ein Luftschloß, welchem sogar der Firniß nicht fehlt, kennen zu lernen. Der Erbauer und Insasse, ein Lufticus im wahrsten Sinne des Wortes, ist die Wasserspinne (Argyroneta aquatica) wörtlich übersetzt „die Silberumflossene“, denn da sie fast nie das Wasser verläßt, so ist ihr Hinterleib von einer glänzenden Luftperle rund umschlossen. Bei Anlegung eines Nestes begiebt sie sich auf die Oberfläche des Wassers, sammelt vermittelst ihrer Spinnenwarzen Luft, läßt sich mit dieser, welche in Form einer zweiten Luftperle am Hintertheile hängt, wieder hinab und befestigt diese Perle an das Gezweig einer Wasserpflanze. Dies immer wiederholend, baut sie ihr Luftschloß, welches von einem außerordentlich feinen durchsichtigen Firniß überzogen ist und von feinen, aus Spinnstoff gesponnenen Fäden gehalten wird, bis zur Größe einer Wallnuß.

Das Gedeihen der Pflanzen- und Thierwelt erleidet in einem solcher Weise fest verschlossenen Aquarium keine Störung, da ein beständiger Austausch der nöthigen Luft stattfindet, auch durch die fortwährende Verdunstung der Pflanzen das nötige Wasser zugeführt wird. – Man wähle den Standort für’s Aquarium so, daß dasselbe nicht anhaltend der Sonne ausgesetzt ist, indem das Wachstum der Algen hierdurch begünstigt wird, welche anfänglich die Scheiben trüben, in weiterer Ausbildung dieselben mit grünen schleimigen Fäden überziehen und so, den Blick in’s Innere hemmend, ein öfteres, umständliches Reinigen des Gefäßes nöthig machen. Im Sommer ist das Wasser vielleicht alle drei bis vier Wochen, im Winter alle zwei bis drei Monate durch frisches und zwar Flußwasser zu ergänzen, indem man vermittelst eines Hebers das alte Wasser herauslaufen läßt, doch so, daß man am Ausflußende ein kleines Sieb (Schaumlöffel) placirt, um etwaige durchgeführte kleine Käfer nicht zu verlieren.

Der Hauptzweck dieser Zeilen war, den verehrten Leser nur anzuregen, durch Herstellung oder Erwerbung eines Aquariums sich angenehme, belehrende Stunden zu verschaffen. Wer weiter bauen, sich inniger mit der Herstellung, Erhaltung und zweckmäßigen Ausschmückung und Einrichtung eines Aquariums befassen will, findet einen nicht genug anzuempfehlenden Rathgeber in dem reich mit Illustrationen versehenen Buche: „Das Süßwasser-Aquarium. Eine Anleitung zur Herstellung und Pflege desselben von E. A. Roßmäßler. 2. Auflage. Ueberarbeitet von A. E. Brehm. Mit Titelbild und 53 in den Text gedruckten Holzschnitten. Leipzig, Hermann Mendelssohn. 1869.“

A...

[427]

Mein Stuben-Aquarium. Nach einer Skizze von A.... in D., auf Holz gezeichnet von E. Schmidt.

[428]
Vom Cultus der Küche.


„Gern möchte ich den fünfhundert Bänden meiner sämmtlichen Werke als letzten ein Kochbuch anreihen,“ pflegte Dumas der Vater gelegentlich zu äußern. Daß er ein famoser Esser war, ganz ebenso wie er als Erzähler seines Gleichen suchte, ja, daß er selbst als praktischer Magen- und Tafelphilosoph Erkleckliches leistete; daß er gewissermaßen instinctiv studirte, welche Nahrung höher angelegte Naturen erfordern, und schon in jungen Jahren die Rolle vollkommen begriff, die den Tafelfreuden im menschlichen Leben gebührt – das Alles wußten seine Freunde und Bekannten. Man wußte auch, wie er auf seinen mannigfaltigen Reisen mit Vorliebe die nationale Küche der verschiedenen Länder studirte und ausländische Gerichte in seinem eigenen Hauswesen einzubürgern suchte; trotz alledem hielt man indeß den obenangeführten Wunsch für einen bloßen Scherz des so gern phantasirenden Autors, und bisher hat Niemand nur einen Augenblick geglaubt, der unerschöpfliche Novellist werde seine literarische Wirksamkeit allen Ernstes mit einem Kochbuche abschließen, wenn es auch in Deutschland wiederholt geschehen ist, daß beliebte Schriftsteller, namentlich Novellisten, ihre küchenkünstlerischen Erfahrungen zu dergleichen Productionen beigetragen haben.

Und doch ist Dumas der Große in der That mit einem Werke über die Kochkunst von dem Schauplatz dieser schreibseligen Welt abgetreten: das „Dictionnaire de Cuisine ist es, welches er uns als Vermächtniß seiner rastlosen Feder hinterlassen hat. Zwei Jahre vor seinem Tode, im Sommer 1869, setzte er sich an die Arbeit, und im darauffolgenden März übergab er das vollendete Manuscript seinem Freunde und Verleger Alphonse Lemerre. Da kam der Krieg, bald auch die Belagerung von Paris, und so erklärt es sich, daß die Veröffentlichung des Buches auf sich warten ließ. Jetzt aber liegt das Opus vor uns, ein dickleibiger fünf Pfund schwerer und zwanzig Franken kostender Band, der an einzelnen Stellen wohl die Spuren fremder Hände aufweist, im Ganzen jedoch unverkennbar das Gepräge seines eigentlichen Urhebers trägt und jedenfalls nicht zu dessen schlechtesten Schöpfungen zählt. Man sieht, Dumas beherrscht das Gebiet vollkommen, auf welchem er sich hier bewegt, und ergeht sich darin so recht mit Behagen, während einzelne Geistesblitze und eine Fülle antiquarischer und geschichtlicher Belehrung das Buch auch für Den, der kein fachliches und praktisches Interesse daran nimmt, zu einer fesselnden Lectüre machen. Wenn wir seinen Inhalt deshalb in den nachstehenden Zeilen etwas näher betrachten, so glauben wir der Zustimmung unserer Leser uns versichert halten zu dürfen.

Dumas’ Wahlspruch lautet: „Der Mensch nährt sich nicht von dem, was er genießt, sondern von dem, was er verdaut.“ Von unserer Geburt an stehen wir unter dem Gesetze, täglich wenigstens drei Mal zu essen, damit wir die Kraft wieder ersetzen, die wir durch Arbeit oder, häufiger noch, durch Müßiggang verbrauchen. Welchem Lande und Volke der Mensch angehört, zu welchem religiösen Glauben oder Aberglauben er sich bekennt – Essen und Trinken bildet eine Hauptsorge für die civilisirte wie für die uncivilisirte Menschheit. Einzig und allein der gänzlich Wilde ißt aus reinem Hunger; der höher oder geringer civilisirte Mensch ist überall mehr oder weniger Feinschmecker.

Für den civilisirten Menschen aber ist Dumas’ Werk geschrieben; seinen Appetit soll es reizen und leiten. Der Appetit, dieses Kennzeichen der Cultur, ist, nach unserm Verfasser, dreierlei Art. Da haben wir den Appetit, den man nach längerem Fasten empfindet; er ist nicht wählerisch; jede Speisekarte hat seinen Beifall, ja, im Nothfalle macht er wohl keinen Unterschied zwischen einem Bissen rohen Fleisches und einem getrüffelten Fasan. Nach ihm kommt jener Appetit, der sich einstellt, wenn wir uns, ohne gerade hungrig zu sein, an eine wohlbestellte Tafel setzen; es ist derselbe, dem das französische Sprüchwort seine Entstehung verdankt „L’appétit vient en mangeant.“ Eine dritte Art von Appetit pflegt sich einzustellen, wenn etwa am Schlusse eines verschwenderischen Mahles, wo man sich bereits mehr als gesättigt und das Bedürfniß fühlt, vom Tische aufzustehen, als Ueberraschung noch eine besonders leckere Schüssel erscheint, deren Versuchung der feinere Gaumen nicht zu widerstehen vermag.

In den geringeren Speisehäusern und kleinen Gasthöfen Englands herrscht bekanntlich noch heute der Brauch, sich des Tischtuches als Serviette zu bedienen, eine Sitte, welche bei uns selbst in den Dorfschenken mehr und mehr außer Cours kommt. Im Alterthum war der Luxus einer Serviette Jahrhunderte hindurch eine ungeahnte Behaglichkeit; erst die späteren Griechen fügten dieses Raffinement ihren üppigen Tafelgenüssen hinzu, doch so, daß jeder der zu einem Gelage eingeladenen Gäste sich seine eigene Serviette mitbrachte, von denen manche über und über mit Gold bestickt war. Bei den Römern hatte man selbst unter den Kaisern im Allgemeinen noch keine Servietten; Alexander Severus betrachtete es als sein fürstliches Vorrecht, sich zu seinem ausschließlichen Gebrauche kleine Tücher von gestreifter Leinwand weben zu lassen, mit denen ihm eigens dazu angestellte Sclaven während der Mahlzeit die Hände reinigen mußten.

Welche Seltenheit vor der Entdeckung Amerikas durch Columbus und vor der Auffindung des Seewegs nach Ostindien durch Vasco de Gama die Gewürze ausmachten, wissen unsere Leser. Noch im dreizehnten Jahrhundert galten sie für eine so kostspielige Rarität, daß, als der Abt von Saint Gilles in Languedoc dem König Ludwig ein sehr dringendes Anliegen vorzutragen hatte, er sein Gesuch nicht besser unterstützen zu können glaubte, als durch Ueberreichung eines Bündels von Zimmt und Muscatnüssen. Nannte man doch die damals üblichen Geschenke an richterliche Beamte kurzweg „Epices“, und selbst heute ist dieses Wort in Frankreich noch nicht völlig außer Gebrauch gekommen. Der Pfeffer bildet erst seit etwa hundert und zwanzig Jahren im europäischen Abendlande einen gewöhnlichen Bestandtheil unserer Tafelausstattung. Vorher wurde er buchstäblich mit Gold aufgewogen. Specereihändler, welche das Glück gehabt hatten, einige Unzen davon zu erlangen, setzten mit nicht geringem Stolze auf ihr Ladenschild: „Epicier et Poivrier“ (Würzkrämer und Pfefferhändler).

Dumas neigt der Ansicht zu, daß die Gewürze als Reizmittel auf den menschlichen Geist einwirken, und meint allen Ernstes, Ariost, Tasso, Boccaccio, Titian und andere Herrscher im Reiche der Kunst und Poesie haben durch stark gewürzte Speisen ihre Phantasie zu befeuern gesucht. Gewiß sei, daß Leonardo da Vinci, Tintoretto, Paul Veronese, Guido Reni, Rafael etc. sich als Feinschmecker hervorgethan haben.

Zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, unter Ludwig dem Zwölften und Franz dem Ersten, hielt man, wie auch bei uns in Deutschland, seine Hauptmahlzeit um zehn Uhr Morgens und nahm um vier Uhr Nachmittags das Abendbrod ein. Hundert Jahre danach waren beide Mahlzeiten schon auf spätere Stunden verlegt; man dinirte um Mittag und soupirte um sieben Uhr Abends, wie dies in ehrsamen deutschen Bürgerhäusern noch heute der Fall zu sein pflegt. In vornehmen Familien verkündete meist ein Hornsignal den Beginn der jedesmaligen Mahlzeit. Daher der Ausdruck „Corner le dîner“, dem wir in älteren französischen Schriften begegnen. An einigen deutschen Fürstenhöfen wird noch heutigen Tags zum Diner „geblasen“, und es existiren mehrere Residenzen, wo zu diesem Behufe ein eigener „Hoftrompeter“ angestellt ist und entsprechend besoldet wird.

Den ersten Restaurant in Paris errichtete ein gewisser Boulanger in der Rue des Poulies um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ueber seiner Thür prangte die Inschrift: „Kommt Alle her, die Ihr kranken Magens seid, und ich werde Euch wieder herstellen!“ Die Erfindung der Restauration bezeichnet in Wahrheit einen großen Culturfortschritt. Die wenigen Gasthöfe, welche damals sogenannte Tables d’hôte hielten, verabreichten an Speisen nur das durchaus Nothwendige, um Leib und Seele nicht verkommen zu lassen; die Traiteurs oder Garköche aber verkauften blos ganze Kalbsschlegel oder Rinder- und Hammelkeulen. Der Gedanke jenes Boulanger, eine Anstalt in’s Leben zu rufen, wo man sich mit einem Freunde gütlich thun konnte, ohne einen ganzen Truthahn oder ein völliges Lendenstück zahlen zu müssen, war also genial, neu der Grundsatz [429] der Arbeitstheilung, auf die Thätigkeit von Zunge und Magen übertragen, geistreich die Idee, daß, während der eine Gast sich am Flügel des Capaunen labte, der andere seinen Appetit am Schenkel des Vogels befriedigen konnte. Als Vater des Restaurants, dieser Unentbehrlichkeit des modernen Lebens, zählt Boulanger somit zweifelsohne zu den vornehmsten Wohlthätern der Menschheit.

Die erste Revolution, die sonst so ziemlich alles Bestehende über den Haufen warf, wurde dem Restaurant zur mächtigsten Förderin. Die hochadeligen Herren hatten entweder auf dem Schaffote geendet oder lebten als Flüchtlinge im Exile. Was sollten jetzt ihre Köche und Haushofmeister anfangen, wenn diese nicht die Zeit begriffen hätten? Durch den Verlust ihrer Stellen plötzlich Demokraten und Menschenfreunde geworden, hatten sie nichts Eiligeres zu thun, als ihre Talente dem allgemeinen Besten zu widmen und Speisehäuser und Wirthstische für den „dritten Stand“ zu etabliren. Der Aristokrat saß ihnen dabei jedoch immer im Nacken. Nachdem im Jahre 1814 die Bourbonen wieder ihren Einzug in die Tuilerien gehalten hatten, schritt der bekannte Restaurateur Beauvilliers, eine Berühmtheit jener Tage, durch seine Speisesäle im Hofkleide und mit dem Degen an der Seite. Gegenwärtig besitzt keine Stadt der Erde so viele Restaurants wie Paris; nach ihm kommt San Francisco in Californien; erst in dritter Reihe stehen die großen Städte Chinas.

Aus dem bisher Mitgetheilten erhellt zur Genüge, daß Dumas kein eigentliches Kochbuch schreiben wollte; die Idee, welche ihm vorschwebte, war anderer Art und schwieriger auszuführen. Er gedachte der Menschheit ein Werk zu hinterlassen, das nicht nur dem praktischen Kochkünstler bei seinen verschiedenen technischen Proceduren zum Leitfaden dienen sollte, sondern das auch der gebildete Mann mit Interesse und Vergnügen lesen könnte, wie man sich in müßigen Stunden gern an einem leichten Geplauder auch über uns fernliegende Gegenstände ergötzt. Vor allen Dingen aber trug er eine Reform der Kochkunst im Herzen; sein Zweck ging dahin, eine gewissermaßen kosmopolitische Küche zu schaffen, die sich das Beste von den Nationalspeisen aller Völker und Länder aneignete.

So ist zum Beispiel in Spanien der Essig ohne jedweden entschiedenen Geschmack, das Oel dagegen meist scharf und ranzig, folglich Salat zu genießen für nichtspanische Gaumen fast eine Unmöglichkeit, obschon die trockene Hitze uns nach einem Mundvoll kühler Speise lechzen läßt. Da war es nun Dumas, der die glorreiche Entdeckung machte, das Oel durch den Dotter roher Eier und den Essig durch Citronensaft zu ersetzen. Diese Mischung, über zarten Lattich oder Rabunzel gegossen, gab zusammen mit Salz und Pfeffer einen vorzüglichen Salat, welchen sein unsterblicher Schöpfer schließlich jedem auf dem in Frankreich gebräuchlichen Wege bereiteten vorzog. Trotz alledem aber, trotz seiner ruhmvollen Erfindung ist Dumas der Ansicht, zu der sich auch Schreiber dieser Zeilen bekennt, daß grüner Salat im Grunde nur eine Verirrung des menschlichen Geschmackes bedeutet; ist er doch lediglich ein Product unserer Ueberfeinerung. Schon der Gedanke, einen wohlgebratenen und mit Rahm angesäuerten Rehrücken, einen saftigen Fasan oder ein gutgeröstetes Birkhuhn mit Salat zu essen, ist eine culinarische Ketzerei und Versündigung. Eine Schüssel verdirbt die andere. Wer echtes Haut-goût-Wildpret anders genießt, als in dem dem Fleische entquellenden Safte, – der hat auch noch nicht einmal das ABC der edlen Kunst ergründet, welche uns lehrt, wie wir uns mit wahrer Weisheit der Freude einer gut besetzten Tafel hingeben.

Noch schlimmer, geradezu eine culinarische Gottlosigkeit ist es, den Salat, dieses Mixtum Compositum, dessen Herstellung eines Arztes, mindestens eines Chemikers bedürfte, von Damenhänden bereiten zu lassen, wie dies leider an unseren feinsten Tafeln mehr und mehr zu geschehen pflegt. Einzig und allein Hausherr oder Hausfrau, vorausgesetzt, daß sie würdig sind, des heiligen Amtes zu warten, sollten sich, nach Dumas’ Meinung, mit der Zurüstung der Salatschüssel befassen, und zwar muß dieselbe eine Stunde vor Tische fertig gemacht, in dieser Zwischenzeit jedoch drei bis vier Mal von Grund aus umgewandt und umgerührt werden. Nur dergestalt erhält man einen Salat, der sich wenigstens nicht unter die höheren Grasgattungen zählen läßt.

Wohl nicht allen unsern Lesern dürfte bekannt sein, daß das Beefsteak – „Bifteck“ hat man es in Paris corrumpirt – das erste Bindemittel wurde zwischen den sich in den ersten Jahrzehnten des laufenden Jahrhunderts als Todfeinde gegenüberstehenden Engländern und Franzosen. Während die Heere der Verbündeten Frankreich besetzt hielten, nach dem Tage von Waterloo, erblickte das Bifteck das Licht der Pariser Sonne. Bis dahin hatte englische und französische Küche eine ganz ebenso weite Kluft geschieden, wie die Politik die beiden Völker, und nicht klein war anfangs der Schrecken, welcher sich der gutfranzösischen Gemüther bemächtigte, als sie gewahrten, wie das fremdländische Gewächs immer weiter und üppiger wucherte auf dem Boden des schönen Frankreich und endlich seinen Platz eroberte in den gefeiertsten Küchen der französischen Hauptstadt.

Noch immer unterscheidet sich das neue Bifteck indeß sehr wesentlich von seinem britischen Urbilde. Franzosen und auch wir Deutsche bereiten Beefsteak aus dem unteren Theile der Ochsenlende; der Brite nimmt dazu das Kreuzstück – Rump nennt er es –, das, so belehrt uns Dumas, jenseits des Canals ein viel zarteres Fleisch liefert als auf dem Continente, weil John Bull seine Rinder besser füttert und frühzeitiger schlachtet als die Franzosen und wir es mit den unsrigen thun.

„Der englische Koch,“ besagt unsere Quelle wörtlich, „schneidet das zum Beefsteak erlesene Fleisch in halbzollstarke Streifen, schlägt diese ein wenig breit und schmort sie in einer eigens zu solchem Behufe construirten eisernen Pfanne an Steinkohlen-, niemals an hellem Holzfeuer. Um nach und nach eine richtige Vorstellung vom echten britischen Rumpsteak zu gewinnen, versäume ich nie, es zu essen, so oft ich nach England komme, und jedes Mal schwelge ich darin mit neuem Vergnügen. Es ist unendlich viel schmackhafter als unser Filet, und wer es in seiner ganzen Vortrefflichkeit kennen lernen will, der muß eine der alten heimeligen Tavernen der Londoner City aufsuchen, wo man es mit Madeirasauce, mit Anschovisbutter oder mit saurer Brunnenkresse anzurichten pflegt. Hauste irgend eine Nation auf dem Erdenrunde, die in das Geheimniß eingeweiht wäre, wie man Pfeffergurken einzumachen hat, dorthin würde ich wandern, wollte ich einmal ein Beefsteak zu mir nehmen, wie es aufgetischt sein soll.“

Das Cotelette erreichte den höchsten Grad seiner Vollkommenheit unter Ludwig dem Achtzehnten, der auf die Zubereitung desselben die größte Kunst verwandte. Seine Cotelettes wurden nicht einfach auf dem Roste gebraten, sondern zwischen zwei anderen Cotelettes geschmort. Eigenhändig legte der Monarch das also kostbar bereitete Gericht auf die Schüssel, um auch nicht ein Atom von Duft und Brühe zu verlieren. Seine Krammetsvögel ließ er sich innerhalb mit Trüffeln gewürzter Rebhühner rösten, und ehe die Speisen auf die königliche Tafel kamen, hatte eine probirende Jury ihr Urtheil darüber zu fällen. Der Bibliothekar des französischen Instituts Petit-Radel fungirte als officieller Pfirsichenkoster und leistete als solcher in der That Unübertreffliches.

Daß Dumas in seinem Dictionnaire seinen persönlichen Neigungen und Abneigungen, seinen Vorurtheilen und Eigenheiten Ausdruck leiht, kann uns nicht Wunder nehmen. So erklärt er, was rheinische Leser sicher nicht begreifen werden, frischen Salm, wie man ihn am Rheine auf den Tisch bringe, für eine abscheuliche Speise. Kopf und Mittelstück des Fisches, meint er – und damit mögen unsere Auszüge aus dem interessanten Buche beschlossen sein –, müßten mit einer Auswahl feiner Gewürze garnirt und das Ganze dann in altem Hochheimer oder Rauenthaler gesotten werden. Die wackeren Rheinländer aber befolgten dieses Recept nimmermehr. Anstatt den Wein in den Fischkessel zu gießen, ließen sie ihn lieber durch ihre Gurgeln laufen – woran sie unserer und vieler Anderer Ansicht nach übrigens vollkommen recht thun.
H. Sch.



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Blätter und Blüthen.

Das Recht in der Volksschule. Vor einiger Zeit wohnte ich einer öffentlichen Kreisgerichtsverhandlung in einer mitteldeutschen Stadt bei. Es handelte sich um eine Anklage wegen Hausfriedensbruchs. Der Angeklagte, im Uebrigen ein gutbeleumundeter Handwerker, hatte einen Kunden gemahnt, war darüber mit demselben in Wortwechsel gerathen und trotz der Aufforderung des Andern, das Zimmer zu verlassen, noch mehrere Minuten in demselben geblieben. Der Angeklagte wurde zu acht Tagen Gefängniß oder zehn Thalern Geldstrafe verurtheilt. Das Gesetz gestattet dem Richter, bei Hausfriedensbruch bis zu drei Monaten oder zu hundert Thalern Geldstrafe zu erkennen. Das Interessanteste bei der ganzen Verhandlung war, daß der Angeklagte gar nicht das Bewußtsein hatte, eine strafbare Handlung begangen zu haben, und daß er auf’s Aeußerste überrascht war, als er hörte, daß die Handlung, die er begangen, indem er nach der Aufforderung des Andern, sich aus seinem Zimmer zu entfernen, geblieben war, den Inhalt eines vom Reichsstrafgesetzbuche bedrohten Vergehens bildete. Ebenso waren meine beiden Nachbarn auf der Zuhörertribüne, ein Bauer und ein Gewerbtreibender, überrascht, in jener Handlung ein Verbrechen zu entdecken.

„Ja,“ sagt der Bauer, „woher soll Unsereiner so etwas wissen? In der Schule erzählen sie uns wohl von König Jerobeam und von dem Propheten Jeremias, aber von Dem, was Rechtens ist, hört man nichts, und später kommt man nicht dazu, in den Gesetzen zu lesen.“

Die Anklage, welche in diesen Worten des schlichten Mannes gegen unsere heutige Schule lag, ist nur zu begründet.

Der Staat verlangt von seinen Bürgern, daß sie das Recht und die Gesetze kennen. Aus dem alten römischen Rechtsleben hat der moderne Staat den Satz mit herüber genommen: ignorantia juris nocet, das heißt: die Unkenntniß des Rechtes schadet. Niemand kann und darf sich mit Unkenntniß des Rechtes und der Gesetze entschuldigen, und mit Recht. Aber während das ignorantia juris nocet im alten Rom einen Sinn hatte und eine Berechtigung, steht bei uns die Sache ganz anders. Dort sprach der Prätor auf dem Forum öffentlich Recht, und der Bürger hatte Gelegenheit, das Recht aus der ersten Quelle kennen zu lernen. Der Prätor sprach Recht in einer Sprache, die Alle verstanden. Jeder Römer wußte, was ein Servitut, was usus fructus, was dolus oder culpa war. Wo lernt aber unser deutscher Bürger und Bauer, was Rechtens ist? In der Schule wird ihm nichts davon beigebracht, obwohl er dem Strafgesetz schon unterliegt, noch ehe er nach der Confirmation die Schule verläßt. Die Gesetze werden zwar im Gesetzblatte publicirt. Doch wie Wenige lesen die amtlichen Gesetzblätter und wie schwer wird manchem ungeübten Kopfe das Verständniß; wie Viele sind ferner gar nicht in der Lage, die Ausgaben für eine Gesetzsammlung zu bestreiten! Die Kenntniß des Privatrechtes ist für die große Volksmasse noch viel schwieriger zu erlangen. Kauf, Miethe, Pfandgeschäft, Cessionen kommen täglich vor. Aber die charakteristischen Merkmale eines Kaufes kennt der gewöhnliche Mann nicht. Ebensowenig hat er einen richtigen Begriff von Pfand- und anderen häufig vorkommenden Rechtsgeschäften. Die Folge dieser Unkenntniß ist überall zu beobachten. Es zeigt sich in Deutschland in allen Fragen des privatlichen, wie öffentlichen Rechtes eine Unsicherheit bei den großen Volksmassen, die vom politischen wie volkswirthschaftlichen Standpunkte aus zu beklagen ist. In keinem Lande giebt es so viele Advocaten, wie in Deutschland. Die Advocaten sind für die armen Rechtsunkundigen Das, was die Aerzte für die Kranken.

Die Rechtskenntnisse, die jetzt ein Mann aus den großen breiten Volksschichten besitzt, hat er sich rein zufällig erworben, durch die Lectüre einer Zeitung, durch eine Gerichtsversammlung, der er zufällig beiwohnte, durch einen gelegentlich gehörten Vortrag. Die civilrechtlichen Angelegenheiten werden übrigens bei uns nicht öffentlich und in der Mehrzahl der deutschen Staaten auch nicht mündlich verhandelt. Die Oeffentlichkeit und Mündlichkeit erstreckt sich ja blos auf das Strafverfahren.

Also trotzdem, daß weder die Schule, noch der Staat dafür sorgt, daß die Staatsangehörigen in dem, was Rechtens ist, unterrichtet werden, verlangt der Staat von dem Ungebildeten dieselbe stricte Erfüllung der Gesetze, die er von dem Gebildeten verlangt. Wird dadurch nicht eine Ungleichheit geschaffen, welche die Gleichheit vor dem Gesetz zum großen Theil und zwar zum Nachtheil der weniger gebildeten Volksclassen wieder aufhebt?

Ferner: Wir leben in Verfassungsstaaten, in constitutionellen Ländern. Das Volk ist durch die allgemeine Wahl berufen, an der Gesetzgebung durch die Wahl der Abgeordneten einen mittelbaren Antheil zu nehmen. Ist es da nicht eine Forderung des öffentlichen Wohls, wenn man verlangt, daß in der Volksschule den Kindern das Wesen des Verfassungsstaates klar und bündig dargelegt wird? daß der Schüler in der Schule einen Begriff von seinen zukünftigen Rechten und Pflichten als Staatsbürger erhält? Wie kann man verlangen, daß ein Staatsbürger das Bewußtsein seiner Rechte und Pflichten hat, wenn von Seiten des Staates absolut nichts geschieht, um ihm davon eine Kenntniß beizubringen? Wenn unser Volk Unterricht in der Gesetzeskunde in dem von mir hier angedeuteten Sinne erhalten würde, so würde es in mehr als einer Beziehung besser in Deutschland sein. Es würde eine größere Achtung vor dem Gesetze, aber auch ein viel stärkeres Selbstbewußtsein des Bürgers vorhanden sein. Ich meine, daß man diesen Unterrichtsgegenstand in dem letzten Schuljahre behandeln könnte und daß zwei Stunden wöchentlich für diesen Zweck genügen würden, unter der Voraussetzung, daß die Lehrer den Gegenstand beherrschen und ein zweckmäßiges Lehrbuch sie dabei unterstützt.

Wir haben einen kirchlichen oder religiösen Katechismus; warum sollen wir nicht auch einen politischen Katechismus für die Schulen haben, in welchem in leicht faßlicher Weise die Hauptmomente unseres rechtlichen und staatlichen Lebens dargestellt sind? Wir wollen die Volksschule nicht in juristische Collegia und die Schüler nicht in Studenten der Rechtswissenschaft verwandeln. Aber was wir verlangen können, das ist: den Schülern eine Vorstellung von dem Rechte, eine Darstellung der am häufigsten vorkommenden Rechtsgeschäfte, eine Erläuterung des Strafgesetzbuchs, respective der gewöhnlichsten Vergehen und Verbrechen und eine Auseinandersetzung über den Verfassungsstaat, wie über die Verfassung des deutschen Reichs und die Pflichten und Rechte der Staatsbürger in demselben zu geben.

Zu schwierig ist das jedenfalls für das Verständniß vierzehnjähriger Schüler nicht. Die dogmatischen Fragen, welche in unserem Katechismus enthalten, sind jedenfalls für das Verständniß viel schwieriger, als diese juristisch-politischen. Was ein Hausfriedensbruch oder was eine Verfassung in constitutionellem Sinne ist, läßt sich ohne Zweifel dem Schüler von dreizehn bis vierzehn Jahren leichter begreiflich machen, als die Trinitätslehre oder die Erbsündenlehre oder die Lehre von der Höllenfahrt Christi, von anderen noch bedenklicheren dogmatischen Fragen, die im Katechismus enthalten sind, ganz abgesehen.

Unsere Pädagogik ist in vielen Stücken äußerst conservativ und wandelt gern auf den alten Pfaden weiter. Neuerungen, zumal wenn sie von nicht zünftigen Pädagogen ausgehen, werden von ihr wie Träumereien, wie Phantasien betrachtet, die wohl im Reiche des Gedankens, aber nicht auf dem Boden der Wirklichkeit gedeihen können. Aber wir lassen uns dadurch nicht abschrecken. Wir halten die Pädagogik ebensowenig, wie andere Wissenschaften für ein Gebiet, das nur der betreten darf, welcher von Rechts wegen den Titel eines Lehrers erhalten hat. Wir meinen, daß in solchen Fragen allgemeiner Cultur auch Nichtzünftler ein Urtheil haben.

Indessen sollte es uns lieb sein, wenn die Männer vom Fach sich der Sache annehmen wollten. Ohne Zweifel würde die Angelegenheit dann früher aufhören, ein bloßer frommer Wunsch zu bleiben.
Karl Wartenburg.

Ein Triumph künstlerischer Schöpferkraft. (Zur Abbildung der „Susanne“, S. 419.) In das Leben zweier Geistesgrößen, des Franzosen Beaumarchais und des Deutschen Mozart, führt uns diese Susanne, die, wie ihr Bräutigam und Gatte Figaro, beider Väter unsterbliches Kind ist. Diese liebenswürdigen Gestalten wie die urkomischen eines Basilio und Bartolo sind dem Dichter so naturgetreu gerathen, daß kaum noch Jemand an ihrer realen Wesenheit zweifelt, ja daß sogar die Fremdenführer in Sevilla die Straße und das Haus zeigen, wo Figaro’s Wohnung gewesen sei. Die Reise um die Welt machten allerdings Figaro und seine reizende Susanne, weiland der Gräfin Almaviva Kammerkätzchen, nicht ohne den Vorspann der volksthümlichsten aller Künste, nicht ohne Mozart’s Musik. Mit ihr haben auch unsere Leser die Bekanntschaft dieser Susanne gemacht, die nun durch eine dritte, die bildende Kunst, als eine ewigjunge Lebensgenossin noch für viele Generationen hingezaubert ist. So schuf nun dieses Gebilde dreifache Freude: einst dem Dichter, wie jetzt dem Maler, und vor Allem Mozart, der einmal leuchtenden Auges ausrief: „Diese Oper ist mein Lieblingslied!“


Kleiner Briefkasten.

Georg D. in Meerane i. S. Die Buchstaben P. D. bedeuten: per deliquium. Der Ausdruck ist der Arzneikunde entnommen und bezeichnet „durch Zerlaß, an der Luft zerflossen“.

S. v. P. in Baden. Für Erzählungen der avisirten Art haben wir auf lange Zeit hinaus keine Verwendung.

J. R. in Göttingen. Nicht geeignet. Das Manuscript steht zu Ihrer Verfügung.

E. S. in B. Das Portrait unseres alten Freundes ist längst fertig und wird, wie Sie ganz richtig vermuthen, am Jahrestage seines Todes erscheinen.




Nicht zu übersehen.


Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.


In den nächsten Nummern des kommenden Quartals setzen wir die mit so großem Beifall aufgenommene Erzählung:

„Der Loder“ von Herman Schmid

fort und lassen später Novellen von Marlitt und E. Wichert folgen. Von den unterhaltend-belehrenden Artikeln, welche zum Druck vorliegen, heben wir vorläufig hervor: Eine böse Fee der Alpen. – An den Quellen der blauen Isar, von H. Noë. – Historische Stätten einer alten Reichsstadt. – Ein unbekannter Bekannter.

Leipzig, im Juni 1873.
Die Redaction.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.