Die Gartenlaube (1872)/Heft 5
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No. 5. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Brankow blickte überrascht auf, es war ihm gewesen, als ob ein gewisser Hohn in der Bemerkung Günther’s läge, aber er mußte sich wohl geirrt haben. Günther’s Gesicht zeigte sich unbeweglich, während sein Blick noch immer nicht den Gegenstand des Gespräches verließ.
„Sie scheinen sich für Pater Benedict zu interessiren,“ sagte der Baron artig, „wünschen Sie vielleicht näher mit ihm –“
„Ich danke!“ fiel ihm Günther rasch in’s Wort. „Ich stehe in gar keiner Beziehung zu den Herren des Stiftes, wie Sie ja wissen. Mir fiel nur dieser interessante Kopf auf, und dann eine flüchtige Aehnlichkeit – bemühen Sie sich nicht, Herr Baron!“
Er überließ Brankow einem so eben herantretenden Gaste und kehrte zu seiner Schwester zurück. „Also in’s Kloster haben sie den Knaben gesteckt!“ murmelte er bitter, „und dem Anschein nach einen vollständigen Fanatiker aus ihm gemacht. Ein meisterhafter Schluß des ganzen hochgräflichen Schurkenstreiches!“ –
Der Prälat und Graf Rhaneck mit seiner Familie brachen jetzt gleichzeitig auf, was wie gewöhnlich mit ziemlichem Geräusch und Aufsehen vor sich ging. Als die Brüder zusammen durch das Vorzimmer schritten, konnte der Graf nicht umhin, seinem lang verhaltenen Aerger wenigstens in einigen Worten Luft zu machen.
„Nun, Dein Schützling ist ja heut, Dank Deiner Auszeichnung und Deinem Beispiel, nichts mehr und nichts weniger gewesen, als der Held des Abends! Hast Du denn wirklich aus diesen plumpen, nichtssagenden Zügen irgend eine Gefährlichkeit herausgelesen?“
„Ja!“ sagte der Prälat kalt. „Der Mann ist gefährlich, ist es um so mehr, weil er unbedeutend erscheinen will. Er wird uns noch zu schaffen machen, verlaß Dich darauf!“
Die Gräfin, welche nur halb hingehört und nicht viel mehr verstanden hatte, als daß es sich um Günther handelte, verzog die schmalen Lippen.
„Mein Gott, es ist und bleibt doch ein entsetzlicher horreur, daß dieser Mensch, wie man sagt der Sohn eines Unterförsters, in unseren Kreisen erscheinen durfte!“
Der Prälat verneigte sich Abschied nehmend vor seiner Schwägerin, ohne ihr eine Antwort zu geben. Zu Gründen und Erklärungen ließ er sich ihr gegenüber nie herab, die Gräfin war in seinen Augen eine eben solche Null, wie in denen ihres Gemahls, eine Null, die man allerdings respectiren mußte, weil auch sie den Namen Rhaneck trug und ihm durch ihren Reichthum einen noch größeren Glanz verlieh. Auch hier mußte die äußere Form der Achtung alles ersetzen.
Kurz nach der Entfernung der gräflichen Familie verabschiedete sich auch Günther mit seiner Schwester. Die Fahrt nach Dobra ward meist schweigend zurückgelegt, Bernhard schien nicht zum Reden gestimmt, und Lucie, die sonst immer etwas zu fragen und zu plaudern hatte, war heut ausnahmsweise mit dieser Schweigsamkeit einverstanden. Tief in die Ecke des Wagens geschmiegt, zerdrückte sie achtlos den Flor und die Blumen ihres Anzuges, und fuhr verwundert empor, als sie in den Hof von Dobra einrollten, die Fahrt hatte ihr so kurz geschienen.
Zu Haus angelangt wollte das junge Mädchen dem Bruder gute Nacht sagen, als dieser sie mit einem kurzen „Ich habe mit Dir zu sprechen, Lucie!“ zurückhielt. Er nahm dem alten Diener, der ihnen folgte, das Licht aus der Hand und gab ihm einen Wink sich zu entfernen. Lucie stand erstaunt und befremdet da, aber sie sollte nicht lange in Zweifel bleiben, um was es sich handelte.
Bernhard trat an den Tisch, zog sie zu sich heran und wendete ihr Gesicht dem Lichte zu, so daß dessen voller Schein darauf fiel.
„Was ist zwischen Dir und dem Grafen Rhaneck vorgefallen?“ fragte er plötzlich.
Luciens Antlitz glühte wieder dunkel auf, wie vorhin im Ballsaal, als der Bruder ihr entgegentrat, und diesmal ergoß sich die heiße Röthe tief herab bis über Hals und Schultern; sie sah, daß sie dem gefürchteten Examen doch nicht mehr entrinnen konnte. Sie hob daher keck den Lockenkopf empor, setzte ihr Füßchen energisch um einen Schritt vorwärts und erklärte sehr determinirt:
„Er hat mir gesagt, daß er mich anbete!“
„Nach zweistündiger Bekanntschaft? Was man doch nicht alles wagt, einem sechszehnjährigen Mädchen gegenüber! Darf ich fragen, wo er Dir diese interessante Eröffnung gemacht hat?“
Das junge Mädchen zögerte.
„Du wirst antworten, Lucie! Du wirst mir auch nicht eine Sylbe von dem verschweigen, was zwischen dem Grafen und Dir gesprochen worden ist, hörst Du?“
Lucie sah aus, als wolle sie anfangen zu weinen; es war aber auch zu viel verlangt, daß sie ihr romantisches Geheimniß so auf Commando preisgeben sollte, noch dazu dem rücksichtslosen Bruder preisgeben, der sicher nicht das mindeste Verständniß dafür [70] besaß. Aber Bernhard duldete keine Weigerung, das wußte sie, und so ließ sie sich denn zögernd zu einem Geständniß herbei, als dessen Resultat schließlich eine vollständige Liebeserklärung des Grafen Ottfried herauskam.
Der Graf hatte ihr, schon als er das erste Mal mit ihr tanzte, eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit erwiesen, eine Aufmerksamkeit, die sich beim zweiten und dritten Male noch steigerte. Beim Beginn der Pause hatte er sie auf die Terrasse geführt, wie die anderen Herren ihre Damen auch, aber es so einzurichten gewußt, daß sie sich von den Uebrigen entfernten und durch die Orangerie vor deren Blicken gedeckt waren. Hier war er plötzlich vor ihr auf die Kniee gesunken – „auf beide Kniee, Bernhard!“ – und hatte ihr erklärt, daß er sie anbete, daß sie gleich beim ersten Anblick einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Herz gemacht, daß er nicht leben könne, ohne die Hoffnung, sie wiederzusehen, und verzweifeln werde, wenn mit dem Ende des Festes ihm diese Hoffnung genommen würde, darauf hatte er um eine Rose aus ihrem Haar gefleht, dieselbe an seine Lippen gedrückt – kurz, die Geschichte war so über alle Beschreibung romantisch, und Lucie so voll Entzücken über diese Romantik und über die Rolle, die sie selber darin gespielt, daß ihre anfängliche Scheu und Befangenheit bei der Erzählung sich in ein immer größeres Selbstbewußtsein verwandelte, und sie am Schluß derselben den Bruder mit dem vollsten Triumph anblickte. Es war doch wahrlich keine Kleinigkeit, gleich beim ersten Schritt, den sie in die Welt und die Gesellschaft that, einen jungen Grafen zu erobern, der vor ihr auf den Knieen lag und sie anbetete! Was wohl Bernhard dazu sagte? Ob er es noch versuchte, sie wieder in die Kinderstube zu schicken?
Bernhard sagte vorläufig gar nichts, er machte einige Male einen Gang durch das Zimmer und blieb endlich dicht vor ihr stehen. „Und was hast Du dem Grafen darauf geantwortet?“
„Ich sagte ihm, er brauche gar nicht zu verzweifeln, er könne ja nach Dobra kommen und uns besuchen, Du würdest gewiß – ja freilich, Bernhard!“ unterbrach sie sich auf einmal schmollend, „da wußte ich noch nicht, daß Du so ungezogen gegen ihn sein würdest, als es nachher der Fall war.“
„Ich fürchte, ich werde dem Herrn Grafen noch ungezogener erscheinen, wenn er wirklich hierherkommen sollte, woran ich zweifle. Ich würde mir seine Besuche ein für alle Mal verbitten, und Du würdest in diesem Falle auf Deinem Zimmer bleiben, und überhaupt nicht in seinen Gesichtskreis kommen.“
Lucie fuhr erschreckt und empört auf. „Ah Bernhard, das ist abscheulich! Wie kannst Du den Grafen so beleidigen, blos weil Du nun einmal Alles hassest, was vornehm ist, und weil es sich mit Deinen demokratischen Principien nicht verträgt, daß ich Gräfin Rhaneck werde!“
„Gräfin Rhaneck!“ wiederholte Bernhard langsam. „Ah so, Du meinst, der Graf habe Dir einen Heirathsantrag gemacht.“
Lucie hob das Auge zu ihm empor, noch funkelte die Entrüstung darin, aber daneben leuchtete auch noch die vollste Unbefangenheit des Kindes.
„Nun, er hat mir doch gesagt, daß er mich liebe, daß er ohne mich nicht leben könne! Was soll denn anderes damit gemeint sein?“
Der Bruder blickte tief in die blauen Kinderaugen des jungen Mädchens, und seine Stimme wurde unwillkürlich milder.
„Ich bezweifle, Lucie, daß der Graf gerade dies meinte. Doch gleichviel, für Dich kann nur dieser eine Fall in Betracht kommen. Du kennst Gott sei Dank noch keinen andern und sollst ihn auch nie kennen lernen, aber“ – hier nahm sein Ton plötzlich eine seltsame Härte an – „nimm Dich in Acht vor diesem Geschlechte, Kind, selbst wenn es Dir scheinbar ehrenhaft naht. Einem Rhaneck ist Alles möglich, selbst das, ein angetrautes Weib zu haben, das nicht Gräfin Rhaneck heißt!“
Betreten schaute Lucie ihn an, sie vermochte sich diese Worte nicht zu enträthseln, die Gräfin trug ja doch den Namen ihres Gemahls, wie es auch nicht anders möglich war.
„Kennst Du denn die Rhaneck’sche Familie näher?“ fragte sie erstaunt. „Ich dachte, Du sähest sie heute zum ersten Male.“
Bernhard gab keine Antwort; er schien jene übereilten Worte schon zu bereuen, langsam zog er die Schwester wieder zu sich und hob ihren Kopf empor.
„Höre mich an, Lucie, und vergiß nicht, daß ich jetzt im vollsten Ernste zu Dir spreche. Ich verbiete Dir hiermit jeden ferneren Verkehr mit dem Grafen, gleichviel ob er ihn mündlich oder schriftlich versucht, gleichviel wo und wie er sich Dir naht. Du sollst mit diesen Rhanecks nicht in Berührung kommen, ich will es nicht! Richte Dich danach.“
Es lag in der That ein furchtbarer Ernst in seinen Zügen und eine erschreckende Härte in seinem Ton, wie Lucie beides noch niemals an dem Bruder gesehen, aber sein despotisches Verbot, so ohne alle Angabe von Gründen, das wahrscheinlich jede Andere eingeschüchtert hätte, verfehlte hier ganz und gar seinen Zweck. In dem heißgerötheten Gesicht dieses „Kindes,“ war etwas von jenem trotzigen Blute, mit dem Bernhard einst seinen Platz in der Waldlichtung den Officieren gegenüber behauptet hatte, etwas von jenem Trotz, der dem so entschieden gebotenen „Du sollst nicht!“ ein ebenso entschiedenes „Ich will aber!“ entgegensetzte. Er beging einen verhängnißvollen Irrthum, als er wähnte, mit einem bloßen Machtspruch eine Sache beendigen zu können, die bereits die ganze Phantasie des jungen Mädchens beschäftigte und der er dadurch den gefährlichsten aller Reize lieh, den des Verbotenen. Es war trotz alledem seine Schwester, das vergaß er ganz und gar.
„Und nun geh’ schlafen, Kind!“ sagte er kalt und ließ ihre Hände los. „Bis morgen hast Du den Roman vergessen und Dich über das versagte Spielzeug getröstet. Suche Dir ein anderes, das weniger gefährlich ist und besser für Deine Jahre paßt. Gute Nacht!“
Er ging, Lucie verharrte in trotzigem Schweigen. Die Thränen, welche sich vorhin heiß und ungestüm ihr in’s Auge drängten, waren nicht hervorgebrochen, die letzten Worte des Bruders hatten sie getrocknet. Also man behandelte sie wirklich noch immer wie ein Kind, das mit einer Strafpredigt und einem Achselzucken über die begangene Unart zu Bett geschickt wird, sie, vor der Graf Ottfried auf den Knieen gelegen und um ihre Liebe gefleht hatte! Verboten sollte ihr diese Liebe werden, ein Spielzeug nannte man sie! Lucie vergaß völlig die räthselhaften Worte des Bruders, die „Gräfin Rhaneck“ war jetzt überhaupt für sie in den Hintergrund getreten, und im Vordergrunde stand der Trotz, die Empörung gegen Bernhard. Sie wollte sich dieser Tyrannei nicht geduldig fügen, wollte durchaus kein Opfer brüderlicher Hartherzigkeit sein, durchaus nicht! Und wenn der Graf sich ihr noch einmal nahte und auf’s Neue um ihre Hand bat, dann – sollte man sehen, daß sie auch einen Willen hatte, und sich nicht so ohne Weiteres „demokratischen Principien“ aufopfern ließ.
Mit diesem heroischen Entschluß ging Lucie endlich zur Ruhe, und schon nach wenigen Minuten machte die ungewohnte Ermüdung ihre Rechte geltend. Der Traum wob seine phantastischen Schleier dicht und dichter um sie, und führte sie zurück in das heute durchlebte Fest. Kerzenglanz und Musik und Tanzgewühl, und dazwischen die Gestalt Ottfried’s in der glänzenden Uniform, das Alles kreiste bunt und schattenhaft durcheinander, tauchte abwechselnd auf und verschwand wieder, und seltsam – über dem Allen schwebten die tiefen dunkeln Augen, denen sie heute zum zweiten Male in ihrem Leben begegnet war, schwebte das leise, leise quälende Weh, das sie unter jenem Blick empfunden. Sie blieben allein noch, als all’ die anderen Bilder um sie her versanken, das einzige, was sie mit herübernahm in den festen traumlosen Schlaf der Jugend.
Golden lag der Sonnenschein auf Berg und Thal, der Mittag sandte sein heißes glänzendes Licht weithin über die Erde, nur der Schatten des Waldes bot noch Kühlung und Schutz vor den sengenden Strahlen, in deren Gluth draußen Alles flimmerte und leuchtete. Auf einem der Seitenwege, die von Dobra aus hinein in die Forsten führten, flog Lucie Günther dahin; es war ihr freilich verboten, allein und ohne die schützende Begleitung ihrer Erzieherin sich so weit zu wagen, aber wann hätte Lucie je nach der Erlaubniß gefragt, wo es die Befriedigung einer augenblicklichen Laune galt! Ein so weiter Spaziergang lag allerdings nicht in ihrem Plane, sie war auf’s Feld hinausgegangen, um ihren Bruder abzuholen, und verspürte, als sie von den Arbeitern vernahm, daß er bereits fort sei, nicht die mindeste Lust, in der Mittagshitze sogleich wieder umzukehren, sie ging lieber in den
[71] Forst, vorläufig nur in der Absicht, am Rande desselben einige Blumen zu pflücken, aber dabei kam sie einen Schritt nach dem andern vorwärts, und gerieth endlich tief hinein.
Es liegt ein eigenthümlicher Zauber in der Waldeseinsamkeit, sie lockt und winkt unwiderstehlich, und wer sich ihr erst einmal hingegeben, den läßt sie sobald nicht wieder los. Auch Lucie unterlag diesem Zauber, sie liebte den Wald ja so leidenschaftlich, und heute rauschte er ihr so duftig kühl entgegen, es zog sie weiter und weiter, vorüber an stürzenden Bächen, an dunkeln Felswänden und dichtverschlungenem Gebüsch, immer weiter hinein in die grünen Tiefen, die sich endlos vor ihr aufthaten.
Länger als eine halbe Stunde war sie so vorwärts gelaufen, dem Fußpfade folgend, der sich vor ihr hinschlängelte, aber ohne im Ganzen viel auf Weg und Steg zu achten, da ward es auf einmal lichter um sie her, und aus den dichten Bäumen heraustretend, gewahrte sie eine jener stillen grünen Bergwiesen, wie sie der Wald oft in seinem tiefsten Schooße birgt. Die Felswand stieg hier plötzlich jäh und schroff empor und ragte weit hinaus über die Wipfel der Bäume, aber zu ihren Füßen schmiegte sich weicher grüner Rasenteppich, und über das dunkle Gestein rieselte es silberhell, ein Quellchen wand sich murmelnd und blinkend daraus hervor, und überall ringsum wehten und winkten die grünen Arme der Waldrebe, die in seltener Pracht und Fülle hier gedieh. Wie ein undurchdringliches Netz umflochten die dichten blätterreichen Ranken Bäume, Gesträuch und Felsgestein und erfüllten, mit Tausenden von weißen Blüten überdeckt, den ganzen Raum mit ihrem leise berauschenden Duft.
Es war ein lieblicher Ort zum Ausruhen, und Lucie beschloß, sofort davon Gebrauch zu machen, sie warf sich am Rande der Quelle nieder, lehnte den Kopf an die moosigen Steine, schloß die Augen, und fühlte mit kindischer Freude, wie die kühlen duftigen Ranken sich ihr auf die heiße Stirn und um die erhitzten Wangen legten.
Aber lange in dieser ruhig träumerischen Stellung auszuharren, lag nicht in dem Temperament des jungen Mädchens, schon nach wenigen Minuten richtete sie sich wieder empor, und da entdeckte sie denn etwas, was sich hier mitten im Walde allerdings seltsam genug ausnahm; nicht weit von ihr im Grase lag ein Buch, ein dicker, sehr verdächtig gelehrt aussehender Band, dessen Aeußeres hinreichend verrieth, daß er oft und viel benutzt wurde. Neugierig griff sie danach und schlug es auf, sie kannte zufällig den Titel, eben dies Buch war kürzlich Gegenstand eines heftigen Streites zwischen Fräulein Reich und ihrem Bruder gewesen, der es in seiner Bibliothek hatte. Franziska hatte die Lectüre eine „himmelschreiende“ genannt, Bernhard dagegen die Achseln gezuckt und ihr den Rath gegeben, das Werk doch einfach erst einmal zu lesen. Diese Zumuthung aber hatte das Fräulein mit vollster Entrüstung zurückgewiesen und ihn ersucht, sich doch gefälligst zu erinnern, daß sie eine christliche Pfarrerstochter und kein so ausgemachter Freigeist wie Herr Bernhard Günther auf Dobra sei. Lucie achtete sonst nicht viel auf dergleichen Gespräche, die sie nicht im mindesten interessirten; aber jetzt kam ihr doch eine dunkle Erinnerung daran und sie begann in dem Werke zu blättern, um womöglich das „Himmelschreiende“ herauszufinden, aber bald genug gab sie die Mühe auf. Weltgeist! Natur! Ursprung des Menschen! Gott, mit was für entsetzlichen Dingen füllten diese Männer nicht ihre Köpfe an! Fräulein Reich hatte ganz Recht, wenn sie eine solche Lectüre zurückwies, und ihr Zögling zerbrach sich nur den Kopf darüber, welcher ausgemachte Freigeist außer ihrem Bruder denn hier in der streng katholischen Umgegend lebe, der an solchen Studien Gefallen fand.
Sie hielt den Fund noch geöffnet in der Hand, als ein Schatten auf die hellen Blätter fiel, Lucie blickte auf und fuhr mit einem leisen Schrei des Entsetzens empor. Da stand er wieder vor ihr, der finstere Mönch, der unheimliche Pater Benedict, und sah sie mit seinen großen dunklen Augen an. Sie wich zurück, so weit als es die Felswand nur gestattete, die Linke griff wie Schutz suchend in die grünen Ranken, während sie mit der Rechten das Buch mechanisch an sich preßte. Sie wußte jetzt freilich, daß es nicht der Währwolf im Märchen war, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut, ein Geistlicher des Stiftes, aber das half alles nichts, es legte sich ihr genau so angstvoll und beklemmend auf’s Herz, wie das erste Mal. Hier war kein Entrinnen möglich, er stand ihr dicht gegenüber und jetzt öffnete er gar die Lippen zu einem Worte, jedenfalls so finster und feindselig, wie seine ganze Erscheinung war.
„Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Sie erschreckt habe, mein Fräulein! Ich kehrte um, etwas Vergessenes zu holen, Sie sahen mich nicht, als ich über die Wiese schritt.“
Es war das erste Mal, daß Lucie seine Stimme vernahm, sie athmete tief auf und ließ die Hände sinken. Die Stimme klang ganz anders, als sie geglaubt, es war ein weicher voller Klang, der sympathisch ihr Ohr berührte, und als sie etwas ermuthigt dadurch einen Blick in sein Gesicht wagte, da erschienen ihr auch die Augen ganz anders, als sonst. Sie blickten wohl noch ernst und düster auf sie hin, aber die unheimliche Gluth darin war gemildert, war tief zurückgedrängt. Luciens Angst begann zu weichen, sie machte allmählich der entgegengesetzten Empfindung Platz. Nichts lag dem Charakter des jungen Mädchens ferner, als eigentliche Furchtsamkeit; im Gegentheil, sie war meist nur allzu keck und übermüthig. Wie oft war sie lachend und spottend Dem entgegengetreten, was Anderen als eine Gefahr erschien; wie oft hatte sie dem drohenden Stirnrunzeln von Madame Schwarz und den Strafpredigten von Fräulein Reich die Stirn geboten, wie oft sogar dem Zorn des Bruders getrotzt, den doch ganz Dobra fürchtete; warum hatte denn nur dieser Mann allein auf der ganzen Welt die Macht, sie durch seinen bloßen Anblick schon zu schrecken und zu ängstigen? Der Zorn darüber wallte heiß in ihr empor, sie wollte sich nicht mehr schrecken lassen, sie wollte der lächerlichen Furcht Herr werden, um jeden Preis! Entschlossen gab sie ihre Vertheidigungsstellung auf, warf die Locken zurück und trat einen Schritt vorwärts.
Jetzt erst bemerkte Benedict das Buch, das sie noch immer festhielt, und etwas, das beinahe einem Lächeln glich, flog über seine Züge.
„Was soll denn Spinoza in Ihren Händen?“ fragte er halb mitleidig, halb vorwurfsvoll, „für Sie passen doch solche Schriften sicher nicht!“
Er hätte Luciens heroischen Entschluß nicht wirksamer unterstützen können, als durch diese Bemerkung; wo ihr kindisches Selbstgefühl verletzt ward, trat für sie alles Andere in den Hintergrund. Sie fand sich tief gekränkt durch diese Worte, sie klangen aber auch gar zu mitleidig herablassend, ihr Zorn schlug in hellen Flammen auf, und ihm den Vorwurf sofort zurückgebend, entgegnete sie sehr entschieden:
„Nun, für Sie paßt das Buch doch wohl noch viel weniger!“
Benedict wich einen Schritt zurück bei diesem ganz unerwarteten Ausfall und sah sie halb erstaunt an. „Weshalb?“ fragte er endlich.
„Weil Sie ein Mönch sind!“ erklärte Lucie, genau den verächtlichen Nachdruck auf das Wort legend, mit dem ihr Bruder es auszusprechen pflegte.
Benedict zuckte leise zusammen. Fort war auf einmal der mildere Ausdruck der Züge, der alte Schatten und die alte Feindseligkeit standen wieder drohend dort und auch die Stimme hatte den weichen sympathischen Klang verloren, als er finster fragte:
„Sie verachten wohl die Mönche recht sehr?“
Lucie fühlte unklar, daß sie mit ihrem Worte irgend eine dunkle Tiefe aufgerissen, die besser verschlossen geblieben wäre, aber sie kämpfte schon wieder gegen die alte Angst an, die sich auf’s Neue zu regen begann, und in ihrem Widerstande dagegen ging sie schleunigst in’s Extrem über, und reizte nun selbst den Gefürchteten nach Kräften.
„Ich mag sie auch nicht!“ erklärte sie mit der ganzen Freiheit und der ganzen Unart eines Kindes, „und ich kann überhaupt nicht begreifen, wie ein Mensch es vermag, sich sein Leben lang im Kloster einzusperren und seine Zeit immer nur mit Beten und Büßen hinzubringen, während draußen die Welt so schön ist!“
Benedict lächelte wieder, diesmal aber lag eine unendliche Bitterkeit in seinem Lächeln.
„Sie können es auch nicht begreifen, weil Sie in Freiheit erzogen und aufgewachsen sind. Hätte man Sie schon als Kind mit Leib und Seele in die Gewalt der Priester gegeben, so wären Sie auch in’s Kloster gegangen. Ich sage Ihnen, Sie hätten es gethan!“ wiederholte er nachdrücklicher, als sie eine heftige Bewegung machte, „unter der eisernen Zuchtruthe bricht jeder Trotz [72] und jede Willenskraft, unter ihr lernt sich Alles, und wenn es auch dem ganzen Wesen des Menschen im tiefsten Innern widerstrebt!“
Es bebte wie dumpfer, mühsam verhaltener Groll aus diesen Worten, aber Lucie geriet förmlich außer sich darüber. Ihr zu sagen, sie wäre auch in’s Kloster gegangen! Der Mann schien eine ganz eigenthümliche Vorstellung von seiner priesterlichen Gewalt zu haben, am Ende versuchte er noch gar, die „Zuchtruthe“ auch gegen sie geltend zu machen, sie erwartete nichts Geringeres, als einen vollständigen Bekehrungsversuch.
Aber nichts dergleichen erfolgte. „Wollen Sie mir jetzt mein Eigenthum zurückgeben?“ fragte Benedict nach einer augenblicklichen Pause wieder vollkommen ruhig.
Stumm reichte ihm Lucie das Buch hin, dabei berührte seine Hand einen Moment lang die ihrige, sie zuckte unwillkürlich zurück, er bemerkte es.
„Sie fürchten sich vor mir?“ fragte er leise.
Das junge Mädchen antwortete nicht.
Benedict trat rasch einige Schritte zurück, so daß ein weiterer Raum zwischen ihnen blieb; das eben noch geforderte Buch fiel unbeachtet zu Boden.
„Sie brauchen mich doch wahrlich nicht zu fürchten!“ sagte er bitter. „Ich werde selten genug in Ihren Gesichtskreis kommen. Ein so frohes, sinniges Schmetterlingsdasein und meine Bahn, die liegen allzuweit von einander – hoffentlich berühren sie sich nie!“
Das war doch nun entsetzlich beleidigend und rücksichtslos! Als ob Lucie diese Begegnung gesucht oder gewünscht hätte, als ob sie sie nicht noch ängstlicher mied als der Herr Pater, der so entschieden hoffte, mit ihr nie wieder in Berührung zu kommen! Das war ihr allzuviel, sie brach in vollste Heftigkeit aus.
„Ja, das hoffe ich gleichfalls! Ich weiß ja, daß Sie Alles hassen, was Freude und Sonnenschein heißt, und daß Sie vor allen Dingen mich hassen, ich habe es deutlich genug gesehen!“
Eine tiefe Gluth überdeckte auf einmal Benedict’s Züge, während er den Blick fest auf sie richtete.
„Wo haben Sie das gesehen?“
„Vorgestern auf dem Feste des Baron Brankow! O, und ich nicht allein!“ Lucie war jetzt einmal im Zuge, und nun fiel es ihr auch nicht ein, sich noch irgend einen Zwang aufzuerlegen. „Graf Rhaneck hat es auch bemerkt, wie feindselig Sie uns im Tanze beobachteten; er sagte, Sie sähen aus, als wollten Sie uns Beide in die fernsten Tiefen der Verdammniß schleudern!“
Die dunkle Gluth lag noch immer heiß auf Benedict’s Antlitz, sie schien noch tiefer zu werden bei den letzten Worten, unverwandt blickte er das junge Mädchen an.
„Also auch Graf Rhaneck!“ sagte er bitter. „Ja freilich, dessen Beobachtungen sind auf jeden Fall unfehlbar, zumal für Sie! Sie haben vollkommen Recht, mein Fräulein! Verabscheuen Sie in mir immerhin den finstern Fanatiker, der Ihnen keine Freude und keine Jugendlust gönnt, hassen Sie ihn nach Kräften – es ist am besten so!“
Er wandte sich heftig ab; Lucie stand betreten da, eine solche Antwort hatte sie am wenigsten erwartet. Zwar verstand sie gar nicht die räthselhaften Worte, aber Eines verstand sie doch, den Klang derselben, das tiefe, schneidende Weh, das aus ihnen hervorbrach, und groß und verwundert schaute sie ihn an. Es war ein eigenthümlich ernster und nachdenklicher Blick, wie er nicht oft in diese immer lachenden Kinderaugen trat; sie hatte auf einmal alle Lust zum fernern Streite verloren.
Langsam ließ sie sich wieder auf die moosigen Steine nieder und pflückte einige von den überhängenden Ranken der Waldrebe, die sie fast mechanisch zu einem dichten Gewinde ineinanderschlang; sie hoffte, Pater Benedict würde sich nun endlich entfernen, aber er blieb, er verharrte unbeweglich auf seinem Platze. Vielleicht empfand der finstere Fanatiker doch in diesem Augenblicke etwas von dem bezaubernden Liebreiz des jungen Wesens, das wie eine Elfe dort am Rande der Quelle saß, umwogt von der braunen Lockenfülle, umschattet von den blühenden Ranken, Hände und Schooß voll Blumen. Sie blickte nicht ein einziges Mal auf von ihrer Beschäftigung, denn wenn sie es auch nicht wußte, sie fühlte doch, daß seine Augen wieder auf ihr ruhten, fühlte es an jener leise quälenden Empfindung, die sie neulich bis in den Traum hinein verfolgt hatte; sie wachte immer nur auf unter diesem Blicke.
Tiefe schweigende Mittagsstille ringsum im Walde. Nur das Quellchen sang seine einförmige träumerische Melodie, als wolle es Alles ringsumher einsingen in Schlaf und Traum. Leise rieselte der silberne Strahl vom Fels hernieder, leise rauschte der Wald und leis und mild dufteten die weißen Blüthen, auf der Wiese leuchtete und flimmerte das Sonnengold und dahinter ruhten die tiefen Waldgründe, noch unberührt von den Strahlen, im grünen, duftigen Dämmerschein. Es wehte seltsam daraus hervor, der Waldeszauber hatte sich aufgethan und umfing den Ort mit seiner ganzen geheimnißvollen Gewalt, umfing auch die Beiden auf der stillen Bergwiese. Er nahm sanft und unwiderstehlich von dem finstern Antlitz des jungen Priesters all den Haß und all die Bitterkeit, die so oft dort eingegraben standen, und legte dafür auf das rosige Kindergesicht des jungen Mädchens einen milden träumerischen Ernst, wie er selten dort weilte; er spann leise, unsichtbare Fäden hinüber und herüber von Einem zum Andern, ein zartes luftiges Gewebe; er wob es fest und fester, und zwischen ihnen rieselte fort und fort der silberne Strahl und flüsterte ihnen die uralte ewige Melodie, die so oft schon zwei Menschenherzen in den Traum gesungen oder – daraus erweckt hat.
Da auf einmal brach der Bann, der ganze Zauber zerrann, das luftige Gewebe aus Sonnengold, aus Blumenduft und Quellenrauschen zerriß, als habe eine fremde Hand jäh hineingegriffen. Benedict war plötzlich aufgefahren, und als Lucie bei seiner heftigen Bewegung emporsah, da traf sie wieder jener wild flammende Blick, wie neulich mitten im Tanze, traf sie nur einen Moment lang, um sich dann sprühend wieder nach der andern Seite zu wenden. Erschreckt folgte sie der Richtung seines Auges; drüben am Rande der Wiese war der junge Graf Rhaneck soeben aus dem Walde hervorgetreten und blieb in sichtlich unangenehmer Ueberraschung stehen, als er das schwarze Benedictinergewand neben der hellen Gestalt des jungen Mädchens erblickte.
Halb überrascht, halb bestürzt erhob sich Lucie; aber sie athmete tief auf beim Anblick des Grafen, seine Erscheinung löste den seltsam beängstigenden Traum, der sie so fest umstrickt gehalten, daß sie alles Andere darüber vergaß. Unwillkürlich that sie einen Schritt ihm entgegen. Benedict sah es; er wurde auf einmal todtenbleich und trat langsam noch weiter zurück, bis tief in den Schatten der Felswand.
Ottfried hatte indessen auch bemerkt, daß er gesehen worden sei; er kam rasch über die Wiese und näherte sich den Beiden.
„Ah, mein Fräulein, welch ein unverhofftes Glück, Sie hier zu finden! Sieh da, Hochwürden!“ Er grüßte mit einer kalten Verneigung den jungen Priester und wandte sich dann sofort wieder zu Lucie. Wie hätte ich ahnen können, daß meine einsamen Jagdstreifereien mir zu einer solchen Begegnung verhelfen würden! Noch war es mir nicht vergönnt, Sie nach dem Feste begrüßen zu dürfen; ich danke doppelt dem Zufall, der mir heute diese Gunst gewährt.“
Ottfried wußte diese galanten Phrasen so unbefangen hinzuwerfen, als sei es in der That nur der Zufall, der ihn hergeführt, als habe er nicht bereits gestern und heute das ganze Gebiet von Dobra umstreift, um ein solches Zusammentreffen herbeizuführen, als sei er nicht seit einer vollen Stunde unterwegs, um Lucien, die auf’s Gerathewohl in den Wald gelaufen war, auf den verschlungenen Pfaden desselben zu folgen, bis er sie endlich, nach mancher Mühe und manchem Abirren von der rechten Spur, auffand. Lucie selbst hatte freilich keine Ahnung hiervon; desto richtiger schien Pater Benedict den „Zufall“ aufzufassen; er hatte den Gruß des Grafen stumm erwidert und lehnte jetzt drüben an der Felswand, das Auge mit einem durchbohrenden Ausdrucke auf die Beiden gerichtet.
Bei jeder andern Gelegenheit hätte Lucie eine solche Begegnung mit großer Genugthuung begrüßt; sie war nun einmal entschlossen, dem Verbot des Bruders, das ihr jeden fernern Verkehr mit dem Grafen untersagte, ganz offen zu trotzen, und es traf sich sehr glücklich, daß dieser sich ihr gerade hier nahte, wo Bernhard weder sich einmischen, noch es verhindern konnte; aber sie kam heute nicht zur Freude und Genugthuung darüber, der finstere Beobachter dort drüben peinigte sie unaussprechlich, das Bewußtsein seiner Nähe raubte ihr allen Halt und alle Unbefangenheit; sie konnte den harmlos neckischen Ton nicht wiederfinden, in welchem sie neulich mit Ottfried verkehrt hatte, und antwortete nur verlegen und zerstreut auf seine wieder reichlich aufgebotenen Galanterien.
Die schweizerische Wartburg.
Nicht nur das große deutsche Reich hat eine Wartburg mit romantischer Umgebung, lieblichen Sagen, poetischen Sängerkriegen, arretirten Reformatoren, Wartburgfesten und eine berühmte Stadt am Fuße, um ihr die Schuhriemen zu lösen, –
auch die kleine Schweiz, zwar kein Reich, aber dennoch – reich, hat eine Wartburg, mehr noch, sie hat deren sogar zwei, und um beide herum ziehen sich, wie um die weltberühmte Namensschwester in Thüringen, die herrlichsten Landschaften. Damit aber möchte freilich auch die Aehnlichkeit der schweizerischen und der deutschen Wartburg nahezu ein Ende erreicht haben. Denn von so schönen und poetischen Dingen, wie Sängerkrieg und Wartburgfest, weiß die erstere leider Gottes nicht das Geringste zu erzählen. Andererseits mag es bei der Betrachtung der Geschichte der beiden Burgen auffallen, daß keine von ihnen ein Geschlecht derer von Wartburg erzeugte, beide gehörten Grafen; nur war der deutsche Wartburger ein Landgraf, der schweizerische ein gewöhnlicher Gau- oder Burggraf. Die deutsche Wartburg wurde 1067 erbaut von Ludwig dem Springer. Welch ein ritterlicher Springer die schweizerische Wartburg erbaut hat, daran kann sich Niemand erinnern, doch liegt die Vermuthung nahe, daß die alte Wartburg, laut ihren Fundamenten, sehr alt ist und vermuthlich ursprünglich ein römischer Wachtthurm war. Aber im Jahre 1299 wurde in einem Kaufbriefe bereits der neuen Wartburg gedacht, als die Herzöge Rudolf und Friedrich von Oesterreich das benachbarte Aarburg kauften.
Zur Zeit, als am Concil zu Constanz der Herzog Friedrich [74] von Oesterreich in den Bann gerieth (1415), besaß ein Herr von Hallwyl diese Burgen. Hallwyl war für den Friedrich von Oesterreich, die Berner und Solothurner dagegen stellten sich auf die Seite von Kaiser und Reich, nahmen die beiden Burgen und brannten sie nieder. Die Burgen blieben von da Ruinen und gingen als hochadlige Schlösser mit all ihren Wäldern und Meierhöfen zur bescheidenen Stellung eines Unterthans der Republiken Bern und Solothurn über, so daß zur Zeit der Reformation, als Dr. Luther auf der deutschen Wartburg seinen Standpunkt dem Teufel mittelst Tintenfaß klar machte, die alte schweizerische Wartburg mit den Bernern reformirt wurde, die neue Wartburg dagegen mit den Solothurnern katholisch blieb, ohne alle und jede Disputation, im tiefsten Frieden.
Kurz nach der Reformation (1542) richtete Solothurn, das von jeher immer ein offenes Auge für die Feuerzeichen der Zeit hatte, Neuwartburg wieder empor und setzte einen Feuerwächter hinauf, der jede Feuersbrunst der Gegend weit und breit durch Kanonendonner verkündete. Sali hieß die berühmte Wächterfamilie, die über ein Jahrhundert lang Feuer und Licht beobachtete und der Wartburg ihren Namen aufdrückte, so daß die stolze Wartburg zum gemüthlichen „Salischlößli“ herabsank. Einer dieser Sali hat sich nach der Hand noch einen besondern Namen gemacht. Er, ein Felix (also ein Glücklicher!), hauste allda noch 1635 und hatte fünfzehn Jahre lang einen so ganz enormen Durst, daß er – wie die Chronik sich zierlich ausdrückt – alle Nächte einen großen Zuber voll Wasser ausgesoffen, und am Tage ebenfalls sehr oft getrunken.
Beide Wartburgen, die deutsche und die schweizerische, haben aber noch ein ganz gleiches Schicksal in neuerer Zeit erlebt. Beide wurden – restaurirt. Die deutsche von einem kunstsinnigen Fürsten, dem Großherzoge von Weimar, und, was fast noch mehr ist, dem Enkel jenes Herzogs Karl August, der Ende des vorigen Jahrhunderts die unsterbliche Dichtertafelrunde in Ilm-Athen um sich versammelte, einen Goethe seinen Freund und Minister nannte und seinem Völkchen die erste Verfassung mit Volksrechten freiwillig verlieh. Von einem solchen kunstsinnigen Manne, der zugleich das Glück hat, Fürst zu sein und auf der Menschheit Höh’n zu steh’n, ward die deutsche Wartburg auf’s Herrlichste wieder hergestellt oder vielmehr auf ihren künstlerisch historischen Culminationspunkt gebracht. Die kleine bescheidene Wartburg der Schweiz wurde ebenfalls restaurirt – wie Figura zeigt –, aber von einer Gesellschaft kunstsinniger, mit nur bescheidenen Mitteln wirkender Republikaner, Einwohner des allerliebsten Oltenstädtchen, das, wie alle Juraorte, tief und still zwischen den zackigen und grauen Felsenbergen liegt, wie ein emsiger, nie ruhender Ameisenhaufen mitten im stolzen Walde.
Diese Männer haben sich durch die „Krönung ihres Berges“ ein großes Verdienst um die wandernde Menschheit erworben, die da hinauf mit leichter Mühe zu Sattel, zu Fuße oder zu Wagen flattert! Nur hinaus aus der staubigen Tiefe der Alltäglichkeit! Hinauf zu den luftigen Jurahöhen!
Unsere liberalen Freunde der „Restauration“ haben mitten in die dampfbeflügelte Zeit unserer Tage ein schönes Bild des Mittelalters gezaubert. Die Burg ist eben ganz eine alte Ritterburg mit Wällen, Mauern, einem schwierigen Zugang und eisernen Gatterthoren geblieben. Eine einzige enge Wendeltreppe vom Zwinger bis hinauf zur Zinne mit stolzem Thurme und kreischender Wetterfahne, worin das stolze weiße Kreuz im rothen Felde prangt, führt an Küche und Keller, an kühlen Gewölben und am prächtigen hohen Rittersaale vorüber und hinein, in welch letzterem man statt mittelalterlicher Humpen krystallhelle „Schöppli“, „Fläschen“ oder „Maasgutteren“ credenzt. Im „Aufzug“, der rasselnd hinab und herauf aus dem Burgverließe führt, allwo die gefährlichen Gefangenen fest in Eisen „gebunden“ liegen, um den „schwindelnden Steg“ zu umschiffen mit labender Fracht, steht ernst und würdig der bärtige Ganymed und
Theilet Jedem seine Gabe,
Dem Bierstoff, Jenem Weinstoff aus,
von flinken, blonden Huldinnen geschäftiglich umringt.
Um die Burg herum ziehen sich geräumige Terrassen und bieten eine reizende Aussicht, eine so bezaubernde Vorstudie der herüberlachenden Alpenwelt, daß jeder Wanderer den kurzen Aufstieg nicht versäumen sollte. Südlich erstreckt sich das Wiesenthal der Wigger mit der reichen Stadt Zofingen, vielen Fabrikdörfern und der alten geraden Straße, die die Deutschen so oft betraten, um ihre verfehlten „Römerzüge“ auszuführen, gegen Westen das Thal der Aare und der Dünnern mit fruchtbaren und industriellen Dörfern, majestätischen Bergketten und romantischen thurmhohen Felsenwänden, gegen Norden der Hauenstein und die Hauensteinkette, der große Tunnel durch den Hauenstein, der, wie die Jurawelt das Vorspiel zu den Alpen, den kleinen Prolog zum riesigen Gotthardtunnel mit Schiller spricht:
So reißt ein schwarzes Felsenthor sich auf –
Kein Tag hat’s noch erhellt –, da geht Ihr durch.
Es führt Euch in ein heitres Thal der Freuden. –
So immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen
Des Gotthards, wo die ew’gen Seen sind,
Die von des Himmels Strömen selbst sich füllen.
Dort nehmt Ihr Abschied von der deutschen Erde,
Und munt’ren Laufs führt Euch ein andrer Strom
In’s Land Italien hinab, in das gelobte. –
Im Osten aber rauscht die Aare durch ein herrliches, bald engeres, bald breiteres Gelände mit kühnen Burgen, zerfallenen Ruinen, lachenden Dörfern, blühenden Städten, reichen Landsitzen, wallenden Kornfeldern, üppigen Matten, blanken Rebengeländen. Ein so eben rechtes Land für den romantischen Deutschen. Rechts das hohe Schloß von Lenzburg, von dem lange Zeit ein großes deutsches Institut seine Bildungsströme herabgoß (Director Lippe). Links unten an der Aare das Schloß Wildenstein, wo der wackere Vater des nachmals vielberühmten Philanthropen Emanuel Fellenberg von Hofwyl als biderber Landvogt saß. Hoch oben in der Mitte der Scene die stolze Burg Bruneck, die so manche zarte Leserin an das freie Weib, die edle Bertha v. Bruneck im „Wilhelm Tell“ erinnern wird, die dem zögernden Rudenz zurief:
„Was auch d’raus werde – steh’ zu Deinem Volk!
Es ist Dein angebor’ner Platz!
Dann seh’ ich Dich im echten Männerwerth,
Den Ersten von den Freien und den Gleichen,
Mit reiner, freier Huldigung verehrt,
Groß, wie ein König wirkt in seinen Reichen.“
Ja, dort drüben blinkt und strahlt sie, die kühne Bruneck noch heute im Abendsonnenschein! Noch heute donnere sie diese Worte jedem schwachen Manne zu. Goldene Worte, die auch in unseren Tagen von riesiger Gewalt sein werden, wie sie es waren in dem Munde patriotischer Mütter und Frauen zu allen Zeiten der Noth! – Heirathsfähige Töchter sind heutzutage freilich meistens etwas „praktischer“. Allein die Tage des Sturmes reißen auch solche mit fort.
Am Fuße der stolzen Bruneck wirkte in einem kleinen Landhause der große Schöpfer der vernünftigen Volksschule – Vater Pestalozzi. Wer kennt ihn nicht? Er, dieser Züricher Schulmeister, ward zum Eigenthum der Welt.
Etwas weiter unten, mehr nördlich, streckt auch die alte Habsburg ihr graues Haupt empor – die Stammburg des Hauses Oesterreich. Ich halte es lieber mit den Wartburgern; denn „neues Leben blüht da aus Ruinen“. Die Habsburg macht mir zu viel Front gegen „Mitternacht“. – Weiter nach dem Vordergrunde der magischen Landschaft lacht das Städtchen Aarau. Dort links an der Halde lugt bescheiden aus grünem Gezweige und Rebenlaub ein kleines Haus. Die Aare, wenn sie dort vorbeirauscht, flüstert leise einen freundlichen Gruß und zieht den Hut ab. Dort lebte und webte Heinrich Zschokke, der deutsche Mann, der so manchen Segen über die ganze Menschheit ergoß, und dort in jenem Städtchen ist auch sein einfaches Grab.
Unmittelbar zu unseren Füßen aber pustet’s, raucht’s, hämmert’s, pfeift’s! Funken sprühen, Rauchsäulen steigen empor; dumpfes, donnerartiges Rollen erschüttert die Erde; dazwischen tönt das friedliche Kirchenglöcklein der Städte und Dörfer. Menschen rennen und jagen; Roß und Mann kommen und verschwinden; Schiffe durchfurchen den Strom; Fabriken strecken ihre qualmenden Thürme zu den Wolken – das ist Olten. Da treffen auf kleinem Raume und auf zwei eisernen Schienen die Bewohner der ganzen gebildeten, oft auch der ungebildeten Welt zusammen. Das ist Olten, das Jedermann kennt, und das auch schon in der Gartenlaube abconterfeit war; Olten, das die schweizerische Wartburg neu gebar, das Mekka aller schweizerischen Vereine; Olten, der schweizerische Knotenpunkt. – Und nun Punctum.
Von Zeit zu Zeit pflegt am Himmel unserer verwöhnten unternehmungslustigen Touristen, die wie das Publicum im „Faust“ „entsetzlich viel gesehen haben“, ein neues interessantes Reiseziel aufzutauchen, das dann schon deshalb alle anderen Tummelplätze ihrer Wanderlust in Schatten stellt, weil es den Reiz der Neuheit vor jenen voraus hat. So kam vor einigen Jahren für die sommerlichen Pilgerfahrten der Söhne Albion’s Norwegen in die Mode, und auch das nördliche Afrika übt gegenwärtig auf die strebsamen Besitzer wohlgespickter Börsen eine wachsende Anziehungskraft aus. Nun wohlan, hier habe ich etwas Neues für die Feinschmecker in der Touristenwelt! Aber nicht allein für Diese. Wer sehen will, mit welchen Reizen die Eisfahrt Klopstock’s kühnste Bilder übertreffen kann, wer Zeuge sein will eines in mannigfaltigen Zügen durchaus originellen Volkslebens, vor Allem aber wen es lockt, selbst theilzunehmen an diesem frischen und bunten Treiben, den lade ich zu einer Winterfahrt nach dem nördlichen Holland, namentlich nach Frieslands Hauptstadt (Leeuwarden), ein!
In Wahrheit, der Deutsche, der die Eislust in Holland nicht gesehen hat, der weiß in der Regel kaum, was Schlittschuhfahren heißt. Wohl mag er in dem Boulogner Gehölz weit reichere, mehr blendende und phantastische Schaustellungen gesehen haben, die Pracht glänzender Schlitten und Trachten, den Zauber nächtlicher Feste. Auch rathen wir ihm, will er anmuthig und kunstgerecht Schlittschuh fahren sehen, so muß er nicht nach Holland kommen. Die Grazie und der Holländer leben auf gespanntem Fuße: wie er der schlechteste Tänzer in Europa ist, so versteht er sich auch durchaus nicht auf die kunstvollen Bogen und Achte, welche der Stolz deutscher und angelsächsischer Stahlschuhkämpen sind. Schon seine Schlittschuhe, die friesischen wenigstens, eignen sich nur zum Schnelllauf (hardrijden). Aber in anderen Beziehungen sind wir deutsche Eisfahrer wahre Kinder gegen ihn. Als ich noch Gymnasiallehrer in Rotterdam war, las ich in der „Kölnischen Zeitung“ als etwas ganz Außerordentliches die Kunde von zwei jungen Männern, die irgendwo auf deutschen Flüssen an einem Tage acht Wegstunden zurückgelegt haben sollten. Das ist in Holland im eigentlichsten Sinne Kinderspiel.
An dem Tage, wo ich jene „Vermischte Nachricht“ aus dem rheinischen Blatte zu würdigen bekam, war ich Morgens über’s Eis nach Gouda gefahren, und als ich die ersten Häuser des Städtchens, das vier Stunden von Rotterdam abliegt, erreicht hatte, begegneten mir zwei meiner Schüler aus den unteren Classen, die bereits auf dem Rückwege waren. Bei uns in Deutschland besteht das Schlittschuhfahren hauptsächlich in der Kunst, in furchtbarem Gedränge auf engem Raum zusammengepfercht, einander hübsch auszuweichen. Gegen dies „Bahnfahren“ (baantje-rijden) hegt der Holländer eine unsägliche und wohlbegründete Verachtung. Wenn er auf’s Eis geht, zieht er Siebenmeilenstiefel an. Seine Bahn ist dann das Königreich der Niederlande, das überall von einem Canalnetz durchzogen wird, verhältnißmäßig etwa fünfzehnmal so groß wie die Canäle Preußens. In dem Zurücklegen unglaublicher Entfernungen besteht seine Größe. Eine achtstündige Fahrt, wie die von Rotterdam nach Gouda, der Stadt mit den herrlichen Kirchenfenstern, behandelt er als eine kleine Erholung, bei der weiter keine Ehre zu holen ist, als daß man die irdenen „Goudaschen Pfeifen“ mit ellenlangen, von Arabesken umflochtenen Stielen unversehrt heimbringt, zum Zeichen, daß man unterwegs nicht einmal die Bahn fallend gemessen hat. Zu dem Zwecke werden die Pfeifen in Gouda auf der Straße in Buden feilgehalten, und man kauft sich dazu einen Stock, an den ihrer vier mit Bindfaden befestigt werden, damit man sie besser tragen kann; nur die Bauern stolziren mit kurzen Pfeifchen daher, die sie in großer Zahl rings um ihre Pelzkappen gesteckt haben.
Doch, wie gesagt, solch ein Ausflug ist nicht der Rede werth. Ehrgeizige und unternehmungslustige Männer, die ihre Muskeln prüfen wollen, fahren an einem Tage von Rotterdam nach Amsterdam. In Groeningen habe ich einen Primaner gekannt, der Morgens um sieben Uhr auf Schlittschuhen aufbrach, Nachmittags um halbvier Uhr die zwanzig Stunden weit entfernte Stadt Zwolle erreichte und sich dort um vier Uhr auf die Eisenbahn setzte, um Abends bei seinen Eltern in Amsterdam zu sein. Auch nach dieser Richtung wird das Höchste in den nördlichen Niederlanden, in der Provinz Groeningen, vor Allem aber in Friesland, geleistet, wo die holländische Eislust ihre höchste Blüthe entfaltet. In Friesland giebt es förmlich ein Meisterstück im Schnelllauf, das Derjenige geleistet haben muß, der auf den Namen eines echten und gerechten Läufers Anspruch erheben darf. Ein Solcher muß die elf friesischen Städte an demselben Tage befahren haben. Man hat mir von einem Friesen erzählt, der an einem Tage fünfundvierzig Wegstunden zurücklegte; Morgens um fünf Uhr war er ausgefahren, und Abends um elf Uhr kam er heim. Ein mittelmäßiger Läufer rechnet eine Viertelstunde Fahrens auf eine Wegstunde; ein wohlgeschulter legt in derselben Zeit fast das Doppelte zurück.
Die größte Freude aber muß es gewähren, daß man sofort fühlt, wie man sich auf diesen Canälen inmitten einer nationalen Lustbarkeit befindet. Der Friesländer zumal wird mit Schlittschuhen an den Füßen geboren, so gut wie der Preuße mit einer kleinen Pickelhaube zur Welt kommt. Achtjährige Bauernjungen sieht man mit Vehemenz in der Spur ihres Erzeugers daherschießen, den deutschen Neuling durch die ausdauernde Schnelligkeit ihres Laufes beschämend. Sobald das Eis trägt, gerathen überall Städte und Dörfer in Aufregung. Der Verkehr auf den zugefrorenen Canälen ist in Friesland geradezu eine öffentliche Angelegenheit: die Gemeinden stellen Bahnfeger an, die als Zeichen ihrer Würde ein numerirtes Band um den Arm geschlungen tragen, und man behauptet, daß durch diese Biedermänner selbst die unvermeidlichen Spalten im Eise sorgfältig mit Wasser übergossen werden. In abgemessenen Entfernungen, namentlich an jedem Deichübergange, halten sie Wacht; sie kennen jedes Gesicht, das an ihnen vorüberfährt, und wenn man den schuldigen Cent (zwei preußische Pfennige) nicht in Bereitschaft hat, so geben sie gern Credit, bis man am Abend zurückkehrt. Aber wehe Dem, der sie um ihren wohlerworbenen Lohn zu kränken sucht! Schneller, als ihn der Stahlschuh vorüberträgt, ist ihm ihr rächender Besen kunstgerecht zwischen die Beine gefahren, daß der Vermessene krachend dahinstürzt.
Zwischen diesen eifrigen Wärtern der Bahn tummelt sich eine freudige Menge auf und nieder. Jeder hat sich mit seinen Bekannten zu irgend einer größeren oder kleineren Tour aufgemacht, deren Ziel regelmäßig eine benachbarte Ortschaft ist. Die jungen Männer laden die Mädchen ein, denen sie wohlwollen, wobei sich gewöhnlich zwei Pärchen zusammenthun – kleiner darf, außer bei Brautleuten und Geschwistern, solche Gesellschaft nach der Landessitte nicht sein. Oft sieht man aber auch eine Reihe schmucker Bursche daherkommen, während sich die ländlichen Schönen allein ohne Freund und Beschützer hinauswagen. In den Provinzen Nord- und Südholland, überhaupt in den südlichen Niederlanden ist die Sitte weit stiefmütterlicher gegen das junge Volk: dort dürfen die Damen der besseren Stände sich höchstens an abgelegenen Orten, in dem Park einer Freundin oder dergleichen, auf Schlittschuhen zeigen.
In Friesland hat sich für die Schlittschuhfahrer eine eigenthümliche, aber malerische Tracht ausgebildet: Rock mit kurzen Schößen, die der Bewegung die größte Freiheit gestatten; kurze Hose von schwarzem Sammet und über dem Knie mit schwarzseidenen, langflatternden Bändern zusammengebunden; blaugraue lange Strümpfe, Pelzmütze ohne Schirm und Stiefeletten. Gewöhnlich sieht man die Genossen der Lustbarkeit dicht hintereinander in einer Reihe daherfahren. Im eigentlichen Holland haben sie dabei einen langen, starken Stock unter dem rechten Arm durchgesteckt, auf den Jeder die rechte Hand legt. Solche Stöcke werden eigens für das Eisvergnügen angefertigt, sind bei den Kurzwaarenhändlern feil, dunkel angestrichen und an jedem Ende mit einem Knopf versehen. In Friesland und Groeningen kennt man diese Stöcke nicht, hier stützt man eine Hand auf den Rücken, und der Hintermann legt seine Rechte fest hinein; so bildet sich die Reihe, und so führt auch jeder Ritter seine Schöne daher. Die Hauptsache bleibt die große Erleichterung, die Jeder in solcher Kette durch das tactmäßige Austreten und dadurch erfährt, daß der vorderste Läufer den Gegenwind bricht. Die geübtesten Renner [76] pflegt man an die Spitze zu stellen, wo sie dann mit einander abwechseln. Ein anderer Vorzug ist der, daß jeder Begegnende solchen Ketten respectvoll aus dem Wege geht, während in anderen Fällen das Eisrecht (beim Entgegenfahren rechts auszuweichen, links beim Ueberholen) von ungeschickten oder rücksichtslosen Gesellen wohl einmal mißachtet wird.
Der Leser ist jetzt hinlänglich orientirt, daß ich ihn einladen kann, mich auf zwei kleinen Eisreisen zu begleiten, die uns das eine Mal durch den Süden, das andere Mal durch den Norden der Niederlande führen sollen.
Ein sonniger Wintertag liegt heute auf den Landseen bei Rotterdam; aber um dem deutschen Gast die ganze Herrlichkeit unseres Eislebens zu zeigen, brechen wir erst in der Mittagsstunde auf. Ein wahres Jahrmarktsleben ist es, was die Ufer des nächstgelegenen Sees umwogt. Ganze Reihen von Buden mit allerlei Eßwaaren und Leckereien, Glücksräder, Caroussels, ja die unvermeidlichen photographischen „Ateliers“ haben sich hier angesiedelt. Zwischen ihnen, auf breiter glatter Bahn, wiegen sich die Schlittschuhläufer unter den musternden Blicken der Rotterdamer Damenwelt, die heute dem schönen Tag zu Ehren vollzählig und in eleganter Wintertracht erschienen ist. Aber ihre blauen Schleier sieht man hier niemals über einem Paar rascher Schlittschuhe wehen, und auch den Handschlitten, hinter welchem deutsche Ritterlichkeit sich so gern im Schweiße ihres Angesichts abmüht, hat die Sitte überall in den Niederlanden vom Eise verbannt. Aber welch seltsames Ungethüm kommt drüben mit Windeseile dahergebraust? Das ist ein Eiskahn, eine berechtigte Eigenthümlichkeit dieser südlichen Provinzen. Seine Einrichtung ist einfach: ein großer Segelkahn wird auf einem Schlittengestell, das an allen Seiten über den Kahn hinausragt, befestigt. Wir zahlen einen Cent und steigen ein. Das Segel wird gehißt, – jetzt hat es den Wind gefangen, und in rasender Flucht stürmen wir über die freie, spiegelblanke Fläche dahin. Plötzlich ein Ruck am Steuer! Im Bogen schießen wir auf das Ufer los, und einen Augenblick sieht es aus, als wollten wir dort ein Fischerhäuschen einrennen. Aber der Steuermann versteht sein Fach: wir beschreiben einen weiten Kreis, dann einen zweiten, engeren, während unsere Fahrt immer langsamer wird, bis wir bei der dritten Kreisschwenkung still liegen. Wie es hier betrieben wird, gewährt solche Eisbahnpartie ein kurzes, eintöniges Vergnügen, und da man dabei unter allen Umständen eine barbarische Kälte auszustehen hat, so wird es auch von den Eingebornen nur wenig cultivirt.
Doch jetzt sagen wir dem städtischen Gewühl Lebewohl. Den Eisstock unter dem Arm, bewegen wir Drei uns im Gleichtact dort entlang, wo nur einzelne Läufer und die zu beiden Seiten der Bahn warnend aufgepflanzten Binsen und Stöcke uns den Weg nach Gouda weisen. Während wir weiter eilen, dann und wann an Verkaufsständen von Anismilch, Kaffee und Rum vorüber, wecken unsere Schritte auf der Fläche des Sees jenen so ganz eigenthümlichen „wehklagenden Todeston“, wie ihn der Dichter nennt, an den kein anderer Laut auf Erden gemahnt. Wie schauerlich es auch klingen mag, gefahrkündend ist der Ton so wenig, wie das gelegentliche Splittern und Krachen des Eises unter unseren Füßen, bei dem wir wohlgemuth an das clevische Sprüchwort denken „Kraachies is keen Brächies.“ (Kracheis ist kein Brecheis.) In wiegendem Gang kommt eine Kette von Bauernburschen daher, im Sonntagsstaat, die Pelzkappe auf dem Ohr. Gestern sind nach dem Städtchen, dem wir zueilen, Tausende von Landleuten über’s Eis zu Markte gefahren, und selbst heute lassen große, hochbepackte Handschlitten uns errathen, welch ein bedeutender Theil des localen Verkehrs durch den erstarrten Wasserweg vermittelt wird. Diese jungen Bursche aber tragen sich heute mit festlichen Gedanken: drüben am Wege werden sie bald mit den ländlichen Schönen zusammentreffen, die vor einer Viertelstunde mit städtischen Hüten und flatternden Bändern an uns vorübergesegelt sind; da wird denn bei Seidel und Faß hoch gelebt, bis der späte Abend die ganze Gesellschaft in süßem Verein heimwärts führt, und zwar abermals, trotz Spalten und Risse, über die schwach glänzende Eisfläche.
Wir sind an einem Deich angelangt, der hier zwei Landseen scheidet, und über den beflissene Bahnfeger eine leichte Brücke gezimmert haben. Hülfreich bieten sie dem Ungeübten in dergleichen Kletterkünsten die Hand. Hat nun Jeder von uns dem Bahnwärter den schuldigen Wegezoll gereicht, so kann’s und soll’s richtig weiter gehen. Aber der Wind, der uns gerade entgegen weht, hat sich bis zum Sturm gesteigert, und lange arbeiten wir uns mühsam hinauf, dennoch den Vortheil preisend, den unser Associationsprincip uns gegen andere, vereinzelte Läufer gewährt. Doch der folgende See hat eine Revanche für uns in Bereitschaft. Hier haben wir den Wind im Rücken, und indem wir getrennt weiterfahren, erproben wir mit Behagen, wie wir jetzt selbst dann noch ziemlich rasch dahin treiben, wenn wir im dolce far niente mit geschlossenen Füßen den Ueberrock als Segel benutzen. Diese mühelose Bewegung darf uns einen Augenblick ergötzen, dann aber winkt eine bessere Lust. Mit voller Kraft streichen wir aus, und vom Sturm getrieben jagen wir bald über die spiegelglatte, schwarzgrüne Fläche mit der Schnelligkeit eines Eisenbahnzuges daher. Solch ein Flug, bei dem man kaum noch den Vogel in den Lüften beneidet, hat etwas Berauschendes – trotzdem, oder vielleicht um so mehr, als man sich bewußt ist, daß, wenn man jetzt zu Falle käme, „nicht ein Knochen heil bliebe!“ – Wir aber gelangen glücklich an’s Ziel, und nachdem wir den Yssel-Canal durchmessen, fahren wir in Gouda ein, um uns des Gedankens zu freuen, daß wir zum ersten Male in unserem Leben vier Wegstunden auf dem Eise zurückgelegt haben, und zwar – für Anfänger ganz respectabel, zumal wenn man die Deichübergänge in Betracht zieht – in fünf Viertelstunden. Nach einstündiger Rast, „durch des Halmes Frucht und Labe des Weines“ gestärkt, treten wir den Rückweg an, indem wir, Jeder mit vier Gouda’schen Pfeifen, allen Fährlichkeiten der Eisbahn auf’s Neue Trotz bieten. Leider muß ich hier wahrheitsgetreu berichten, wie der eine der Gefährten unterwegs von einem tölpelhaften Bauern angerannt wurde, bei welchem Zusammenstoß die städtische Bildung unterlag und zu Falle kam, während der stämmige Landmann, der durch seine Verachtung ehrwürdiger Eisgesetze dies Unheil herbeigeführt hatte, hohnlachend seinen Weg fortsetzen konnte. Dabei ging nun leider der Stolz des so Betroffenen, die langen Thonpfeifen, in klirrende Scherben. Der zweite der Genossen bringt seine Trophäe glücklich heim; er schnallt die Schlittschuhe ab, gleitet aber auf den wenigen Schritten zum Ufer aus und sieht sein Glück im Hafen untergehen. Mir allein war es beschieden (erröthend gesteht es meine Bescheidenheit), das Siegeszeichen in meine Gemächer heimzuführen, wo es noch vier Wochen lang vor dem Spiegel geprangt hat. – Der Abend wurde durch ein festliches Mahl beschlossen, bei dem ein Appetit die Schüsseln würzte, wie wir ihn früher höchstens nach einer wohlangewandten Fechtstunde gekannt hatten.
Der zweite Ausflug auf dem Eise, zu dem ich mir die Gesellschaft des geneigten Lesers erbitte, ward in Friesland und Groeningen unternommen. Wir hatten gehört, bei der Stadt Groeningen werde eine solenne Wettfahrt auf Schlittschuhen stattfinden, und in aller Frühe zogen wir aus, um dies für uns neue Schauspiel in seinem ganzen Glanze zu genießen. Denn wenn es auch kaum ein Dorf in den nördlichen Niederlanden geben mag, das nicht im Winter seine „hardrijderij“ ankündigt, so thun es doch die Hauptstädte Leeuwarden und Groeningen mit ihren reichen Mitteln allen anderen Ortschaften zuvor. Sobald der Frost anhält, wimmeln die Zeitungen von Ankündigungen, in denen die „Eisvereine“ großer und kleiner Ortschaften zu dem Feste laden; aber die meisten können den siegreichen Wettkämpfern keine höheren Preise gewähren als fünfzig, fünfundzwanzig und zehn Gulden etwa, während die Hauptorte der Provinzen durch einen ersten Preis von zweihundert bis zweihundertfünfzig Gulden eine ungleich größere Schaar von Mitbewerbern anzulocken vermögen. Von Nah und Fern strömen an solchen Tagen die Koryphäen der Stahlschuhkunst zu diesen eigenthümlichen olympischen Spielen herbei. Doch darf ich nicht verschweigen, daß diese Helden sammt und sonders der untern Volksclasse angehören: für einen Gentleman würde es nicht anständig sein, sich in dieser Weise zu betheiligen. Dieser begnügt sich damit, Mitglied des Eisclubs zu werden, wofür er dann mit seinen Damen zu allen Festlichkeiten Zutritt hat. Da der Jahresbeitrag sich in Groeningen, dessen Verein sechshundert Mitglieder zählt, auf zwei Gulden beläuft, so kann damit schon etwas geleistet werden, zumal nach einem Jahr, dessen milder Winter der Gesellschaft eine unfreiwillige Sparsamkeit auferlegt hatte. Bei den meisten Wettfahrten ringen nur Männer um den Preis, mitunter laufen Männer und Frauen paarweise, indem je ein Mann eine Frau hinter sich führt; selten [77] Frauen allein. In Groeningen wurde einmal eine Wettfahrt für Knaben veranstaltet, bei der aber sofort wieder jener aristokratische Unterschied zur Geltung kam: ich erinnere mich, daß über den einzigen Sohn anständiger Eltern, der aus Ehrgeiz an dem Preisfahren theilgenommen hatte, von Alt und Jung gewaltig die Nase gerümpft wurde.
Nach langer Fahrt liefen wir endlich in den Wallgraben der Festung Groeningen ein, wo das Schauspiel bereits um zehn Uhr früh begonnen hatte. Als Fremde hatten wir gegen einen mäßigen Betrag Zutritt, der allen Einwohnern der Stadt, welche nicht zu den Mitgliedern des Eisvereins zählen, beharrlich verweigert wird. Durch die tiefe Lage vor dem Winde geschützt, glänzte die Bahn, auf der sich die Wettläufer tummelten, so blank und glatt, wie die innere Fläche eines aus dem Eise gehauenen Blockes. Mit großer Sorgfalt wird sie so durch tagelang fortgesetztes Begießen und Kehren hergestellt, und sie gilt als ein Heiligthum, das außer den Kämpfern nur die Mitglieder des Vereinsvorstandes zu betreten berechtigt sind. Sie ist hundertfünfzig Ellen lang, so breit, daß sie zwei Schlittschuhfahrern nebeneinander bequemen Raum gewährt, und in ihrer ganzen Länge durch aneinander gelegte Stäbe, welche eine einzige gerade Linie bilden, in zwei gleiche Hälften getheilt. Dies Letztere geschieht, um zu verhüten, daß ein Kämpe dem andern in die Quere komme oder ihn sonst belästige. Ringsum ist die Bahn mit zahlreichen hohen Masten umsteckt, von deren Spitzen Flaggen und Wimpel in den blau-weiß-rothen Farben des Landes, in dem Orangegelb des Herrscherhauses und in den Farben der Stadt lustig in die Lüfte flattern. Diese Masten sind durch eine starke Umzäunung miteinander verbunden, an der sich das schaulustige Publicum drängt, namentlich in den Augenblicken, wo vom obern Ende der Bahn das Zeichen zu einem neuen Wettlauf gegeben wird. Dort hat der Vorstand sich eine kleine Bude zimmern lassen, neben der eine Hütte steht, in welcher das Paar, dessen Nummer gerufen wird, sich der Oberkleider entledigt. Alle laufen nämlich nur mit einem wollenen Hemd und Kniehosen angethan, um durch nichts in der freiesten und leichtesten Bewegung behindert zu sein. Die Frauen fahren – bedauere ich sagen zu müssen – in Unterröcken. Jedes Mal läuft ein Paar und die Nummern, welche die Reihenfolge bestimmen, werden durch das Loos gezogen. In den Pausen ertönt Musik aus einer großen Bude, die am Rande des Glacis neben dem Restaurationszelt aufgeschlagen ist. Bei diesen Klängen bewegen sich die Zuschauer, Herren und Damen, meist auf Schlittschuhen, auf der äußern Bahn munter umher, welche die innere, den Tummelplatz des Wettkampfes, in breitem Saume umgiebt.
Jetzt wird das Zeichen gegeben. Alles eilt an die Umzäunung. Da kommt das Paar dahergeflogen, jeder Schritt treibt sie auf dieser Spiegelfläche um mehrere Ellen vorwärts; die ganze Dauer der Fahrt zählt nur nach Secunden. An dem untern Ende der Bahn beobachten Mitglieder des Vorstandes, in der friesischen Eisfahrertracht prangend, zu beiden Seiten zwei leichtbewegliche hochragende Hebelarme, die sich genau in dem Moment senken, wo der betreffende Streiter die untere Bahngrenze passirt hat. So kann man schon von fern den Sieger erkennen. Bleibt der Sieg unentschieden, was selten vorkommt, so fährt dasselbe Paar ein zweites Mal. Dann kommt das folgende Paar an die Reihe, bis sämmtliche Kämpfer einmal gefahren haben; alsdann beginnt zwischen den Siegern der Wettstreit auf’s Neue. Natürlich sind die letzten Fahrten, welche die Entscheidung bringen, und bei denen die besten Läufer betheiligt sind, die interessantesten.
Das Ganze aber, muß ich ehrlich gestehen, gleicht doch gar sehr einem jener Gemälde, die man nicht allzu genau betrachten darf. Die Bewegungen der Wettfahrer, das sogenannte „Klouwen“, sind entschieden häßlich, selbst die Holländer geben das zu. Die Läufer, nur auf die größtmögliche Schnelligkeit bedacht, arbeiten, weit vornübergeneigt, mit kurzen raschen Stößen und rudernden Armen in einer Weise, die durchaus an zappelnde Frösche erinnert. Von dem wiegenden aufrechten Gange, den langhinschwebenden Bogen, welche die Schönheit des Schlittschuhlaufs bedingen, finden wir hier niemals eine Spur; und so dürfen auch die Vorübungen zu diesen Wettläufen keineswegs für eine gute Schule der edeln Eiskunst gelten. – Auf einzelne Preisläufer von Profession, die wohl einmal in einem einzigen Winter ein halbes Tausend Gulden einheimsen können, kommen ungezählte Andere, die hier den Keim zu tödtlichen Brustkrankheiten legen. Nach der furchtbaren Anstrengung, bei der Ehrgeiz und Lust am Gewinn jeden Nerv auf’s Aeußerste spannen, harren sie, in Schweiß gebadet, auf der kalten zugigen Bahn, bis ihre Nummer, vielleicht nach Stunden, auf’s Neue gerufen wird. Denn der Preiskampf dieser hundert bis zweihundert Bewerber, zu Mittag um einige Stunden unterbrochen, pflegt bis zum Abend anzudauern, wo dann die Sieger in feierlichem Aufzug, die Musik an der Spitze, nach dem größten Saale der Stadt geleitet werden, um auf den Händen des Vereinsvorstandes ihre Preise in Empfang zu nehmen. Hier fehlt es dann nicht an wohlgesetzten Reden, in denen die Sieger belobt, die minder Glücklichen zu neuen Anstrengungen angespornt werden. Bis tief in die Nacht bleiben die Mitglieder des Vereins mit ihren Damen schmausend und trinkend beisammen. Da jeder Winter, und nicht einmal jeder, nur ein oder zwei solcher Feste bringt, so geräth die ganze Stadt dabei in eine gelinde freudige Aufregung.
Der Vergleich mit den englischen Wettrennen liegt nahe. In beiden Fällen wird Schnelligkeit auf Kosten der Schönheit angestrebt, und in beiden kommen die Wettbewerber häufig zu Schaden, während ihre Kunst einer von Nah und Fern herbeiströmenden Menge ein Schauspiel gewährt, dessen anziehendstes Stück dennoch diese Menge selber und ihr fröhlich angeregtes buntfarbiges Treiben ist. Wer aber den englischen Reiter und sein Roß in ihrer Kraft und Glorie sehen will, dem bietet jede Fuchsjagd eine bessere Gelegenheit dar als der Derbytag. Aehnlich ist die beste Eislust der Holländer in dem täglichen Winterleben ihrer Seen und Canäle zu finden, und dorthin wollen wir denn auch die Freunde jenes edeln Stahlschuhsports geladen haben, von dem unsere Altvorderen sangen und sagten, ein Gott habe ihn auf die Erde gebracht.
Daß neben Koryphäen wie Brehm und Anderen ein Laie sich mit „Thierstudien“ hervorwagt, bedarf kurzer Erklärung. Einmal fordern jene Meister durch ihre populären Schriften selber alle Naturfreunde zum Studium auf, und sie verschmähen auch kleine Beiträge nicht, wenn diese nur auf gewissenhafter Beobachtung beruhen. Sodann stehen sie aber mit ihren Forschungen so hoch, daß viele Laien abgeschreckt werden, zu beobachten oder ihre Erfahrungen zu veröffentlichen, weil sie verzweifeln, etwas Werthvolles zu leisten oder zu liefern. Gerade nun, weil ich Laie bin und als solcher manch schönen Einblick thun konnte, möchte ich meine gesammelten Beobachtungen publiciren, um womöglich alle Freunde der Thierwelt anzuregen, dieselbe zu studiren, auch wenn sie vielleicht lange Zeit nur allbekannte Thatsachen wahrnehmen. Geduld und Genauigkeit entdecken doch manche neue Seite und – den ausdauernden Beobachter krönt auch oft genug das Glück, wie mein Beispiel zeigen wird.
Von früh auf habe ich mit wärmstem Interesse vorzugsweise die niederen Thierclassen beobachtet. Und schon als Knabe befolgte ich stets den Grundsatz: die Thiere erst ohne jede Störung, ganz in ihrem eignen, freien Thun und Treiben zu studiren, und erst wenn ich sie da zu kennen glaubte, ganz allmählich und vorsichtig mich ihnen zum Bewußtsein zu bringen und zu erproben, wie weit sie menschlicher Einwirkung und Erziehung fähig seien.
Alle diese vielen einzelnen, oft zufälligen und häufig unterbrochenen Beobachtungen hatte ich längst gesammelt, als mir’s in den letzten Jahren in Oldenburg möglich wurde, Aquarien und Terrarien anzulegen und so zusammenhängendere und umfangreichere Forschungen zu beginnen. – Und zu derartigen Anlagen rathe ich jedem Naturfreunde, der sie irgend ermöglichen kann. Die Mühe und der unausbleibliche Aerger dabei werden reichlich aufgewogen durch die mannigfaltige Freude des Genusses.
Aquarien sind schon ein verbreiteter Handelsartikel geworden. [78] Ueber sie giebt die beste Auskunft die treffliche kleine Schrift „Das Süßwasser-Aquarium“ von Roßmäßler und Brehm. Die Behälter, Ingredienzen und Thiere kann man ferner in reicher Auswahl aus dem großen Berliner „Aquarium“ beziehen. – Seltner sind die Terrarien, die Behälter für das kleinere Landvieh, die Amphibien, die Insecten, Schlangen etc. – Auch die Behälter des Berliner Vivariums für diese Thiere sind nicht maßgebend für den Laien, der mit wenig Kosten, auf engerem Raum möglichst viele verschiedene Thiere halten und sie von allen Seiten beobachten will.
Ich richtete mein Terrarium ein, ehe ich die Berliner Anstalt kannte und ohne aus einem Buche Anweisung zu schöpfen. Freilich verdankte ich den tüchtigen Oldenburger Zoologen Wingken, Inspector des Museums, Dr. Greye und dem Thierhändler Wagner manchen schätzbaren Wink, im Ganzen aber mußte ich auf eignem Ermessen und Berechnen fußen.
Ein drei Fuß langer und zwei Fuß breiter Blechkasten mit verschiebbaren Glaswänden, der mit seinem ebenfalls beweglichen Draht- und Glasdache sich zu fast drei Fuß Höhe erhob und auf einem tragbaren Gestelle ruhte – das war der Schauplatz, auf dem meine zahlreiche Thierwelt Sommers im Sonnenschein des Gartens ihr bewegtes Leben führte und Winters in des Kellers Dämmerung ihren Winterschlaf hielt. Kleinere gleichartige Behälter dienten dazu, unnütze Thiere einstweilen zu exiliren, oder gezüchtete Brut in Sicherheit zu bringen, oder endlich des Winters im Zimmer Beobachtungen anzustellen.
In der großen Arche stellte ich eine malerische Tropenlandschaft her. Groteske Tuffsteinfelsen und verwitterte Baumklötze wechselten mit weichen Erdhügeln, dürrheißen Sandplätzen und kühlfeuchten Höhlungen ab. Schlanke Akazien, Apfelsinenbäumchen und Papyrusstauden, schattige Farren und breite Blattpflanzen, Epheu und andere Schlinggewächse bildeten die luftreinigende Vegetation, unter welcher halbversteckt Seen in Muschelbassins die nöthige Feuchtigkeit boten, die bei starkem Sonnenbrande außerdem ein einfacher Sprengapparat lieferte. – Auf diesem abwechselungsreichen Terrain konnte ich die Neigungen der Thiere am besten erforschen, konnte auch möglichst verschiedene Inwohner zusammen beherbergen. – Bald wimmelte es denn auch von – meist eigenhändig gefangenen – Eidechsen, Blindschleichen, Molchen, Kröten, Unken und Fröschen; von Käfern, Ohrwürmern, Fliegen, Schmetterlingen, Spinnen, Schnecken und Würmern – letztere Reihe zugleich als Futter dienend im Verein mit Mehlwürmern, Grashüpfern Mücken etc., die ich frisch fing oder hielt. So war die kleine Welt fertig; Tag und Nacht lebte und regte sich’s, und eigentlich war immer etwas Interessantes zu sehen und zu beobachten.
Aus diesem Terrarium also, ebenso aus den verschiedenen gleich reichlich besetzten Aquarien, endlich aus der Menge der Einzelbeobachtungen zu verschiedenen Zeiten und an den verschiedensten Orten fließt der Stoff dieser „Thierstudien eines Laien“. – Mögen sie denn Gnade finden vor den Richtern von Fach, zugleich aber Lust und Interesse, auch für die niedere Thierwelt, fördern und wecken in den weiteren Kreisen der Laienwelt!
Der Hirschkäfer mit seinem stolzen Geweih und seiner ernsten Würde hätte mir stets absonderlichen Respect eingeflößt. Allein so oft ich ihn fing, war er ein so stiller Gast, verschmähte alle Delicatessen und stand so phlegmatisch auf einem Flecke wie ein langweiliger Heiliger auf seiner Säule, daß ich anfing, das Interesse zu verlieren. Da belehrten mich vorigen Sommer die Hirschkäfer des Werrathals bei Münden, daß auch unter ihrem braunen Panzer ein freiheitliebendes und tapferes Herz schlage.
Für die erstere Eigenschaft erlebte ich zunächst folgendes Beispiel. Vielleicht angezogen vom Duft einer Erdbeerbowle, die mich mit Freunden auf dem schönen Andree-Berggarten über Münden vereinte, flogen mir in kurzer Zeit zwei Hirschkäfer, Männchen und Weibchen, zu. Unter einer Glasglocke vereinigt zeigten sie jedoch die gewohnte Lethargie und nur bei jedem Ruck des Tisches zuckten sie eigenthümlich auf und schoben sich etwas rückwärts. Abend nahm ich sie in einer Schachtel mit hinunter in’s Gasthaus. – Mitten in der Nacht nun wachten mein Freund und ich von einem sonderbaren Knistern auf und entdeckten endlich, daß es aus der Schachtel kam. Beim Oeffnen lagen beide Käfer auf der Seite und staken mit den Zangen in einer Fuge der Schachtel. Als wir uns still hielten, fingen sie richtig bald wieder an zu knacken und lösten fortwährend kleine Holzspähne ab. Da es indeß langsam zu gehen schien, so besorgte ich nichts, schüchterte sie durch Schütteln ein und bald lagen wir wieder fest im Schlafe. – Da weckte uns gegen Morgen ein gewaltiger, sausender Lärm und – siehe da! Die Käfer hatten wahrhaftig die Fuge durchgeknabbert, sich hinausgedrängt und sausten nun von Zeit zu Zeit mit einem starken Bums! gegen die Fenster. – Solche Freiheitsliebe mußte ich belohnen und bald schwirrte das Pärchen in den goldnen Morgen hinaus.
Aber eine noch höhere Achtung des Hirschkäferstandes flößte mir einige Tage später ein weibliches Glied derselben ein, welches sich als wahre Amazone bewährte. Mit Freunden ging ich eines Abends am Werraufer und Waldessaum entlang, und Caro, unser Pudel, ergötzte uns durch seine Possen. Schon mehrfach hatten wir Hirschkäfer an den Bäumen hinstreifen sehen, aber zum Fangen zu hoch; es schien ein ordentlicher Strich von Westen her zu sein. Endlich kam ein mächtiger Bursche gerade auf uns zu; ein Schlag mit dem Hut – und am Boden zappelte ein kolossales Weibchen, eine Riesin ihres Geschlechts, wie ich sie auch in Sammlungen noch nicht gesehen, und wenn auch ohne Geweih, so doch mit gewaltigen Zangen gerüstet. Wir halfen ihr auf die Beine, als Caro herbeikam und nach Hundeart das seltsame Ding beschnupperte. Dies fand die Käferdame indessen frech und – kaum gedacht, so kniff sie sich so intensiv in des Pudels Schnauze ein, daß dieser heulend aufsprang und erst durch verzweifeltes Schütteln den fatalen Nasenklemmer los wurde. Nun aber war Caro der Beleidigte! Wüthend faßte er den Käfer an, doch – o weh! abermals zwickte dieser ihn im Nu derartig, daß er niesend und prustend umherkreiste. – Jetzt verfuhr der Hund, der auch tapfer war und vom Kampfe nicht abstand, vorsichtiger, hier- und dorthin fuhr er, den Gegner mit den Zähnen zu fassen und doch die bösen Zangen zu meiden. Aber wie staunten wir, als der sonst so ungelenk erscheinende Hirschkäfer, stets hoch aufgerichtet und die drohenden Fänge dem Köter entgegenstreckend, sich wie der Blitz im Kreise drehte, jeder Wendung und Bewegung auf’s Genaueste folgte und sogar, wenn Caro zurücksprang, tapfer vorrückte! So oft der Pudel ihn noch wirklich packte, so oft wir glaubten, jetzt sei’s um die kleine Amazone geschehen – immer doch war’s die alte Geschichte: Caro ließ stets wieder heulend los und der Hirschkäfer – den wir natürlich immer sofort wieder auf die Füße stellten – behauptete das Schlachtfeld. – Endlich setzten wir die Siegerin auf einen Baum, wo sie sich erholen und triumphirend herabsehen konnte auf den noch lange wüthend hinaufbellenden Pudel.
Wie mögen, bei solcher Tapferkeit, erst die Kämpfe sich gestalten, welche die „Eifersucht und Leidenschaft“ der Hirschkäferliebe erregt? Leider habe ich diese zu beobachten bisher noch nicht das Glück gehabt. –
Wer kennt ihn nicht, den schmächtigen Gesellen mit dem beweglichen Leibe und den flinken Füßen, der überall, in Früchten und Schoten, in Blumen und Blättern, in Mauerritzen und unter Steinen, sein lichtscheues Wesen treibt? Erst sitzt er, wie geblendet, ganz still, wenn Deine prüfende Hand leise den schützenden Versteck öffnet; aber plötzlich huscht er Dir blitzschnell durch die Finger und – weg ist er, Du weißt nicht wie!
Die gewöhnliche Sprache nennt ihn „Ohrwurm“; ich möchte den Kunden als den „Reinecke unter den Insecten“ betiteln.
„Wie ekelhaft ist dies Geschöpf!“ hat gewiß mancher Leser schon gerufen, wenn er vielleicht gerade in einen schönen Apfel beißen oder eine süße Weintraube entbeeren wollte und dann ein solcher Schmarotzer ihm entgegensprang, den haschenden Finger vielleicht gar tüchtig kniff und jedenfalls durch seine fatale „Anrüchigkeit“ dem Munde den Genuß verleidete. Und auch abgesehen von dem Märchen, als krieche der kleine Gourmand in die Ohren und erzeuge dort Taubheit: das allgemeine Urtheil ist dem Burschen jedenfalls ungünstig – analog der Verdammung des eigentlichen Reinecke.
Außer dieser sehr negativen Analogie haben mich nun meine vielfachen Beobachtungen zu sehr positiven Gründen für jenen Vergleich geführt. Der moralische Charakter des Oehrlings hat durch dieselben zwar wenig gewonnen, obwohl Taschenberg (in Brehm’s „Illustrirtem Thierleben“) die Liebe der Mutter zu ihren [79] „Würmchen“ rühmt; aber um so interessanter sind mir die geistigen Fähigkeiten des „Ritters vom Oehr“ entgegengetreten. Ich halte ihn für das schlaueste aller Insecten-Subjecte, und alle meine Studien haben mich stets von Neuem auf die Zusammenstellung mit Meister Reinecke hingedrängt. Die empfindliche Spinne, die scharfsichtige Cicindela, die praktische Ameise, der vorsichtige Carabus, ja die berechnende Biene – sie alle und mir gegen den Ohrwurm wie Stümper und Ignoranten erschienen. Wenn die Augenblicke kommen – und das, meine ich, ist die Probe –, von denen jedes Wesen denkt, sie gefallen mir nicht, also in Gefahren, zumal bei Eingriffen der Menschenhand: da wird die Spinne, hat sie nicht gerade Eier zu schützen, feig und kopflos, die Cicindela kurzsichtig, die Ameise tollkühn, der Carabus tölpisch, die Biene tollkühn und – nur der Ohrwurm bleibt, wie er ist, nämlich vorsichtig, schlau, erfinderisch.
Ich setzte von allen jenen Thieren (außer der Biene), dazu von Fliegen, Käfern etc., eine Menge Exemplare in einen größern Glasbehälter, dessen Boden ich – wie das meine Hauptregel auch bei den kleinsten Behältern ist – mit Erde, Steinen, Blättchen und allerlei Grus dem natürlichen Erdboden möglichst treu nachbildete; denn nur so, nicht aber auf glattem, ebenem Glas- oder Holzboden, entfalten die Thiere ihr wahres Leben und Treiben wenigstens annähernd wie im Freien. – Nach etwa einstündigem, erbittertem Kampfgewirr wiesen alle Parteien mehr oder weniger Todte und Verwundete auf. Da lagen Spinnen, oft von den eigenen Verwandten am tollsten zerfetzt; Cicindelen und Carabusse hatten sich und allen Anderen wüthende Schlachten geliefert; Ameisen, ineinander verbissen oder von anderen Gegnern zerquetscht, hauchten langsam ihre zähe Seele aus. Und von den Lebenden liefen die Käfer stets denselben blödsinnigen Trab rings an der Glaswand herum, blind nur zufassend, wenn ein Hemmniß vorlag. Die Spinnen hatten sich meist nach oben geflüchtet, jagten aber auch hier einander, und nur allemal die größeren hatten den Muth, den kleineren dauernd zuzusetzen; oft aber flohen sogar die dicksten Kreuzjungfern entsetzt vor einer dummdreisten Fliege, die im Netze ihnen ja unrettbar verfallen wäre. Die Ameisen endlich, die den Streit am glühendsten geführt, fielen rasch der Ermattung zum Opfer. – Dagegen deckte aus der Cohorte der Ohrwürmer kein einziger als Leiche das Schlachtfeld; aalglatt wanden sie sich durch den dicksten Gefechtsknäuel durch, fortwährend den geschmeidigen Hinterleib mit drohend weitgeöffneten Zangen blitzschnell nach allen Seiten schnellend; die größten Widersacher wurden durch diese Akrobatenkniffe in Schreck und Furcht gesetzt. Verwundet waren freilich mehrere; einen hatte sogar des Cicindelenzahnes Schärfe halbirt. Aber auch diese wehrten sich noch, und selbst jenes Vordertheil that noch ebenso tapfer mit wie die unverletzten Gefährten. Nie griff ein Oehrling den andern an; höchstens machten sie – gleichsam zangenfletschend – gegen einander Front und „rempelten“, doch ohne ernstliche Attaque. Natürlich concentrirten sie, gleich allen anderen, sich oft genug rückwärts in die naheliegenden Schlupfwinkel; aber ebenso oft kamen sie wieder hervor, und namentlich beim Matterwerden des Streites griffen sie direct Fliegen, Spinnen und nicht allzu große Käfer an.
Endlich stellte sich eine verhältnißmäßige Ruhe ein. Und nun zeigte sich diese schlaue Bande als die einzige, welche – freilich nicht sehr moralisch – aus der Situation Nutzen zu ziehen verstand. Denn nun offenbarten die Bösewichter sich als die „Hyänen des Schlachtfeldes“, als die wahren Marodeure und Leichenschänder. Von allen Seiten, aus allen Löchern kamen sie nach und nach hervor und machten sich ohne viel Gewissensbedenken an die Todten und Verwundeten. Ja mitten in Kampfscenen saß Meister Oehrling ruhig am schauervollen Fraß; kam ein Feind nahe, so erhob sich sofort das drohende Zangenpaar, doch ohne daß die Kauwerkzeuge auch nur einen Moment gefeiert hätten. Ward der Spectakel zu arg, so schleppte er wohl die oft noch widerstrebende Beute bei Seite unter ein Blatt oder Steinchen; aber gar nicht immer nahm er sich diese Mühe, sondern nagte häufig genug auf freiem Felde fort. – Erst lange nachher folgten Spinnen und Käfer diesem bösen Beispiele. Trafen dann mehrere Räuber an einem Stück zusammen, so wichen vor den größeren Käfern die Ohrwürmer zwar meist zurück, aber doch auch nur langsam und drohend; zuweilen indessen hielten sie selbst dem überlegensten Gegner Stand, zerrten mit ihm hin und her, und mehrfach sah ich, daß selbst eine Cicindele vom Kampfe abstand. Eine Spinne nun gar, und wäre sie auch die größte gewesen, band regelmäßig nur zu eigenem Schaden mit dem Gesellen an, der sie sammt den Fliegen gegen Abend sogar aufsuchte und angriff. Setzte sich eine der Weberinnen zur Wehr und fuhr mit ihren auch nicht zu verachtenden Zangen zu, so barg der Ohrwurm stets im Nu den Kopf unter dem gänzlich nach vorn übergebogenen Hinterleibe, gegen dessen Zangenöhr der Spinnenbiß nichts ausrichten konnte. Im Netze habe ich freilich oft den Ohrwurm verloren gesehen, da die Spinne viel rascher ihn umstricken konnte. Doch waren auch die Fälle nicht selten, daß der Bursche sich mannhaft vertheidigte und seine Lanzen oft bis zur Wurzel in den weichen Spinnenleib versenkte, oder auch, daß er raschen und leichten Laufs über das Netz hinweg der Spinne entfloh, oder endlich sich mit der Kraft der Verzweiflung durch die Maschen riß und zur Erde hinabstürzte.
So behaupteten sich also in dem Behälter die Zangenritter durch Tapferkeit, vor Allem aber durch Umsicht und List, als die eigentlichen Meister der Arena und hielten, mitten unter Blut und Leichen, ein cannibalisches Siegesmahl, wie es ihnen vielleicht selten geboten war. Selbst jener noch immer muntere Halbirte schmauste wacker mit und schien es gar nicht zu verübeln, daß seine Hinterhälfte von seinen eigenen Cameraden mit verspeist wurde. An mich schienen die geriebenen Subjecte sich rasch gewöhnt zu haben. Fuhr ich ’mal mit dem Finger in die Gesellschaft hinein, so stoben Spinnen und Cicindelen erschreckt durcheinander; die Carabusse zogen sich, allerdings mit dem jeweiligen Raubstück, zurück; aber von den Oehrlingen blieben die meisten ruhig beim Schmause und erhoben auch gegen mich dräuend den Doppelspieß. Vielleicht hatten sie ein Gefühl, daß ich es war, der ihnen den Tisch so reichlich gedeckt hatte.
Allein Undank ist der Welt und zumal Reinecke’s Lohn. Als die Dunkelheit hereinbrach, begannen die nun satten Gesellen gegen meine Auspicien zu opponiren. „Wir sind nun voll und können nach Hause gehen!“ Das schien ihre Losung zu sein, die sie denn auch mit Energie und gleicher Klugheit zu realisiren strebten. Sie versuchten nämlich nun, an den glatten und dazu concaven Glaswänden hinauf zu klettern; lange vergeblich, bis endlich ein Hauptpfifficus auf den Einfall kam, nicht gerade, sondern seitwärts und im Zickzack sich hinaufzuschieben. Alle Minuten machte er Ruhepause, und so oft er auch herabfiel, stets begann er die Tour von Neuem und meist von derselben Operationsbasis aus. Und nicht genug, selbst hier am jähen Abgrund „sich leimend mit dem eig’nen Blut“, scheuchte er jede querkommende Fliege oder Spinne zurück; und wunderlich genug sah’s aus, wie dieser Jongleur mit den Füßen sich an die glatte Wand stemmte, sorglich jedes Stäubchen zum Anhaltspunkt ausnutzend, und mit dem langen Hinterleib herüberhing oder nach rechts und links schlenkerte. Dem Führer folgten denn alsbald mehr und mehr Cameraden und die Glaswand rings bot nun ein komisches Bild dar mit den hier und dort kletternden, ruhenden, purzelnden Oehrlingen und den dazwischen hindurch jagenden Spinnen, Fliegen und Käfern.
Da ich den Behälter durch einen Drahtdeckel mit übergreifendem Blechring geschlossen hatte, konnte ich unbesorgt diesen Kletterclub gewähren lassen und begab mich auf längere Zeit hinweg. Doch als ich wieder kam und Alles still, auch die Glaswand völlig leer fand – wer faßt mein Erstaunen, als ich bei Licht die Zahl der Oehrlinge nachzähle, die unten saßen, und „viele sah, die nicht da waren“! Wo sollten die geblieben sein? Wahrscheinlich unter all’ dem Grus. Um Gewißheit zu haben, nahm ich den Deckel ab. Aber sieh’ da, die Schlauköpfe! da hatten sie sich hinaufgearbeitet und oben so dicht am Rande des Blechrings angeschmiegt, daß ich sie nicht hatte sehen können. Sowie ich nun den Deckel lüftete – husch! setzten sie hierhin und dorthin über den Rand auf die Fensterbank und, ohne von diesen wahren Harrassprüngen auch nur einen Augenblick gelähmt zu sein, rannten sie nach allen Seiten auseinander.
So hatte dieses Geschöpf selbst den Menschen überlistet. Oder will man auch dies mit dem unheimlichen „Instinct“ erklären, daß sie gerade jetzt, und mit so unsäglicher Mühe gerade den Deckelrand zum Versteck wählten, während sie bei Tage allein die zahlreichen Schlupfwinkel unten aufgesucht hatten? Ich kann es nur List und Ueberlegung nennen; und wäre der Ohrwurm [80] nur irgendwie ein idealer Jüngling, so wäre mir für ihn auch der Gedankengang noch plausibel: die Freiheit, die er meinte und die sein Herz erfüllte, könne ihm nur von oben winken.
Ich habe dieses einen Tages Beobachtung so genau zu schildern versucht, weil sie alle meine sonstigen zahlreichen Studien über den Oehrling gleichsam zusammenfaßte und bestätigte. Im Anschluß an Taschenberg’s Darstellung füge ich noch bei, daß der Ohrwurm Fleischnahrung nicht blos nicht verschmäht, sondern ebenso gern acceptirt wie Pflanzenkost. Habe ich ihn doch mit Fleisch vom Eßtisch gefüttert! So viel er also auch den Früchten schadet: durch Vertilgung unzähliger Insecten und animalischer Stoffe stiftet er doch auch einigen Nutzen. Ob sie endlich „nächtliche Thiere“ sind, die Oehrlinge – was Taschenberg bezweifelte, möchte ich weder unbedingt verneinen noch bejahen, sondern sie als „Amphibien“ des Lichts und der Finsterniß bezeichnen. Das ist zwar kein Fachname, aber ich glaube, er paßt auf sehr viele Wesen, die bei Nacht wie bei Tage ihren Trieben und Bedürfnissen nachgehen. Und auch in dieser Beziehung würde ja die Analogie mit dem Fuchse richtig und das Epitheton passend sein: „Reinecke unter den Insecten“.
Ich sah noch nie ein Augenpaar.
Ich sah noch nie ein Augenpaar
Wie dein’s, mein Kind, so hell und klar,
So ungetrübt von jedem Weh,
So unergründlich wie die See.
So still auch wie die blaue Fluth,
Die schlummernd dir zu Füßen ruht
Und nur sich leise rauschend regt,
Wenn träumend sie der Wind bewegt,
Das ist noch immer Frühlingswind!
Er weht so lau, er weht so lind,
Doch kommt der Herbst, so schwillt er an
Und wird zum Sturme, zum Orcan.
Die See wird schwarz, die See wird wild,
Des wüsten Lebens treues Bild,
Und wühlt empor, was abgrundtief
In sanfter Ruhe lag und schlief.
Zumeist auch ist es schwarz und wild,
Was aus der Tiefe aufwärts quillt,
Nur selten wirft der Wogen Braus
Muscheln mit blanken Perlen aus. –
O liebes Kind, dein Augenpaar
Schwebt täglich, stündlich in Gefahr;
O wahre seine stille Pracht,
Der Sturm ist da, eh’ du’s gedacht!
Helgoland. Harbert Harberts.
Unsere Leser haben in mancherlei Bildern des letzten Krieges den deutschen Kaiser kennen lernen, Befehle gebend und Siegesbotschaften empfangend. Da nur Wenige derselben in das Hofleben und seine Gewohnheiten eingeweiht sein dürften, so wird es sie sicher interessiren, ihn auch im Familienkreise zu sehen, sich von den Regierungssorgen erholend und umgeben von den Segnungen des Friedens und der Künste.
Am besten dürfte sich zu diesem Zwecke die Darstellung einer jener musikalisch-dramatischen Soiréen eignen, wie sie am Berliner Hofe üblich sind, und unser heutiges Tableau giebt uns die ziemlich klare Anschauung einer solchen. Man geht da aber nicht ganz ohne Ansehen der Person hinein, wie etwa in das Concerthaus der Gebrüder Medding zu den berühmten Musikaufführungen des Herrn Bilse. Hier sagt der Oberst und Hofmarschall des Königs, Graf v. Perponcher-Sedlnitzki erst: „Viele sind berufen, aber Wenige auserwählet.“ Dieser wichtige Kronbeamte hat zunächst Sorge zu tragen, daß bei derartigen Festlichkeiten an der auf’s Minutiöseste vorgeschriebenen Hofetiquette keines Sonnenstäubchens Gewicht verloren gehe. Zunächst erhält der Herr Marschall die Liste der zur „Cour“ Geladenen und Befohlenen aus des Königs eigenen Händen. Mit dieser Liste macht sich einer der Hoffouriere auf die Reise, und jedem Auserwählten mündlich mitzutheilen, daß er für den und den Abend bei Hofe erwartet werde. Geladen werden zunächst die Mitglieder der Königsfamilie und die gerade anwesenden Fürstlichkeiten, befohlen sodann die Botschafter verschiedener Großmächte, die Minister, Staatssecretäre, Baron v. Rhaden, Hofrath Borck, Herr v. Hülsen und was sich sonst noch „courfähig“ zu nennen berechtigt ist.
Die Leitung des musikalischen Theiles der Soirée liegt in den Händen des königlichen Obercapellmeisters und Hofpianisten Herrn W. Taubert, und das streng kritische Auge des General-Intendanten der königlichen Schauspiele schwebt beobachtend und ordnend über dem Ganzen. Zur Ausführung des gesanglichen Theils werden natürlich die ersten Opernkräfte, soweit sie disponibel und disponirt sind, von Seiner Majestät befohlen. Es entfalten bei Hofe ihre Talente am häufigsten: Frau Harriers-Wippern, Frau Mallinger, Frau von Voggenhuber und Frau Lucca. Von den Herren der Kunst gehen durch das goldene Palastthor: Albert Niemann, Womorsky, Betz und Tenorist Krüger, auch genannt „Heinrich der Dicke“. Das recitirende und declamirende Element ist ebenfalls bestens vertreten; nur Hermann Hendrich’s markiger und edler Vortrag wird dabei von Vielen schmerzlich vermißt. Zur Belebung des Programms werden dann und wann auch fremde Virtuosen zugelassen. Selbst mittelmäßige Talente haben bei solchen Soiréen nichts zu fürchten, denn Zeichen des Mißfallens dürfen nicht laut werden, und Gustav Engel, zur Zeit der gefürchtetste Musikkritiker der Kaiserstadt, wird zu Hoffesten als Recensent nicht „befohlen“. Das Concert beginnt präcis zehn Uhr. Erst kommen einige introducirende Tonstücke zum Vortrag, dann lassen sich die übrigen Künstler in programmatisch vorgeschriebener Reihenfolge hören. Den Glanzpunkt bei solchen Soiréen bildete zur Zeit, als dieser Artikel entstand, gewöhnlich Frau Lucca. Mit der mußte man aber, und muß man auch heute noch subtil umgehen, denn ihr Kehlkopf war und ist, außer der Gastspielzeit, äußerst empfindlich, und den „Mandelschneider von Tübingen“ möchte sie doch wohl nur im äußersten Falle zum zweiten Male consultiren. Unser heutiges Bild ist nach einer zu diesem Zweck aufgenommenen Photographie hergestellt, also – wie wir zur Beruhigung unserer Leserinnen hervorheben wollen – bis in das kleinste Detail wahrheitsgetreu.
Frau Lucca bewahrt übrigens auch in der schwächlichen Naturen sonst bekanntlich sehr gefährlichen Hofluft ihr originelles Wesen und hat dies wiederholt bewiesen. So nahte ihr einmal der Hofmarschall mit der Mittheilung, daß der König ihr Erscheinen bei Allerhöchstihm befohlen habe. Seiner Majestät Kammersängerin erwiderte mit schalkhaftem Lächeln: „Herren kommen eigentlich zu mir.“ Der König, der in der Nähe stand und diese Worte hörte, lachte herzlich, ging zur Lucca und machte ihr ein recht artiges Compliment.
Frau Lucca singt verschiedene ihr vorgeschriebene Lieblingsnummern des Königs und der Königin, nur nichts von Richard Wagner. Ein Paragraph in ihrem Contract entbindet die Sängerin ausdrücklich von jeder Mitwirkung in Opern von Wagner, und wie tief bei ihr die Abneigung gegen die „Zukunftsmusik“ gewurzelt ist, hat sie bei gegebener Gelegenheit schon auf das Nachdrücklichste gezeigt.
Der äußere Verlauf der Soiréen ist immer der gleiche. Punkt
[81][82] elf Uhr ist das Concert zu Ende. Wir haben schon bemerkt, daß bei solchen Hofconcerten keine Zeichen des Mißfallens laut werden dürfen, ebenso muß aber auch der Beifall sich stumm verhalten, nur die Königin läßt mitunter ein halblautes „Charmant!“ oder „Magnifique!“ ertönen. Nach dem Concertschluß werden die Sängerinnen durch den Hofmarschall einzeln vor die fürstlichen Damen geführt, wo sie den vorschriftsmäßigen Soiréeknix zu machen und für ihren Gesang die von der Hofetiquette vorgeschriebenen Lobsprüche einzuheimsen haben.
Nach dem Schlusse des musikalischen Programms öffnet sich eine Gardine im Hintergrunde des Saales, eine kleine Bühne wird sichtbar und die französische Komödie nimmt ihren Anfang, Punkt zwölf Uhr meldet der Hofmarschall, daß das Souper im Speisesaal angerichtet sei. Der König bezeichnet nunmehr dem Hofmarschall um zwölf Uhr erst jeden Einzelnen, der zur Tafel „befohlen“ werden soll. Diejenigen, an denen Graf Perponcher, ohne sie einzuladen, vorüber geht, schleichen sich, wie Petrus, nachdem der Hahn zum dritten Mal gekrähet hatte, hinaus, nicht aber, um bitterlich zu weinen, sondern gewöhnlich, um bei Carl Heller, Restaurant erster Classe, à Couvert einen Friedrichsdor, ziemlich mittelmäßig zu soupiren. Die Hofetiquette wirft übrigens wunderbare Blasen. So wird z. B. zum Singen „Frau Lucca“, nach Beendigung des Concerts und der Theatervorstellung jedoch „Frau Baronin von Rhaden“ zur Tafel „befohlen“. Gegen ein Uhr entfernen sich die Majestäten. Bald darauf deckt tiefes Dunkel die goldenen Räume und die „weiße Frau“, das bekannte Schloßgespenst, kann ungestört und unbelauscht ihren Umgang durch die Gemächer halten.
Am achten Januar d. J, veranlaßte im preußischen Landtage eine Interpellation des Abgeordneten Richter von Hagen den Kriegsminister zu einer Darlegung Dessen, was von Seiten der preußischen Regierung in Bezug auf die Vermißten geschehen ist. Richter hatte zwei Fragen gestellt: 1) „Wie groß ist gegenwärtig noch bei der preußischen Armee die Zahl der aus dem letzten Kriege Vermißten?“ 2) „Welchen Umständen schreibt es die königliche Staatsregierung vornehmlich zu, daß über das Geschick dieser Personen Näheres nicht hat ermittelt werden können?“ In seiner warmen und schönen Interpellationsbegründung zog sich derselbe, weil er das Verdienst der „Gartenlaube“ um diese Angelegenheit erwähnte, ein „Murren rechts“ zu, über das er und wir uns zu trösten wissen. Dagegen können wir nicht verschweigen, wie schmerzlich eine Aeußerung des Ministers uns berührte, und zwar die: daß er beim ersten Anblick der Interpellation diese Frage für müßig gehalten habe. Wir kennen das Herz des verdienten alten Generals und wissen, daß es in diesem Kriege selbst den Vaterschmerz über den Verlust eines tapferen Sohnes zu tragen hatte; eben deshalb sind wir überzeugt: hätte er nur ein Dutzend von den Briefen der Angehörigen unserer Kriegsvermißten, wie sie jetzt zu Hunderten vor uns liegen, diese Briefe voll herzzerreißendsten Jammers gelesen, er würde gewißlich „diese Frage“ nicht „für müßig“ gefunden und auch den Zeitungen nicht den Vorwurf gemacht haben, daß sie diese Vermißtensache nur benutzten, „um etwas Interessantes, etwas Effecthaschendes zu bringen“. Den Zeitungen gebührt vielmehr die Anerkennung, daß sie die Interpellation veranlaßt haben, und daß diese allein erst den Herrn Minister veranlaßte, Umfrage nach der Zahl der Vermißten zu halten, gesteht er selbst mehrmals in seiner Erklärung ein, ja er gesteht sogar ein, daß diese Erklärung ohne jene Interpellation wohl unterblieben wäre. Warum aber dann den Zeitungen Vorwürfe darüber machen, daß sie noch an deutsche Gefangene in französischer Gewalt glauben und die Hoffnung der Angehörigen auf deren Erlösung theilen, wenn die bessere Kunde, in deren Besitz die Regierung allein ist und sein kann, der Oeffentlichkeit vorenthalten wird? Warum wird z. B. die Liste der „etwa hundert“ noch in Frankreich liegenden nichttransportablen Verwundeten und Kranken nicht ebenso veröffentlicht, wie es s. Z. mit den Verlustlisten nach jedem Kampfe geschah? Nicht bloß die Angehörigen, die ganze deutsche Nation hat ein Recht darauf, über Alles, was seine „Vermißten“ angeht, belehrt und soweit es möglich durch die Kunde von den Schritten der Reichs- wie jeder Einzelregierung für dieselben beruhigt zu werden. So lange dies nicht oder unvollständig geschieht, bleibt es die Pflicht der Presse, ihre Thätigkeit auf diesem traurigen Felde fortzusetzen, auch wenn sie weiter nichts bezweckte, als für die Angehörigen nach Ort und Art des Todes ihrer Söhne, Väter, Brüder und Freunde zu forschen.
So lange die Todeserklärung aller Vermißten noch nicht erfolgt ist, hat diese Nachforschung auch ihre praktische Seite für diejenigen Angehörigen, welchen die Auszahlung der für Wittwen, Waisen und Eltern der Todten bestimmten Pension vorenthalten, d. h. von der Beibringung eines Todtenscheins abhängig gemacht wird. Es ist gewiß hart, daß diese Verfügung gerade die beklagenswerthesten Opfer des Kriegs trifft, denen die heilende Zeit nicht die Wunde des Schmerzes über einen Todten verschließt, sondern die fortwährend offen erhalten wird durch die schreckliche Ungewißheit über das Schicksal des Vermißten.
Die Zahl der Vermißten hatte der Herr Kriegsminister vor der Interpellation auf etwa 13–1400 geschätzt; die Umfrage in Folge derselben stellte sie für die Armee des norddeutschen Bundes einschließlich des badischen Armeecorps und der hessischen Division, jedoch mit Ausschluß des sächsischen Armeecorps auf 3241 fest. Nimmt man die Zahl der vermißten Baiern, Sachsen und Württemberger noch so gering an, so wird die Gesammtzahl der deutschen Vermißten sicherlich weit über 4000 steigen, und das ist eine schreckliche Zahl für den einen und kurzen Krieg sind läßt auf die Summe von Jammer und Elend schließen, welche dadurch über die Tausende der Angehörigen daheim gekommen ist.
Solchen Zahlen gegenüber erscheint freilich unsere Thätigkeit und ihr Erfolg fast kleinlich; und doch ist der Erfolg größer, als wir erwartet hatten. Wir theilen die bis jetzt auf unsere Anfragen erhaltene Auskunft mit, schicken dieser Liste aber Einiges aus den uns zugegangenen Briefen und Berichten von allgemeinem Interesse voraus.
Zur Erklärung vieler Fälle von plötzlicher Verschollenheit ist die Belehrung geeignet, die uns von dem Privatdocenten Dr. ph. A. v. Koenen zukommt, der mit einem Sanitätscorps nach Frankreich zog und an verschiedenen Kriegsplätzen, in Lazarethen, in der Evacuation, unter Johannitern und selbstständig thätig war. Er schreibt:
„In den Listen der noch ‚vermißten Soldaten unseres Krieges‘, in der Gartenlaube, finden sich wiederholt Anmerkungen mit Worten des Erstaunens, wie ich sie auch sonst häufig von Privatpersonen gehört habe, nämlich darüber, daß Soldaten spurlos verschwinden konnten und zwar aus Lazarethen etc., nicht blos während des Gefechtes. Für Denjenigen, welcher die Verhältnisse genauer kennen gelernt hat, ist die Möglichkeit eines solchen Verschwindens freilich sehr leicht erklärlich.
Verfolgen wir, um dies darzuthun, den verwundeten N. N. aus der Schlacht, z. B. der bei Gravelotte, bis in die Heimath.
Von den Krankenträgern aus dem Gefecht nach dem Verbandplatze gebracht, wird N. N. hier theilweise entkleidet, und schon hier oder später bei einem Wechseln der Wäsche kann er leicht seine Blechmarke, sein ‚Todtenglöckchen‘ verlieren, oder absichtlich ‚als üble Vorbedeutung‘ entfernen. Nach Anlegung des ersten Verbandes, beim Transport nach dem nächsten Hause, das in der Noth als Lazareth dienen muß, wird N. N. wohl gar mit Uniformstücken eines andern Soldaten von einem andern Regimente oder gar Truppentheil bedeckt oder bekleidet; verliert er das Bewußtsein, resp. stirbt er hier bald, so ist er verschollen. Haben die Krankenträger ihn zufällig persönlich gekannt, so wird er in der Verlustliste als ‚Verwundet‘ genannt, andernfalls als ‚Vermißt‘.
Aber selbst wenn N. N. in jenem Nothlazareth bei Sinnen blieb, auch wohl von Cameraden besucht wurde, so war er noch nicht vor dem Verschwinden gesichert. Sobald wie nur irgend möglich wurden aus den mit Verwundeten überfüllten Dörfern alle ‚Transportfähigen‘ rückwärts resp. nach geeigneteren Orten evacuirt, ohne daß es, in den ersten Tagen wenigstens, möglich war, eine ganz genaue Liste der zu Evacuirenden aufzunehmen. Dabei wollte jeder einzelne transportabel sein, wollte ‚nach Deutschland‘, ‚nach Hause‘.
Die Fuhrleute, oft Franzosen mit requirirten Wagen, wissen natürlich nicht, wen sie fahren, und wenn N. N. unterwegs stirbt, wie dies ja leider öfter vorgekommen ist, ohne daß irgend Jemandem eine Schuld beizumessen wäre, oder wenn N. N. im Lazareth erst besinnungslos wird resp. stirbt, ehe sein Nationale aufgenommen wurde, so ist er wiederum verschollen. So kam am 23. August v. J. unter einem Transport Verwundeter Einer besinnungslos [83] nach Pont-à-Mousson in das Casernenlazareth, bekleidet mit einem preußischen Waffenrock und französischen rothen Hosen, aber ohne Blechmarke und sonstige Kennzeichen.
Aber selbst aus dem Lazareth, nachdem sein Nationale vorschriftsmäßig aufgenommen war, konnte N. N. spurlos verschwinden. – Alle Kranken und Verwundeten hatten nämlich eine unbezähmbare Sehnsucht, wieder nach Deutschland zu kommen, und suchten deshalb zunächst auf die Evacuandenliste zu kommen; hatte der Arzt dies abgeschlagen, so wurden von N. N. allerlei Listen angewendet, um heimlich mit fortzukommen. Gerade solche, vom Arzte für nicht transportfähig erklärte Patienten konnten dann leicht den Strapazen der Reise erliegen, und da N. N. keine Papiere etc. bei sich hatte, auch in der Liste des Transportes nicht aufgeführt war, so konnte seine Identität mit dem aus dem Lazareth H. H. verschwundenen N. N. nicht constatirt, selbst nicht einmal vermuthet werden.
In weit größerer Zahl sind übrigens Reconvalescenten in anderer, weniger bedauerlicher Weise verschwunden. Aus den Krankentransporten, die von Weißenburg nach irgend einem Reservelazareth im Innern Deutschlands geschickt wurden, verschwanden nämlich häufig einzelne Reconvalescenten, und zwar solche, deren Heimath in der Nähe ihrer Reiseroute lag. – Wer verargt es ihnen, daß sie am liebsten ‚zu Hause‘ ihre Wiederherstellung abwarten wollten?“
Der Wege, ein Vermißter zu werden, sind eben zu viel. So erzählten schon im October 1870 die Zeitungen von „seltsamen Leidensgeschichten“, denen preußische Soldaten ausgesetzt gewesen. Sie waren verwundet in Gefangenschaft gerathen, wurden in den Lazarethen sorgsam und sogar liebevoll behandelt, aber, da sie nun als geheilt entlassen werden sollten, fehlten ihre sämmtlichen Kleider und Habseligkeiten. Man steckte sie in alte Civilkleider und stieß sie ohne Geld und Führer in die feindselige französische Welt hinaus. Gehetzt vom Volkshaß und von der Noth, gelangten sie endlich bis an die deutschen Linien, aber nicht Alle, und die das Leben dabei eingebüßt haben, vermehren die Zahl der Vermißten.
Zu großem Danke sind wir dem Münchener Central-Comité des „baierischen Vereins zur Pflege und Unterstützung im Felde verwundeter und erkrankter Krieger“ verpflichtet, das außer den Beiträgen zu der in nächster Nummer folgenden Auskunft uns noch mit nachstehenden Notizen versah:
„Im Schlosse zu Bazeilles starben dreizehn Baiern, deren Namen nicht eruirt werden konnten; außerdem fanden sich dort Leichen unter den Schwerkranken liegend vor, so, wie sie gestorben waren. – Professor Dr. Folwarczny schließt einen Bericht aus Bouillon vom 27. September v. J. mit den Worten: ‚Nachlässigkeit in der Krankenzettelführung, theils auch bewußtloser Zustand der Angekommenen sind Ursache der so ungenauen Bezeichnung der Verstorbenen.‘ Das königlich bairische 12. Infanterie-Regiment setzte einer vom Grafen v. Drechsel gefertigten Gräberliste die ergänzende Bemerkung bei: ‚Fünfundzwanzig Mann, einschließlich vom 1. Jägerbataillon, 1. und 2. Bataillon des 12. Infanterie-Regiments und 107. Infanterie-Regiments (Sachsen) – liegen auf der Höhe östlich des Parkes von La Morcelle.‘“
Ein jetzt in Wien lebender Kanonier der 6. leichten Garde-Batterie sendet uns die Notiz:
„Nach der Schlacht von Sedan lag ich vom 13. September 1870 ungefähr vier Wochen hindurch in einem französischen Hospital, Hôtel Dieu, in Château-porcien bei der Stadt Rethel, und mit mir viele Cameraden. Von Letzteren sind dort mehrere gestorben und begraben worden, die theils dem Typhus, theils auch ihren Wunden erlagen. Wenn ich auch die Leute nicht namhaft machen kann, so weiß ich doch mit großer Bestimmtheit zu sagen, daß der dortige Arzt – ein sehr humaner Mann – ein genaues Namensregister jedes seiner Kranken führte.“
Viele Zuschriften und Zeitungsausschnitte behandelten in allerlei Ausführung und Ausschmückung die Geschichte von den deutschen Kriegsgefangenen in Algier. Auch der Kriegsminister Graf Roon hat diesem Gegenstand den ausführlichsten Theil seiner Rede gewidmet und die vollständige Erfindung der ganzen Algierer Kriegsgefangenschaft nach den Berichten seiner Agenten in den französischen Seehäfen nachzuweisen gesucht. Wir legen daher unser desfallsiges Material vor der Hand bei Seite, müssen es aber trotz alledem bedauern, daß der auch in der Presse (im October vorigen Jahres) besprochene Plan des Herrn Eduard Filchner, Ritters des eisernen Kreuzes und bairischen Militärverdienstordens, in München, nicht zur Ausführung gekommen ist. Derselbe war, wie er uns schreibt, entschlossen: „auf eigene Kosten die Süddepots deutscher Gefangenen in Frankreich bis Algier zu bereisen, um an Ort und Stelle die Erhebungen zu pflegen.“ Er verlangte dazu vom Staate nichts, als daß dem Unternehmen ein öffentlicher Charakter verliehen und namentlich von Thiers ein Schriftstück erwirkt werde, kraft dessen die Maires und Präfecten angewiesen würden, ihm bei seinem Vorhaben möglichst förderlich zu sein. Das bairische Kriegsministerium kam dem Unternehmen mit größter Bereitwilligkeit zur Unterstützung desselben entgegen; dagegen erhoben sich Bedenken auf dem diplomatischen Gebiet, und so ist das Ganze ein Wunsch geblieben. Es ist einem deutschen Mann nicht verstattet, an Ort und Stelle nach unsern Vermißten zu sehen, dagegen reist eine französische Frau, ausgerüstet mit Empfehlungen des Generals v. Treskow, in Deutschland von einer Festung und Strafanstalt zur andern, um die französischen Kriegsgefangenen zu besuchen und ihnen Trost und Hülfe zu bringen. Diese ganz löbliche Rücksicht beobachtet man in dem geordneten Deutschland für wenige gefangene Franzosen, während man dieselbe Rücksicht den Tausenden deutscher Vermißter gegenüber in der liederlichen Wirthschaft Frankreichs versagt, jenes Landes, wo der Haß gegen Alles, was deutsch ist, sogar öffentliche Richter zur Freisprechung geständiger Mörder verführt und die Lüge eine so unerhörte Herrschaft gewonnen hat, daß auch sie gegen den Feind als patriotische Tugend gilt. Wo ist’s nothwendiger, als da, nicht blos französischen Zusicherungen zu glauben, sondern mit eigenen Augen zu sehen? Und wenn wir nichts als Todtenscheine dort zu erwerben vermöchten, so ist doch jeder neue Todtenschein die Beruhigung eines deutschen Hauses oder Herzens, und der Preis sollte nicht so gering erscheinen.
Noch einmal Maus und Canarienvogel. Nummer 1 dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“ enthält unter „Blätter und Blüthen“ eine mit der Ueberschrift „Eine Maus im Canarienvogelbauer – gewiß ein seltener Gast!“ bezeichnete Mittheilung. Dem Einsender der letzteren sowohl, als auch anderen Lesern der „Gartenlaube“, welche der bereits in verschiedenen Jahrgängen derselben gestellten Frage „Instinct oder Ueberlegung?“ und den daran geknüpften Mittheilungen aus dem Thierleben mit Interesse gefolgt sind, dürfte eine Mittheilung über Beobachtungen, an einem andern Orte über Maus und Canarienvogel angestellt, vielleicht nicht unwillkommen sein.
Daß die Mäuse die Futterbehälter der Stubenvögel, vorzugsweise diejenigen, welche Hanfsamen enthalten, besuchen, ist da, wo Mäuse und Vögel sich gleichzeitig vorfinden und die Mangelhaftigkeit des Fußbodens oder der Wände das Eindringen der ersteren in ein Zimmer gestattet, durchaus keine Seltenheit, vielmehr eine tägliche Erscheinung. Die Art und Weise, wie die kleinen Näscher ihre Raubzüge nach hoch im Zimmer hängenden Vogelbauern auszuführen im Stande sind, sowie das Maß von Klugheit und Geschicklichkeit, welches sie dabei entwickeln, ist jedenfalls der Beobachtung werth. An Fenstervorhängen, Topfgewächsen, Schnüren und Kleidungsstücken, in Spalten und engen Zwischenräumen, hinter Tapeten, Schränken, Spiegeln und anderen Gegenständen weiß die Maus mit einer bemerkenswerthen und auffallenden Gewandtheit und Kunstfertigkeit zu den Käfigen der Canarienvögel zu gelangen. Wo man ihr eifrig nachstellt, wird in der Regel nur die Nacht, bei starkem Appetit wohl auch die Dämmerungsstunde benutzt, um sich an der Kost des Vogels gütlich zu thun. Ist die Maus dagegen in Folge besonderer Umstände zu einer gewissen Dreistigkeit gelangt, so stellt sie sich nicht nur bei Kerzen- oder Lampenschein, sondern auch mitten am Tage als Kostgängerin des Vogels ein.
In einer unmittelbar über dem Fußboden entstandenen Mauerspalte eines Zimmers, welches ich als lediger Mann mehrere Jahre hindurch bewohnte, bemerkte ich eines Tages eine Maus, die mich unverwandt mit ihren Blicken verfolgte. Um mich zu überzeugen, ob das winzige Thier den Muth haben würde, in’s Zimmer zu dringen, zog ich mich in den Hintergrund desselben nach einer Ofenecke zurück. Nachdem ich hier einige Secunden regungslos gesessen hatte, wagte sich dasselbe wirklich hervor, eilte auf dem Fußboden längs der Wand dem Fenster zu, erwischte ein Hanfsamenkörnlein, welches aus dem Vogelbauer über dem Fenster herabgefallen war, und eilte schnell damit nach seinem Versteck. Später geschah dasselbe fast täglich, wobei das kleine Geschöpf eine immer größere Dreistigkeit an den Tag legte. Ging ich in der Stube auf und ab, so getraute es sich nicht aus der Mauerspalte hervorzukommen; kaum hatte ich aber am Schreibtische oder sonst irgendwo Platz genommen und eine ruhige Haltung bewahrt, so sprang das possirliche Wesen schnell in’s Zimmer und lief nicht mehr, wie das erste Mal, mit einem Körnlein davon, sondern ließ sich sämmtliche herabgefallene Hanfkörner neben dem Fenster wohlschmecken.
Da ich bestimmt wußte, daß während der Nacht auch das Vogelbauer von Mäusen besucht wurde, so war ich begierig zu wissen, ob sich vielleicht in meiner Abwesenheit diese Maus auch am Tage dazu verstehen würde, nach demselben hinaufzuklettern. Ob mein Canarienvogel, welcher beiläufig gesagt bei der Annäherung eines Menschen eine ganz besondere Courage bewies und furchtlos auf einen durch’s Drahtgitter seines Käfigs gesteckten Finger mit seinem Schnabel loshackte, sich den Besuch eines kleinen Mäuschens [84] während der Tageshelle gefallen lassen würde, war ich gleichfalls neugierig zu erfahren. Zu diesem Zwecke wurde dafür gesorgt, daß kein Hanfsamen zur Erde fiel, außerdem aber hatte ich in meiner Zimmerthüre eine kleine Oeffnung angebracht, welche mich in den Stand setzte, außerhalb meiner Stube die Vorgänge in derselben zu beobachten. In einem Augenblicke nun, als die Maus in der Mauerspalte sichtbar wurde, verließ ich das Zimmer und begab mich auf meinen Posten. Das Thier lief mehrmals unter dem Fenster hin und her, und als es nichts finden konnte, kletterte es zwischen der Mauer und einem etwa einen Fuß hohen Fenstertritt auf den letztern, von welchem es vermittelst der Rückenlehne eines aus Weidenruthen geflochtenen Lehnsessels an die Fenstervorhänge gelangte. An diese hinan breitete sich die Krone einer Myrthe, deren Zweige bis zum Vogelbauer emporragten und als letzte Station ebenfalls von der Maus benutzt wurden.
Der Canarienvogel hatte seinen Gast bereits in der Myrthenkrone bemerkt, verließ seinen Sprossensitz und eilte demselben bis an das Drahtgitter entgegen. Gleichwohl bestieg die Maus den Rand des Vogelbauers, aber dem muthigen und kühnen Wächter seines Hauses gegenüber blieben alle Versuche ihrerseits fruchtlos, in den Käfig zu gelangen, da der Vogel mit ausgespreizten Flügeln und zum Loshacken bereit gehaltenem Schnabel bald von der obern Sprosse die Decke, bald unten die Seiten seiner Wohnung gegen den frechen Eindringling zu vertheidigen wußte. Der Maus blieb zuletzt nichts Anderes übrig, als auf dem angegebenen Wege die Rückkehr anzutreten. Nach Verlauf einer Viertelstunde bemerkte ich indeß die Maus wiederum in der Mauerspalte. Das Thier mußte, wie ich glaubte, stark vom Hunger gequält werden, weshalb ich mich anschickte, einige Hanfkörner auf den Fußboden zu streuen. Dabei fiel mir jedoch ein, es könnte von demselben der Versuch, in das Vogelbauer zu gelangen, noch einmal gemacht werden, weshalb ich wiederum das Zimmer verließ. Auf meinem Beobachtungsposten angelangt, erstaunte ich indessen nicht wenig, als ich jetzt zwei Mäuse im Zimmer erblickte. Beide suchten auf dem bestimmten Wege das Vogelbauer zu erreichen, bei welcher Gelegenheit die eine freilich einige Secunden früher am Rande des Vogelbauers erschien. Der Canarienvogel beeilte sich, seine frühere Position einzunehmen, und rückte ebenso kampfbereit wie vorher an das Gitter. Die Maus schien es aber für dieses Mal weniger auf ein Eindringen abgesehen zu haben, und eilte vielmehr bald oben, bald an der Seite hin und her, um den Vogel in beständiger Aufmerksamkeit zu erhalten.
Dabei wurde ich gewahr, daß die später Eingetroffene sich, ohne daß es der Vogel merkte, durchs Gitter an den Futterbehälter geschlichen hatte und hier unbekümmert um das, was um sie her vorging, am Hanfsamen zehrte. Erst nach einiger Zeit wurden beide Vierfüßler sichtbar, doch verschwand sehr bald wieder einer derselben vom Schauplatze. In Folge dieses Wechsels, der sich zu verschiedenen Malen wiederholte, so daß bald eine, bald beide Mäuse zum Vorschein kamen, läßt es sich wohl mit Bestimmtheit annehmen, daß sowohl eine, als die andere den Käfig nicht ungesättigt verlassen, und den Canarienvogel in schlauer Art und Weise um seine Hanfkörner gebracht haben. Etwa fünf bis sechs Minuten lang beobachtete ich dieselbe Erscheinung, dabei fürchtete ich indeß, daß die lange Aufregung dem kleinen Sänger, meinem Lieblinge, Schaden bringen könne, weshalb ich die Thür öffnete und dadurch die frechen Näscher zu eiliger Flucht nöthigte.
Rhein in Ostpreußen.
Der Stellvertreter des Dover-Calais-Tunnels. Eine Dampffähre zwischen England und Frankreich. In einem frühern Bericht habe ich Ihnen mitgetheilt, daß eine bedeutende Autorität dafür sei, eine große Dampffähre zwischen England und Frankreich zu erbauen, und dadurch allen Uebelständen der Seefahrt abzuhelfen. Dies ist jetzt im Werke, und die Daily News von heute bringt folgenden Bericht über den gegenwärtigen Stand des Unternehmens, offenbar aus der Feder eines Sachverständigen, der mit zu dem Unternehmen gehört:
„Heute Morgen soll eine Conferenz sein zwischen den Vorstehern der Eisenbahnlinien, die es angeht, und den Vertretern der projectirten Dampffähre zwischen England und Frankreich, und so verdient der Plan, die Uebelstände der Canalfahrt zu beseitigen, bei Annäherung zu seiner Ausführung um so mehr eine Besprechung, als über den Umfang, die Tragfähigkeit und den Zweck der vorgeschlagenen Dampffähre die irrigsten Anschauungen herrschen. Man hat kürzlich angenommen, einen Zug voll Reisender an Bord eines Fährbootes zu nehmen, würde seine Tragkraft übersteigen, und hat in der Presse den Wink fallen lassen, man möge sich doch auf die Bequemlichkeit der Reisenden und die Unterbringung ihres Gepäckes beschränken und den Wagenzug auf dem Trocknen lassen. Nichts könnte absurder sein, als dieser Rath, wenn die projectirte Dampffähre überhaupt angenommen werden soll. Das Wesentliche ist, die Ueberfahrt über den Canal zu erleichtern; und dies ist unmöglich (wenn man nicht zu den Plänen eines Tunnels oder einer Brücke zurückkommen will), außer durch die Construirung von so großen Booten, daß die Wellen mit ihrer Bewegung sich wenig oder gar nicht mehr fühlbar machen können. Der Vorschlag ist also, daß die Fährboote fünftausend Tonnen Gehalt haben sollen, daß sie vierhundertfünfzig Fuß lang, fünfundsiebenzig von Bord zu Bord breit und fünfundachtzig Fuß über die Kasten der Schaufelräder hoch sein sollen. Ein Eisenbahnzug von gewöhnlichem Umfang wiegt hundert bis hundertfünfzig Tonnen, also nicht mehr, als der nothwendige Ballast für das vorgeschlagene Fährboot; und die Frage, ob er mitzunehmen sei, ist zu beseitigen durch die Bemerkung, daß, wenn ein allgemeiner Aufbruch gemacht, Passagiere und Güter ausgeladen, eingeschifft, gelandet und wieder in den Zug gesetzt werden sollen, dies ein gänzliches Mißverstehen oder vielmehr nichts Geringeres, als eine höfliche Ablehnung des ganzen Planes ist.
Der Plan zu der Canaleisenbahnfähre ist von Herrn John Fowler entworfen worden, der den Gegenstand seit 1864 unter Händen hat. Im Vergleich mit dem oben angegebenen Umfang der beabsichtigten Fähre ist zu erwähnen, daß die Dampfer zwischen Dover und Calais gegenwärtig nur hundertneunzig Fuß lang und fünfundzwanzig Fuß breit sind. Die zwischen Folkestone und Boulogne sind zweihundertelf Fuß lang und vierundzwanzig Fuß breit. Die Reise währt jetzt zwischen Dover und Calais etwa ein und drei Viertel Stunde, und zwischen Folkestone und Boulogne etwa zwei Stunden. Herr Fowler schlägt vor, die Reise in weniger als einer Stunde zu machen, und den Bahnzug vermittelst hydraulischer Hebewerke unmittelbar auf das Boot laufen zu lassen. Die Reisenden werden diese Einschiffung des Zuges gar nicht gewahr werden, so leicht wird sie vor sich gehen; und die Zeichnungen, welche dem Unterhause vorgelegt wurden, zeigen sehr deutlich, wie diese mechanische Operation in’s Werk zu setzen ist. Die Bahnzüge der South-Eastern- und der London-Chatham-Dover-Bahn werden vereinigt werden, ehe sie auf das Boot kommen, und es ist berechnet worden, daß zwölf Wagen auf dem obern Verdeck und zwölf Güterwagen mit acht weiteren Passagierwagen auf dem zweitem Deck – dies giebt im Ganzen Raum für zweihundertachtundachtzig Reisende – Alles sein wird, was erforderlich ist. Herr Fowler und Sir William Armstrong haben die Zeit genau berechnet, die mit der Einschiffung des Zuges hingehen wird, und sind im Stande, in fünf Minuten Alles auf das obere Verdeck zu bringen, und wenn das untere Deck für einen Güterzug nothwendig ist, diesen ebenfalls in fünf Minuten an Bord zu bringen.
Das Fährboot wird aber auf den Zug unter Dach warten; denn ein mächtiges Glasdach soll über dem Wasser errichtet werden, sowohl für das Boot, als für den Zug. Sobald der Zug an Bord ist, kann der Reisende seine Wagenthür öffnen und sich entweder in eine Privatkajüte zu seiner Seite begeben, oder in einen glänzenden Erfrischungssaal gehen, oder auch auf das Verdeck steigen. Jeder, der ein amerikanisches Dampfboot gesehen hat, weiß, wie die vorgeschlagene Fähre sich ausnehmen wird. Der Wagenzug steht im Centrum eines Decksalons, gerade wie der Eßtisch in gewöhnlichen Dampfbooten, und zu beiden Seiten desselben sind Kajüten. Ueber der langen Kajüte, in welcher der Dampfzug hält, ist ein Oberverdeck, wo man bei gutem Wetter spazieren geht.
Capitain Paton, der eine Zeitlang den ‚Great Eastern‘ commandirte, hat bezeugt, das Gewicht eines Bahnzuges von zwölf Wagen würde nach seinem Dafürhalten im Vergleich mit der Tragkraft der Dampffähre so unbedeutend sein, daß es weder auf dem Ober-, noch auf dem Unterdeck irgend einen fühlbaren Eindruck machen würde; und der verstorbene Sir Luke Smithett, der den Dienst zwischen Dover und Calais dreißig Jahre versehen hat, hat sich in einer Weise ausgesprochen, welche dem Herzen jedes Reisenden wohlthun wird: ‚Die Boote würden sich viel weniger bewegen, die Seekrankheit also sehr abnehmen. Selbst stürmisches Wetter könne solchen Booten nichts anhaben, sie könnten nicht stauchen und bei der vorgeschlagenen Schnelligkeit auch nicht hin- und herrollen.‘ Diese Zeugnisse werden viele Zweifel über Thunlichkeit und Tüchtigkeit des Dampffährplanes beseitigen.
Der zweite Hafendamm oder Molo zu Dover, der ein Theil dieses Planes ist, wird einen mächtigen Ankerplatz für Schiffe hergeben; denn in Verbindung mit dem Admiralitätsdamme, der verlängert werden soll, wird er eine große ruhige Wasserfläche einschließen, wo die Dampffährboote bei jedem Wetter und jedem Fluthstande einen Hafen finden werden. Der Einschiffungspunkt an der französischen Küste soll zwischen Boulogne und Calais sein und ist nach langer Ueberlegung und Erörterung festgesetzt worden.
Der Anschlag für die Veränderungen in Dover und die Dampffähren ist eine Million Pfund Sterling, mit Ausschluß der Kosten des Hafenbaues, der an der französischen Küste zu errichten ist und wofür, wie wir hören, die Regierung von Frankreich eintreten wird.
Die Zeit zur Vollendung der Werke und bis zur Segelfertigkeit der Fährboote wird auf drei Jahre, vom Beginn der Arbeiten ab, angeschlagen. So scheint also die Canalfähre die meiste Aussicht zu haben, uns zur Ueberwindung der Unbequemlichkeiten hinweg zu helfen, welche der ‚Wassergraben‘ zwischen England und Frankreich uns jetzt verursacht; es handelt sich darum, sich in London einzusetzen, acht Stunden darauf in Paris zu sein und Bahnzüge mit Reisenden und Gütern direct und ohne Umladung von London nach Berlin oder Wien etc. schicken zu können.
Brighton, 4. Januar 1872.
gingen wieder ein: W. B. in Pettau (Steiermark) 1 Thlr. 10 Ngr.; J. R. in Weimar 5 Thlr.; aus Minden 1 Thlr.; C. D. Vogt 10 Thlr.; Dr. Schulz in Pritzwalk 5 Thlr.; Lorenz Bauer in Zwickau 1 Thlr.; A. H. Allenstein 1 Thlr.; Bardey in Stuer 1 Thlr.; C. S. in Karlsruhe 5 Thlr. 21 Ngr. 4 Pf.; Th. Grieben in Berlin 5 Thlr.; Frau Dehoff in Baden-Baden 1 Thlr.; Andreas Z. in N. 3 Thlr.; Schulte-Heuthau in Rosenau 5 Thlr.; Wiedemann in St. 3 Thlr.; C. Wild in Baden-Baden 3 Thlr.; Guhrauer 10 Ngr.; J. M. in T. 8 Thlr.; durch Dr. Oelschläger in Danzig gesammelt 15 Thlr. 10 Ngr.; H. L. in Eschweiler 2 Thlr.; durch A. M. Fuchs in Magdeburg gesammelt 2 Thlr.; Conrad Doubler in Dorf Geisern 1 Thlr.; Busoldt u. Frau 5 Thlr.; J. Z. in Tonna 2 Thlr.; aus Wittstock 5 Thlr.; H. L. 2 Thlr.; L. Th. 1 Thlr.; Justizr. Siemens in Wendisch-E. 10 Thlr.; J. N. in Arcs-Zercel (Lothringen) 2 Thlr. 20 Ngr.; J. Heinrich in Prag 5 fl.; K. W. in Wien 5 fl.; K. S. in Dauborn 15 Ngr.; auf dem Antrittscommers der freien studentischen Vereinigung zu Leipzig 6 Thlr. 23 Ngr. 3 Pf.; Ungenannt 1 Thlr.; aus Glatz 2 Thlr.