Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[669]

No. 41.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


17.


In Frau Wollnow’s kleinem behaglichen Balconzimmer der oberen Etage hatte man soeben den Kaffee eingenommen; die Herren waren gegangen, um unten im Comptoir eine Cigarre zu rauchen. Die Damen saßen noch am Tisch, von welchem das hübsche junge Dienstmädchen die Sachen abräumte; die drei Kinder, die sich in die veränderte Hausordnung – man nahm den Kaffee sonst unten im Wohnzimmer ein – nicht finden konnten, tollten übermüthig umher, zu Frau Wollnow’s herzlichster Lust, während Alma Sellien eine mißvergnügte Falte mit der zarten wohlgepflegten Hand von der weißen Stirn glättete.

„Könntest Du die Kinder jetzt nicht fortschicken?“

„Die Kinder!“ sagte Frau Wollnow mit einem erstaunten Blick ihrer runden braunen Augen auf ihre braunäugigen Lieblinge.

„Ich bin des Morgens stets ein wenig nervös; und heute, wo ich noch eine Landpartie vorhabe, muß ich doppelt vorsichtig sein.“

„Ach, verzeihe, liebe Alma! ich dachte nicht daran, daß Du an den Spectakel nicht gewöhnt bist. Es ist auch nicht immer bei mir so schlimm; aber seitdem mich vorgestern meine Stine verlassen hat – lieber Gott, ich kann es ihr nicht verdenken; sie will heirathen, die gute alte Person, und noch dazu einen jungen Menschen, der beinahe ihr Sohn sein könnte, da hat sie denn allerdings keine Zeit zu verlieren. Sie ist zu ihren Eltern zurückgegangen; die Hochzeit soll schon in zwei Wochen sein. Es ist ihr schwer genug geworden, sich von den Kindern zu trennen –“

„Du wolltest die Kinder ja wegschicken, Liebe!“

Die Kinder waren fortgeschickt; Alma Sellien lehnte sich erschöpft in die Sophaecke zurück und sagte, indem sie die sanften blauen Augen wie im Halbschlummer schloß: „Ich bin überzeugt, es ist wieder eine Enttäuschung.“

„Was, liebe Alma?“ fragte Frau Wollnow, deren Gedanken noch bei ihren Kindern waren.

„Mein Mann schwärmt so entsetzlich für ihn; er enthusiasmirt sich immer nur für Männer, die ich hinterher abscheulich finde.“

„Diesmal dürftest Du Dich irren,“ rief Frau Wollnow, die über einem so interessanten Thema selbst das Schreien ihres Jüngsten auf der Treppe überhörte; „Dein Mann hat eher zu wenig als zu viel gesagt. Er ist nicht nur ein schöner Mann – worauf ich für mein Theil herzlich wenig Gewicht lege – groß, von einer überaus feinen, anmuthigen Haltung, die mit dem sanften und doch entschiedenen Ausdruck seiner Züge, mit dem milden und doch festen Blick der großen, tiefblauen Augen, ja mit dem weichen und doch sonoren Klang seiner Stimme auf das Herrlichste harmonirt.“

„Du wirst ja zur Dichterin,“ sagte Alma.

Ottilie Wollnow erröthete bis in ihr krauses blauschwarzes Stirnhaar hinauf.

„Ich leugne nicht, daß ich ihn sehr – sehr –“

„Liebe,“ ergänzte Alma.

„Nun ja, wenn Du willst; das heißt, wie ich alles Schöne und Gute liebe.“

„Eine vortreffliche Theorie, zu der ich mich ganz und gar bekenne, nur daß wir leider in der Praxis jedesmal auf den Widerspruch unserer Männer gefaßt sein müssen. Der Deinige schien wenigstens von Deinem Protégé nicht ebenso entzückt zu sein.“

„Mein guter Emil!“ sagte Frau Wollnow, „wir stimmen in so manchen Dingen nicht, und, lieber Himmel, es ist ja auch kein Wunder; er hat es sich sein Lebenlang so blutsauer werden lassen müssen, das hat ihn ein wenig ernst und pedantisch gemacht; aber er ist ein so grundguter Mensch, und in diesem Falle irrst Du Dich nun vollkommen: er interessirt sich im Grunde für Gotthold noch viel mehr, oder, wenn das zuviel gesagt ist, mindestens ebenso viel wie ich.“

„Es schien nicht so.“

„Aber schien auch nur. Er fürchtet, sich etwas zu vergeben, wenn er redet, wie es ihm um’s Herz ist. Ich habe gefunden, alle Menschen, die eine traurige Jugend durchgemacht haben, sind so. Auch das Herz will, so zu sagen, Tanzstunde gehabt haben, und hat es keine gehabt, hat es immer nur unter dem Druck enger, trübseliger Verhältnisse schlagen können, wie bei meinem armen Emil, das verwindet man das ganze Leben nicht. Aber, was ich bemerken wollte: diesmal hat es damit eine ganz besondere Bewandtniß. Mein guter Emil ist freilich noch niemals, selbst gegen mich nicht, mit der Sprache herausgegangen, der gute, liebe Mensch, als ob ich ihm übel nehmen würde, daß er vor dreißig Jahren, oder sind es schon fünfunddreißig, einmal gründlich verliebt gewesen ist, in die Mutter Gotthold’s nämlich, als er und sie in Stettin in demselben Hause lebten – es ist eine lange, ganz romantische Geschichte.“

[670] „Sieh’, sieh’!“ sagte Alma, „wer hätte das Deinem Manne zugetraut!“

„Bitte,“ rief Ottilie, „da verkennst Du doch Emil sehr gründlich; er ist von einer Frische, einer Kraft, einem jugendlichen Feuer –“

„Wie glücklich Du bist!“ sagte Alma mit einem leisen Seufzer.

„Ich hoffe, Du bist es nicht weniger; aber ich wollte ja erklären,[WS 1] weshalb Emil still wird, sobald auf Gotthold die Rede kommt. Also einmal aus dem angeführten Grunde, und dann hat er sich in den Kopf gesetzt: dieser Besuch Gotthold’s bei Brandows müsse für ihn – ich meine für Gotthold – zum Unglück ausschlagen. Du weißt, Gotthold hat Cäcilien geliebt, ja, unter uns, ich bin überzeugt, er liebt sie noch. Aber nun sage selbst: kannst Du darin ein so großes Unglück sehen?“

„Gar nicht; ich finde es nur etwas unwahrscheinlich; Du weißt, ich habe Eure Schwärmerei für Cäcilie niemals theilen können und sehe durchaus nicht ein, weshalb sich alle Männer in sie verlieben sollen. Ihr Mann ist offenbar gar nicht mehr in sie verliebt; wenigstens macht er einer Dame, die ich kenne, so oft er sie trifft, den Hof in einer Weise, die dafür spricht, daß sein Herz nach einer andern Seite nicht gerade übermäßig stark engagirt ist.“

„Wenn er überhaupt eines hätte. Verzeihe, liebe Alma, Du bist eine kluge Frau, und ich bin überzeugt, daß Du Deinen Mann liebst; aber Brandow ist wirklich ein ungewöhnlich gefährlicher Mensch: von der feinsten Tournüre, wenn er will, stets munter, launig, oft witzig, ja gefühlvoll, wenn es sein muß; dabei keck, kühn, ein anerkannter Meister in allen ritterlichen Künsten, und so etwas imponirt uns Frauen immer, mit einem Wort ein gefährlicher Mensch. Lieber Gott, wäre es denn sonst zu verstehen, daß die aristokratische, poetische Cäcilie sich in ihn verliebt hätte! Aber was hilft das Alles ohne wahre Liebe, und einer solchen halte ich Brandow ein für alle Mal nicht fähig. Nun laß in eine derartige Ehe einen Mann eintreten, wie ich Dir Gotthold geschildert habe, der noch dazu eine Jugendleidenschaft für die Frau kaum überwunden hat – wahrhaftig, wenn man so recht darüber nachdenkt, kann man meinem Manne kaum Unrecht geben: Naturen von einer solchen Leidenschaftlichkeit – in der Einsamkeit des Landlebens dazu – es fällt mir wirklich wie Schuppen von den Augen. Und daß Gotthold während dieser ganzen acht Tage nichts von sich hat hören lassen! Stille Wasser sind tief, aber sind nicht vielleicht auch tiefe still? Und ich bin doch eigentlich durch meine unglückselige Bilderwuth die Veranlassung dazu gewesen!“

„Darüber glaube ich Dich beruhigen zu können,“ sagte Alma; „ich habe gefunden, daß die Männer immer einen Grund haben, das zu thun, was sie gern thun möchten; ist es das Eine nicht, ist es das Andere. Und dann kann ich Dir ja heute Abend, spätestens morgen, wenn wir die Nacht in Dollan bleiben, die neuesten und genauesten Nachrichten über alle diese interessanten Verwickelungen bringen. Ich fürchte nur, daß sie weniger interessant sind, als Du Dir einredest.“

„Du Glückliche!“ sagte Ottilie seufzend; „wie gern ginge ich mit. Aber das würde mein Mann nie erlauben.“

„‚Erlauben‘ ist ein Wort, das sich ein Mann gegenüber seiner Frau niemals erlauben sollte,“ sagte Alma, indem sie ihren Trauring an dem schlanken Finger auf- und abgleiten ließ.

Das Gespräch der beiden Damen wurde durch den Assessor Sellien unterbrochen, der mit einiger Hast durch den Salon herbeikam.

„Nun,“ sagte seine Frau, „Du kommst schon zurück? Der Wagen ist da? Ich bin noch gar nicht in der Reisestimmung.“

„Der Wagen ist noch nicht da,“ sagte der Assessor, indem er zwischen den Damen Platz nahm und die Hand seiner Frau, die schlaff über der Sophalehne hing, an seine Lippen führte; „ich komme eigentlich, zu fragen, ob Du nicht lieber hier bleiben willst.“

„Ich hier bleiben?“ sagte Alma, sich schnell aus ihrer Ecke aufrichtend. „Aber was fällt Dir nur ein, Hugo?“

„Du hast Deine Migraine, liebes Kind, und in hohem Grade; ich habe es Dir vorhin schon angesehen.“

„Dann hast Du ganz falsch gesehen, lieber Hugo; ich befinde mich heute Morgen ganz ausnahmsweise wohl.“

„Und das abscheuliche Wetter,“ sagte der Assessor mit einem nachdenklichen Blicke durch die offene Balconthür; „da, es regnet schon wieder; ich begreife nicht, wie die Damen sich so exponiren können.“

Er stand auf und machte die Thür zu.

„Brandow wird doch jedenfalls einen geschlossenen Wagen schicken,“ sagte Alma.

„Um so schlimmer!“ rief der Assessor. „Eine Stunde in einem geschlossenen Wagen, das hältst Du, armes Kind, gar nicht aus. Und dazu die gräulichen Wege – ich kenne das! auf der Dollaner Haide, nachdem es die ganze Nacht geregnet hat! – das ist geradezu lebensgefährlich.“

„Ich werde Dich doch dieser Lebensgefahr nicht allein aussetzen!“ sagte Alma lächelnd.

„Das ist ganz etwas Anderes, liebes Kind! Wir Männer müssen folgen, wohin uns die Pflicht ruft.“

„Und die Aussicht auf ein gutes Diner –“

„Und mit Einem Worte, liebe Alma, Du thätest mir einen Gefallen, wenn Du hier bliebest.“

„Ich habe nicht die mindeste Lust, Dir diesen Gefallen zu thun, lieber Hugo, und nun von was Anderm, wenn ich bitten darf.“ Der Assessor war aufgestanden und hatte einen Gang durch das Zimmer gemacht.

„Nun denn,“ sagte er, stehen bleibend; „Du weißt, wie ungern ich Dir etwas versage; aber diesmal kann ich es Dir wirklich nicht erlauben.“

Alma[WS 2] sah ihren Gatten starr an; Ottilie, die nicht länger an sich halten konnte, lachte laut und rief:

„‚Erlauben‘ ist ein Wort, das sich ein Mann gegenüber seiner Frau niemals erlauben sollte.“

„Das Wort ist vielleicht nicht ganz schicklich,“ sagte der Assessor; „aber es ändert schließlich an der Sache nichts. Und die Sache ist, daß mir Ihr Gatte soeben gewisse Mittheilungen gemacht hat, die mir Alma’s Begleitung diesmal nicht nur nicht wünschenswerth, nein geradezu unmöglich erscheinen lassen. Auch ist Ihr Gemahl, theure Frau, ganz und gar meiner Ansicht.“

„Aber Emil geht in seiner Aengstlichkeit auch zu weit,“ rief Frau Wollnow ärgerlich; „das hat doch die arme Cäcilie nicht verdient! Das heißt doch, den Ruf einer Frau preisgeben, noch dazu ganz ohne Noth, ganz ohne Grund! Wenn man so streng sein will, so müßte man schließlich allen Umgang abbrechen.“

„Ich verstehe Sie nicht ganz, verehrte Frau,“ sagte der Assessor; „zum wenigsten weiß ich nicht, was der Ruf der Frau Brandow mit dieser ganzen leidigen Angelegenheit zu thun hätte.“

„Dann verstehe ich wieder Sie nicht,“ sagte Ottilie.

„Es wird am besten sein,“ erwiderte Sellien, „daß ich, um ferneren Mißverständnissen vorzubeugen, den Damen einfach sage, um was es sich handelt. Zwar hat mir Herr Wollnow Discretion zur Pflicht gemacht; aber die mir so schmeichelhafte Hartnäckigkeit, mit der meine Frau meine schüchternen Versuche, sie zum Hierbleiben zu bewegen, zurückweist, zwingt mich, aus meiner diplomatischen Haltung zurückzutreten. Herr Wollnow hat mir aber soeben anvertraut, daß meine sichere Annahme, Brandow werde die zehntausend Thaler bereit haben, die ich heute bei ihm in Empfang nehmen wollte, gänzlich illusorisch ist. Brandow schrieb mir allerdings vor ungefähr vierzehn Tagen und machte aus seiner Verlegenheit kein Hehl; aber er ist ein so gewandter Mensch und hat sich noch immer geholfen, wenn es darauf ankam; jedenfalls hatte er mir auf meinen ermuthigenden Brief nicht geantwortet, und ich mußte, wie gesagt, annehmen, daß er mich nicht umsonst kommen lassen werde, im Gegentheil Alles in Ordnung sei. Nun aber höre ich von Ihrem verehrten Gemahl, wie die Sache ganz anders und in der That ganz verzweifelt steht. Brandow’s Credit ist vollständig erschöpft; Herr Wollnow sagt, auf der ganzen Insel fände sich Niemand, der ihm noch einen Thaler leihen würde, seitdem die beiden Plüggens und Redebas, die ihn so lange über Wasser gehalten, noch gestern unten in Herrn Wollnow’s Comptoir erklärt haben, ihre Geduld sei erschöpft und von ihnen bekomme er keinen Schilling mehr. Dafür aber bekommen sie von ihm, das heißt, sollen sie in den nächsten Tagen schon eine sehr bedeutende Summe bekommen. Sie haben von fünfzehntausend Thalern gesprochen; indessen meint Herr Wollnow, dabei würde wohl ein wenig Aufschneiderei mit unterlaufen. Wie dem aber auch sei und angenommen, daß [671] dies Brandow’s ganzes Debet wäre – was zweifellos nicht der Fall ist – er ist immer ein verlorener Mann. Das Curatorium rechnet mit Sicherheit darauf, daß Brandow seine zwei Jahre lang gestundete Pacht morgen zahlt. Geschieht es nicht, wird es unweigerlich von seinem Rechte Gebrauch machen und zur Exmission schreiten, und dann ist Brandow so gewiß und so gründlich ruinirt, wie man es nur überhaupt sein kann.“

„Arme Cäcilie! arme, arme Cäcilie!“ rief Frau Wollnow, in Thränen ausbrechend.

„Sie dauert mich,“ sagte der Assessor, an seinen langen Nägeln spielend. „Aber was ist da zu thun?“

„Emil muß helfen!“ rief Frau Wollnow, das Taschentuch vom Gesichte nehmend.

„Er wird sich hüten; ‚es hieße Wasser in das Faß der Danaiden schütten,‘ sagte er noch eben.“

„Aber Sie selbst, lieber Sellien, Sie sind sein Freund; Sie können Ihren Freund nicht untergehen sehen.“

Der Assessor zuckte die Achseln. „Freund! lieber Himmel, wen nennt man nicht so! Und mein Verhältniß zu Brandow ist doch im Grunde ein sehr oberflächliches, wenn Sie wollen, ein geschäftliches, nicht wahr, liebe Frau?“

„O gewiß, gewiß!“ murmelte Alma.

„Und gerade diesen geschäftlichen Charakter unseres Verhältnisses würde ich verleugnen, wenn ich mich in einer so kritischen Situation von Alma begleiten ließe. In Gegenwart der Frauen die gemüthlichen Saiten nicht zu berühren, ist sehr schwer, und es scheint mir doch äußerst wünschenswerth, daß man in einem solchen Falle selbst der Möglichkeit dazu sorgsam aus dem Wege geht. Bist Du nicht auch der Ansicht, liebe Alma?“

„Es ist eine unangenehme Lage,“ sagte Alma.

„Nicht wahr? Und weshalb wolltest Du Dich derselben ohne Noth aussetzen? Ich wußte ja, daß meine kluge kleine Frau mir schließlich Recht geben würde.“

Und der Assessor küßte zärtlich Alma’s Hand.

„Dann, däucht mir, müßten aber auch Sie hier bleiben, lieber Assessor,“ sagte Frau Wollnow.

„Ich? Weshalb? Im Gegentheil, es ist nur praktisch, wenn ich so unbefangen wie möglich erscheine. Ich weiß von nichts; ich ahne nichts. Es thut mir natürlich ungeheuer leid, wenn Brandow mich auf die Seite nimmt und mir sagt, daß er nicht zahlen kann; aber ich wette, das Diner wird deshalb um nichts schlechter sein und mir um nichts schlechter schmecken. Seine Rothweine und sein Champagner waren immer süperb.“

Frau Wollnow stand auf und trat auf den Balcon. Sie mußte frische Luft schöpfen, auf die Gefahr hin, sich den neuen seidenen Morgenrock in dem Regen zu verderben, der in diesem Augenblicke ziemlich dicht vom grauen Himmel herabfiel. „Arme, arme Cäcilie!“ wiederholte sie seufzend, „und Niemand, der Dich retten kann und will!“

Sie dachte daran, daß sie ihrem Manne fünfzigtausend Thaler baar mitgebracht hatte; aber freilich, ohne Emil’s Erlaubniß konnte sie die nicht angreifen, und Emil würde es nicht erlauben. Sollte sie es mit einem Fußfall versuchen? Sie wäre über diese extravagante Idee, besonders wenn sie sich dabei ihres Gatten verwundertes Gesicht vorstellte, beinahe in ein lustiges Gelächter ausgebrochen, nur daß ihr wieder die Thränen aus den Augen drangen und sich mit den Regentropfen vermischten, die ihr in das heiße Gesicht schlugen. Plötzlich wurden die beiden Gatten drinnen in ihrer leisen und angelegentlichen Unterhaltung durch einen lauten Ruf vom Balcon aufgeschreckt: „Gotthold, um des Himmels willen, Gotthold!“

„Wo, wo?“ riefen der Assessor und seine Frau wie aus einem Munde, nach dem Balcon eilend.

„Dort kommt er!“ sagte Ottilie, auf den Marktplatz hinabdeutend, über welchen jetzt ein Mann, den breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen, gerade auf das Haus zugeschritten kam.

„Er ist nicht so groß wie Brandow,“ sagte Alma, welche durch ihre Lorgnette den Kommenden scharf betrachtete.

„Was mag er wollen?“ fragte ihr Gatte.

„Wir werden es alsbald erfahren,“ sagte Frau Wollnow, indem sie mit einiger Aengstlichkeit die beiden Anderen aus der offenen Thür in das Zimmer zurückdrängte.

Aber Gotthold hatte sich, wie das herbeigerufene Mädchen berichtete, nur bei dem Herrn melden lassen, und sie hatte ihn zum Herrn in das Comptoir führen müssen. Die Conferenz, welches Inhaltes sie auch sein mochte, dauerte viel länger, als den erwartungsvoll Harrenden irgend lieb war, und nach einer Stunde, in welcher der Assessor die Ungeduld der Damen durch eine ausführliche Relation seiner mit Gotthold in Sicilien erlebten Abenteuer eher vermehrt als beschwichtigt hatte, erschien Herr Wollnow allein. Man war erstaunt, verwundert und beruhigte sich kaum, als Wollnow sagte, daß Gotthold nur in den Fürstenhof gegangen sei, sich umzuziehen und zum Frühstück zurückkommen werde, wenn seine Geschäfte ihm Zeit ließen. Man wünschte zu erfahren, was denn das für Geschäfte seien, die so dringend wären und zu deren Erledigung sich Gotthold einen Sonntagvormittag ausgesucht habe.

„Da werden die Damen ihn schon selber fragen müssen,“ sagte Herr Wollnow; „er hat mich nicht in sein Vertrauen gezogen. Ich weiß nur, daß er mit unserem Freunde hier nach Dollan zurückfahren und in derselben liebenswürdigen Begleitung, auf die er sich ausnehmend freut, heute Abend oder morgen wieder hier eintreffen will, um dann alsbald seine Reise weiter fortzusetzen. Es scheint, daß es sich noch um den schleunigen Einkauf von ein paar Geschenken handelt, mit denen er seine Dollaner Gastfreunde zu guter Letzt überraschen will, wenigstens hat er sich von mir eine Summe geben lassen, die für bloße Reisezwecke fast ein wenig zu groß ist, das Weitere verschweig’ ich!“

Und Herr Wollnow summte mit anscheinend größter Sorglosigkeit die betreffende Melodie aus dem „Figaro“, als er sich, weiteren Fragen auszuweichen, wieder aus dem Zimmer begab.

„Ich finde es keineswegs artig, sich nicht wenigstens zu präsentiren,“ sagte Alma; „ich habe große Lust, ihn dafür abzustrafen und nicht beim Frühstück zu erscheinen.“

„Aber ich bitte Dich!“ sagte der Assessor.

Ottilie Wollnow antwortete nicht. Sie kannte ihren Gatten zu gut, als daß ihr trotz seiner scheinbar unbefangenen Miene der düstere Blick der Augen und die Wolke auf der Stirn hätten entgehen können. Sie hatte durchaus die Empfindung, daß die Unterredung Gotthold’s mit ihrem Gatten nicht so harmlos gewesen sei, daß vielmehr irgend eine Unannehmlichkeit, vielleicht ein Unglück in der Luft schwebe, und vor Allem war sie überzeugt, daß Selliens sich ganz umsonst ereiferten und Gotthold nicht zum Frühstück erscheinen werde.




18.


In dem Garten zu Dollan wandelte die Gesellschaft zwischen den nassen Hecken in den hier und da verregneten Wegen bereits seit einer halben Stunde auf und ab, der Ankunft des Assessors und des Mittagessens harrend.

„Du bist ein schöner Kerl,“ schrie Hans Redebas, der mit Otto von Plüggen ging, als ihm Brandow mit Gustav von Plüggen und dem Pastor Semmel zum dritten Mal an derselben Stelle begegnete; „erst ladest Du uns auf Jemand ein, der bei Thau und Nebel das Weite sucht, dann fällt es Deiner lieben Frau, um deren willen wir Alle gekommen sind, ein, Migräne zu haben und nicht zu erscheinen; dann müssen wir wieder auf den Assessor warten und hier in Deinem alten nassen Garten umherlaufen, wie die Pferde in der Tretmühle! Ich gebe Dir noch zehn Minuten, wenn wir dann nicht bei Tisch sitzen, lasse ich anspannen und wir essen in Dahlitz und nicht schlecht. Was sagst Du dazu, Pastor?“

Und Herr Redebas lachte und schlug den Pastor, der mit ihm in seinem Wagen gekommen war, derb auf die Schulter. Brandow lachte auch; man müsse Geduld mit ihm haben; es sei nicht seine Schuld, daß der Assessor noch nicht da sei und wenn es sonst heute ein wenig quer bei ihm gehe; das Essen sei übrigens längst fertig.

„Dann laß uns in dreier Teufel Namen zu Tisch gehen, oder ich falle in Ohnmacht,“ schrie Herr Redebas.

Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß der riesengroße und riesenstarke Mann einer solchen Anwandlung von Schwäche unterliegen werde; aber Brandow hatte alle Ursache, die üble Laune seiner Gäste nicht noch mehr zu reizen. Man hatte bereits, die Zeit bis zur Mahlzeit zu kürzen, ein kleines Spiel gemacht, an welchem sich der Pastor, außer mit seinem gespanntesten Interesse, nicht betheiligte, und hatte ein paar hundert Thaler an ihn verloren. Das war freilich eine verschwindend kleine Summe in Vergleich zu der, welche er seinen Gästen schuldig war; aber [672] man hatte den Verlust doch übel empfunden und aus seinem Verdruß um so weniger ein Hehl gemacht, als Brandow noch mit keinem Wort des Geschäftes Erwähnung gethan, zu dessen Regulirung man eigentlich heute zusammengekommen war. Ohne Zweifel konnte Brandow nicht zahlen. Das hatte man freilich vorausgesetzt, ja im Grunde war das ganze von Hans Redebas und den beiden Plüggen gemeinschaftlich unternommene Geschäft auf dieser Voraussetzung basirt; aber jetzt hatte Jeder von ihnen nicht übel Lust, sich in dem Lichte eines Ehrenmannes zu sehen, den man in seinem Vertrauen auf das Schmählichste betrogen hat.

Besonders war Herr Redebas in sehr gereizter Stimmung. Die Bedingungen, zu denen er sich bei Abschluß des gemeinschaftlichen Geschäfts verstanden hatte, gefielen ihm mit jedem Augenblicke weniger. Warum hatte er nicht entweder die ganze Summe gezahlt, oder sich doch für sein Dritttheil das zweite Pfand, das Brandow neben dem Brownlock angeboten, seine Weizenernte, zuschreiben lassen? Der Weizen, wie er sich eben noch überzeugt hatte, stand ganz ausnahmsweise und über alles Erwarten gut, es hätte ein namhafter Gewinn dabei herauskommen können; mit dem Pferde war es doch schließlich ein unsicherer Handel. Seitdem das Comité in die Bahn für das Herrenreiten ein großes Stück Sumpfland hineingezogen, waren die Chancen für den Brownlock, den man allgemein als ein zu schweres Pferd erachtete, namhaft gefallen. Und was hatte ein so äußerst solider Mann wie Hans Redebas mit solchen Dingen zu thun, die sich schließlich nur für Edelleute schickten! Mochten die beiden Plüggen zusehen, wie sie mit dem Pferde fertig wurden! Es war das ihr Metier; sie verstanden sich darauf, und so mochten sie für ihre Zehntausend in Gottes Namen das Pferd behalten und ihm den Weizen lassen! – Aber die beiden Brüder machten trotz der sprüchwörtlichen Uneinigkeit, die sonst zwischen ihnen herrschte, diesmal gemeinschaftliche Sache. Man habe einmal die Verabredung getroffen und es müsse dabei sein Bewenden haben; und wenn Hans Redebas glaube, er wisse allein, wo Barthel den Most hole, so irre er sich gewaltig. Und da nun Herr Redebas seinen Groll an den beiden Compagnons nicht wohl auslassen konnte, hatte er gemeint, sich gegen Brandow desto unzarter und schonungsloser betragen zu dürfen. Er hatte es bereits vor Tisch in überreichem Maße gethan, und der Wein, welchen er bei der Tafel in ungeheuren Quantitäten zu sich nahm, hatte, trotz seiner sonstigen vorzüglichen Qualitäten, nicht die Eigenschaft, die Laune des Riesen zu verbessern.

Brandow würde es zu jeder andern Zeit ein Leichtes gewesen sein, die plumpen Scherze seines Gegners zu pariren und die Lacher auf seine Seite zu bringen; auch galt er sonst unter seinen Gefährten für einen Mann, den man nicht ungestraft reizen dürfe; aber heute schien sein gefürchteter Witz ihn sammt dem erprobten Muth verlassen zu haben. Er hörte nicht, was gar nicht zu überhören war; er verstand nicht, was man gar nicht mißverstehen konnte; er lachte, wo er sonst zornig aufgesprungen sein würde, und versuchte mit blassen bebenden Lippen, so gut es gehen wollte, der Unterhaltung eine scherzhafte Wendung zu geben, wobei er denn zu immer stärkeren Mitteln griff und bald neue Anekdoten zum Besten gab, die selbst dem langmüthigen Pastor allzu anstößig dünkten.

Es war trotz des Gelächters und Lärmens, und trotzdem die Reihe leerer Flaschen unter dem Schenktisch immer länger wurde, ein trübseliges, unerquickliches Mahl, für Niemand mehr, als für den Wirth des Hauses. Brandow wußte aus langjähriger Erfahrung, daß er seinen Nerven viel zumuthen dürfe, aber es kam ihm jetzt doch vor, als werde er, was er heute auf sich genommen, nicht zu Ende führen können. Während er wie toll über eine Geschichte lachte, die er eben zum Besten gegeben, zuckte es ihm in den Fingern, die Champagnerflasche aus dem Kübel zu reißen und sie dem Redebas auf dem großen, schwarzhaarigen Kopf zu zerschmettern. Seine Kraft, er fühlte es, war so gut wie erschöpft; er brach zusammen, wenn Hinrich Scheel nicht bald kam und ihn aus dieser grauenhaften Qual der Ungewißheit erlöste. Und dann war ihm wieder, als ob diese Qual gar nichts sei gegenüber der andern, gegenüber der Qual der Gewißheit, daß seine Frau jenen Menschen liebte und daß sie ihn selbst zu tief verachtete, um ihn auch nur hassen zu können, und daß er diese Verachtung vollauf verdiene. Wieder und wieder – mit der Schnelligkeit des Blitzes – in den paar Momenten, die er brauchte, das Glas zum Munde zu bringen und hinunterzustürzen – durchlebte er die Scene heute Nacht in ihrem Schlafgemach, als er mit geballten Fäusten vor ihr stand und keine Miene in ihrem bleichen Gesicht zuckte, bis er den tödtlichen Streich, den er so lange grausam aufgespart, nach ihrem Herzen führte. Nach ihrem Herzen! in ihr Herz! es war ein Meisterstreich gewesen! ein Streich, der die Stolze, Hoffährtige zusammenbrechen ließ, wie einen Hirsch, den die Kugel auf’s Blatt getroffen, der sie zu seinem willenlosen, gehorsamen Werkzeug und ihn zum Herrn der Situation machte! Eine herrliche Situation, hier zu sitzen und die plumpen Stichelreden des Redebas ertragen, und über seine eigenen albernen Witze lachen, und die dummen Gesichter der Plüggen ansehen, und gegen den scheinheiligen Pfaffen freundlich sein, und darauf achten zu müssen, daß keiner ein leeres Glas habe, und durch all den wüsten Lärm immerfort auf das Rollen des Wagens zu horchen, der den Hinrich brachte und mit dem Hinrich das Geld, für das er gethan, was er gethan, für das er litt, was er litt, und ohne das er ein verlorener Mann war! Endlich, endlich! das war Klappern von Pferdehufen und das Geräusch eines Wagens, der vor dem Hause hielt! Niemand hatte es gehört, außer ihm! desto besser, so konnte er ungestört mit dem Hinrich sprechen!

Er verließ unter dem Vorwand, noch eine andere Sorte Champagner holen zu wollen, seine Gäste, und eilte über den Flur der offenen Hausthür zu, vor der noch der Wagen hielt und er den Assessor im Gespräch mit Hinrich Scheel erblickte, als er plötzlich aus seinem Zimmer, dessen Thür ebenfalls offen stand, seinen Namen rufen hörte, und, sich nach dem Rufe wendend, den Verhaßten dort stehen sah. Schrecken und Wuth durchzuckten ihn wie ein zweischneidig Schwert. Was brachte den Menschen zurück? wie konnte er wagen zurückzukommen? um zu sagen, daß er kein Geld habe, nicht zahlen wolle?

„Wir haben ein paar Augenblicke für uns,“ sagte Gotthold, die Thür hinter dem Eingetretenen verriegelnd, „der Assessor ist noch draußen; er weiß von nichts, und Niemand weiß etwas, außer selbstverständlich Wollnow, ohne den ich Dir das Geld, das Du verlangtest, überall nicht verschaffen konnte. Und auch so ist es mir nicht möglich gewesen, es Dir zu verschaffen, wie Du es wünschtest; ich habe deshalb noch einmal kommen müssen. Du wolltest fünfzehntausend Thaler baar. Wollnow, der gerade morgen sehr bedeutende Zahlungen für Getreideeinkäufe zu machen hat, konnte mir nicht mehr als zehntausend geben; das Uebrige bringe ich Dir in drei Wechseln zu fünftausend Thalern, von Wollnow acceptirt und morgen nach Sicht in Sundin bei Philipp Nathanson, dem bedeutendsten Banquier in Sundin, wie mir Wollnow mittheilte, zahlbar. Diese Wechsel sind bei dem Rufe, in welchem Wollnow in der ganzen Gegend und nicht zum wenigsten bei Deinen Freunden steht, so gut wie baares Geld. Ich denke, daß Du Dich so mit ihnen wirst arrangiren können; schlimmsten Falles bin ich hier, um Dir mit meinem persönlichen Credit zu Hülfe zu kommen, obgleich ich sicher annehme, daß es dessen nicht bedürfen wird.“

Gotthold legte ein größeres, versiegeltes Packet auf den Tisch und nahm aus seiner Brieftasche die drei Wechsel, die er Brandow einhändigte und die dieser mit einem vielgeübten Blick überflog, um sich zu überzeugen, daß diese Papiere in der That vollkommen so gut waren, wie baares Geld.


(Fortsetzung folgt.)




Großmütterchens Kirchensegen.

„Wie Hauch der Nacht verweht das Leben,
Und all sein Glück ist Spreu im Wind!“
So sprach des Pfarrers Mund soeben;
Nimm Dir’s zu Herzen, Enkelkind!

Gar märchenhaft gemahnt mich heute
Entschwundner Tage Lust und Weh’,
Da aus der Kirche beim Geläute
Mit Dir, Du junges Blut, ich geh’!

Ein Sonntag war’s, wie heut so labend,
– Schon sechszig Jahr’! Die Zeit entweicht –
Da nach der Messe er am Abend
Mir hier den ersten Strauß gereicht.

[673]

Großmutter und Enkelin.
Originalzeichnung von H. Salentin.

Die Lampe glomm im Säulengange,
Von Reben schattend überdacht,
Da fühlt’ in sel’gem Ueberschwange
Mein Herz von Liebe ich entfacht.

Die Lampe glomm, die Reben hingen
Im Säulengang noch manches Jahr,
Bis wir vereint zur Kirche gingen,
Ich mit dem Myrthenkranz im Haar.

[674]

Wohl rollten Jahre auf und nieder,
Und Kind und Enkel nannt’ ich mein –
Sie schieden Alle – ach! der Flieder
Blüht über ihrem Leichenstein.

Nur Du, nur Du bist mir geblieben,
Mein Licht im alternden Gemüth,
Ein Frühlingsbild[WS 3] von meinem Lieben,
Das, blühend einst, nun abgeblüht.

Ich blick’ Dich an – da wird in süßen
Erinn’rungen mein Herz so weit,
Als wollte mich noch einmal grüßen
Der jungen Liebe holde Zeit. –

Du wiegst Dich noch in Dämm’rungsträumen,
Und in Dir schläft es knospenhaft,
Doch kommen wird sie ohne Säumen,
Die stille, süße Leidenschaft.

O Gott! Sie wird Dich tief entzücken;
Bricht sie mit ganzer Macht herein:
Was mich beglückt, wird Dich beglücken
Und selig wirst, wie ich, Du sein.

In höchsten Wonnen wirst Du schweben –
Genieß’ sie ganz, mein Enkelkind!
Denn wie ein Hauch verweht das Leben,
Und all’ sein Glück ist Spreu im Wind.

 Ernst Ziel.




Eine Nichte Klopstock’s.


„Rathen Sie einmal,“ schrieb ich vor einigen Tagen an eine befreundete Dame in Köln, die ich seit Langem als eine große Verehrerin des Messiassängers kenne, „rathen Sie einmal, was für einen Besuch ich diesen Nachmittag gemacht habe! Doch nein, Sie rathen es nie und nimmer und wenn Sie sich den Kopf auch noch so sehr zerbrächen.“

Dieselben Worte kann ich jetzt dem Leser zurufen, und auch er würde sich gleichfalls vergeblich bemühen, wenn es ihm nicht der obige Titel bereits verrathen hätte. Aber er wird mir gewiß Recht geben, daß der Fall interessant genug ist, um ausführlicher darüber zu berichten. Eine wirkliche, leibliche Nichte Klopstock’s, eine Tochter seines jüngeren Bruders, lebt hier in Metz und ist jedenfalls eine der interessantesten Persönlichkeiten, die durch die Eroberung der Reichslande wieder ihre ehemalige deutsche Nationalität gewonnen haben.

Zufällig, wie so oft im Leben, bin ich zu der Bekanntschaft mit dieser Dame gekommen, die noch dazu als Hamburgerin meine nächste Landsmännin ist und die ich jetzt fast als meine Verwandte betrachten möchte, denn meine Großeltern waren mit der Klopstock’schen Familie sehr befreundet. Der Archivar auf der hiesigen Präfectur, dessen Familie ebenfalls deutschen Ursprungs ist und mit dem ich seit einem Jahr täglich verkehre, hatte mir freilich schon früher manchmal gesagt, daß er jeden Sonntagnachmittag eine alte Tante besuche, die er in hohen Ehren halte.

„Sie ist über achtzig Jahre alt,“ erzählte er mir eines Tages, „eine Hamburgerin von Geburt und, was Sie besonders interessiren wird, eine Nichte von Klopstock.“

Im ersten Moment meinte ich, daß der Mann scherzte. „Eine Nichte von Klopstock!“ rief ich verwundert, „wie ist das möglich?“

„Ebenso möglich,“ entgegnete der Archivar lächelnd, „wie Sie der Neffe eines Ihrer Oheime sind … wenn Sie es indeß nicht glauben wollen,“ fuhr er fort, „so begleiten Sie mich, ich stelle Sie meiner Tante gern vor, und Sie werden ihr sehr willkommen sein.“

Natürlich ließ ich mir das nicht zweimal sagen; ich sagte eine vorher projectirte Spazierfahrt nach den Schlachtfeldern ab, und wir machten uns sofort auf den Weg.

Die Tante des Archivars wohnt in einem Hause am Mosel-Quai, der nach den Lustgärten der Esplanade führt, mithin im schönsten Stadttheile, und die Aussicht von ihrem Wohnzimmer umfaßt das ganze herrliche Thal, mit dem Strom, mit Wäldern und Weinbergen und mit vielen Dörfern auf dem weiten Höhenzuge, wo auch die gewaltigen Forts liegen, was man Alles nie genug bewundern und beschreiben kann. Sie wohnt übrigens nicht allein, sondern mit ihrer gleichfalls verwittweten Tochter, und beide Damen scheinen sich in ihrer stillen, freundlichen Häuslichkeit sehr glücklich zu fühlen. Hier wird es mir aber wohl gestattet sein, nur von der Mutter allein zu reden. Der Archivar stellte mich als Landsmann, das heißt als Hamburger vor, und wir befanden uns bald in einem sehr lebhaften und für mich äußerst interessanten Gespräche. Wie durch einen Zauberschlag stand auf einmal meine ganze Jugendzeit vor mir und mit ihr die frühesten Erinnerungen meiner Kindheit. Aber was waren diese Erinnerungen gegen diejenigen der alten Dame, die fast drei Viertheile eines vollen Jahrhunderts umfaßten! Ich sehe noch das wehmüthige Lächeln in ihren sanften, gealterten Zügen, als ich im Laufe der Unterhaltung bemerkte, daß ich seit bald zwanzig Jahren meine Vaterstadt nicht wieder gesehen. „Ich seit sechszig Jahren nicht,“ entgegnete sie. Aber wie frisch und klar war trotzdem ihr Gedächtniß geblieben, und wie lebendig und getreu schilderte sie zum Beispiel das Klopstock’sche Haus in der Königsstraße und das dicht daranstoßende meines Großonkels, seines langjährigen Freundes.

Nach Klopstock’s Tode lag freilich noch ein ganzes Menschenalter dazwischen, bis ich als Kind in jenem Hause aus- und einging, oft mit schwerem, zagendem Herzen, und zwar aus Furcht vor Madame Meyer. Diese Madame Meyer hatte dort nämlich eine Knabenschule errichtet, und ihr verdanke ich mein erstes Bischen Wissen im Lesen, Rechnen und Schreiben, das sich aber ohne die tägliche Nachhülfe meiner Großmama daheim wohl auf Null reducirt haben würde. Madame Meyer war eine grämliche Alte, die in ihren dürren Fingern stets ein langes Lineal hielt, mit dem sie uns bei dem geringsten Versehen unbarmherzig auf die Hände schlug, mir namentlich bei dem Einmaleins, das mir nicht in den Kopf wollte. Aber wie oft beim Kommen und Gehen schaute ich zu der weißen Marmortafel hinauf, die über der Hausthür prangte und auf welcher mit goldenen Buchstaben eine lange Inschrift stand, von der ich heute nur noch die erste Zeile weiß: „Hier wohnte und dichtete Klopstock.“

Und in eben diesem Hause hatte die alte Dame, die mir gegenüber saß, gleichfalls ihre Kinderzeit verlebt, aber um einige vierzig Jahre früher, also noch im vorigen Jahrhundert. Sie wußte demungeachtet besser Bescheid darin als ich: die enge Treppe mit dem schweren balustradenähnlichen Holzgeländer und der großen spiegelblanken Messingkugel am Ende; oben nach vorn die zwei Wohnzimmer Klopstock’s, beide damals mit grünen Tapeten und Vorhängen; in dem hinteren Zimmer die kleine Thür, die mein Großonkel hatte durchbrechen lassen, um dem Freunde näher zu sein und nicht über die Straße gehen zu müssen, wenn sie des Abends ihre traditionelle Schachpartie machten. Von diesen Schachpartien wußte die Tante (sie heißt eigentlich, nach ihrem Gatten, Madame Kämmerer, aber ich bitte den Leser, mir zu erlauben, den obigen gemüthlicheren Titel beizubehalten) viel zu erzählen. So unter Anderm den Umstand, daß der gute Klopstock, der sonst die Milde und Sanftmuth selbst war, über jede Störung während des Spiels sehr ungehalten wurde, zumal ihm mein Großonkel die meisten Partien abgewann. Dieser hatte schon deshalb leichteres Spiel, weil er leider so gut wie ganz taub war.

Manchmal kam auch noch der alte, fast erblindete Büsch hinzu (eine andere Celebrität Hamburgs), der sich die Stellung der Figuren sagen ließ und dann Klopstock mit seinem Rathe unterstützte, was wieder mein Großonkel nicht hören konnte.

„Wir Kinder,“ erzählte die Tante weiter, „mußten unterdessen unten im Parterrezimmer bleiben und sehr still sein, wenn wir nicht vor der Zeit zu Bette gebracht werden wollten. Einmal, wo wieder die drei Herren oben waren, banden wir einen kleinen Blumenstrauß und hätten ihn gar zu gern hinaufgebracht, aber wir wagten es nicht. Endlich mußte ich als die Jüngste daran. Ich schlich mich leise und auf den Zehen in das Zimmer; Büsch sah mich nicht und Ebeling hörte mich nicht; der Onkel indeß drohte mir mit dem Finger, nahm mir aber doch den Strauß ab und küßte mich. Dann lief ich wieder davon und meinte, eine wahre Heldenthat vollbracht zu haben. Ich war damals sechs Jahre alt.“

„Die Geschichte spielte also im vorigen Jahrhundert,“ ergänzte ich, „mithin vor etwa vierundsiebenzig Jahren.“ (Büsch starb bekanntlich schon Anno 1800.)

[675] Bei dieser Gelegenheit bestätigte sich wieder die bekannte psychologische Erfahrung, daß alte Leute sich ihrer ersten Jugendeindrücke weit besser erinnern als der späteren dazwischenliegenden Zeiten.

„Wäre es vor vierzig oder fünfzig Jahren passirt,“ sagte die Tante, „so würde ich es wahrscheinlich lange nicht so gut wissen.“

Bei Klopstock’s Tode (am 14. März 1803) war sie bereits elf Jahre alt, und sie befand sich unter den weißgekleideten Mädchen, die mit Rosen- und Eichenkränzen vor dem Leichenwagen gingen, dem ein Prachtexemplar der Messiade auf schwarzem, silbergesticktem Sammtkissen nachgetragen wurde[1], wie man sonst hohen Verstorbenen ihre Ordenssterne nachträgt …. hier wog dies eine Buch wohl alle Ordenssterne auf. Auch von dem Leichenbegängniß selbst, bekanntlich eines der großartigsten und glänzendsten, das je einem deutschen Dichter und Schriftsteller zu Theil geworden, hatte sie eine Menge Einzelheiten im Gedächtniß behalten. Am ergreifendsten war der Moment der Ankunft in Ottensen vor der Meta-Linde, wo aus der zurückliegenden, weitgeöffneten Kirche brausende Orgeltöne herausschallten, während ein zahlreicher Männerchor den ersten Vers des berühmten Klopstock’schen Vaterunsers sang – vielleicht eines der erhabensten Gedichte unserer gesammten Literatur:

Um Erden wandeln Monde,
Erden um Sonnen,
Aller Sonnen Heere wandeln
Um eine große Sonne:
Vater unser, der du bist im Himmel!

Der weite Kirchhof und die angrenzenden Straßen waren schwarz von Menschenmassen. Tausende knieten nieder und schluchzten und weinten laut, und unter den Klängen jenes Gesanges wurde der Sarg in die Gruft gesenkt, mit Blumenkränzen und Lorbeerzweigen überschüttet …. ein geliebter Landesfürst, ein König hätte nicht schöner und herrlicher bestattet werden können. Wochen und Monate lang pilgerten die Bewohner von Hamburg und Altona täglich hinaus, um das Grab zu besuchen, das man bis auf den heutigen Tag und mit Recht ein heiliges Vermächtniß der deutschen Nation nennen darf – „Saat von Gott gesäet, dem Tage der Garben zu reifen.“

Die gute Tante hatte Thränen in den Augen, als sie mir dies erzählte, und der Leser wird mir gewiß gern glauben, daß ich nicht minder gerührt war. Neunundsechszig Jahre waren seitdem vergangen und das elfjährige Mädchen, das einst unter den Hauptleidtragenden an dem Sarge unsers großen deutschen Dichters gestanden – als deutscher Dichter war Klopstock jedenfalls einer der größten! – saß mir jetzt als achtzigjährige Matrone gegenüber. Gewiß ein seltsames Spiel des Schicksals.

Die würdige Frau gewann indeß bald ihre frühere Heiterkeit wieder und zeigte mir nun verschiedene Andenken aus jener längst entschwundenen Zeit: – Bücher, Bilder, Portraits und Medaillen, unter den letzteren die schöne, jetzt so selten gewordene, große silberne Medaille, die man gleich nach Klopstock’s Tode, aber nur in sehr wenigen Exemplaren prägte: auf dem Revers die trauernde Polyhymnia am Grabe des Dichters. –

Wie war aber die Tante, trotz ihrer deutschen Geburt, Französin geworden und nach Frankreich und endlich nach Metz gekommen? Eine sehr nahe liegende Frage, die sich uns um so lebhafter aufdrängt, als es sich hier um ein Mitglied aus einer der deutschesten Familien im ganzen Vaterlande, der Klopstock’schen, handelt. Die Antwort ist einfach. Fräulein Klopstock verheirathete sich im Jahre 1811, also zu einer Zeit, wo Hamburg bereits dem napoleonischen Kaiserreiche einverleibt war, mit dem Sohne des französischen Obersten Kämmerer, der gleichfalls, wie schon der Name sagt, deutscher Abkunft war, und ihr Gatte wurde auch sofort als Beamter an der hamburgischen Postverwaltung, die natürlich damals eine französische war, angestellt. Die jungen Eheleute machten darauf die ganze schwere Zeit mit, die über Hamburg hereinbrach: die schreckliche Beschießung im Mai 1813 und den Einzug des Marschalls Davoust, der die unglückliche Stadt mit Feuer und Schwert verwüstete, den Bankschatz von vier Millionen Thalern raubte, eine Contribution von fünfzig Millionen Franken mit grausamer Härte eintrieb und gegen zehntausend unschuldige und friedliche Einwohner durch Niederbrennen der Vorstädte in wenig Tagen um Obdach und Habe brachte. Als die Franzosen endlich Hamburg räumen mußten, ging auch Kämmerer nach Frankreich zurück, natürlich in Begleitung seiner jungen Gattin, die auf diese Weise ihre Nationalität wechselte. Ihr Vater, Klopstock’s jüngerer Bruder, der als Privatgelehrter und Literat in Hamburg lebte, war bereits gestorben; wer weiß, was sonst geschehen wäre, namentlich wenn der alte Klopstock selbst ein Wort mitzusprechen gehabt hätte.

Das Ehepaar zog nach Longwy, einem festen Städtchen im Moseldepartement, hart an der luxemburgischen Grenze, wo der Gatte das Amt eines Postdirectors bekleidete und zwar bis zu seinem Tode im Jahre 1834. Ihre einzige Tochter verheirathete sich gleichfalls an einen Postbeamten, und als auch dieser gegen Ende der vierziger Jahre gestorben war, siedelten beide Wittwen nach Metz über, hauptsächlich um ihren dort lebenden französischen Verwandten, zu denen auch der oben erwähnte Archivar gehört, näher zu sein. Dort lebten sie still und zurückgezogen in sorgenfreier, gemüthlicher Häuslichkeit – und dort leben sie noch heute. Die Mutter, die ich hier stets die „Tante“ genannt habe, ist mittlerweile achtzig Jahre alt geworden, aber noch von seltener Geistesfrische und auch körperlich ganz gesund und wohlauf. Ich kann es mir schon meiner Leserinnen wegen nicht versagen, hier noch schließlich ein flüchtiges Portrait von ihr zu entwerfen. Sie erinnerte mich ganz an die alte Pflegemutter in der Stifter’schen Erzählung „der Hagestolz“: „eines jener schönen alten Frauenantlitze, die so selten sind. Ruhige, sanfte Farben waren auf ihm und jedes der unzähligen kleinen Fältchen war eine Güte und eine Freundlichkeit.“ Auch die „schneeweiße, gekrausete Haube“ und die „feinen silbernen Haarlöckchen“ fehlten nicht; die Haube war überdies noch mit violettem Seidenband zierlich garnirt und von einer breiten gleichfarbigen Schleife unter dem Kinn zusammengehalten. Das lichtgraue, seidenglänzende Kleid paßte ganz dazu, fast wollte es mir etwas zu jugendlich erscheinen; aber wenn ich dann wieder in die klaren und so überaus freundlichen Augen der Dame hineinsah, auch das lebhafte Mienenspiel ihres Gesichtes und ihre leichten Bewegungen betrachtete, so konnte ich mir nur schwer einreden, daß sie bereits das sechszehnte Lustrum überschritten und daß das erste Decennium ihres Lebens noch dem vorigen Jahrhundert angehörte. Und doch hatte auf die blonden Locken dieses nun ergrauten Hauptes einst der Dichter Klopstock seine segnende Hand gelegt und das blühende Mädchenantlitz geliebkost und gestreichelt, wenn die Kleine ihr Pensum gut hersagen konnte; dann auch erzählte sie mir, wie sie bei dem Onkel buchstabiren und lesen gelernt hatte. Wahrlich eine andere und ungleich schönere Erinnerung, als die meinige, freilich in demselben Hause, aber bei der häßlichen Madame Meyer.

Die harte Belagerung von Metz vor zwei Jahren machten Mutter und Tochter muthig und, Dank ihrer vielen Freunde, ohne weitere Noth und Entbehrung mit; jetzt aber, wo Stadt und Land wieder deutsch geworden sind und es sich auch für unsere beiden Damen um die Wahl einer Nationalität handelte, haben sie sich sofort für Deutschland entschieden.

„Wenn man Klopstock heißt,“ sagte mir die Tante mit leuchtenden Blicken, „so kann man nur für Deutschland optiren.“

Ein nobles, echt deutsches Wort und ganz des großen Oheims würdig. Die Tochter theilt diese Gesinnung, und die Damen sprachen dieselbe schon offen aus, als sie noch nicht einmal sicher waren, ob die Reichsregierung auch die französischen Pensionen und Jahrgehälter mit übernehmen würde. Jetzt wissen wir längst, daß dies in liberalster Weise geschehen wird, aber wenn es auch nicht der Fall wäre, so hätte es wohl nur eines Winkes nach Deutschland hinüber bedurft, um in dieser Beziehung sofort alle Besorgniß zu heben. Gottlob ist das nicht nöthig, aber manchen Leser dieses Blattes dürfte meine Mittheilung dennoch erfreut haben, und er denkt vielleicht jetzt mit größerer Theilnahme nach der Hauptstadt von Deutsch-Lothringen hinüber, seitdem er weiß, daß eine Nichte des Sängers der Messiade (zugleich der letzte Nachkomme dieses Mannes) in ihren Mauern weilt.

Die Tante selbst lebt ganz in dieser Erinnerung. Sie hat merkwürdiger Weise, obwohl sie seit sechszig Jahren nur selten Gelegenheit fand, Deutsch zu sprechen, ihre Muttersprache nicht vergessen und liest noch oft in den Gedichten ihres großen Oheims. Dann sitzt sie am Fenster ihres freundlich und sauber [676] ausgestatteten Zimmers, das mir fast wie ein kleiner Tempel vorkommen will, und schaut hinaus in die weite herrliche Mosellandschaft, wenn die dunkelblauen Berge im fernen Abendfeuer leuchten und glühen …. die rothen und goldenen Wolken der hier untergehenden Sonne bilden ja zugleich die Aurora der aufgehenden für die andere Hälfte unserer Erde. Den gewöhnlichen Wunsch „Langes Leben!“ können wir der guten verehrten Frau allerdings nicht widmen, weil sie bereits ein so hohes Alter erreicht hat, wie es nur wenig begünstigten Menschen hienieden zu Theil wird – wohl aber ein sanftes Scheiden und – denn …

Das Grab ist nur die dunkle Pforte,
Die in das lichte Jenseits führt –

ein seliges Erwachen.

Metz, September 1872.

Adolf Ebeling.




Brutus.[2]


In den dreißiger Jahren, erzählte meine alte Nachbarin, bewohnten wir in Frankfurt ein altes, aber schönes und besonders stattliches Haus am Main, in der Straße, welche noch jetzt „An der Windmühle“ heißt, obwohl von einer solchen nicht die Spur mehr zu sehen ist. In der Fronte ruhte ein bis zum Dache hinaufgehender Erker auf zwei mächtigen Säulen, zwischen denen sich, in einer tiefen Nische liegend, der Eingang befand. An der hinteren Seite war das Haus durch eine Art von überdachter Brücke mit einem kleinen Hintergebäude verbunden, und Schnörkeleien und Schnitzereien kunstvoller Art bewiesen, daß besonders dieser Theil des Baues noch ein echtes Stück des mittelalterlichen Frankfurts sei. Leider ist das Ganze jetzt abgebrochen und an seine Stelle ein moderner Palast gebaut. Wie dieser, so lag auch das alte Haus mitten im Garten, dessen prächtige Bäume mir damals kaum jünger zu sein schienen als jetzt. Wir waren reich, und da mein Mann sowohl wie ich es liebte, Gäste bei uns zu sehen, so fehlte es kaum jemals an solchen, zumal das weitverzweigte Geschäft die vielseitigste Verbindungen mit sich brachte.

Eines Morgens, es war am 3. April 1833, ließ sich Professor N. aus Würzburg bei mir melden, und nachdem ich mich einige Zeit mit ihm unterhalten hatte, lud ich ihn zu Tische ein, wie das nach der Sitte unseres Hauses selbstverständlich war. Allein N. lehnte ab, weil er in Begleitung eines Collegen gekommen sei, an dessen Gesellschaft er sich gebunden fühle. Da ich nun versicherte, daß es mir ein Vergnügen sein würde, beide Herren bei mir zu sehen, so ward die Einladung angenommen.

Zur bestimmten Zeit erschienen die beiden Gäste, von denen der Eine uns als Professor Schönlein vorgestellt wurde. Es war derselbe, der später als Leibarzt des Königs von Preußen berühmt geworden ist. Damals war er ein noch junger Mann von zwar kräftigem Körperbau, aber ohne die Wohlbeleibtheit der späteren Jahre. Außer den beiden Würzburgern war noch ein Hausfreund, Herr van Oeren, zu Tisch, sonst nur mein Mann und meine zwei Kinder. Aber wir unterhielten uns vortrefflich in diesem kleinen Kreise; B. war ein ausgezeichneter Wirth, die Fremden lebendig und anregend, so daß in Folge dessen die Sitzung sich ungewöhnlich lange hinzog und manche Flasche geleert wurde. Nach Tisch, beim Kaffee, stand ich mit Schönlein eine Weile auf dem Balcon, der sich um den Erker herumzog. Es war Anfang April, die ersten Blüthen sproßten, und ich sprach von dem tiefen Frieden, der über die heitere, sonnige Landschaft ausgebreitet war.

„Ja, Frieden!“ sagte Schönlein, „wer weiß, wann diese Blüthen reifen!“

„Wie meinen Sie, Herr Professor?“

Er antwortete nicht, und sein Auge blitzte ernst über die Stadt hinüber, welche sich links von uns in einem Bogen um das Stromufer hinzog.

Ich schwieg ebenfalls, bis er sich meiner Gegenwart zu erinnern schien. Er fuhr sich durch’s Haar, schaute umher, und wie sein Auge auf mich fiel, frug er lächelnd:

„Haben Sie Muth, Madame?“

„Wie so?“ entgegnete ich, denn ich wußte nicht, was diese Frage, die mir außer allem Zusammenhang schien mit dem, was wir vorhin besprochen, bedeuten sollte.

„Nun – ich meine so! – Haben Sie Muth?“ wiederholte er.

„O – ich glaube! furchtsam bin ich nicht gerade.“

„Das ist gut für allerlei Eventualitäten im Leben.“

„Aber ich verstehe Sie nicht, Herr Professor! was meinen Sie eigentlich?“

„O, ich meine Nichts, aber nehmen wir ein Beispiel. Gesetzt den Fall, es bräche eine Revolution aus.“

„Hier in Frankfurt?“

„Nun – meinetwegen, ja!“

Ich lachte und behauptete: hier sei so Etwas unmöglich.

„Vielleicht haben Sie Recht,“ entgegnete Schönlein, „aber wir nehmen es ja auch nur an. Würden Sie sich fürchten?“

„Nein, ich glaube nicht,“ erwiderte ich, „denn meine conservativen Frankfurter mir als Revolutionäre zu denken – ganz unmöglich!“

Einen Moment erschien es mir, als wolle Schönlein den Mund aufthun, um noch mehr zu sagen, er schaute mich prüfend an, dann aber brach er von dem Thema ab, und in das Zimmer zurücktretend, sprachen wir von gleichgültigen Dingen.

Unsere Gäste wollten an demselben Abend nach Würzburg zurück; sie nahmen also Abschied, und mit ihnen verließ B. das Haus, so daß ich den Abend mit meinen Kindern allein blieb. Mir war das auch recht, denn im Allgemeinen hatten wir die Regel, entweder Mittags Gäste zu haben oder Abends, nicht beide Mal. Nur Herr van Oeren machte hiervon eine Ausnahme, indem er eben nicht als Gast, sondern als zu uns gehörig betrachtet wurde. Ihn erwartete ich mit meinem Manne zum Thee. Meine Kinder schliefen, es herrschte eine wohlthuende Stille um mich her, und ein interessantes Buch nahm mich ganz in Anspruch.

Plötzlich wurde so heftig an der Schelle gerissen, daß ich erschreckt in die Höhe fuhr. Gleich darauf stürzte van Oeren in mein Zimmer.

„Mein Gott, Madame!“ rief er, „hier sitzen Sie in aller Ruhe, und in der Stadt ist heller Aufruhr!“

„Wie? was sagen Sie?“

„Ja, ja! die Constablerwache und die Hauptwache sind gestürmt; das Volk drängt sich auf der Zeil zusammen, und bewaffnete Haufen ziehen durch die Straßen.“

„Mein Gott, wo mag mein Mann sein?“

„Ich weiß es nicht, ich suchte ihn auf seinem Bureau – er war nicht da. Nun eilte ich hierher, weil ich mir dachte, wie ahnungslos Sie hier sitzen – es schien mir nöthig, Sie zu benachrichtigen. Aber nun muß ich wieder fort!“

„Um Gotteswillen, Herr van Oeren! lassen Sie mich nicht so allein!“ bat ich.

„Noch brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Ich hörte eben, wie man die zusammengelaufene Menge aufrief, sich der gerechten Sache anzuschließen, aber diese Menge schien mir wenig Lust zu haben – es zündete nicht.“

„So sind der Aufrührer nicht viele?“

„Noch nicht; aber man sprach von tausend Bauern, die in der Richtung von Bonames heranzögen. Man kann immer nicht wissen –“

„Ach, Herr van Oeren –“

„Da läutet es, hören Sie? Vielleicht ist es Sturm. Ich muß fort!“

„Nein, nein! erst müssen Sie mir sagen, was man denn will.“

„Das weiß Gott!“ entgegnete er, die Hand an der Thür. „Ich meinte, wir hätten es lange gut. Ich hörte von den Bundesbeschlüssen von Achtzehnhundertzweiunddreißig sprechen – dagegen empört man sich.“

„Vielleicht hat man Recht.“

„Ja, ja, aber was kann es nützen! Nun, ich werde mich erkundigen, Sie sollen Alles wissen – ich komme jedenfalls wieder. Nur Muth! Adieu! Adieu!“ und fort war er.

[677] Ja Muth! „Haben Sie Muth, Madame?“ Sofort hatte ich mich an Schönlein’s Frage erinnert, und unumstößlich klar war mir geworden, daß die Professoren deshalb in Frankfurt anwesend, Gott weiß wie in die Sache verwickelt waren. Ich erschrak tief um ihretwillen, und es stand sogleich fest in mir, daß ich von Schönlein’s höchst unvernünftiger Aeußerung, mir, der ihm fast fremden Frau gegenüber, zu schweigen habe, selbst gegen meinen Mann, denn daß die Sache der Aufrührer bei ihm keine Sympathie finden würde, dessen war ich gewiß.

Um mich blieb es indeß vollkommen still und friedlich, wie vorher, nur daß das Geläute allerdings noch fortdauerte; aber für Den, der nicht wußte weshalb, klang das mehr friedlich als sturmbedeutend. Die Dienerschaft ahnte nichts, und das war mir lieb, denn Kutscher und Gärtner wären ohne Zweifel zur Stadt gelaufen, und die Mägde würden unnöthiger Weise in Alarm gebracht worden sein.

Aber mir war es unheimlich, so einsam in den weiten Räumen zu sein, und ruhelos wanderte ich hin und her. Bald war ich an den Bettchen meiner Kinder, bald suchte ich Schmuck und Juwelen zusammen – auch Mäntel und andere Kleidungsstücke. Es war bereits ein ansehnlicher Haufen geworden, der mich bedenklich machte, weil nicht Alles fortzuschleppen war, und möglich doch immerhin, daß wir flüchten mußten. Und all’ mein kostbares Silberzeug – sollte es zurückbleiben? Die schönen Möbel, die Teppiche, Bilder und allerlei Kunstwerke? Es schien mir entsetzlich, wenn ich mir dachte: das Alles wird nun vielleicht zerstört, und daran sind die Bundesbeschlüsse schuld. Freudig – ich gestehe es – hätte ich das Opfer nicht gebracht.

Indeß läutete es nicht mehr; zuweilen bildete ich mir ein, Gewehre knattern zu hören, obwohl es kaum möglich war, daß der Wind mir zutrug, was auf der Zeil passirte.

Als mein Mann und van Oeren gegen elf Uhr nach Hause kamen, war Alles vorbei – sie hatten nur Spott für die Attentäter. Schweigend packte ich meine Juwelen wieder aus und hing Kleider und Mäntel an ihren Platz.

Es war, wie leicht begreiflich, von nichts Anderem die Rede, als von dem Krawalle. Unsere Mittagsgäste schienen vergessen; ich aber gedachte ihrer im Stillen mit banger Theilnahme, denn wer konnte wissen, ob sie nicht unter die Zahl der Verhafteten gehörten?

Wie groß war daher meine Freude und meine Ueberraschung, als mir am andern Morgen schon um neun Uhr Professor Schönlein gemeldet wurde. Ich empfing ihn sogleich und hörte seine Entschuldigung wegen des ungewöhnlich frühen Besuches kaum an.

„Ich bin doppelt erfreut, Sie zu sehen, Herr Professor,“ sagte ich, „nach den Ereignissen von gestern Abend –“

„Ja, denken Sie,“ unterbrach er mich, „man bringt meine und N.’s Anwesenheit hier in Frankfurt mit dem Attentat in Verbindung, das heißt, es ist mir gesteckt worden, daß man uns in Verdacht hat, um die Sache gewußt zu haben – wie lächerlich! Aber wir sind deshalb nicht abgereist, wir wollen zeigen, daß wir keine Ursache haben, Reißaus zu nehmen. Statt dessen bleiben wir noch einige Tage, und unwiderstehlich zog es mich zu meiner liebenswürdigen Wirthin von gestern, um zu hören, wie sie sich nach dem Schrecken des gestrigen Abends befindet.“

„Ich verstehe,“ konnte ich nicht umhin lächelnd zu erwidern, denn es war mir natürlich sofort klar, daß Schönlein seine unvorsichtigen Worte ignorirt wissen wollte, und daß dies der einzige Grund seines frühen Besuches war. „Aber,“ fuhr ich fort, „von dem Aufstande habe ich hier gar nichts gehört, und ich hätte erst nachträglich davon erfahren, wenn van Oeren mich nicht unnöthiger Weise benachrichtigt hätte. Hier herrschte tiefer Frieden und Todtenstille.“

„Was Sie sagen! So klein war der Stein, der in’s Wasser fiel, daß er nicht einmal bis hierher seine Kreise zog? Und er sollte einen Sturm aus der Tiefe beschwören! Jetzt sind einige dreißig junge Männer das Opfer; sie hofften Helden zu sein, Leonidas, Tell oder Winkelried, nun sitzen sie auf der Hauptwache in Frankfurt hinter Eisengittern und müssen eines Urtheils harren, das Gott weiß wann gefällt wird und wie! – Es ist entsetzlich!“ rief er aufspringend und unruhig auf- und abgehend.

„Sind Ihnen Einige von den Theilnehmern zufällig bekannt, Herr Professor?“ fragte ich.

„Nein – ja – das heißt – man weiß ja die Namen noch nicht alle. Aber ein junger Brausekopf, den ich liebe, als ob er mein Bruder wäre, dessen Hirn voller Posagedanken steckt – ach! ach! mir sagt eine Ahnung, daß er bei diesem Unternehmen nicht gefehlt hat!“

„Die armen jungen Leute! denn jung sind sie gewiß,“ sagte ich. „Haben sie Schlimmes zu gewärtigen?“

„Gewiß haben sie das. Mit den Waffen in der Hand ergriffen – bedenken Sie! es steht der Tod darauf.“

„O, unmöglich! es muß doch darauf ankommen, was die Empörer gewollt haben; die Absicht war vielleicht nicht so schlimm.“

Schönlein lächelte eigenthümlich. „Kindliche Anschauung!“ rief er aus, und obwohl das nichts Anderes hieß als sancta simplicitas! so beleidigte es mich doch keineswegs, denn damals war es auch nicht wie achtundvierzig und nachher. Seit die Freiheitskriege vorbei waren, kümmerte kein Frauenzimmer sich mehr um Politik, und ich bin überzeugt, daß es zur Zeit des deutschen Parlamentes hier in der Paulskirche Anderen grade so ging wie mir: ich wußte nicht einmal, was rechts und links bedeuten sollte, wovon man immer redete.

„Es gilt Alles für schlimm,“ fuhr Schönlein fort, „was an dem Bestehenden zu rütteln sucht. Man hat dafür ein böses Wort erfunden. ‚Verrath‘ genügt nicht, so nennt man es ‚Hochverrath‘, um den Culminationspunkt aller Verbrechen zu bezeichnen. Eigentlich aber ist es nichts als Hochpatriotismus, Hochbegeisterung oder auch Hochirrthum – meinetwegen! Verrath ist eine Schande, Hochverrath eine Ehre. Verrath ist feige und niedrig, Hochverrath begeisterte, selbstlose Hingebung. Der Verräther ist gebrandmarkt, den Hochverräther feiert die Geschichte. Judas war Verräther, – Brutus Hochverräther – verstehen Sie mich, Madame?“

„Vollkommen, Herr Professor,“ erwiderte ich, mit einer gewissen ehrerbietigen Befremdung den mir bis dahin so jovial erscheinenden Lebemann betrachtend. Er war offenbar überaus aufgeregt und mochte entweder nicht im Stande sein, sich zu beherrschen, oder es für unnöthig halten.

„Also die jungen Leute sind Hochverräther,“ nahm er wieder das Wort, „für solche gab es ehemals Rad und Strang, heute das Schaffot oder lebenslängliche Festungshaft, ach! und mein armer, armer Brutus Wolle spinnen, Matten flechten: der Gedanke läßt mich nicht schlafen.“

„Ist denn gar Nichts zu thun, Herr Professor?“ fragte ich voller Theilnahme.

„Nichts! Nichts! gar Nichts! dies Gefühl vollendeter Ohnmacht ist ja grade das Entsetzliche. Was sollte man thun können?“

„Nun – wer weiß?“ entgegnete ich. „Mein Mann ist reich, und wir haben weitverzweigte Verbindungen.“

„O! – Ich habe an Derartiges noch gar nicht gedacht, wie Sie begreifen werden. In meinem Kopfe ist ein Chaos und es läßt sich ja auch noch nicht absehen, wie die Sache läuft. Aber ich will auf keinen Fall von der Hand weisen, was Sie mir da sagen. – Sie sind gut und theilnehmend, das wußte ich gestern gleich – ich danke Ihnen von Herzen!“ rief er aus, indem er dabei meine Hand faßte.

„Aber wofür danken Sie, Herr Professor?“

„Für Ihren guten Willen. Wer kann wissen, ob ich nicht eines Tages darauf zurückkomme, denn ich werde den Lauf dieser Sache verfolgen, als ob es meine eigene wäre. Und kann ich den Armen – sagen wir Verirrten – nützen, so geschieht es ohne Hehl; möglich, daß ich mich dabei an den Beistand edler Frauen wende, ja, ja! es ist sehr möglich. Die Frauen sind hochherzig und sie sind unverdächtig. Sie haben mir doch ein kleines Licht gezeigt in dieser jammervollen Geschichte, eine Dämmerung, auf welche ich meine Blicke hin richten kann. Ich gehe etwas ruhiger von Ihnen fort, als ich hergekommen.“

Ruhig schien mir der Herr Professor nun keineswegs zu sein, obwohl er sich sichtlich Mühe gab, ein äußerlich gefaßtes Wesen zu behaupten. Er blieb noch eine Weile, und wir sprachen sogar von Allerlei, aber nachdenklich flog oft sein Auge über den Strom und den jenseits liegenden Wald hinüber oder mainabwärts, wo ein Holzfloß von den treibenden Fluthen getragen wurde.

„Ihr Haus liegt ausgezeichnet,“ sagte er ganz plötzlich. „Den Main so dicht vor Augen, fast vor der Thür. Man fragt sich unwillkürlich, wohin die Wellen eilen.“

„Nun, von hier nach Mainz,“ entgegnete ich lachend, „das können Sie auf jeder Landkarte sehen.“

[678] „Freilich, freilich! aber eigentlich doch noch weiter, viel, viel weiter! eigentlich bis Amerika. Finden Sie nicht, gnädige Frau?“

Jetzt verstand ich. „O ja, gewiß! nach Holland, da habe ich einen Bruder, nach England, da haben wir viele Freunde, und wenn Sie wollen, auch nach Amerika. Das spielt in der heutigen Welt ungefähr die Rolle des heiligen Altars von ehemals. Verbrecher, Flüchtlinge und Compromittirte, die seinen gesegten Boden berühren, kann man nicht fassen.“

„Dies elende Fahrzeug könnte mich retten!“ citirte er, mit der Hand auf einen Kahn deutend, der am Ufer angekettet lag. „Besitzen Sie ein Boot, Madame?“

„Nein, aber wir haben öfter davon gesprochen, eins anzuschaffen; es soll auch geschehen, ganz gewiß, denn ich liebe Wasserfahrten so sehr.“

„Und das Rudern ist eine so gesunde Bewegung. Ich kann es aufrichtig dem Herrn Gemahl empfehlen,“ sagte Schönlein, indem er sich erhob.

„Ich werde nicht ermangeln, mich auf des Herrn Professors Autorität zu berufen,“ entgegnete ich. „Wenn Sie einmal wieder kommen – ich hoffe, es ist bald –, so verspreche ich Ihnen eine Wasserfahrt im eigenen Boote, vielleicht von mir selber gerudert.“

So schieden wir mit heiteren Worten und Beide doch ernster Gedanken voll.

Ich sah Schönlein aber nicht so bald wieder, als ich gedacht hatte, nur Professor N. erschien einmal bei uns nach etwa sechs Wochen.

„Ich werde Schönlein erzählen, daß ich in Ihrem Boote auf dem Main gefahren bin,“ sagte er beim Fortgehen und muthmaßlich war dies eine Andeutung, die nur ich verstehen sollte.

Das Schicksal der jungen Leute, welche bei dem „Frankfurter Attentat“ betheiligt waren, erregte in ganz Deutschland die allgemeinste Sympathie, natürlich aber hier auf dem Schauplatz der That am allermeisten. Nicht etwa, daß die Bevölkerung im Allgemeinen ihrer Verschwörung einen minder kläglichen Erfolg gewünscht hätte – das nicht, aber namentlich unter der gebildeten Classe gab es doch eine ganze Anzahl, welche den selbstlosen idealen Zweck des gescheiterten Unternehmens verstanden, und wo dies nicht der Fall war, da behaupteten bei dem langsamen und schleppenden Gange der Untersuchung Mitleid und Theilnahme ihr Recht.

Je mehr sich’s ergab, daß das „hochverrätherische“ Unternehmen ein weitverzweigtes, bis in’s Ausland hinein reichendes war, um so länger drohte die Untersuchungshaft zu dauern, um so bedenklicher erwartete man das Endurtheil. Es konnten Jahre darüber hingehen – hieß es.

Dies geduldig abzuwarten, war man nicht geneigt. Die Freunde waren nicht müßig, sondern ein Complot arbeitete im Stillen und auf den geheimsten Wegen, um den Armen zur Flucht zu verhelfen.[3] Da fand sich’s denn in der That, daß man dazu auch der Frauen bedurfte, und zwar zählte man dabei nicht nur auf ihr Mitleid, auf ihre Bereitwilligkeit, sondern auch auf ihre Schlauheit und Erfindungsgabe und vor allen Dingen auf ihre Verschwiegenheit.

Das ganze, im Verborgenen gesponnene Netz kannte ich nicht, begehrte es auch nicht zu kennen – genug, daß ich mit einer Anzahl anderer Frauen mein Wort gegeben hatte: zu jeder Zeit und zu jeder Stunde unweigerlich zu jedem Dienste bereit zu sein, den man in Betreff der Gefangenen von uns fordern würde.

In dem Augenblick, wo ich das Versprechen leistete, war mir ernst und feierlich, ich gestehe, sogar etwas bange zu Muthe; ich wußte, daß die Sache nicht ohne Gefahr war, und dachte mir die mögliche Tragweite aus, aber entschlossen war ich, mein Wort zu lösen, koste es was es wolle. Mit einer gewissen Spannung und Aufregung sah ich jedem folgenden Tag entgegen. Kam ein Brief, so dachte ich an eine Botschaft; schellte es, so erwartete ich Ordre; fuhr ein Wagen vor, so meinte ich: es sucht Jemand Zuflucht. An all’ das aber dachte ich nicht, als mein alter Doctor F. erschien. Auch unterhielten wir uns heiter und unbefangen, aber nur kurze Zeit, denn mein Doctor war sehr eilig.

„Bitte,“ sagte er, „ich war so lange nicht in Ihrem Garten, wollen wir nicht einmal durch denselben spazieren?“

„Herr Doctor! bei der Nässe und der Kälte!“ denn es war bereits im Spätherbst des Jahres.

„Ach, binden Sie ein Tuch um!“ entgegnete er. „Wie Mancher wäre glücklich, wenn er in das Unwetter hinaus könnte!“

Ich blickte ihn an und verstand, obwohl ich keine Ahnung gehabt hatte, daß auch er zu den Wissenden gehörte.

Die wenigen Herbstblumen und die fast entblätterten Bäume schaute er gar nicht an, verlangte auch nicht das Treibhaus zu sehen, sondern legte kurzweg meinen Arm in den seinen und schritt mit mir den breiten Hauptweg entlang.

„Können Sie über den heutigen Abend verfügen?“ fragte er ohne weitere Einleitung.

„Ich bin mit meinem Mann zum Souper bei J. eingeladen,“ erwiderte ich.

„So bleiben Sie zu Hause!“

„Mein Mann würde mit mir bleiben.“

„Das darf nicht sein.“

„Was verlangt man?“ fragte ich.

„Um neun Uhr müssen Sie zu Diensten stehen.“

„So lassen Sie mich nur machen – was soll ich thun?“

„Punkt neun Uhr sind Sie in der Haasengasse.“

Ich nickte bejahend.

„Um die Ecke links wird ein Mann kommen und an Sie herantreten – Sie sagen kein Wort.“

„Kein Wort!“ wiederholte ich.

„Er wird fragen: ‚Ist es geschehen?‘ Darauf antworten Sie: ‚Es ist geschehen, Brutus,‘ nehmen seinen Arm und – nun, das Weitere ist Ihre Sache. Man sagt, Sie wüßten einen sicheren Ort, ist es so?“

„Ja, einen vortrefflichen Ort.“

„Ich halte meine Wohnung nicht für sehr geeignet,“ fuhr der Doctor fort, „auch wäre eine Haussuchung bei mir nicht unmöglich, aber natürlich stehe ich dennoch zu Gebote, falls Sie nicht ganz sicher sind.“

„Ich bin ganz sicher, ich freue mich, dienen zu können,“ entgegnete ich.

„Das sehe ich Ihnen an,“ sagte Doctor F., „– diese Astern sehen noch ganz leidlich aus,“ fügte er mit etwas erhobener Stimme hinzu, denn der Gärtner kam heran. „Ihre Orangen will ich ein anderes Mal sehen. Gott! gleich fünf Uhr!“ rief er, die Uhr herausziehend. „Ich muß fort. Adieu! Adieu!“

Der Gärtner hatte irgend ein Anliegen, aber ich konnte mich nicht zu besonnener Antwort zwingen, sagte, ich hätte keine Zeit, und eilte in’s Haus.

Ich war aufgeregt, wie vielleicht nie in meinem Leben, und doch hatte ich mit vollster Besonnenheit allerlei Vorbereitungen, und zwar in eigenster Person, zu treffen. Das war nicht leicht, denn ich mußte die Blicke des Hauspersonals und selbst der Kinder von meinem Thun ablenken. Ich war aber doch glücklich damit zu Stande gekommen und hatte in aller Eile ein wenig Toilette gemacht, als B. erschien, um mich zu dem Souper zu begleiten.

„Wie siehst Du echauffirt aus!“ rief er sogleich, „fehlt Dir Etwas?“

„Ich – ich habe Kopfweh. Es wird mir furchtbar schwer in Gesellschaft zu gehen,“ sagte ich mit abgewandtem Gesichte.

„So wollen wir hier bleiben,“ entgegnete mein Mann. „Martin soll sogleich absagen.“

„Nein, mein Lieber, gehe Du allein und entschuldige mich, ich werde mich dann gleich zu Bette legen.“

„Gott bewahre! ich bleibe, es ist ohnedies unausstehlich langweilig bei J.’s, ich bin froh, einen Vorwand zu haben.“

Ich erschrak. Sagen durfte ich meinem Manne Nichts, denn es war uns sämmtlichen Frauen eingeschärft worden, wie sehr wir das Schweigen wörtlich zu nehmen hatten, auch wußte ich zu gut, daß mein lebhafter unruhiger Mann zu Nichts weniger zu gebrauchen war, als zu dem Amte, welches mir anvertraut – gesetzt den Fall, daß er überhaupt dazu geneigt gewesen wäre, was ich sehr zu bezweifeln Ursache hatte.

[679] „Nein,“ sagte ich, „absagen lassen im letzten Moment, ohne die allerdringendsten Gründe, das geht nicht; zwei Plätze leer lassen – das kann Frau J. nicht verzeihen. Ueberdies bin ich nun einmal angezogen, vielleicht wird mir besser – ich will mitgehen.“

Wir gingen also. Um acht Uhr pflegte gegessen zu werden. Die Einladung lautete auf sieben Uhr, und wir waren rechtzeitig dort.

Ich hielt immer mein mit Eau de Cologne getränktes Tuch an die Schläfen, und alle Welt nahm Theil an meinem Leiden.

„Ich bleibe bis zum Aeußersten,“ sagte ich zu Frau J., „stellt sich aber Uebelkeit ein, wie gewöhnlich bei diesem Kopfweh, so muß ich verschwinden.“,

Das begriff die gute Dame vollständig, ich sah es an ihrem ängstlichen Gesichtsausdruck, und sie half mir auf das Bereitwilligste, als ich noch vor acht Uhr erklärte, ich wage nicht mehr zu bleiben. Als B. meine Abwesenheit gewahr wurde, hieß es, ich liege nun schon lange zu Bett, und so konnte es ihm nicht einfallen, mir zu folgen.

Indeß war ich an der Seite des Dieners, den Frau J. mir aufnöthigte, nach Hause geeilt, erklärte auch hier, daß ich mich sehr unwohl befinde, und begab mich hinauf in mein Schlafzimmer, strenge Ordre gebend, mich durchaus nicht zu stören. Das mich nach oben begleitende Mädchen hatte kaum das Zimmer verlassen, als ich die Thür verriegelte, mein helles seidenes Kleid auszog und ein dunkles unscheinbares überwarf. Dann band ich ein Tuch um den Kopf, ein anderes um die Schultern, nahm einen großen Regenschirm und eilte dem früher schon erwähnten Gange zu, der nach dem Hinterhause führte. Eine schwere Commode, welche für gewöhnlich die Thür verrammelt hielt, hatte ich gänzlich ausgeräumt, ich schob sie mit leichter Mühe fort; das Schloß hatte ich bereits geöffnet, und so trat ich in den düsteren Corridor, aus dem mir eine modrige, staubige Atmosphäre entgegenwehte. Dort erst aufzuräumen hatte mir die Zeit gemangelt. Langsam tappte ich meinen Weg durch allerlei Gerümpel hindurch. Eine Diele des morschen, lange nicht betretenen Baues brach ein unter meinen Schritten, ich stolperte, und es entstand ein ziemlicher Lärm. Natürlich erschrak ich furchtbar, in meiner Aufregung zuerst einen Sturz in die Tiefe fürchtend, und als ich einsah, daß diese Angst sehr überflüssig war, besorgte ich, man möchte das Geräusch gehört haben, Diebe vermuthen, hierher eilen und mich finden. Aber umzukehren war absolut keine Zeit, ich wußte, was an einer Versäumniß hing, und mit Fieberhast eilte ich vorwärts, entschlossen – koste es, was es wolle – meinen Weg zu gehen. Indeß Alles blieb ruhig.

Im Hinterhause wohnte der unverheirathete Gärtner, der um diese Zeit niemals zu Hause, sondern im Wirthshause zu finden war. Auch beschränkte er sich auf das Parterre; die beiden oberen Zimmer wurden gar nicht gebraucht, und schnell und unbehelligt konnte ich, nachdem einmal der Corridor passirt war, bis an die Hausthür gelangen.

Ich athmete tief auf, als die frische Nachtluft mich umwehte, und schaute bei der nächsten, trübe brennenden Oellaterne zuerst auf meine Uhr. Es war halb neun, und ich hatte noch einen weiten Weg zu machen. Es gereichte mir zur Beruhigung meinen Schirm öffnen zu können, weil ein feiner Regen niederfiel; ich kam mir so gesicherter vor, obwohl mich in meiner Verkleidung und bei der damals so elenden Beleuchtung sicher kein Mensch erkennen konnte.

Ich lief fast der Stadt zu, meine Stirn glühte, mein Herz klopfte und meine Hände waren eiskalt; daß ich mir den Fuß verletzt hatte, merkte ich nicht, so sehr war ich aufgeregt. Mein ganzes Bestreben war darauf gerichtet, in dem Gewirre von Gassen, die ich zu passiren hatte, die directeste Richtung einzuhalten. Am Bernhardsthor bog ich in die Stadt ein, dirigirte mich an der Paulskirche vorbei, dann auf den Liebfrauenberg zu und bog in die Tüngesgasse ein. Hier zog ich nochmals meine Uhr, es fehlten noch fünf Minuten bis neun. Langsam ging ich bis zur bestimmten Ecke und wartete hier in nicht zu beschreibender Spannung. Die Straße war todt und still, selten schallte ein Schritt zwischen den engen Häuserreihen. Da schlug es vom Dom, und ein fiel mit hellerem Klange die nahe Liebfrauenkirche.

Ich trat um die Ecke der Haasengasse.

In demselben Moment löste sich aus dem Schatten der nächsten Gasse eine Gestalt ab.

Sie schien eine Weile zu zögern, blickte sich um und kam dann mir entgegen. Mir war zu Muthe, als müsse ich irgend ein Zeichen geben, und so ließ ich denn meinen Schirm auf die Schulter fallen, so daß er nach hinten lag und mein Gesicht frei gab. Darauf that der Mann, als ob er an mir vorüber gehen wollte, und sagte, wie zu sich selber, aber laut:

„Ist es geschehen?“

„Es ist geschehen, Brutus,“ war meine Antwort.

Sofort bot er mir den Arm und schweigend schritten wir des Weges zurück, den ich gekommen, ich froh und glücklich, wie im Bewußtsein einer vollbrachten Heldenthat, während doch noch lange nicht Alles glücklich vorüber war. Erst als ich das Hinterhaus geöffnet und von innen wieder zugeschlossen hatte, sagte ich: „Geben Sie mir die Hand!“ und führte dann meinen Schützling die Stiegen hinauf und glücklich über den ominösen Corridor in das jenseitige Zimmer, wo Kleider- und Leinenschränke standen und dessen Schlüssel ich sehr wohl abziehen konnte, ohne daß solches im mindesten auffällig gewesen wäre.

Jetzt machte ich Licht und sah mir meinen Gefangenen an, – ein höchstens zwanzigjähriger, bildhübscher Mensch mit braunen verwilderten Locken und großen dunklen Augen. Er dankte mir mit Thränen und in einer Weise, die mich selber zu Thränen rührte. Aber ich mußte ihn schweigen heißen und zur Eile mahnen, denn Alles sollte in Ruhe und Ordnung sein, wenn B. nach Hause kam.

Ich hatte für Waschwasser und frische Kleider gesorgt.

„Fünfzehn Minuten haben Sie Zeit,“ sagte ich, „dann komme ich wieder.“ Damit verließ ich das Zimmer und kam nach Verlauf der Frist mit einem Korbe voll Eßwaaren und einer Flasche Wein zurück. Ich war erstaunt über die noble Erscheinung des Fremden, als er jetzt in anständigen Kleidern mir entgegentrat, – offenbar gehörte er den gebildetsten Lebenskreisen an.

Wie leuchtete sein Auge, als ich meinen Korb auspackte! Ich hatte das Beste gewählt, was meine Speisekammer aufzuweisen hatte, und mit Gier fiel er darüber her.

Aber plötzlich legte er Messer und Gabel hin und sagte: „Ah, Madame! Sie wissen sicher nicht, was Hunger ist, bis vor einem halben Jahre habe ich es auch nicht gewußt. Verzeihen Sie, daß Sie mich so essen sehen!“

Ein Zug von Humor spielte dabei um seinen feinen Mund, und ich erzählte zu seiner Beruhigung von einem Cousin, dessen Appetit im normalen Zustande mit Leichtigkeit eine ganze Gans bewältigen könne. Zugleich aber machte ich mir im Zimmer Allerlei zu schaffen, damit er sich unbeachtet wisse, ging auch zuweilen in’s Nebenzimmer und gönnte ihm reichlich Zeit, zu essen und zu trinken, ohne ihn mit Reden zu stören. Endlich schob er den Teller zurück, lehnte sich hintenüber und erklärte fertig zu sein. Darauf half er mir Geschirr und Ueberreste wieder in den Korb thun, wobei er sich in Dankesworten erschöpfte. Dann wies ich ihm sein auf der Erde bereitetes Lager an, nahm das Licht mit mir, schloß die Thür zu und überließ ihn sich selber. Als B. nach Hause kam, lag ich ganz still zu Bett, so daß er mich schlafend glaubte.

Am anderen Nachmittag erhielt ich folgendes Billet:

„Deponiren Sie einen Frauenanzug! Gewisse Thüren dürfen heute Abend nicht verschlossen sein. Besorgen Sie nichts! man spürt auf ganz anderer Fährte. – Sogleich zu verbrennen.“

In meinem Brief lag ein anderer: „An Brutus.“

Ich packte sogleich den dunklen Anzug zusammen, den ich am Abend vorher getragen hatte, fügte aber noch falsche Locken hinzu, wie sie damals zu beiden Seiten der Schläfe getragen wurden, einen Mantel, einen Sammethut mit langem Schirm, in dem das Gesicht wie in einer Röhre steckte, und einen Schleier.

Damit begab ich mich zu meinem Schützling. Nach Lesung des Billets, was ebenfalls gleich vernichtet wurde, und beim Anblick der mitgebrachten Garderobe gerieth Brutus in freudige Aufregung und der Ausdruck seiner Dankbarkeit gegen mich kannte keine Grenzen.

„Ich habe nur Worte, Madame, nichts als Worte und in diesem Augenblick nicht einmal die Hoffnung, jemals auf andere Weise meine Dankbarkeit beweisen zu können; aber wenn in meinem Leben künftig ein Hülfesuchender oder ein Nothleidender an mich herantritt, so werde ich Ihrer gedenken, Madame, und Anderen zahlen, was ich Ihnen schuldig bleiben muß.“

[680] „So ist es auch recht,“ sagte ich, „das ist die beste Schuldentilgung. Seien Sie also vernünftig und nehmen auch das noch, zahlen Sie es heim, wenn Sie wollen. Ich bin reich und werde es nie entbehren.“

Damit legte ich eine Börse auf den Tisch. Heute würde ich sie in eine Tasche des hingelegten Kleides stecken, aber damals hatten die Frauenzimmer lächerlicher Weise noch keine Taschen in ihren faltenreichen Röcken, sondern trugen Pompadours, Ridicüles etc. Ich mußte das Geld förmlich übergeben. Brutus erröthete zwar, aber freimüthig nahm er doch an, was ich ihm bot.

„Ich werde zahlen, wenn ich freier Bürger bin,“ sagte er einfach.

Bisher hatte ich den Schlüssel des Zimmers immer mit mir genommen, heute ließ ich ihn dem Gefangenen, damit er sich selber einschließen konnte. Der Schlüssel nach dem Corridor steckte ohnedies von innen, und so befand er sich in der ausgezeichneten Lage, daß er sowohl nach der einen, wie nach der andern Seite entkommen, einem unliebsamen Besuch entgehen, einen andern aber einlassen konnte, sei es nun, daß er durch das Haupthaus oder durch das Hinterhaus komme.

Brutus hatte die Absicht ausgesprochen, die Frauenkleider sogleich anzulegen, um auf alle Fälle bereit zu sein oder sonst sich im Tragen derselben zu üben, damit sie ihm nicht gar so unbequem wären. Ich versprach in einer halben Stunde zur letzten Nachhülfe wiederzukommen und auch, um zu prüfen, ob nichts Verkehrtes und Auffälliges an der Frauenerscheinung zu merken sei. Wir vermutheten Beide, daß in der kommenden Nacht eine Entführung beabsichtigt werde, und nicht nur um des Gefangenen, sondern auch um meinetwillen war mir das höchst angenehm, denn das längere Geheimhalten eines solchen Hausbewohners erschien mir mit jeder Stunde schwieriger, und die beständige Gefahr, in welcher der junge Mensch schwebte – so wie ich selber am Ende auch – nöthigte mich, mein Kopfweh in Permanenz zu erklären, weil ich durchaus nicht im Stande war, meine fieberhafte Unruhe vollständig zu zügeln.

Als ich kaum in meine Wohnung zurückgekommen war, wurde Professor Schönlein gemeldet. Ich war auf’s Freudigste überrascht, denn ich dachte: das ist ein Berather und ein Helfer, es wird Etwas geschehen, es wird Etwas von mir verlangt werden, man spricht sich wenigstens aus und das ist eine Erlösung.

Aber in dieser Erwartung sah ich mich vollständig betrogen. Schönlein redete von allem Möglichen, nur nicht von dem, was mir auf der Seele, auf den Lippen brannte. Andeutungen meinerseits, leise Versuche darauf hinzulenken, schien er ganz und gar nicht zu verstehen, obwohl er unbedingt wahrnahm, daß ich keineswegs bei der Sache war. Wie hätte ich auch vom Theater reden können, während ich mir vorstellte: gleich kommen die Schergen durch’s Hinterhaus und schleppen einen jugendlichen Schwärmer auf’s Schaffot; oder wie von einer Gesellschaft bei Senator H., während ich dachte: sie kommen in’s Vorderhaus und führen eine Frankfurter Patrizierin zum Entsetzen ihrer ganzen Familie in’s Gefängniß! Ob man mir wenigstens erlauben würde, mich meines Wagens zu bedienen? – Wird nicht gleich Etwas die Treppe herunterstürmen und Brutus fliehen in meinen Kleidern? Hört man Nichts von einem Handgemenge? kein Geschrei und kein Lärmen?

Ich horchte und blieb dem Professor die Antwort schuldig auf eine Frage nach dem neuesten Almanach – überhaupt trug er die Kosten der Unterhaltung ganz allein. Als er aber von Musik zu reden anfing und gar meinte, ich solle ihm etwas vorspielen oder singen, da sprang ich empört auf, denn da er unbedingt wußte, was mich quälte, so machte mich diese Zumuthung ganz toll.

„Ich meine, Ihnen gesagt zu haben, daß ich Kopfweh hätte,“ sagte ich kurz und schneidend.

„Ich weiß, Madame,“ versetzte er, „aber Musik beruhigt die Nerven.“

„So spielen Sie doch, ich bitte! da steht mein Flügel.“

„Darf ich Licht bestellen?“

„Natürlich!“

Ob er musikalisch war oder nicht, wußte ich durchaus nicht; aber wahrhaftig! der empörende Mensch tritt an’s Clavier, sucht gelassen unter den Noten, setzt die beiden Kerzen, welche gebracht wurden, zurecht, nimmt Platz und spielt, spielt hinreißend eine Sonate von Mozart, wie ich sie kaum je schöner gehört. Das Adagio rührte mich in meiner nervösen Aufregung zu Thränen, zugleich aber ward mir besser danach.

„Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Professor,“ sagte ich, als er geendet, „aber Sie dürfen heute nicht mit mir rechten.“

„Ich weiß es,“ sagte er ernst, „und mit der Musik,“ fuhr er scherzend fort, „ist es immer noch wie zu König Saul’s Zeiten.“

„So sind Sie mein David gewesen,“ vermochte ich ebenfalls zu scherzen.

„Ja! ja! – Aber mir ist heiß geworden – darf ich die Balconthür öffnen?“

„Es ist eine Doppelthür.“

„O das macht nichts – Kleinigkeit!“

Gewandt und behende öffnete er Schlösser und Riegel, stellte sich mitten in den Zug der hereinströmenden Abendluft und machte mich lachen, indem er noch obendrein sein weißes Taschentuch zog, um sich Kühlung zuzufächeln. Dann nahm er seine Lorgnette und spähete scharf nach rechts und nach links, wobei sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck gewann, als wie er heute zur Schau getragen. Schweigend und in sich gekehrt trat er in’s Zimmer zurück. Ich sprach auch nicht; denn da er offenbar über die bewußte Angelegenheit nicht reden wollte, so wünschte ich, daß er ginge, damit ich nach meinem Schützlinge sehen könnte, der mich ohne Zweifel schon längst erwartete.

Kaum hatte der Professor sich entfernt, als ich hineilte. Ich pochte leise an die Thür – keine Antwort; pochte nochmals – Alles still. Ich legte die Hand auf den Drücker; er gab nach, und ich trat ein. Aber es war dunkel, obwohl mein Gefangener sehr wohl Licht machen konnte.

„Brutus! – Brutus!“

Keine Antwort. Ich ging auf die andere Thür zu, sie war unverschlossen. Dann machte ich Licht, und unzweifelhaft war’s: mein Gefangener war entflohen!

Mir fiel ein Stein vom Herzen, und auch ein anderes Licht ging mir auf, indem ich erkannte, was Schönlein’s Besuch bedeutete. Mich sollte er beschäftigen und fernhalten, mich wollte man wahrscheinlich nicht compromittiren. Ich hatte das Meinige gethan. Das Licht im Wohnzimmer war ein Signal – vielleicht daß Alles in Ordnung sei; das Clavierspiel ein Signal, und schließlich die Gestalt des Professors selber in dem Rahmen der erhellten Thüröffnung, das wehende Taschentuch – Alles Signale. Dabei fiel mir ein, daß er jeden Augenblick auf die Uhr gesehen, jedenfalls hatte er seine Sache vortrefflich gemacht und mich in meiner Leichtgläubigkeit vollständig dupirt.

Den Namen meines Schützlings – Feddersen – erfuhr ich aus den Steckbriefen, er den meinigen erst von meinem Bruder – so vorsichtig war man nach allen Richtungen hin zu Werke gegangen.

Ad. Volckhausen.




Das fränkische Loretto.


„Es war die Zeit des großen Kirchenfestes,
Von Pilgerschaaren wimmelten die Wege,
Bekränzt war jedes Gottesbild, es war
Als ob die Menschheit auf der Wand’rung wäre,
Wallfahrend nach dem Himmelreich –“

und es war, als ob diese Worte, welche der unsterbliche Dichter den schwärmerischen, vom Glanz und von der Sinnlichkeit des Katholicismus berauschten Mortimer in den Mund legt, eigens geschrieben worden wären auf das Bild der Bewegung, welches sich am 15. September im weiten herrlichen Mainthale zwischen den Ausläufern des Jura und den Anfängen des Frankenwaldes entfaltete, nur mit dem Unterschiede, daß „der Strom der glaubensvollen Menge“ nicht nach Rom ging, wie Mortimer seiner schwärmerisch verehrten Königin Maria Stuart berichtet, sondern nach dem fränkischen Gnadenorte „Vierzehnheiligen“ zur Feier des großen Kirchenfestes, auf welches während des ganzen Sommers

[681]

Vierzehnheiligen und Kloster Banz in Unterfranken.

[682] von allen Kanzeln der Bamberger und Würzburger Diöcese die Aufmerksamkeit des gläubigen fränkischen Volkes gelenkt wurde. Es war das hundertjährige Jubiläum der Einweihung der berühmtesten und größten Wallfahrtskirche von Franken, der den vierzehn heiligen Nothhelfern geweihten Kirche von Frankenthal, oder wie sie im Munde des Volks kurzweg bezeichnet wird, der Kirche von Vierzehnheiligen.

Aus dem ersten Zuge von Bamberg thalaufwärts waren Hunderte von Menschen, Städter wie Landleute, in Staffelstein ausgestiegen, zu gleicher Zeit war thalabwärts von Lichtenfels und Kulmbach ein Zug angelangt, der ebenso viele Ankömmlinge entlud. Welcher Weg nach Vierzehnheiligen führe, darnach brauchte man an diesem Sonntagsmorgen nicht zu fragen, man durfte nur der Menschenmasse nachgehen, welche sich um das Städtchen Staffelstein herum ameisenartig auf der Straße entfaltete und hinzog und den Pfad bezeichnete, welcher zu einer auf einem grünen Hügelvorsprung liegenden Kirche aufwärts führte. Dieselbe erhebt sich ziemlich frei auf dem sanft abgerundeten Hügelplateau; im Rücken, rechts und links umschirmen sie die bewaldeten Höhenzüge des Jura, der hier an seinem Abfall in die Mainebene weiche Wellenlinien annimmt. Imposant steigt die dunkelgelbe Sandsteinfront aus dem Buschgrün, das die Hügelzugänge bedeckt, empor und zwei schlanke, spitze Thürme ragen hoch in den grau und drohend angehauchten Septemberhimmel auf. Die Straße war von zwei-, dreifachen Menschencolonnen bedeckt, auch von Fuhrwerk, das eine schlimme Passage hatte, denn die ganze Straße voraus bis an den Kirchenhügel hinan war fast ein einziger Wallfahrtszug, der die ganze Breite der Straße einnahm. Mit den im Winde wehenden rothen, grünen, weißen, gemalten und gestickten Kirchenfahnen, mit Lichtern, Gebetbüchern und Rosenkränzen in der Hand, zogen Männer und Weiber, die Letzteren in Mehrzahl, und in der farbenglühenden, malerischen Tracht des katholischen Frankens dahin, unter Anführung eines älteren Mannes, der die Verse laut vorsagte, alle die uralten Wallfahrtslieder singend. Wenn dann, um schneller durchzukommen, die Städter oder die glücklichen Equipagenbesitzer zwischen die frommen Waller sich durchzwängen wollten, dann wurden mitten unter den andächtigen Gesängen laute Schimpfworte, ja selbst Flüche laut, bis die Kühnen von ihrem Streben abließen und dann die Scheltreden und Fluchworte der frommen Wallfahrer wieder in heiligen Gesängen fortgesetzt wurden. An der Straße standen Bäume und Kreuze, diese mit dem gekreuzigten Heiland, jene mit hölzernen Tafeln bedeckt, welche in etwas unvollkommener Malkunst die Erscheinung des Christuskindes zwischen zwei brennenden Kerzen und in der Umgebung von gleichfalls nackten Kindlein darstellten. Um diese Stätten der religiösen Verehrung lagen Landleute in dichten Gruppen, sie bedeckten weit und breit die Felder und Wiesen, sie versperrten die Straße, die Einen knieeten im Gebete vor den Gnadenbildern, die Andern erfrischten sich aus den mitgebrachten Eß- und Trinkvorräthen und nur Schritt für Schritt kam man vorwärts die Anhöhe zur Kirche hinan. Ein Blick in das Thal war ein Schauen auf eines der herrlichsten Stücke deutscher Erde und zeigte von der Straße, die rechts von Lichtenfels heraufführte, dieselben Menschenmassen – dasselbe Bild – die farbigen Kirchenfahnen, die weißen Chorhemden der Priester, die rothen Röcke und Kopftücher der Frauen, die brennenden Kerzen – und so kam es im bunten Menschenknäuel weiter diesseit und jenseit des Maines von den Bergen weit in der Runde und aus den Thälern und Gründen zugeströmt – es waren Tausende und Tausende,

„Als ob die Menschheit auf der Wand’rung wäre.“

Von unten herauf ertönten die Gesänge, schmetterten die Trompeten, von den Thürmen von Vierzehnheiligen herab läuteten die Glocken und die Nachbarkirchen von Staffelstein und Lichtenfels und zuletzt noch die Glocken von dem gegenüberliegenden Banz stimmten ein und von dem Mainthale herauf gellte der schrille Laut der Locomotive wie ein Spottruf dazwischen.

Die berühmte Wallfahrtskirche liegt von allen Seiten frei, nur wenige Häuser sind in der Nähe; der Façade gegenüber rechts und links zwei große Wirthshäuser, die bei einem Wallfahrtsort nie fehlen dürfen. Rechts und links der Seitenschiffe stehen hölzerne Arcaden, an welche Krambuden angebaut sind, und entsprechend der architektonischen Linie des Chors erhebt sich hinter demselben in einem Halbkreise ein zweistöckiges Gebäude, in dem Schnörkelstile des vorigen Jahrhunderts erbaut, die sogenannte Probstei. Dasselbe trägt über der Thür ein kolossales in Stein gehauenes Wappen, das des ehedem in der Nähe gelegenen, seit 1803 säcularisirten Cistercienserklosters Langheim, einst des reichsten in der ganzen Umgegend. Früher war dieses Haus das Absteigequartier der geistlichen Herren von Langheim; nun wohnen der Superior, vier Patres und sechs Fratres des Ordens vom heiligen Franciscus darin, denen die Seelsorge für die Kirche übergeben ist.

An der Stelle der jetzigen Kirche stand vormals ein einsamer Meierhof, welcher ebenfalls dem Kloster Langheim gehörte. Die Mönche unterhielten dort eine große Schäferei. Zu einer Zeit, wo die Heiligenverehrung in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht hatte, vielleicht hundert Jahre bevor der kühne Augustinermönch mit seinen Thesen den Donnerkeil in dieses verwerfliche Treiben hineingeworfen, vernahm eines Abends am Quatemberfreitage im September ein junger Klosterschäfer, Namens Hermann Leicht, als er eben seine Herde nach Hause treiben wollte, die Stimme eines weinenden Kindes. Er sah sich um, erblickte auch wirklich ein kleines nacktes Kind auf dem Acker sitzen, das aber in demselben Momente verschwunden war. Als er auf seinem Heimwege nochmals den Blick nach jener Stelle zurückwandte, sah er es wieder zwischen zwei brennenden Kerzen sitzen, aber als er sich nähern wollte, sah er die Stelle leer und weder das Kind noch die brennenden Lichter. Im Kloster erzählte er einem Mönche von dieser gar seltsamen Erscheinung, und dieser rieth ihm, falls dieselbe sich wiederholen sollte, stracks auf sie loszugehen und sie getrost anzusprechen. Am Vorabend des Festes Peter und Paul sah derselbe Schäfer die ihm bekannte Stelle und deren Umgebung von einem himmlischen Glanze erfüllt, auch das Kind wieder, aber diesmal war es nicht allein, sondern von vierzehn andern Kindern umgeben. Muthig näherte sich ihm der Klosterhirt, wie ihm geheißen worden, mit der Frage, was seines Begehrs sei. Da antwortete mit feiner Stimme das Kind: „Ich bin das Christkind und diese hier sind die vierzehn heiligen Nothhelfer. Wir begehren hier eine Capelle zur Ruhe. Sei Du unser Diener, so wollen wir auch Deine Diener sein.“ Darauf waren die fünfzehn Erscheinungen weg – in die Wolken entrückt.

Auch noch eine vierte Erscheinung hatte „der gottbegnadete Jüngling“: Am Sonntag darauf sah er an derselben Stelle zwei brennende Kerzen aus dem Himmel niederfallen und nicht er allein, sondern auch ein anderer, allerdings sehr glaubwürdiger Zeuge, nämlich eine alte Frau, wollte dieses neue Wunder geschaut haben. Getreulich stattete er von jeder neuen Erscheinung den Herren im Kloster Langheim Bericht ab; aber diese sträubten sich anfangs lange, den Worten des Hirten Glauben zu schenken, indem sie die Erscheinungen für Wirkungen seiner erregten Phantasie etc. hielten. Vielleicht handelten sie schlangenklug nur nach dem Grundsatze, daß man Das, was man im Geheimen bezwecken und erreichen will, öffentlich bekämpfen und in Abrede stellen muß. Schließlich geschahen aber an der Stelle im Laufe der Zeit so viele Wunder und das durch die Verbreitung derselben erregte Volk verlangte so dringend nach einer Capelle, daß sie sich diesen Forderungen nicht länger entziehen konnten und ein Kirchlein auf der Hügelkuppe von Frankenthal erbauten, an derselben Stelle, wo die Erscheinungen wahrgenommen worden waren. Diese erste Capelle wurde von dem urkatholischen Vorfahren einer jetzt streng protestantischen Familie, von dem Bamberger Fürstbischof Anton von Rotenhan am Georgitage 1448 „zur Ehre der allerseligsten Jungfrau und der vierzehn heiligen Nothhelfer“ geweiht.

An den übrigen zahlreichen Wallfahrtsorten wurde nur je ein Heiliger verehrt, hier aber konnte man gleich eine Gesammtandacht für vierzehn Heilige verrichten, und Jedem und Jeder derselben wohnt eine besondere Kraft inne. Sanct Georg besiegt die Glaubenszweifel, bewahrt die Thiere vor Seuchen und beschützt auch die Sitten. Blasius hilft bei Halsleiden, Erasmus bei Unterleibsbeschwerden, Pantaleon wird als Patron der Aerzte und der Kranken angerufen, Vitus protegirt die Jugend und die Mönche. Christophorus errettet von Wasser, Feuer und Pest, und ebenso ist Jedem der übrigen Heiligen, Dionysius, Cyriacus, Achatius, Eustachius und dem heiligen Abt Aegidius, in dieser Rangordnung sein besonderes Departement menschlicher Unzulänglichkeit und Leiden zugewiesen. Die heilige Margaretha ist Helferin der Wöchnerinnen und Barbara Patronin in Sterbensnöthen und [683] nebenbei auch die der Artillerie. Den Schluß macht eine der sechs heiligen Katharinen, aber welche, ist uns leider unbekannt.

Die Mönche von Langheim hatten Glück mit ihrem neuen Wunder- und Gnadenorte: die Zahl der Andächtigen, die „sich nach Vierzehnheiligen versprachen“, wuchs von Jahr zu Jahr, bis der Bauernkrieg kam und die Aufständischen im Maingrunde, die es besonders auf Stiftsgebiete und die Geistlichkeit abgesehen hatten, das Wallfahrtskirchlein zerstörten. Bald aber erhob sich auf dem grünen Bergvorsprunge das Gotteshaus wieder, und als ob in diese Thäler nie Name und Wort des großen Kirchenreformators gedrungen wären, ging in Vierzehnheiligen das alte Treiben in erhöhtem Maße fort. Der Bamberger Fürstbischof hatte zur völligen Niederwerfung protestantischer Regungen die Jesuiten in seine Diöcese berufen, und diese leisteten ihre guten Dienste, namentlich auch durch Wiederbelebung des Wallfahrtswesens. Trotz der echt protestantischen nächsten Nachbarschaft betrug kurz nach dem dreißigjährigen Krieg binnen achtundzwanzig Jahren die Zahl der Wallfahrer 263,764; sie kamen wie heute noch von diesseit und jenseit der Haßberge, aus dem Itz- und Baunachgrunde, sie kamen vom Rheine, aus Sachsen, Böhmen; es kamen Kaiser und Könige, die der Kirche kostbare Geschenke zurückließen, und das ging so fort bis in das achtzehnte Jahrhundert, in diese üppige Nachblüthe des Katholicismus.

Schließlich erwies sich die Kirche als zu klein für den Andrang der Gläubigen, oder vielmehr der Benedictiner-Abt von Banz hatte sich gegenüber eine neue stattliche Kirche und dazu neue schloßähnliche Klostergebäude errichtet, und nun durften auch die Herren von Langheim ihrem geistlichen Nachbar in Nichts nachstehen, nun wurde über dem alten nach dem Bauernkriege restaurirten Kirchlein ein neuer stolzer Kirchenbau in dem damals im Schwunge begriffenen prächtigen Jesuitenstil angefangen, welchen der Würzburgische Artilleriemajor Balthasar Neumann leitete, derselbe, bei dem damals ein armer Waisenknabe erzogen wurde, der später die deutschen Heere gegen romanische Bedrückung zum Siege führen sollte, der Moltke des Befreiungskrieges, der große Gneisenau. Im Jahre 1743 war der Grundstein gelegt und erst neunundzwanzig Jahre später die Kirche vollendet und im September 1772 durch den Fürstbischof Adam Friedrich Grafen von Sinsheim geweiht worden.

Ein ganzes Jahrhundert ist seitdem über diese Giebel und Thürme dahingerauscht und es hat mit seinem Sturmeswehen Manches davon mit fortgenommen. Es hat durch die Säcularisation im Anfang dieses Jahrhunderts die Klosterstätte Derer zerstört, welche diesen Bau begonnen und vollendet haben; das Kloster Langheim liegt heutzutage in Schutt und Trümmern, und auch aus der Kirche von Vierzehnheiligen wurden aller Schmuck und sämmtliche Kostbarkeiten hinweggenommen und Vieles wanderte in die unergründlichen Taschen bairischer Beamten, die damals mit dem historischen Aufräumen beauftragt waren. Selbst die Glocken, die am Jubiläumstage dem jungen Mainthale das Jahrhundertfest verkündeten, sind nicht mehr dieselben, welche an demselben Tage vor hundert Jahren zum ersten Male geläutet hatten. Diese hängen jetzt in der Kirche von Lichtenfels, und so wurde mit Allem tabula rasa gemacht, mit den vierzehn Heiligen, die in massivem Silber vorhanden waren, zu allererst. Im Jahre 1835 schlug der Blitz in beide Thürme. Aber nur die Dachstühle der Kirche verbrannten und die Orgel. Der Brand war für die Kirche selbst von keinem so großen Nachtheil; die alten häßlichen Kuppeln der Thürme wurden durch schlanke, spitze Dächer ersetzt, und so sind heute noch Vierzehnheiligen auf dem linken und drüben Banz auf dem rechten Mainufer durch ihre reiche und stattliche Architectur, durch ihre Lage auf hohen grünen Bergeshalden, der Schmuck und Stolz des Frankenlandes. Aber leider ist, während Banz eine lange Zeit hindurch durch seine Klosterschule eine Zierde der Wissenschaft war, Vierzehnheiligen heute noch dem frommen Wahne und Wunderglauben dienstbar, wie vor vierhundert Jahren.

Wie zum Feste der Einweihung der Kirche vor hundert Jahren Papst Clemens der Vierzehnte einen Ablaß ertheilt hatte, so hatte auch für das hundertjährige Jubiläum sein Nachfolger Pius der Neunte einen „vollkommenen Ablaß, der dem Heile der Seelen im Fegfeuer zugewendet werden kann,“ für Alle gegeben, welche während acht Tage, vom 15. bis 22. September, ihre Andacht „zur Einigkeit der deutschen Fürsten und zur Erhöhung der heiligen Kirche“ in der Wallfahrtskirche zu Vierzehnheiligen verrichten. Darum der massenhafte Zuzug aus allen Himmelsgegenden. Vor der Kirche und um dieselbe drängte sich Kopf an Kopf, und bis weit an den Hügel hinab hatten die Wallenden sich gelagert, bis zu dem Momente, wo auch sie durch die weitgeöffneten Pforten in die Kirche eintreten, dort vor heiliger Stätte ihre Andacht verrichten, die heilige Wegzehrung empfangen und dafür ihr Opfer darbringen konnten. – Und hart daneben in den beiden Wirthshäusern, welches bunte, bewegliche Getreibe! Die helle Tracht der Frauen, weiße oder rothe Festtücher, bunte bebänderte Röcke und allerlei glitzernder Schmuck, und dazu die mehrentheils hübschen Gesichter neben der dunklen Tracht und dem stupiden Gesichtsausdruck der Männer! Die Stuben sind voll – die Hausplätze, die Stufen und Bänke vor dem Hause belagert – die Weinflasche, der Bierkrug machen die Runde, hier die Anzeichen materiellen Genusses in den gerötheten Gesichtern – dort in den Mienen der vor den offenen Thüren Knieenden eine fast schwärmerische Andacht. Die Krambuden sind von Kauflustigen umwogt. Rosenkränze, Heiligenbilder, Kuchen und Leckereien, Spielzeug, wächserne Puppen, Beine, Arme, Herzen und Kerzen, einfache und bemalte, um Alles wird gefeilscht. Die Kirche ist im Aeußeren durch Blumengehänge festlich geschmückt, aus den offenen Kirchthüren rauschen Orgeltöne, tönen Hymnen, strahlt der Glanz von goldnen Priestergewändern und von Tausenden von Lichtern, und das Volk liegt auf den Knieen und beugt sein Haupt und sein Herz unter diesem Tönen und Prangen und Leuchten, als dem Ausdruck einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung!

Die Kirche von Vierzehnheiligen ist eine der schönsten Wallfahrtskirchen, die in Deutschland existiren, und deren sind eben nicht wenige. Der innere Raum hat eine Länge von zweihundertzehn Fuß und eine Breite von hundertneununddreißig Fuß; das Gewölbe ist vierundneunzig Fuß hoch. Die helle, lichte Kirchenhalle mit ihren Wölbungen, Galerien, Säulen und Nischen ist von derbem Golde, Marmor, Statuen und Bildern ganz erfüllt. Seit acht Jahren ungefähr hat das Innere eine vollständige Restauration erfahren und macht in seinem neuen Gewande einen ganz stattlichen, fast imponirenden Eindruck. In der Mitte der Kirche erhebt sich ein reich ornamentirter Altar, mit Gold-, Schnitz- und Bildwerk fast überladen. Drei Priester lesen an demselben Messe, und sechs Frauen mit brennenden Lichtern in der Hand rutschen um denselben auf den Knieen umher. Das ist das Heiligthum der Kirche. Von einer Seite sieht man durch eine Gitterthür auf eine Vertiefung im Boden, die mit einem eisernen Gitter bedeckt und mit Blumen reich geziert ist. An dieser Stelle geschahen nach der Tradition die Erscheinungen, und über derselben war auch das uralte Wallfahrtskirchlein erbaut, das erst abgebrochen wurde, als die neue Kirche sich schon darüber erhoben hatte.

Von allen Denen, welche während der Jubiläumswoche Vierzehnheiligen besuchten und welche die Zahl von 20,000 erreichen, brachte Jeder sein Scherflein, sei es in Baarem, sei es auch nur in einer Wachskerze. Viele auch hatten sich besonders hierher „versprochen“. Während des Festes wurden über 24,000 Hostien gespendet. An beiden Seiten des Thurmes befinden sich zwei Räume, die sogenannten Wachskammern. Dieselben sind vom Boden bis zur Decke von Glaskästen angefüllt; diese Kästen enthalten menschliche Gestalten, in Wachs bossirt und mit modernen Kleidern angethan, Männer, Frauen und Kinder. Wenn nicht aus diesem oder jenem Gesichte noch hin und wieder ein Zug der kaukasischen Menschenrace heraussähe, wenn die deutschen Inschriften nicht wären, man möchte sich im Götzentempel des Brahma zu Delhi oder Lackno glauben. Diese Inschriften besagen, daß diese Menschenabbilder aus Dank gegen die vierzehn heiligen Nothhelfer von Denen gestiftet worden, deren Gebet und Wünsche durch ihre Fürsprache bei Gott in Erfüllung gegangen seien. Krankheiten, namentlich bei Kindern, spielen eine große Rolle, aber auch Herzensangelegenheiten bei Jünglingen und Mädchen. Man sieht darin Bräutigame in schwarzem Fracke mit frisirtem Lockenkopfe und Jungfrauen in weißem Kleide mit dem Schleier und dem Brautkranze. Auch zwei bairische Soldaten sind vorhanden, die von den vierzehn Nothhelfern namentlich, scheint es, von der heiligen Barbara, der Patronin der Artillerie, heil aus dem Kriege heimgeführt [684] wurden und sich zum Dank dafür in Wachs dargebracht haben. Solche Figuren kosten bis zu achtzig Gulden; die Photographien der betreffenden Persönlichkeiten werden nach München geschickt und dort die Köpfe in Wachs danach bossirt; das Uebrige mit vollständigem Anzuge besorgen die Wachszieher, die an den Buden ihre Waaren feilhalten. Haben die Figuren einige Zeit gestanden, dann werden sie von der Kirche wieder an den Wachszieher verkauft. So ist es auch mit den Kerzen, mit den wächsernen Pferden, Kälbern, Kühen, Armen und Beinen, die geopfert werden – Alles, was dargebracht wird, ist angenehm, und je mehr, desto besser. Die dicken Franziskaner machten dazu höchst vergnügte Gesichter und schienen mit Mephisto’s beißender Bemerkung, daß die Kirche einen guten Magen habe, vollkommen einverstanden zu sein.

Karl Eyßer.




Blätter und Blüthen.


Ein Nachtrag zu den „Briefen eines Wissenden“. Die Leser der Gartenlaube werden sich noch der in Nr. 39 von 1871 enthaltenen „Briefe eines Wissenden“ und des darin berührten Conflictes zwischen dem damaligen Chef des Militärcabinets General von Manteuffel und dem damaligen Obersten Grafen von der Gröben erinnern.

In neuester Zeit hat ein abermaliger Conflict zwischen diesen, indeß auf höhere Dienststufen gestiegenen beiden Herren stattgefunden, als dessen Ausgang die Zeitungen die Nachricht brachten, daß alle in der Armee dienenden Mitglieder der gräflichen Familie von der Gröben ihre Verabschiedung aus dem Dienste beantragt hätten. Diese Nachricht ist nur theilweise richtig. Wir haben über Veranlassung und Verlauf dieses neuesten Conflictes das Folgende erfahren:

Als General von Manteuffel Ende des Jahres 1870 im Norden Frankreichs die erste Armee (erstes und achtes Armeecorps) commandirte, am 28. November Amiens besetzt hatte und am 1. December den Marsch auf Rouen und Dieppe antrat, ließ er in Amiens den Commandeur der dritten Cavalleriedivision, General Graf von der Gröben zurück, dem sechs Bataillone Infanterie, zwei Regimenter Cavallerie und drei Batterien mit dem Auftrage unterstellt waren, die Stadt Amiens und die Somme-Linie, sowie die hinter der letztern laufende Eisenbahnlinie la Fère zu sichern und der geschlagenen französischen Nordarmee mit mobilen Colonnen zu folgen. – Um diesen Aufträgen zu genügen, hielt General Graf von der Gröben in Amiens nur die Citadelle besetzt, wodurch der Besitz der Stadt selbst ihm hinreichend gesichert erschien. Dem Angriff des etwa mit seiner Armee auf Amiens zurückkehrenden General Faidherbe war er ohnedies nicht gewachsen. Als Faidherbe später wieder gegen Amiens vorrückte, kehrte auch Manteuffel schleunigst um und warf ihn über den Abschnitt der Hallue zurück.

Bald nach dem auf Rouen angetretenen Marsch ging ein Befehl von Manteuffel ein, die Stadt Amiens selbst mit zwei Bataillonen besetzt zu halten. General Graf von der Gröben meldete sofort, daß er nur die Citadelle besetzt und über die anderen Truppen, seiner Aufgabe gemäß, anderweitig verfügt habe.

In einem darauf erlassenen mißbilligenden Schreiben des General von Manteuffel waren die Worte gebraucht: „Sie haben also den Rückzug gewählt.“ General Graf von der Gröben fühlte sich hierdurch in hohem Grade verletzt, beschwerte sich und es trat vom 2. Januar 1871 ab der Prinz Albrecht Sohn an seine Stelle. Später, als Commandeur der in Rheims stehenden Division der Occupationstruppen, wieder unter Manteuffel stehend, beantragte der General Graf von der Gröben, unter der Anführung, daß es ihm in Rheims nicht möglich seinen Kindern den erforderlichen Unterricht zu gewähren, seine Verabschiedung aus dem Dienst. Es wurde ihm erwidert, daß er einstweilen verbleiben und das Weitere abwarten möge. Darauf erfolgte seine Versetzung als Commandeur der 5. Division nach Frankfurt an der Oder.

Nun nicht mehr direct unter Manteuffel stehend schrieb er wegen jener Aeußerung einen äußerst scharfen Brief an Manteuffel, und soll denselben auch gefordert haben. Manteuffel erstattet, unter Uebersendung des Briefes, Meldung an den Kaiser, und da es nach dem Militärstrafgesetz einem Untergebenen nicht gestattet ist, über einen erhaltenen Dienstbefehl oder Verweis den Vorgesetzten zur Rede zu stellen, die Handlung des General Graf von der Gröben sich aber auf eine Zeit zurückbezog, zu welcher er Untergebener des General von Manteuffel war, so wurde er durch ein Kriegsgericht zu einem längeren Festungsarrest verurtheilt, den er in Glogau auch antrat. Schon nach vierzehn Tagen erfolgte seine Begnadigung. Er wiederholte nunmehr sein Abschiedsgesuch und trat seine Functionen als Commandeur der 5. Division erst wieder an, nachdem der Kaiser, unter Ablehnung seines Abschiedsgesuchs, ihm ein sehr gnädiges und anerkennendes Schreiben hatte zugehen lassen, und nachdem ihm schon vorher seitens des General-Feldmarschalls Grafen von Moltke versichert worden, daß dieser in seiner Lage in Amiens ebenso gehandelt haben würde, wie es von dem General Graf von der Gröben geschehen sei.

Eine so durch den höchsten Kriegsherrn selbst in liebenswürdigster Weise ihm gewordene Genugthuung mußte den General vollständig befriedigen, und damit erhielt der Conflict äußerlich seinen Abschluß.

X.




Für die Todten um Metz. Eine Dame aus Berlin schreibt uns: „Wie so viele Tausende, habe auch ich dem Vaterlande in den Tagen der großen, weltgeschichtlichen Ereignisse große, schwere Opfer bringen müssen. Bei Mars-la-Tour fiel mein heißgeliebter siebenzehnjähriger Sohn und ruht nun fern von mir, doch Gottlob! in deutscher Erde! Nach einundzwanzigmonatlichen namenlosen Leiden habe ich nun auch das zweite Opfer, meinen Mann (Hauptmann R…), vor drei Monaten zur Erde bestatten müssen! Das ist in wenig Worten Leid genug für ein ganzes Menschenleben!

Mein Mann ruht in meiner Nähe, ich vermag sein Grab zu hüten und zu pflegen. Nicht so das meines theuern, heißgeliebten Kindes!

Seit jenen denkwürdigen und doch so schweren Augusttagen war meine heiße Sehnsucht nach jener Stelle gerichtet, wo mein Kind ruht, ich wollte einmal nur den Hügel mit meinen Armen umschließen, mit meinen Thränen netzen! Dank dem vortrefflichen Hauptmann meines Sohnes – leider fiel auch er in den schweren Kämpfen bei Orleans – wußte ich genau den Platz, wo er ruht. Jedoch nun erst, nachdem ich die Pflicht gegen meinen armen Mann erfüllt, wurde es mir möglich, jener Herzenssehnsucht zu folgen. Anfang August dieses Jahres war ich in Metz und besuchte all’ die Stellen, wo ferne oder nahe Bekannte von ihm lagen.

Die Ebene um Metz – St. Privat, St. Marie aux Chênes, Vionville, Gravelotte – gleicht einem weiten Kirchhof, nur daß die Gräber vereinzelt und oft – wie recht vergessen stehen. Ginster und Unkraut wuchern darüber hin; die kleinen Holzkreuze können nur kurze Zeit noch Wind und Wetter widerstehen, und über ein Kleines geht die Pflugschar über den Hügel und die Spur ist verweht! Wohl erheben sich einzelne stolze Monumente, doch dienen diese noch mehr dazu, die Verlassenheit der anderen Gräber hervorzuheben. Beim Anblick dieser trostlosen Vergänglichkeit kam mir nun der Gedanke: wäre es nicht möglich, auf dem ganzen Terrain einige Invaliden zu stationiren, denen gegen eine Pension die specielle Pflege aller Gräber anvertraut und zur Pflicht gemacht würde? Das wäre doppelter Nutzen, denn auch der arme Invalide könnte durch solch ein Amt und Zulage vor großer Noth geschützt werden!

Wäre es nun ausführbar, daß auf einen Aufruf alle Diejenigen, welche dort theure Angehörige liegen haben, sich zu einem bestimmten, wenn auch noch so kleinen Beitrage vereinigten, so müßten auf diese Weise Hunderte von Thalern zusammenkommen, und es würde einem Invaliden möglich sein, ein Terrain von einer bis zwei Meilen zu beaufsichtigen. Ja, sind wir es nicht auch dem lebenden Geschlechte schuldig, zu zeigen, daß Dankbarkeit über das Grab hinaus dauert und daß unsere Helden mit ihrem Tode nicht aufgehört haben, für uns zu sein?“

Wir schließen uns der obigen Anregung in Allem an und halten in Uebereinstimmung mit der tief gebeugten Mutter die Errichtung einer Gräberwacht um Metz für eine Ehrenpflicht, deren Erfüllung die deutsche Nation ihren todten Helden schuldet. Die Art, in welcher unsere Briefschreiberin ihre Idee verwirklicht wissen will, erscheint uns als eine durchaus ausführbare. Möge diese Anregung an maßgebendem Orte ein offenes Ohr finden und durch Errichtung eines Comités – etwa in Metz – der hiermit gegebenen Idee bald die Ausführung folgen!




Der Leichnam eines Unbekannten. Die hessische Polizeiverwaltung zu Gießen ersucht uns zum Abdruck nachstehenden Aufrufs:

Ein sehr elegant gekleideter, anscheinend dem gebildeten Stande angehörender Mann von vierundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren hat sich in der Nacht vom 1. zum 2. Februar dieses Jahres auf der Fahrt zwischen Frankfurt und Gießen erschossen. Die in einigen Zeitungen und Polizeiblättern erlassenen Ausschreiben scheinen nicht genügend in’s Publicum gedrungen zu sein, weil die Identität des Erschossenen noch nicht ermittelt worden ist. Sein weißes feines Taschentuch und seine Unterhosen waren „O H“, sein feines Hemd und seine Strümpfe waren „F K“ gezeichnet. Seine prächtigen in Perlen und Seide gestickten Hosenträger lassen vermuthen, daß sie nicht gekauft, sondern ein Geschenk einer Dame sind. Der Mann ist groß und hat dunkelblonde Haare, eine gebogene Nase, blaßblaue Augen, schwachen hellrothen Backen- und hellrothen schwachen Schnurrbart. – Interessenten wollen sich an Stadtgericht oder Polizeiverwaltung Gießen wenden, wo die Effecten des Erschossenen aufbewahrt werden.




Abermals ist die „Gartenlaube“ von einem schweren Verluste betroffen worden: ihr erster und ältester Mitarbeiter und der Liebling eines weiten Leserkreises durch vier Jahrzehnte, ist am 29. September, an seinem sechsundsechszigsten Geburtstage, von uns geschieden, unser edler guter

Ferdinand Stolle!

Sie zählen nach Tausenden, die ihn hoch gehalten haben als geistreichen Erzähler und herzerwärmenden Dichter, die von dem immerfrischen Humor des gemüthlichen „Dorfbarbier“ sich allwöchentlich durch viele Jahre erquicken ließen, und sie Alle werden dem nun Heimgegangenen mit Wehmuth nachblicken und ihm ein dankbares Angedenken weihen. Um wie viel tiefer ist die Trauer und dann wieder die Erinnerung des engern Kreises seiner Freunde, die den liebenswürdigen Menschen ganz und innig erkannt und seinen einfachen äußeren Lebenswandel mit ihm getheilt von Dresden über Leipzig und Grimma in die von ihm so sehr geliebte Vaterstadt zurück: sie Alle stimmen ein in den Ausspruch, daß selten ein besseres Herz und ein begabterer Kopf mit größerer Bescheidenheit zusammen gelebt und gewirkt haben. Glänzendere Schriftsteller hat die Nation viele gehabt, aber keinen Mann von höherer Seelengüte!

Die „Gartenlaube“ wird der Ehre seines Namens ein besonderes Blatt widmen.

Die Redaction der Gartenlaube.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. unter Anderm „Klopstock’s Gedächtnißfeier von Dr. F. J. L. Meyer. Hamburg 1803“.
  2. Wir bemerken ausdrücklich, daß der Inhalt der obigen Schilderung kein erfundener, sondern ein durchweg wahrer ist.
    Die Redaction.
  3. Es dürfte vielen unserer Leser unbekannt sein, daß von den am 3. April 1833 bei Erstürmung der Hauptwache gefangenen Studenten und sonstigen Betheiligten Schüler, Scriba, Lübenski, Cunradi, Dörflinger, Engelmann, Gambert, v. Welz, Wislicenus, Feddersen und Holzinger mit Hülfe Frankfurter und auswärtiger Freunde nach und nach aus den Gefängnissen befreit und meist in sehr abenteuerlicher Weise nach England, Amerika und Holland geschafft wurden. Die Führer Rauschenplatt, Bunsen und Körner konnten noch in derselben Nacht oder in den nächstfolgenden Tagen entfliehen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: erkären
  2. Vorlage: Anna
  3. Vorlage: Flühlingsbild