Die Gartenlaube (1872)/Heft 38
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No. 38. | 1872. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Eine kurze Reihe stiller Tage war über das stille Dollan hingezogen und jeder Tag hatte der letzte sein sollen, den Gotthold auf dem Gute zubrachte, und es war immer eine Veranlassung gewesen, weshalb dem letzten noch ein allerletzter zugefügt wurde. Einmal war es die angefangene Skizze, welche entschieden noch weiter ausgeführt werden mußte; dann weinte Gretchen so sehr, weil Onkel Gotthold morgen, wo ihr Geburtstag war, reisen wollte; am Donnerstag war der Roggen geschnitten, die Leute hatten am Abend ein kleines Fest und sie hatten sich allerhand unschuldige Possen ausgedacht und durch den alten Statthalter Möller Gotthold bitten lassen, daß er ihnen ein wenig dabei helfe; am Freitag kam ein vom Curatorium gesandter junger Architekt, der den Plan zu dem neuen Wohnhause vorlegen wollte, und Brandow wünschte dringend Gotthold’s Meinung zu hören; morgen war gar nicht an die Abreise zu denken, denn Brandow würde den ganzen Tag in Geschäften abwesend sein, und übermorgen hatte Assessor Sellien mit seiner Frau einzutreffen versprochen, und Otto und Gustav v. Plüggen wollten kommen und Herr Redebas aus Dahlitz und noch ein und der andere Nachbar; es würde eine kleine Gesellschaft geben. Brandow hatte aller Welt geschrieben und gesagt, daß Gotthold da sein werde, alle Welt freue sich darauf und mit einem Worte – vor Montag konnte von Fortkommen keine Rede sein, und am Montag wollten sie weiter darüber sprechen.
Es war am Nachmittag des Sonnabends; Brandow war schon am Morgen ausgeritten und hatte Gotthold gesagt, daß er vor Abend nicht heimkehren werde. Es mußte wohl etwas sehr Dringendes sein, was an einem solchen Tage den Herrn von seiner Wirthschaft rief. Brandow war mit dem Einfahren seines Roggens unverhältnißmäßig weit zurück. Dazu kam, daß er nicht einmal einen Inspector hielt und wiederholt gegen Gotthold über den alten stumpfen Statthalter Möller geklagt hatte, auf den er sich gar nicht verlassen könne, die Menge Leute also, die heute auf dem Felde und in den Scheunen beschäftigt war, sich selbst überlassen blieb. Gotthold hatte sich angeboten, wenn Brandow doch einmal fort müsse, die Aufsicht zu übernehmen; aber Brandow, obwohl er wußte, daß Gotthold wirklich ausreichend von der Sache verstand, die Leute ihn auch sehr gern mochten und ihm gewiß willig gefolgt wären, hatte es auf das Bestimmteste abgelehnt.
„Es ist schon schlimm genug, daß ich die Unhöflichkeit begehen muß, Dich einen ganzen Tag allein zu lassen; aber mehr darfst Du mir auch nicht zumuthen. So lange eine Menschenmöglichkeit ist, weißt Du, pflege ich meine Freunde nicht zu incommodiren.“
Damit war er fortgeritten und Gotthold hatte seine Malgeräthschaften genommen, um einen Vorwand zu haben, ebenfalls das Haus verlassen und in den Wäldern und am Strande umherschweifen zu können – zwecklos, ruhelos, bis er sich darauf besann, von dem alten Fischer Karl Peters aus Ralow gehört zu haben, daß Vetter Boslaf heute Abend von seiner Fahrt nach Sundin zurückkommen werde. Karl Peters mußte es wissen; denn ihm hatte der Alte die Schlüssel zum Strandhause anvertraut, damit er am Abend die Lampe anzünde und des Nachts Wache hielt; auch war es Karl Peters’ Sohn, der Vetter Boslaf auf der Fahrt begleitete. So war Gotthold denn bis zum Strandhause gegangen und hatte sich auf die Uferhöhe in den Schatten der Buchen gesetzt, um zu warten; aber das Meer rauschte so melancholisch einförmig an den Strand, die sonnigen Stunden waren so bleiern langsam hingeschlichen, und wenn er ihr sagen wollte, daß er, anstatt Montag, schon morgen Dollan zu verlassen beschlossen habe, so war jetzt die rechte Zeit.
„Die Frau ist mit Gretchen im Garten,“ sagte die hübsche Rieke; „Sie kennen ja wohl ihren Platz.“
Gotthold blickte das Mädchen ruhig an, das schnell das Gesicht abwandte. Die letzte Bemerkung war mindestens überflüssig, denn der Garten war nicht so groß, daß man Jemand, den man suchte, nicht gar leicht gefunden hätte; aber Rieke hatte es auch noch in einem Tone gesagt, der Gotthold’s Ohr widerwärtig berührte. Es war ihm wiederholt aufgefallen, daß die grauen lüsternen Augen der Dirne mit einem spähenden Ausdruck von ihm zu Cäcilie, von Cäcilie zu ihm schweiften, und daß sie ein paar Mal sehr schnell in das Zimmer gekommen oder sonst herangetreten war, jedesmal mit der Frage, ob man sie nicht gerufen habe. Er hatte sich dabei Cäciliens Aeußerung am ersten Abend erinnert: „sie erzählt Alles wieder,“ und bei sich hinzugefügt: „nur daß sie eben nichts zu erzählen hat.“
Nun, ihr Vergnügen ist morgen zu Ende, dachte er jetzt, während er langsam den Heckengang hinaufschritt nach einem kleinen, ebenfalls von Hecken umgebenen und mit Blumenbeeten ausgelegten Platz, wo Cäcilie um diese Stunde mit dem Kinde sich aufzuhalten pflegte.
[614] Gretchen kam ihm, sobald sie seiner ansichtig wurde, entgegengelaufen.
„Wo bist Du gewesen, Onkel Gotthold? Was hast Du mir mitgebracht?“
Er pflegte dem Kinde stets von seinen Streifereien eine seltenere Blume, wunderlich geformte Strandsteine oder irgend eine andere Merkwürdigkeit mitzubringen; heute hatte er zum ersten Mal nicht daran gedacht. Gretchen empfand es sehr übel. „Ich habe Dich auch gar nicht mehr lieb,“ sagte sie, indem sie wieder zu ihrer Mutter lief; „und Mama soll Dich gar, gar nicht mehr lieb haben!“ rief sie, ihr Köpfchen aus dem Schooße der Mutter aufrichtend.
Gotthold hatte, nachdem er Cäcilie begrüßt, sich in einer geringen Entfernung von ihr auf eine zweite Bank gesetzt, wie er es stets that, wenn sie ihn nicht neben ihr Platz zu nehmen einlud. Sie hatte es heute nicht gethan und, als sie ihm stumm die Hand gab, kaum von ihrer Arbeit aufgeschaut. Es hatte ihn gerade jetzt schmerzlich berührt; aber während er sie still beobachtete, glaubte er zu bemerken, daß ihre Augenlider geröthet waren. Hatte sie vor ihm die Spuren frischgeweinter Thränen verbergen wollen? verbergen wollen, daß sie noch weinen konnte? daß der starre leere Blick, mit dem sie jetzt an ihm vorüber nach dem Kinde zu sehen schien, welches in der Tiefe des Platzes spielte, nicht der einzige Ausdruck sei, dessen die einst von sanftem Feuer so schön belebten Augen noch fähig seien?
„Ich ertrage es nicht länger,“ sprach der junge Mann bei sich.
Er war aufgestanden und zu Cäcilie hinübergegangen, die, als er herantrat, ihr Kleid zusammenstrich, trotzdem auch sonst noch Platz genug auf der großen Bank war.
„Cäcilie,“ sagte er, „ich habe halb und halb versprochen, noch bis Montag zu bleiben; aber ich habe daran gedacht, daß Selliens, wenn sie morgen kommen, die Nacht hier zubringen werden und vielleicht noch einer und der andere Eurer Gäste, und Du bist im Raum so wie so ein wenig beschränkt –“
„Du willst fort!“ unterbrach ihn Cäcilie; „weshalb es nicht gerade heraussagen?“
Sie hatte, als Gotthold zu sprechen begann, mit einem schnellen, schmerzlichen Blick, der ihm durch’s Herz schnitt, von ihrer Arbeit aufgeschaut; aber als sie antwortete, klang ihre Stimme ganz ruhig, nur ein wenig dumpf; sie lächelte sogar, während sie ihre Handarbeit wieder aufnahm.
„Wann willst Du fort?“ fügte sie nach einer Pause hinzu, da Gotthold, unfähig zu antworten, noch immer schwieg.
„Ich dachte morgen früh,“ erwiderte Gotthold, und es war ihm, als ob nicht er, sondern ein Anderer die Worte spräche; „Karl hat mir gesagt, daß er morgen früh einen Wagen hineinschickt.“
„Morgen früh!“
Sie hatte die Arbeit wieder in den Schooß sinken lassen und preßte für einen Moment Stirn und Augen in die linke Hand, während die Finger der rechten, die mit der Arbeit in ihrem Schooße lag, ein paar Mal leicht zuckten; dann fiel die Linke schwer herab und Cäcilie starrte mit gespannten Brauen vor sich nieder, während sie in demselben dumpfen Tone sagte: „Welchen Grund hätte ich, Dich zu halten?“
„Vielleicht den, daß Du mich gern hier sähest,“ erwiderte Gotthold.
Er meinte, sie habe es nicht gehört; aber sie hatte es wohl gehört; es dauerte nur so lange, bis sie sicher war, daß sie, ohne in Thränen auszubrechen, weiter sprechen könne. Sie wollte nicht weinen; sie durfte nicht weinen, und nun hatte sie sich wieder.
„Du weißt es,“ sagte sie; „aber das ist kein Grund, Dich halten zu wollen. Ich fühle zu wohl, wie unbehaglich das Leben hier ist; wie monoton, wie langweilig für Alle, die es nicht gewöhnt sind, und so leicht, in ein paar Tagen, gewöhnt man sich nicht daran, dazu gehören Jahre, lange Jahre. So lade ich Niemand ein – ich kann mir nicht denken, daß Jemand gern kommt; und so halte ich Niemand – ich kann mir sehr wohl denken, daß er gern geht. Weshalb sollte ich Dich anders behandeln als die Andern?“
„Gewiß nicht, wenn ich Dir nicht mehr bin als die Andern.“
„Mehr? Was heißt das? Du meinst, weil wir uns so früh gekannt haben, weil wir Freunde gewesen sind, als wir Beide noch jung waren? was will das sagen? was ist Jugendfreundschaft? Und blieben wir denn dieselben? Du vielleicht, in der Hauptsache wenigstens; ich gewiß nicht, ich gleiche der Cäcilie von damals so wenig wie – wie die Wirklichkeit unseren Illusionen; und wenn auch – ich bin verheirathet; eine Frau braucht keinen Freund, hat keinen Freund, wenn sie ihren Mann liebt, und liebt sie ihn nicht –“
„Nehmen wir den letzteren Fall,“ sagte Gotthold, als Cäcilie plötzlich schwieg.
„Der Fall ist nicht so einfach, wie er scheint,“ erwiderte Cäcilie, die Stiche an ihrer Arbeit revidirend; „ja, es sind sehr viele Fälle denkbar. Es ist ja zum Beispiel sehr wohl möglich, daß er sie trotzdem liebt – gegen treue Liebe wird auch eine weniger edle Frau selten unempfindlich und undankbar sein –; aber angenommen, er liebt sie nicht, liebt sie nicht mehr, hat sie wohl nie geliebt – nun, so kommt es noch immer darauf an, wie die Frau geartet ist. Vielleicht ist sie nicht stolz und schämt sich nicht, ihr Unglück einem Freunde zu beichten, der dann ihr Liebhaber werden dürfte; oder sie ist stolz, so wird sie – ich weiß nicht was thun, aber ganz gewiß sich lieber im tiefsten Schooße der Erde verbergen, als hingehen und sagen, es sei zu wem es sei: ich bin unglücklich!“
„Und wenn es dessen gar nicht bedarf, wenn ihr Unglück auf ihrer Stirn geschrieben steht, wenn es aus ihren Augen blickt, aus dem Tone jedes ihrer Worte klingt?“
Ueber Cäciliens feines Gesicht flog es wie der Schatten einer Wolke; aber sie glättete mit besonderer Sorgfalt die Naht an ihrer Arbeit, als sie mit leidenschaftsloser, fast gleichgültiger Stimme erwiderte:
„Wer kann das sagen? Wer ist so klug, daß er von eines Menschen Stirn die Gedanken lesen könnte und sich niemals täuschte und niemals das Gesicht des Andern nur zum Spiegel der eigenen lieben Eitelkeit machte? Aber das ist ein recht häßliches Gespräch, in welches wir da gerathen sind. Laß mich lieber wissen, wohin Du von hier gehst und wo Du in Zukunft zu bleiben gedenkst. Du willst nicht wieder nach Italien zurück? Mir däucht, Du sagtest das neulich einmal.“
„Ich danke Dir für Deine Theilnahme,“ erwiderte Gotthold mit bebenden Lippen; „aber ich habe noch nichts entschieden. Als ich Rom verließ, war es allerdings mit dem Wunsche, wenigstens eine Zeitlang hier im Norden zu bleiben und zu versuchen, ob mir die Heimath wieder Heimath werden kann; der Versuch wird wohl nicht gelingen, ist, glaube ich, schon mißlungen.“
„Das hieße, däucht mir, etwas schnell über eine solche Frage entscheiden,“ sagte Cäcilie; „aber die Frage ist auch wohl nur für uns Andere wichtig, Ihr glücklichen Künstler habt schließlich Eure Heimath in Eurer Kunst, und die nehmt Ihr überall mit Euch, wohin Ihr Euch auch wendet.“
„Und doch meine ich, daß wir unsere Kunst nur in der Heimath haben können,“ erwiderte Gotthold.
„Das heißt?“
„Das heißt, daß der Künstler nur in seiner Heimath das Höchste erreichen kann, zu dem er durch seine Anlagen befähigt ist. Ich schließe das aus der Geschichte aller Künste, die nur immer da und dann gediehen sind, wo und wann die Künstler das Glück hatten, an Stoffen, die ihnen das Land, dessen Bürger sie waren, und die Zeit, in der sie lebten – denn auch die Zeit ist in diesem Sinne die Heimath des Künstlers – ich sage: wenn sie das Glück und freilich auch die Kraft hatten, auf heimischem Boden an heimischen Stoffen ihr Talent frei entfalten zu können und zu entfalten. Ich schließe es aus meiner eigenen Beobachtung, die mich gelehrt hat, daß Diejenigen, welche damit begonnen, in ihrer Heimath – örtlich und zeitlich – keine Stoffe finden zu können, eben keine echten Künstler waren, sondern entweder Dilettanten und Anempfinder, oder geradezu Charlatans, die mit ihren künstlichen, des echten Lebens und damit des echten Werthes baaren Productionen nur den großen Haufen – das Bettelsuppenpublicum – täuschten, zu dem freilich sie im tiefsten Grunde ihres Wesens selbst gehörten.“
Gotthold hatte, als er über ein Thema zu sprechen begann, das ihm in diesem Augenblicke sehr fern lag, nur den Aufruhr in seiner Seele beschwichtigen, zum Wenigsten vor der blassen ernsten Frau an seiner Seite verbergen wollen, und dann hatte [615] er doch, von dem Gegenstande hingerissen, mit einer gewissen Lebhaftigkeit und zuletzt mit einer Freiheit des Gemüthes gesprochen, deren er sich eine Minute vorher nicht für fähig gehalten haben würde. Und so, zerstreut im Anfange, allmählich eifriger, hatte Cäcilie zugehört; ja, es leuchtete ein Strahl des alten Feuers in ihren dunklen Augen, als sie jetzt fragte:
„Und dies nun auf Dich angewendet?“
„Auf mich angewendet, heißt es, daß es ein Unglück für mich war, durch den unseligen Zwist mit meinem Vater und durch – durch eine und die andere trübe Erinnerung, auf die hier einzugehen es der Mühe nicht verlohnt – ich sage: es war ein Unglück, daß ich aus meiner Heimath gewissermaßen verbannt wurde in dem Augenblick, wo ich ihrer am wenigsten entbehren konnte: der Blumen, die ich als Kind auf den Wiesen gesucht; der Bäume, unter denen der Knabe gespielt, durch deren Kronen er die Sonnenstrahlen hat schlüpfen sehen und den Regen hat rauschen hören; des Himmels, der jetzt so wonnig lachen kann, und ein ander Mal so unsäglich trüb, so grenzenlos melancholisch ist; des Meeres, über dessen glatte, im Abendschein leuchtende Bahn, auf dessen gewitterschwarzen Wogen des Jünglings Phantasie so oft hinausgeschwebt, hinausgesegelt war in die Gefilde der Seligen und in das düstre Nebelreich seiner Träume von Schlacht und Kampf und frühem Heldentod; das Alles – ich meine die Dinge und die Träume – hätte ich malen können, zur Lust und Freude Anderer, denen ich durch meine Bilder die sehnende Erinnerung ihrer eigenen Kindheit, Knaben- und Jünglingszeit in der Seele erweckt hätte; was ich jetzt gemalt – ich habe es nicht aus meiner Seele heraus, nicht mit ganzer Seele gemalt, malen können – wie kann es da etwas Anderes sein als im besten Falle eine klingende Schelle!“
„Warum zieht Ihr Künstler denn so eifrig in ferne Länder?“ fragte Cäcilie.
Sie schien wieder ganz das lernbegierige Mädchen, dessen dunkle glänzende Augen immerdar das rastlose Feuer ihres Geistes wiederstrahlten, von dessen Lippen jetzt silbernes Lachen klang und jetzt ein geistreich ernstes Wort.
„Ich glaube, daß dieser Eifer oft genug ein blinder, unverständiger ist,“ erwiderte Gotthold, „und jedenfalls würde ich dem jungen Künstler immer rathen, seinen Römerzug nicht früher zu machen, als bis er fest in seinen Schuhen steht, sonst ist es dort unten ein Spiel der Wolken und der Winde. Goethe hatte längst seine Blätter von deutscher Art und Kunst geschrieben und war längst ein Meister deutscher Art und Kunst, als er nach Italien ging; so mochte er denn unter den Pinien des Gartens der Villa Borghese ruhig weiter an seinem Faust dichten und zurückkehren, beladen mit den überreichen Schätzen seiner Beobachtungen des Landes und der Menschen und dessen, was sie seit Jahrtausenden unter diesem schönen Himmel getrieben, und im tiefsten Grunde seiner Künstlerseele doch derselbe, der er war. Sieh, Cäcilie, es ist in der Republik der Künste wie im Staate. Welcher Bürger könnte die großen Verhältnisse des Staates übersehen, der nicht zuvor den Blick an den engeren Beziehungen des Gemeindelebens geübt hätte; wer könnte in der Gemeinde etwas Tüchtiges leisten, der nicht gelernt hätte, sein Haus zu verwalten; wer könnte sein Haus verwalten, seine Familie regieren und lenken, der sich selbst nicht zu regieren und zu lenken verstände?“
Während Gotthold sprach, war Gretchen herangekommen; Cäcilie hatte sie auf den Schooß genommen, und das Kind hatte da still gesessen, als wüßte es, daß es jetzt nicht hineinreden dürfe. Nun, da Gotthold schwieg, sagte es: „Mama, weißt Du, ich will Onkel Gotthold zu meinem Papa haben.“
Eine Purpurgluth flammte über Cäciliens Gesicht; sie machte eine heftige Bewegung, Gretchen von ihrem Schooße zu lassen; aber das Kind wollte seine Sache nicht so leicht aufgeben. Sie schlang ihr gesundes rechtes Aermchen um der Mutter Hals und sagte schmeichelnd: „Nicht wahr, Mama; er hat so blaue Augen und ist immer gut zu Dir, und Papa ist oft so garstig; nicht wahr, Mama?“
Cäcilie erhob sich schnell mit dem Kinde und that ein paar Schritte, als wolle sie von dem Platze entfliehen. Aber ihre Kniee zitterten, sie konnte nicht weiter und mußte Gretchen auf den Boden gleiten lassen, die, durch die Heftigkeit der Mutter erschreckt, weinend davon lief und im nächsten Moment ihren Schmerz über ein paar bunten Schmetterlingen vergaß, die vor ihr her in die Beete flatterten. Sie selbst war, von Gotthold abgewandt, stehen geblieben.
„Cäcilie!“ sagte Gotthold.
Er war an sie herangetreten, er wollte ihre herabhängende Hand ergreifen. Sie wandte sich und das Antlitz der Medusa starrte ihn an.
„Cäcilie!“ rief Gotthold noch einmal, beide Hände nach ihr ausstreckend.
Sie wich nicht zurück, sie rührte sich nicht; nur in dem starren Gesicht, um die halbgeöffneten Lippen zuckte es und dann kamen die Worte langsam, wie letzte Blutstropfen aus einer tödtlichen Wunde.
„Ich brauche Dein Mitleid nicht, hörst Du; ich habe Dir kein Recht gegeben, mich zu bemitleiden, Dir und Niemand; was quälst Du mich?“
„Ich werde Dich nicht länger quälen, Cäcilie; ich habe Dir gesagt, daß ich gehe.“
„Warum gehst Du nicht? warum sprichst Du mit mir von solchen Dingen? mit mir! Du willst mich wahnsinnig machen; und – ich will nicht wahnsinnig werden.“
„Dies ist Wahnsinn, Cäcilie,“ rief Gotthold leidenschaftlich. „Wenn Du ihn nicht liebst – und Du liebst ihn nicht, kannst ihn nicht lieben – kein göttliches Gesetz und schließlich auch kein menschliches zwingt Dich, zu bleiben, zu verbluten, zu vergehen in namenlosem Elend. Und so wenig wie Du ihn, liebt er Dich.“
„Hat er Dir das gesagt?“
„Bedarf es dessen?“
„Bei Deiner Ehre, Gotthold, hat er Dir das gesagt?“
„Nein, aber –“
„Und wenn er mich nun doch liebte, und – und wenn ich ihn liebte? Wie kannst Du wagen, so zu mir zu sprechen, wie Du eben zu mir gesprochen! Wie kannst Du wagen, mich jetzt durch Dein Schweigen Lügen zu strafen, mich vor mir selbst so zu demüthigen! Ist das Deine gerühmte Freundschaft?“
Gotthold ließ das Haupt sinken und wandte sich. Gretchen kam ihm entgegen.
„Wo willst Du hin, Onkel Gotthold?“
Er hob das Kind in die Höhe, küßte es, ließ es wieder auf den Boden gleiten und ging.
„Warum weint Onkel Gotthold, Mama?“ fragte Gretchen, die Mutter an dem Kleid ergreifend. „Papa kann nicht weinen, nicht wahr, Mama?“
Cäcilie antwortete nicht; die starren thränenlosen Augen hingen an der Stelle, wo Gotthold zwischen den Büschen verschwunden war.
„Für immer!“ murmelte sie, „für immer!“
Als Gotthold zu dem hölzernen Gitterpförtchen kam, das, von einer halbverdorrten Linde überschattet, durch die struppige Hecke auf dieser Seite aus dem Garten führte, stand er still und warf einen scheuen Blick über die sonnigen Felder nach dem Walde. Es wäre ihm jetzt unerträglich gewesen, einem Menschen zu begegnen, vielleicht stehen zu bleiben und einen Gruß, eine Frage beantworten zu müssen. Aber er sah Niemand; sie waren Alle drüben auf der großen Roggenbreite, von der man heute schon den ganzen Tag eingefahren hatte; der Weg zum nahen Walde war frei.
Die Sonne brannte in unheimlich sengender Gluth und die erhitzte Luft zitterte über dem Weizen, der sich bereits zu bräunen begann und dessen kräftige Halme nicht der leiseste Hauch bewegte; überlaut zirpten und schwirrten auf beiden Seiten des schmalen Pfades, der sich durch das Feld wand, unzählige Cicaden; ein großer Flug Feldtauben kreiste in nicht allzugroßer Höhe, und wenn sie sich in blitzschneller Wendung herumwarfen, erglänzte auf dem fleckenlos blauen Himmel die bewegliche Wolke in dem Strahl der landwärts sinkenden Sonne wie ein stählerner Schild.
Gotthold sah das Alles, weil er gewohnt war mit der Natur zu leben, und so fühlte er auch die elektrische Spannung in der Atmosphäre, aber nur als in Uebereinstimmung mit dem Krampf, der sein Herz zusammenschnürte. Die brennende Thräne, [616] die ihm vorhin der Schmerz ausgepreßt, hatte die Scham längst aus dem starren Auge getrocknet; die Scham, durch seine Haltlosigkeit diese Scene hervorgerufen zu haben, in der er nach acht langen qualvollen Tagen nun zuletzt doch die würdelose Rolle des Dritten gespielt hatte, um zu erfahren, daß sie diesen Mann noch immer liebe, daß ihr Unglück darin bestehe, sich von diesem Manne nicht so geliebt zu wissen, wie sie ihn liebte, wie sie geliebt sein wollte. „Bei Deiner Ehre, Gotthold, hat er Dir das gesagt?“ Mit welch verzweifeltem Tone sie das gerufen! wie die Angst, ein Ja zu hören, ihr schönes Gesicht entstellt hatte! – „Ist das Deine gerühmte Freundschaft?“ Ja wohl, seine Freundschaft, mit der er ihr vor Jahren schon lästig gewesen war, mit der er ihr heute noch ebenso lästig fiel, nur daß er sich nicht mehr wie damals hinter der Maske der Freundschaft bergen konnte, nur daß er nicht einmal mehr den armseligen Trost hatte, unbemerkt und unbeachtet sich davonschleichen zu können, wie er in jener Nacht davongeschlichen war.
Hier am Waldesrande, im Dunkel der Nacht unter der großen Buche hatte er gelegen und das Moos zerrauft und sich und die Welt verflucht, weil er im blassen Schein des Mondes zwei glücklich Liebende gesehen! Jetzt schien die Sonne grell auf das Schmerzenslager, als wollte sie ihm zeigen, wie kindisch damals seine Schmerzen gewesen und daß er seine Verzweiflung bis zu dieser Stunde hätte aufsparen sollen. Sie war ja glücklich gewesen! Gotthold wollte lachen, aber es war nur ein Schrei, der aus seiner gequälten Brust kam, ein dumpfer, stöhnender Schrei wie eines verwundeten Thieres. So hatte er geschrieen, als er in jener Nacht auf demselben Wege durch den schwülen Wald schwankte und die Bäume im Dämmerschein des Mondes wie höhnende Gespenster ihn umtanzten. Jetzt standen sie in eherner sonnegetränkter Ruhe da und schienen zu sagen: was geht uns Dein selbstgeschaffener Jammer an, Du Thor!
Und was geht mich Dein Elend an! sagte das Meer, das jetzt, als er aus dem Walde auf die Uferhöhe trat, in schwärzlicher Bläue vor ihm sich hindehnte, regungslos, wie erstarrt in unnahbarer Majestät. So hatte er es einst gesehen an einem Nachmittage über die Felsenklippen von Anacapri und es hatte ihm zu einem seiner besten Bilder das Motiv gegeben; aber jetzt dachte er daran nur flüchtig, wie durch die brennende Stirn eines sonnegequälten Wanderers auf staubiger Landstraße die Erinnerung schießt des kühlsten Waldesschattens und des murmelnden Quells, an dem er unlängst gesessen.
Unter ihm in der kleinen, mühsam in den steinigen Strand gegrabenen Bucht lagen die Boote, die dem Gute gehörten. Er hatte das kleinere in diesen Tagen wiederholt zu Ruderfahrten an der Küste hin benutzt und trug den Schlüssel zu der Kette, mit welcher sie an die Pflöcke befestigt waren, in der Tasche.
Breiter und breiter wurde der Schatten, der vom Ufer her auf die See fiel, und überholte Gotthold, während er mit kräftigen Schlägen quer über die weite Bucht zu rudern begann, an deren äußerstem südlichen Haken das Strandhaus, in diesem Augenblick hell von der Sonne beleuchtet, lag. Aber der Schatten kam nicht vom Ufer, sondern von einer schwarzen Wolkenwand, die über dem Ufer gleichmäßig breit, langsam heraufstieg, und deren scharfer oberer Rand in unheimlichem Feuer glühte und glänzte. Es war ein schweres Gewitter, das vom Lande her heraufzog. Mochte es kommen! Gotthold sehnte sich, aus dieser Gewitterschwüle seiner Seele aufathmen zu können im Sturm der Elemente. Da zuckte ein rother Flammenstrahl über die schwarze Wolkenwand hin und noch einer und ein dritter; und mit unheimlicher Eile steigt und steigt die Wolkenwand, alles Licht vor sich her auslöschend am Himmel und am Ufer und auf dem Meere, über das jetzt in pfeifenden Stößen der Wind saust, die bis dahin spiegelglatte Fläche furchend und bald in schäumenden Wellen zerwühlend.
Wellen und Wind trafen Gotthold’s kleines Boot von der Seite und trieben es wie im Spiel vor sich her, seewärts, auch als er jetzt, die Gefahr wohl erkennend, nach dem Ufer hielt. Er bemerkte es nach wenigen Schlägen, daß seine einzige Hoffnung darin lag, es werde das Gewitter so schnell vorübergehen, wie es heraufgekommen.
Aber es schien, als hätten Dämonen der Finsterniß sein frevles Wort gehört und wollten nun ihr Opfer haben. Immer breiter deckte sich nächtiger Schatten über die brausende See; nur am fernsten Horizonte glänzten noch ein paar weiße Segel und jetzt tauchten auch sie in die Nacht; immer höher schäumten die Wellen auf, und immer schneller trieb das Boot vom Ufer ab, auf dem bereits für Gotthold’s scharfes Auge das weiße Kreideufer mit dem dunklen Wald, der es krönte, in einen grauen Streifen zusammenlief. Es war gar kein Zweifel mehr, daß er in die offene See hinausgetrieben wurde, wenn nicht, was jeden Augenblick geschehen konnte, eine Welle das Boot kentern machte; ja, es mußte als ein Wunder erscheinen, daß dies nicht bereits geschehen war.
Gotthold that kaltblütig, was er zu seiner Rettung thun konnte; er beobachtete sorgsam das Heben und Sinken jeder heranrollenden Welle und hielt, bald mit dem rechten Ruder, bald mit dem linken, bald mit beiden kräftig ausgreifend, das schaukelnde Boot scharf in dem Wind. Schlug es um, so kam Alles darauf an, ob es zugleich sank, oder auf der Oberfläche blieb. Im letzteren Falle war seine Lage noch nicht ganz verzweifelt; er konnte sich dann vielleicht noch stundenlang halten, um, wenn der Wind umsprang, entweder an das Land getrieben, oder draußen von einem vorübersegelnden Schiff aufgefischt zu werden; sank aber das Boot, so war er nach menschlichem Ermessen verloren. Er konnte jetzt keinen Moment die Ruder aus der Hand lassen, sich seiner Kleider zu entledigen, und in vollem Anzug bei solchem Seegang lange zu schwimmen, durfte er, ein so guter Schwimmer er war, nicht hoffen, umsoweniger, als er bereits zu spüren begann, daß seine Kraft, wie sorgsam er sie auch zu Rathe hielt, allmählich abnahm.
Allmählich anfangs und nun schneller und schneller. Er hatte vorhin die complicirtesten Ruderbewegungen mit Leichtigkeit ausgeführt, jetzt wurden sie den erstarrenden Händen, den erlahmenden Armen schwerer und schwerer. Enger und enger wurde es ihm um die Brust, dumpfer und dumpfer schlug das Herz, das Athmen wurde zum Keuchen, die Kehle war wie zugeschnürt; die Schläfen hämmerten, er mußte, kam, was wollte, eine Minute ruhen, die Ruder einziehen und das Boot treiben lassen.
Sofort fing das kleine Fahrzeug an, Wasser zu schöpfen; Gotthold hatte es vorausgesehen. „Es kann nun nicht mehr lange dauern,“ sprach er bei sich, „und was ist es denn auch? Wenn du für sie leben könntest, da verlohnte es sich der Mühe; aber so – wem stirbst du als dir? Da kann doch das Sterben nicht so schwer sein. Sie wird freilich denken: er hat den Tod gesucht, und er hätte mir das ersparen können. Es ist sehr ungalant von mir, so, als unbequeme Leiche an’s Land zu treiben, sehr ungalant und sehr dumm; aber es geht in einen Kauf mit dem Andern; und schließlich kann man doch eine Dummheit nicht theurer bezahlen als mit dem Leben.“
Immer wirrer drängten sich die Gedanken durch das betäubte Gehirn, während er, todesmatt, vornübergebeugt dasaß, auf die Ruder stierend, die er mechanisch mit den erstarrten Fingern umklammert hielt, und auf den schwankenden Bord des Bootes, der sich jetzt scharf von dem grauschwarzen Himmel absetzte und jetzt fußtief unter dem weißschäumenden Kamme der vorüberbrausenden Welle lag. Und dann sah er das Alles nur noch wie einen verschwimmenden Hintergrund, von dem sich in voller Klarheit ihr Gesicht abhob, aber nicht mit dem schmerzzuckenden Munde und den starren Medusenaugen, sondern verklärt von holdselig schalkhaftem Lächeln, wie es immer aus den köstlichen Tagen der Jugend in seiner Erinnerung gestanden und wie er es vorhin für einen Augenblick wiedergesehen hatte.
Und plötzlich ergriff ihn unendliche Wehmuth, daß er aus dem Leben scheiden solle, ohne gelebt zu haben, ohne von ihr geliebt zu sein; aus dem Leben, das, wenn er sie nur weiter lieben durfte, schon ein unaussprechliches Glück war; aus dem Leben, das ihm nicht gehörte, das er ihr, so oder so, schuldig war, für das er um ihretwillen bis zum letzten Hauche kämpfen mußte.
Und die starren Finger legten sich wieder fest um die Rudergriffe, und die erlahmten Arme regten sich und parirten mit mächtigem Drucke den Schlag der hoch heranbrausenden Welle; das ermüdete Auge blickte wieder über die schäumenden Wogen nach Rettung, und aus der gepreßten Brust drang ein freudiger Schrei, als jetzt, wie herbeigezaubert, ein Segel aus dem Wasserdunste, mit dem die Atmosphäre angefüllt ist, auftaucht. Im nächsten Moment kommt es herangeschossen, ein größeres Fahrzeug, mit dem Backbord so tief im Wasser, daß Gotthold den [617] ganzen Kiel vom Bug bis zum Stern sich aus den Wellen heben sieht und über den hochragenden Leebord nur eben den Kopf des Steuermannes, dessen schneeweißes Haar im Winde flattert, und den Oberleib eines jungen Mannes am Bugspriet, der in den erhobenen Händen eine zusammengerollte Leine hält. Und jetzt schnellt die Leine wie eine Schlange herüber, quer über sein Boot. Er hat sie ergriffen und um den Haken geschlungen. Ein mächtiger Ruck; herüber und hinüber schwankt sein Boot, das jetzt fast bis an den Rand mit Wasser gefüllt ist und unter seinen Füßen sinkt; aber schon liegen seine Hände an dem Bord des größeren Fahrzeuges; zwei kräftige Arme fassen ihn um die Schultern und im nächsten Moment taumelt er zu den Füßen des alten Boslaf, der ihm die linke Hand entgegenstreckt, während er mit der rechten das Steuer mächtig herumdrückt, das eigene Fahrzeug vor dem Kentern zu bewahren.
Eine Reise hatte mich am 12. August 1868 nach Calais geführt. Durch die Straßen schlendernd, sah ich hier an Thoren und Mauern eine Luftfahrt für den 16. August – als Nachfeier des Napoleonstages – angekündigt. Der Unternehmer nannte sich J. Duruof, ein mir bis dahin völlig unbekannter Name. Zugleich waren für denselben Tag Ruderwettfahrten angezeigt, die zwischen den beiden Hafendämmen stattfinden sollten. Allein je weniger diese mich reizen, um so mehr beschäftigt mich die bevorstehende Ballonfahrt.
Am andern Morgen früh begebe ich mich in das Gasthaus, in welchem Duruof wohnt, und bin überrascht, einen blutjungen Mann vor mir zu sehen. Mein Eifer macht ihn gesprächig, beredt, und ehe noch eine Viertelstunde vergangen, habe ich einen Freund und – einen Platz in seiner Gondel gewonnen. Hocherfreut verlasse ich Duruof. Aber wie groß ist meine Bestürzung, als einige Bekannte, denen ich mein Vorhaben mitgetheilt, mir ihre unverhohlene Mißbilligung aussprechen. Es sei eine klägliche Posse, der ich zum Opfer fallen werde. Denn Duruof habe schon einmal eine Aufsteigung in Calais versucht, aber im Augenblicke der Abfahrt seinen absichtlich überfüllten Ballon zerplatzen lassen. Es handle sich höchst wahrscheinlich auch diesmal um eine Täuschung der Massen.
Anderer Art, aber nicht minder dringlich war die Einsprache, welche von Seiten mehrerer Verwandten erhoben wurde, die ich in Calais hatte. Sie erinnerten mich an die Gefahren des Wagnisses. Hier zwischen Canal und Nordsee, in der Straße der Stürme sei der Luftschiffer mehr als anderswo bedroht. An diesen verhängnißvollen Küsten sei Pilâtre gescheitert, habe Deschamps den Tod gefunden. So wohlgemeint und rührend diese Warnungen aber auch waren, konnten sie doch meinen Vorsatz nicht erschüttern. Sonnabend den fünfzehnten bringe ich damit zu, daß ich Duruof die Löcher und Ritzen des Ballons aufsuchen und verstopfen helfe. Dann eile ich in das Bureau der „Humanen Gesellschaft“, um mir einige Rettungsgürtel und dergleichen auszubitten; [618] denn man darf allerdings nicht vergessen, daß wir hier an der Küste in unmittelbarer Nähe der „großen Tasse“ sind, wie der Capitän des „Neptun“ sich ausdrückt.
In der darauf folgenden Nacht hatte ich die wildesten Träume. Ich sah mich auf dem Füllungsplatze und die Menge empfing mich mit Gelächter. Dann wieder trieb mich der Sturm hoch über den Wolken hin, unter mir brauste die See, der Ballon schwankt, sinkt, stürzt, die Wasser schlagen über mir zusammen; verzweifelnd ringe ich um’s Leben, da faßt mich ein kräftiger Arm und …
„Sie müssen aufstehen, mein Herr,“ ruft mir eine Stimme zu, „es ist halb sechs Uhr. Sie haben mir befohlen, Sie nicht länger schlafen zu lassen.“
In der That, ich träume nicht mehr. Vor mir steht der diensteifrige Hôtelkellner, der mich zur Wirklichkeit zurückruft. Ich kleide mich eiligst an und begebe mich nach dem Exercirplatze. Duruof und sein Gehülfe Barret sind bereits da. Der Ballon liegt träge und kläglich an der Erde und der Regen ergießt sich in Strömen. Einen Augenblick faßt mich zwar nicht Reue, aber Sorge und Zweifel an der Möglichkeit einer Aufsteigung.
„Glauben Sie,“ frage ich Duruof, „daß es gelingen kann, bei solchem Wetter den Ballon zu füllen?“
Der Capitän des Neptun blickt mich fest, ja strenge an. „Ich sehe,“ antwortet er ruhig, „daß Sie mich nicht kennen. Ich habe auf eben diesem Platze schon einmal Unglück gehabt; der Wind wehte allzustark, um aufzusteigen. Heute aber werde ich mir von meinen Verleumdern Genugthuung verschaffen; denn der Regen kann keinen Luftschiffer hindern. Seien Sie unbesorgt, wir werden unsere Fahrt machen.“
Unterdessen wird die Gasröhre in den Hals des Neptun geführt und nach einiger Zeit beginnt der Kopf des Ballons sich von der Erde emporzuheben. Das Netzwerk spannt sich aus, die Ballastsäcke werden herbeigeschafft. Dann und wann geht ein Neugieriger vorüber, andere kommen hinzu, man bleibt stehen, und das ungläubige Lächeln weicht sehr bald einer fast wohlwollenden Aufmerksamkeit. Als gegen Mittag der Regen aufhört, beherrscht der Ballon majestätisch den ganzen Platz. Alles ist lebhaft erregt bis auf das alte Guisenstandbild dort, das mit eherner Ruhe dem wundersamen Treiben zuschaut.
Jetzt bindet Duruof die Gondel an die Stricke des Tragreifens, während mehrere Gruppen von Soldaten die Kabel halten. Aber bald hebt sie der Neptun vom Boden empor, daß sie wie Weintrauben in der Luft hängen und in jedem Augenblicke befürchten, der ungestüme Renner werde mit ihnen durchgehen. Mittlerweile tritt ein Engländer heran, prüft den Stoff des Ballons mit peinlicher Sorgfalt, befühlt die Stricke der Gondel, untersucht den ganzen Apparat. Was will dieser Mann? Eine bange Ahnung steigt in mir auf. Wenn der Engländer dem Luftschiffer eine ansehnliche Summe bietet, so wird dieser ihn an meiner Statt mitnehmen; denn meine Börse kann sich höchst wahrscheinlich mit der des Briten bei Weitem nicht messen.
Ein Freund nähert sich mir. „Du scheinst unruhig zu sein,“ sagt er. „Hast Du Furcht?“
„Ja,“ antwortete ich, „ich fürchte sehr – dableiben zu müssen.“
Ein Versuchsballon wird losgelassen und Aller Augen folgen ihm. Er bleibt eine Weile an der Kuppel des Stadthausthurms hängen, steigt dann wieder und nimmt die Richtung nach der Nordsee. Ich sehe Duruof an. Er ist ruhig und entschlossen. Aber der Engländer – wo ist er geblieben? Er hatte ohne Zweifel keine Lust, eine Niederfahrt in’s Meer zu machen, und ward nicht mehr gesehen.
Um vier Uhr steigen Duruof, Barret und ich in die Gondel. Das „vortreffliche Musikcorps“, von welchem der Anschlagzettel spricht, läßt seine Accorde hören und Duruof commandirt: „Los!“ Einen Augenblick später schweben wir, von dem Jubelrufe der Menge begleitet, in die Luft empor. Welche Wonne für den Neuling, wenn ihn nun die Winde weich und willig wiegen! wenn die Erde unter ihm entschwindet, wenn der Horizont sich in’s Unendliche dehnt, wenn sein Blick den Himmel und das Meer zugleich umspannt! Fern aus dem Schooße der See steigt es gährend auf; Wolke auf Wolke folgt, wie in einer Geisterprocession; aber als reiße uns eine unsichtbare Macht empor, haben wir rasch die Zone der Dünste durchschnitten und sehen aus einer Höhe von zwölfhundert Meter das Meer sich unter unserer Gondel ausbreiten. Duruof blickt unverwandt auf den Compaß. „Wir haben die Richtung nach England!“ ruft er.
Leider aber ist unsere Freude von kurzer Dauer. Denn bald müssen wir uns überzeugen, daß der Wind uns in nordöstlicher Richtung, das heißt nach der Nordsee treibt. Ich sehe Duruof an, der in tiefen Gedanken steht.
„Was werden wir thun?“ fragt er mich nach einer Weile sichtlich erregt.
„Ich habe Ihnen schon erklärt, daß ich Ihnen überall hin folgen werde,“ antwortete ich ruhig.
„Wohlan! Möge kommen, was da wolle, man soll wenigstens in Calais nicht mehr sagen, daß ich ein Feigling sei.“
Ich mußte an Deschamps denken, von dem man mir erzählte, und der eben hier, in Calais, ein so schreckliches Ende nahm. In einer ähnlichen Lage wie wir, hatte er, um nicht in das Meer verschlagen zu werden, das Ventil geöffnet und war auf die Klippen der Küste herabgestürzt. Aber hinweg mit diesen Gedanken! Auch der Luftschiffer muß, wie der Seemann, an sein gutes Glück glauben. Und hat er nicht in der That lange Stunden vor sich? und kann der Wind sich nicht jeden Augenblick ändern? Audaces fortuna juvat. Uebrigens nimmt die Pracht des Panoramas, welches sich vor uns aufrollt, bald alle unsere Sinne gefangen, und jede Besorgniß ist verschwunden. Werden wir uns doch kaum der Schnelligkeit bewußt, mit welcher wir dem Meere entgegenfliegen! Zu unserer Linken haben wir Calais. Die alte trotzige Stadt sieht wie ein kleines Modell auf einem liliputischen Gestade aus; die Quais, die Hafendämme sind bloße Linien geworden, und ein Gewimmel mikroskopischer Punkte verräth uns, daß die Blicke der Zuschauer uns noch immer begleiten. Zu unsern Füßen dehnt sich das Meer durchsichtig und im Strahl der Sonne grüngolden leuchtend, wie ein Smaragd.
Diese ganze Scene aber wird durch unzählige Wölkchen und Wolken begrenzt, die anscheinend auf einer ebenen Fläche hingleiten und, von der einen Seite des Horizonts aufsteigend, sich auf der andern wieder zerstreuen. Doch auch über uns beginnt das luftige Spiel der Dünste. Einzelne violett angehauchte Massen schweben langsam dahin, und wieder andere stehen unbewegt, wie verloren in der unendlichen Höhe. Denn obschon wir selbst uns bis zu achtzehnhundert Meter erhoben haben, ist der Raum, der uns von ihnen trennt, sicherlich ein weit größerer. Das Thermometer zeigt fünfzehn Grad Celsius, und wir fühlen uns höchst behaglich in unserer Gondel, die so sanft und doch so schnell durch dieses stille Wolkenland zieht.
Noch bin ich ganz in das immer neu sich gestaltende Schauspiel versunken, als eine unerwartete Erscheinung uns auf das Lebhafteste erregt. Wir suchen den Strand von Dover; denn er muß uns nahe genug sein. Aber ein Vorhang bleifarbener Dünste entzieht uns die wohlbekannten schimmernden Linien der englischen Küste. Die ganze nordwestliche Seite des Horizonts liegt vor uns wie ein dämmergraues Chaos. Ich wende den Blick nach oben, um die Grenze dieser Wolkenwand zu suchen, und wie groß ist mein Erstaunen, als ich gerade über mir eine weitgedehnte grünliche Dunstschicht, gleichsam einen himmlischen See gewahre! Nicht lange, so scheint ein kleiner Punkt sich auf dieser Fläche zu bewegen. Es ist ein Schiff, so groß wie eine Nußschale, und als ich meine Blicke fester darauf hefte, erkenne ich, daß es umgekehrt auf diesem umgekehrten Oceane schwimmt. Die Masten sind abwärts, der Kiel ist aufwärts gerichtet.
Einen Augenblick später sehe ich das Spiegelbild des Postdampfers, welcher von Calais nach England steuert, und mit meinem Fernrohre entdecke ich selbst den Rauch seines Schlots. Immer neue Barken und Schiffe erscheinen, und ich weiß zuletzt kaum, was schöner ist – ob das Meer dort unten, oder sein magischer Wiederschein hier oben.
Der Hafendamm von Calais ist jetzt nicht größer als ein Zündhölzchen, doch erkenne ich noch immer die hier und am Strande versammelten Zuschauermassen, und ich erinnere mich, daß unter ihnen befreundete und liebe Menschen sind, welche mit besorgten Blicken unsere Spur verfolgen. Ohne Zweifel, die Richtung des Ballons kann unser Verderben werden. Dort taucht der Leuchtthurm von Gravelingen auf; Dünkirchen wird sichtbar; wir schwimmen bereits über der Nordsee, und ich sage mir, daß wir, unsere Gondel und unser Ballon nichts weiter [619] sind, als ein Sandkörnchen, welches spurlos in den Meereswogen verschwinden würde.
Inzwischen treiben die niederen Wolken fortdauernd mit großer Schnelligkeit unter uns hin. Fast leuchtend weiß wälzen sie sich lawinenartig vorüber – und wunderbar! – während wir in einer Höhe von sechszehnhundert Meter uns nach Nordost bewegen, verfolgen diese Wolkenhaufen, welche wir bei sechshundert Meter Höhe durchschnitten, insgesammt die entgegengesetzte Richtung. Sie alle ziehen südwestlich, ziehen landeinwärts, in der Richtung auf Calais. Es ist klar, daß, wenn unser Ballon in die untere Luftschicht hinabsinkt, diese Wolken uns getreulich in den Hafen zurücktragen werden.
„Wir können“, sagt Duruof, „unsere Meerpromenade noch eine Weile fortsetzen, und wenn wir landen wollen, so wissen wir, was wir zu thun haben.“
In der That überlassen wir uns noch weiter der in unserer Höhe herrschenden Strömung, da wir sie in jedem Augenblicke aufgeben und die Rückfahrt antreten können. Aber während wir uns so ganz der großen Scene hingeben, ergreift alle Zuschauer die höchste Angst. Auch erkennen wir deutlich, wie die Gruppen an der Küste sich bald hierhin, bald dorthin begeben. Ein paar alte Matrosen (so erzählte man uns nachher) beobachteten uns durch das Fernglas. „Sie sind verloren!“ rufen sie aus. „Die armen Narren! wer hieß sie auch in eine solche Galeere steigen!“
Mittlerweile ist eine volle Stunde seit unserer Abfahrt verflossen, und da wir sieben Lieues über dem Meere zurückgelegt haben, so dürfen wir daran denken, unseren Ausflug zu beendigen. Ohne noch ferner Ballast auszuwerfen, erwarten wir das Sinken des Ballons. Wirklich fällt er schon nach wenigen Secunden. Wir passiren die Wolken zum zweiten Male und schweben dann nur noch vierhundert Meter hoch über dem Wasser. Es ist fünf Uhr. Wir erblicken einige Boote, die uns zu Hülfe kommen wollen, freuen uns aber, dieses Beistandes nicht zu bedürfen. Die Luftströmung treibt uns rasch über den Wogen dahin auf Calais zu, welches immer größer und deutlicher hervortritt.
Ehe noch eine Viertelstunde vergeht, zieht der Neptun unter dem begeisterten Jubel der versammelten Menschenmenge über den Hafendamm hinweg. Ich betrachte aufmerksam die verschiedenen Zuschauergruppen und sehe zur freudigsten Ueberraschung meinen Bruder, der mir mit der Hand winkt. Ist es ein Spiel des Zufalls oder eine geheimnißvolle Sympathie, daß mein Auge unter den Tausenden, die zu uns aufblicken, gerade dem seinigen begegnet? Nun schweben wir über den Exercirplatz hin; aber er ist jetzt verödet, denn alle Welt befindet sich am Strande und nur das alte Standbild dort, der eiserne Herzog von Guise, hält treue Wacht: er, der Einzige, der nicht den Kopf emporrichtet.
Die kleine Mannschaft des „Neptun“ kann ihre Freude nicht bergen. Ich drücke Duruof und Barret die Hand, und wir wünschen uns gegenseitig Glück, diese Meerfahrt ohne Seekrankheit oder sonstiges Unwohlsein vollendet zu haben. Dann werfen wir ein wenig Ballast aus und erheben uns abermals, um eine geeignete Landungsstelle aufzusuchen. Mit meinen Gedanken bereits zur Erde zurückgekehrt, betrachte ich das Fangseil, welches von unserer Gondel herabhängt.
„Passen Sie auf, Duruof!“ sagte ich. „Unser Tau wird sogleich die Erde berühren.“
„Sind Sie von Sinnen? Wir sind mehr als eintausendvierhundert Meter hoch über dem Boden.“
Unser Fangseil war hundertdreißig Meter lang. Meine Augen irrten sich daher um mindestens eintausendzweihundertvierzig Meter! Aber ein verzeihlicher Irrthum bei einem Neulinge, der noch nicht daran gewöhnt ist, die Gegenstände von oben zu sehen. Weiterhin bemerke ich mehrere weiße Punkte. Sie bewegen sich langsam auf einer Wiese hin und her; ich ergreife mein Fernrohr und erkenne eine Heerde grasender Kühe, die heute wahrscheinlich zum ersten Male Gegenstand teleskopischer Betrachtung geworden ist.
Um fünf Uhr fünfunddreißig Minuten haben wir uns indessen der Erde wieder so weit genähert, daß unser Tau auf einer Trift hinstreift und mehrere hier aufgebaute Heuschober in Unordnung bringt. Es kommen Bauern herbeigelaufen. Wir fragen, wo wir uns befinden.
„Auf der Straße nach Boulogne!“ lautet die Antwort.
Zugleich greift man nach unserm Seile; aber wir wollen noch nicht landen. Duruof fordert mich auf, Ballast auszuwerfen, und ich in meinem unerfahrenen Eifer leere beinahe einen ganzen Sack. Im nächsten Augenblicke steigen wir mit reißender Geschwindigkeit wieder bis zu einer Höhe von eintausendachthundert Metern und finden uns gleich darauf in so dichte Wolken eingehüllt, daß wir unsern eigenen Ballon nicht mehr sehen, ja uns einander selbst kaum noch erkennen. Welch ein jäher Wechsel! Meine Gedanken beginnen sich traumartig zu verwirren; alle Sinne sind wie gebunden; in dem unbeweglichen Nebel scheint die Gondel unbeweglich zu stehen, und nur die untrügliche Rechnung kann uns sagen, daß wir zwei Kilometer hoch über den menschlichen Leidenschaften schweben.
Seit den Morgenstunden, die zumeist der anstrengenden Arbeit der Füllung gewidmet waren, hatten wir nichts genossen. Es war daher wohl an der Zeit, von den mitgenommenen Vorräthen Gebrauch zu machen. In einer unserer Schachteln präsentirt sich ein gebratenes Huhn; wir verzehren es mit wahrem Luftschifferappetit, trinken dazu ein Glas Wein und halten auf diese Weise ein behagliches Mahl mitten in einem Dunstbade. Ich werfe die leere Flasche über Bord, um mir sofort eine Rüge Duruof’s zuzuziehen. Es sei eine Unklugheit, den Ballon auf diese Weise eines Theils seines Ballasts zu berauben. Noch glaube ich diese Bemerkung für Scherz nehmen zu müssen, als der Augenschein mich eines Andern belehrt; denn ein Blick auf das Barometer zeigt mir, daß wir unmittelbar um zwanzig bis dreißig Meter steigen – so empfindlich ist der im absoluten Gleichgewicht schwebende Ballon in der Luft.
Unterdessen scheinen die Dünste sich zu zerstreuen. Bleibt uns auch die Erde verhüllt, so sehen wir doch die Sonne, welche eben dicht über dem Horizonte wie eine glühende Kugel steht, während tausend funkelnde Strahlen den Himmel erleuchten und unsern Schatten weithin auf das Wolkenthal werfen, welches sich unermeßlich vor, um und unter uns dehnt. Da wölben sich schneeige Kuppen, da strecken sich lange leuchtende Rücken, und zwischen ihnen gähnen tiefe Abgründe und düstere Schluchten. Wo sind wir? Hat uns der Wind weiter in’s Innere geführt? oder treiben wir zum zweiten Male in die See hinaus? Es ist sieben Uhr. Barret macht uns auf ein verworrenes Murmeln aufmerksam, das unter den Wolken heraufdringt; und in der That schlägt im ununterbrochenen Rhythmus ein dumpf feierlicher und doch melodischer Ton an unser Ohr. Ist es das Brausen des Meeres? Wir öffnen das Ventil. Der Ballon fällt rasch, wir durchbrechen die Wolkenschicht, und – unter uns wogt im Purpur des Abends der Ocean. Wohl konnte ich mit Goethe ausrufen:
Vor mir der Tag und hinter mir die Nacht,
Den Himmel über mir und unter mir die Wellen!
Aber es war nicht mehr Zeit, Dichters Pfade zu wandeln. Dämmerung senkt sich über das Meer, und jede Secunde steigert die Gefahr der Landung. Es gilt zu handeln, rasch und besonnen zu handeln. Der Seewind jagt uns mit Macht der Küste zu. Schon werden ihre zackigen Felsvorsprünge sichtbar. Aber wie, wenn der „Neptun“ das Ufer nicht erreicht? wenn er es uns nur zeigt, um seinen Flug von Neuem über das Meer zu nehmen? Die Nordsee haben wir im Rücken, aber vor uns den Canal! Immer dichter ward die Dämmerung und immer verhängnißvoller die Niederfahrt. Es waren tiefernste Augenblicke. Stumm blicken wir drei Männer in dem elenden Boote nach dem Lichte des Leuchtthurms, der soeben seinen ersten Strahl über die Wogen wirft, bald aufflammend und bald verlöschend, als wolle er uns symbolisch unser Schicksal deuten. Ja, ich leugne es nicht: der Gedanke an den Tod trat mir nahe. Aber dann rief mir die innere Stimme Muth zu, und dann wieder betrachtete ich mechanisch die versinkende Sonnenscheibe, die ich noch nie so blutig roth gesehen. Sie schien mir heute einem brennenden Ballon zu gleichen, der sich in den Wogen begräbt, und zuweilen wohl kam sie mir vor wie ein großes wohlthätiges Wesen, welches mich mit einem letzten Scheideblicke segnete.
Plötzlich stößt Duruof einen Freudenschrei aus, und diesmal können wir nicht mehr zweifeln, daß der Wind uns wirklich dem Gestade zutreibt. Ich unterlasse, den stürmischen Wechsel der Empfindungen zu schildern, der uns gleicherweise ergreift. Denn „Hand an’s Werk!“ heißt die Losung. Rasch öffnet Duruof das Ventil, Barret löst das Fangseil, und sobald der Ballon [620] über der Küste steht, werfe ich den Anker aus. Er schlägt tief und fest in eine Düne ein, der „Neptun“ aber fällt blitzschnell auf einen Hügel nieder, zum Schrecken einer Schafheerde, welche hier noch in später Stunde ein paar magere Grashalme suchte.
Wenige Augenblicke darnach nähern sich einige Männer, an ihrer Spitze der unerschrockene Maillard, der Unterwächter des Leuchtthurms auf Cap Gris Nez. Er hat einen Schiffbruch gewittert und eilt der Pflicht getreu den Passagieren zu Hülfe. Was thut’s, daß er seine Füße an dem scharfen Geklipp wund gerissen? Er springt die Düne hinab, stürzt sich auf die Kabel, welche Duruof ihm zuwirft, und zwei brave Fischer, die ihm gefolgt, thun desgleichen. Noch zwar schwankt der Ballon hin und her, denn der Wind weht hier mit voller Kraft. Aber endlich gelingt es der vereinigten Anstrengung, ihn zu fesseln, und indem das Gas vollends ausströmt, gelangen wir wohlbehalten zur Erde. Wir befinden uns bei den sogenannten Mont-Aigufelsen. Es ist Abends acht Uhr dreißig Minuten.
Maillard erzählt uns indessen, daß er schon lange die kleine Birne am Horizonte habe schweben sehen; er habe sie anfangs nur für einen jener kleinen leeren Ballons gehalten, die man ja wohl je zuweilen zur Belustigung steigen lasse. Erst als er uns in der Gondel entdeckt, sei er seinen Irrthum gewahr worden und habe nun geglaubt, wir seien wie Blanchard und Green über den Canal gekommen.
„Erforderlichen Falls,“ sagte der treu- und starkherzige Mann, „werde ich mit dem kleinsten Rettungsboote unbedenklich auf’s atlantische Meer hinaus steuern; aber nicht um eine Million möchte ich in die Gondel Eures Ballons steigen.“
Zugleich erzählte er uns, daß auf der andern Seite des Caps, wenige Hundert Schritte von den Mont-Aiguklippen, das Grabmal eines Luftschiffers sich befinde. Es ist Pilâtre’s Grab, der vor beinahe einem Jahrhundert auf eben diesem Felsen zerschellte. Am andern Morgen besuchten wir es. Am einsamen Strande ein schlichter Stein. Das war Alles und uns doch genug, um mit bewegter Seele des Mannes zu gedenken, welchen Muth und Liebe zur Wissenschaft in den Tod geführt.
Während unserer Landung war es bereits sehr dunkel geworden. Aber eben als wir noch damit beschäftigt sind das Netz des Ballons abzunehmen und diesen selbst zusammenzufalten, erscheint bereits die Behörde in Gestalt eines Zollwächters, welcher nach unseren Pässen fragt und sich anschickt, unsere Gondel und unser ganzes Gepäck zu untersuchen. Es fehlte wenig, so stieg der Dienstbeflissene auch in den Ballon; denn wer kann wissen, ob nicht irgend welche verbotene Waare unter diesen Falten steckt?
Ich lasse Duruof und die Fischer ihre Arbeit im Finstern weiter besorgen und eile nach dem Leuchtthurme, um zur Beruhigung der Unseren eine telegraphische Depesche nach Calais zu schicken. Der Telegraphist schlief schon, stand jedoch sofort auf und fertigte die Botschaft ab. Kaum eine Viertelstunde später erhielt ich auch schon frohe Antwort von den ihrer schweren Sorge enthobenen Freunden.
Ich kehrte sofort zu meinen Gefährten zurück, der Neptun liegt zusammengefaltet in der Gondel, und von Bauern, Seeleuten und Fischern begleitet, wandern wir nun langsam über die Dünen dem bescheidenen Dorfe zu, das uns gastlich aufnimmt. Es heißt Audingham. Nachdem uns zuvörderst von dem Maire ein Zeugniß über Art, Ort, und Zeit unserer Landung ausgestellt worden, und das kleine Gelage, welches unsere biederen Helfer und Führer um uns versammelt, sich bis in die Nacht hinein verlängert hat, suchen wir endlich die wohlverdiente Ruhe. Ein kleines Zimmer mit drei Betten wird uns überwiesen. Draußen braust der Wind, draußen rauscht das Meer; aber hier ist’s heimlich und still, und wir werden nur um so süßer schlafen. Ich besteige das seltsam hohe Lager; es hat gar harten Grund, daß ich glauben möchte, es sei mit Kieseln vom Meeresstrande ausgestopft. Indeß, ich bin müde und werde dennoch schlafen. Vergebliche Hoffnung! Sobald das Licht ausgelöscht ist und ich die Augen geschlossen habe, überfällt mich eine Legion nächtlicher Insecten. Jeder Widerstand ist eitel, denn sie gehören offenbar zu jener Classe sprungfertiger, flüchtiger Parasiten, welche stolz des Flügels entbehren dürfen. Sind sie vielleicht eifersüchtig auf die Luftschiffer?
Duruof und Barret wenigstens ergeht es nicht besser als mir. Wir zünden Lichter an und plaudern, und nach einem neuen, gleich fruchtlosen Versuche zu schlafen, räumen wir unsere Betten, um draußen unter den steilen Strandklippen von Gris Nez den Tag zu erwarten. Und wohl lohnt es sich um einen solchen Gang. Denn der großartige Bau dieser phantastisch übereinander gethürmten Felsenmassen gehört jedenfalls zu den imposantesten und malerischsten Küstenbildern Frankreichs. Hierauf begeben wir uns an den Bergungsort des Ballons, und um fünf Uhr Morgens führt ein Miethkarren den Neptun nach dem Bahnhofe von Marquise, so daß wir gegen zwei Uhr Mittags in Calais wieder anlangen, wo eine zahlreiche Menschenmenge uns erwartet. Da jedoch der Schnellzug nach Paris erst um Mitternacht abgeht, so bleibt uns hier noch ein halber Tag, und wo könnten wir denselben besser beschließen, als auf dem Hafendamme, einem der längsten und schönsten, die es in Frankreich giebt! Das Meer ist aufgeregt, und der Boden zittert unter den Schlägen der heranstürmenden Wogen. Aber dort strebt muthig das Schiff hinaus, hier zu unseren Füßen schlüpft ein keckes Boot vorüber, und da wieder am Horizont verkündigt die aufwirbelnde Rauchsäule die Ankunft eines langerwarteten Dampfers. Wie das Abenddunkel herabsinkt, entfalten sich andere Scenen. Das Meer phosphorescirt. Es hat sich in eine Zauberschale verwandelt, in der ein märchenhaftes Licht auf- und abwogt. Die Wellen säumen sich mit feurigen Streifen, und wo der Kiel das Wasser tiefer aufwühlt, folgt ihm eine lange strahlende Schleppe.
Man weiß, daß es Myriaden mikroskopischer Thiere sind, welche den Ocean mit diesem wunderbaren Schimmer erfüllen. Aber warum kommen diese organisirten Atome heute an die Oberfläche herauf, während sie sich gestern in den Tiefen verborgen hielten? Besteht in der That, wie manche Beobachter glauben, eine gewisse Wechselwirkung zwischen ihrem Erscheinen und der Veränderung des atmosphärischen Drucks? Sind sie wirklich, wie Decharme vermuthet, Vorboten der Stürme? Ich glaube nicht, daß bis jetzt hierauf eine verlässige Antwort gegeben werden könne. Jedenfalls aber bergen jene unermeßlichen flüssigen Regionen nicht weniger Geheimnisse, als der luftige Ocean über uns.
Während der Eisenbahnfahrt nach Paris erwog ich in Gedanken noch einmal meine erste Luftreise; denn sie war mir wenigstens lehrreich genug. Wir hatten das seltene Glück gehabt, auf unzweideutige Weise uns zu überzeugen, daß in der Atmosphäre zwei völlig entgegengesetzte Strömungen unmittelbar übereinander vorhanden sein können, und es war uns gelungen, diesen Doppelstrom mit Erfolg zu benutzen. Hatte uns der eine hinaus auf die See getrieben, so führte uns der andere wieder zum Lande zurück, und in dem kurzen Zeitraume von drei Stunden war ein Weg von fünfundzwanzig Lieues oder fünfzehn geographischen Meilen glücklich zurückgelegt worden.
Wird man es übereilt nennen, wenn ich hieraus folgere, daß in Bezug auf Erforschung und Benutzung der Windströmungen noch ein weites Feld zu erobern bleibt, und daß diese Eroberung wiederum vor Allem der Luftschifffahrt vorbehalten ist? Ich wenigstens bezweifle nicht, daß die Atmosphäre sehr häufig auf die vorher beschriebene Weise in gewisse Schichten geschieden ist, deren jede ihre eigenthümliche Richtung verfolgt, und daß der Luftschiffer so gut wie der Vogel, wenn er steigend und sinkend die günstige Strömung sucht, seine Bahn zu bestimmen vermag. Hätte uns bei Calais nicht die Nacht überrascht und wäre es uns somit möglich gewesen das dort ausgeführte Manöver öfter zu wiederholen, so würde vielleicht der Neptun, nach Art eines Segelschiffs, je nach den verschiedenen Höhen zwischen zwei entgegengesetzten Richtungen lavirend, allmählich die Küste Englands erreicht haben. Die Frage der Luftströmungen ist die Lebensfrage der Aëronautik. Was wissen wir über den großen Mechanismus des atmosphärischen Kreislaufs? In Wahrheit fast nichts, und wie kann es anders sein, so lange die Meteorologie sich darauf beschränkt, die Bahn der Winde unmittelbar über der Erdoberfläche zu verfolgen, wo tausend örtliche Störungen die große Aufgabe verwirren? Wer darf es für eine Unmöglichkeit erklären, daß die Aëronautik auch in dem Luftmeere ein wirkliches System der Circulation mit ihren Venen und Arterien, ihren periodischen Fluthen, ihren Golfströmen nachweist, und daß das Luftschiff dann ihrem Gange ebenso sicher folgen werde, wie das Boot, welches auf der Welle eines Flusses dahingleitet?
Es war am 13. Juli, als ich in Havre das Hamburger Dampfschiff „Holsatia“ bestieg, um nach New-York zu reisen. Der Dampfer hatte zwei Tage vorher Hamburg verlassen und bei schönstem Wetter und spiegelglatter See die Fahrt bis nach Havre zurückgelegt. Die Passagiere befanden sich unter solchen Umständen fast alle ganz wohl und frei von Seekrankheit, so daß ein höchst heiteres Leben auf dem Schiffe herrscht. „Wir hatten eine wahre Vergnügungsfahrt, seit wir den deutschen Hafen verließen,“ erzählten die Passagiere von Hamburg den neuen Ankömmlingen, welche nach überwundenen Paß-, Zoll- und Octroischwierigkeiten, wie man sie nur in dem Lande der „großen Nation“ noch durchzumachen hat, aus Süddeutschland und der Schweiz durch Frankreich herbeigeeilt waren, um das in Havre anlegende Schiff zu erreichen. Da wehte sie stolz in französischen Gewässern und inmitten der großartigen Hafenbefestigung, jene deutsche Flagge, welche kurz zuvor zum ersten Male dem dritten deutschen Heere, welches im Laufe von kaum mehr als einem halben Jahrhundert in die Hauptstadt Frankreichs eingezogen, vorangetragen worden war, während von der Spitze des vordern Mastes das Sternenbanner die Bestimmung des Schiffes anzeigte; aber kein Hurrah begrüßte die Ankunft oder folgte der Abfahrt des Dampfers, wie es sonst in allen Hafenstädten der gebildeten Welt schöne Sitte ist. Nein! Die Träger der Civilisation standen still, stumm und mit giftigen Blicken auf den Dampfer schauend am Ufer, keinen Glückwunsch den in’s große Weltmeer Absegelnden nachrufend, so wie etwa die Wilden der Südseeinseln ein ankommendes oder abfahrendes Schiff betrachten mögen. „Zwei Sous“, heischte der wachthabende Douanier, von jedem an Bord zu verbringenden Gepäckstücke, und auf das „Warum?“ eines neugierigen Reisenden erfolgte die kühle Antwort: „Um Herrn Bismarck zu bezahlen!“ Wird wohl viele Zweisousstücke brauchen, um auch nur den millionsten Theil der Bismarck’schen und der Napoleon-Gambetta’schen Milliardchen zu bezahlen.
Endlich waren wir aus dem Hafen in’s Meer, in’s freie neutrale Meer gelangt. Das günstige Wetter, welches das Schiff von Hamburg durch den Canal hindurch begleitet hatte, schien ihm auf seinem weiteren Laufe folgen zu wollen. Die See war so ruhig, oft wirklich so spiegelglatt wie der Züricher See, die Bewegung des Schiffes eine so regel- und gleichmäßige, daß sie nur wenige etwas schwächlichere Körperconstitutionen angriff, und der Dampfer, nur von der Dampfkraft bewegt, lief in raschem Laufe durch das Meer, welches durch keine Wogen Widerstand bot. Unterdessen waren wir, auf dem neunundvierzigsten Grade nördlicher Breite fahrend, bis etwa zum dreißigsten Grade westlicher Länge gelangt, als sich am Morgen des 17. Juli eine „gute“ Brise, wie die Schiffer sagen, erhob. Der Wind blies lustig von Südwesten in die schwellenden Segel, und so, getrieben durch Dampf und Luft, durchschnitt der Dampfer mit gehöriger Schnelligkeit die Wogen. Allein bald vermehrte sich die Kraft des Windes in einer solchen Weise, daß Segel nach Segel eingezogen werden mußte, um für den kommenden Sturm das Schiff in den erforderlichen Vertheidigungszustand zu setzen, und es dauerte auch nicht lange, so erfüllte das Brausen eines höchst anständigen Sturmes die Luft und wühlte die unendliche Wassermasse auf, die nun das Schiff bald auf die Spitze hochgehender Wogen erhob, um es sofort wieder von dem Wogenberge in das Wogenthal hinabzusenden. Der Sturm wüthete die ganze Nacht hindurch, und obgleich die „Holsatia“, stolz und unbekümmert um das Toben des Windes, die ihm in rasender Eile entgegengetriebenen Wellen durchschnitt, war doch die Bewegung des Schiffes nicht eben angenehm, und besonders der durch das Emporheben der Schraube verursachte unregelmäßige Tact der Maschine war für das Ohr nichts weniger als lieblich. Wir waren, wie die Seeleute uns sagten, in einer Region angelangt, wo solche außerordentliche Luftbewegungen keineswegs zu den Seltenheiten gehörten, und wir mußten uns daher auf eine Fortdauer des stürmischen Wetters gefaßt machen.
Es war am Morgen des 18. Juli, als die „Holsatia“, welche in direct westlichem Curse steuerte, in südwestlicher Richtung eine Barke mit eingerefften Segeln kreuzen sah. In derselben Richtung, jedoch etwas weiter entfernt, wurde ein Fahrzeug bemerkbar, dessen Aussehen schon mit unbewaffnetem Auge erkennen ließ, daß es sich in einem theilweise mastlosen Zustande befand. Eine Untersuchung mit dem Fernrohre ergab denn auch, daß der Mittelmast gänzlich und an dem andern die Spitze fehlte, sowie daß das Schiff die Nothflagge (Union Ensign down) aufgezogen hatte. Sofort gab der wackere Capitain Bahrendt den Befehl, den Curs der „Holsatia“ zu ändern und näher zu dem verunglückten Schiffe, welches wie ein Spielball von den hochgehenden Wogen hin- und hergeschleudert wurde, zu steuern. Als man nahe genug gekommen war, wurden die Signalflaggen aufgezogen, welche die Frage enthielten, ob Hülfe begehrt werde. Das Schiff, welches als eine englische Barke erkannt wurde, signalisirte sofort, daß es Hülfe bedürfe, und nun wurde mit unglaublicher Schnelligkeit eines der Rettungsboote in Stand gesetzt, um den Schiffbrüchigen zu Hülfe zu kommen. Wird sie gelingen, diese Hülfe? werden unsere wackeren Theerjacken, welche eben sich bereit machen, ihr eigenes Leben in die Schanze zu schlagen, um den mit Tode ringenden Brüdern Beistand und Rettung zu bringen, wieder wohlbehalten und unversehrt zu uns zurückkehren? Dies waren die Fragen, welche sich die in ängstlicher Beklommenheit den Vorbereitungen zuschauenden Passagiere stellten. Aber schon wird das Boot, in welchem der vierte Officier, Eduard Schuster, mit dem zweiten Bootsmann Heinrich Schee nebst fünf Matrosen Platz genommen, herabgelassen und jetzt gilt es, die äußerste Vorsicht anzuwenden, um das Boot unversehrt vom Schiffe zu entfernen, und dazu mußte der Augenblick benutzt werden, in welchem eine Woge vom Schiffe zurückprallte, denn eine gerade herankommende Welle würde es unfehlbar an dem Dampfer zerschellt haben.
Athemlos und ängstlich folgten unsere Blicke dem hinabgleitenden Fahrzeuge, in welchem sieben Menschen dem Tode trotzten, um in heldenmüthigster Weise ihren gefährdeten Mitmenschen Beistand zu bringen, und mit welchen Gefühlen müssen erst die Schiffbrüchigen dieser Operation, deren Gelingen jedenfalls die Grundbedingung der Möglichkeit einer Rettung war, zugeschaut haben! Hatten sie doch Tags zuvor sehen müssen, wie eine Barke „Lucia“ seit dreißig Stunden in der Nähe des verunglückten Schiffes herumkreuzte und ein von ihr herabgelassenes Boot wie eine Eierschale zerschmettert wurde, und hatten sie doch selbst vergeblich versucht, eines ihrer eigenen Rettungsboote auszusetzen! Dieses hatte kaum das Wasser berührt, als es auch schon von dem empörten Meere umgestürzt wurde. Aber unser Boot, an dessen Steuerruder mit stolzer Ruhe der wackere Eduard Schuster stand, war von dem Bootsmanne Heinrich Schee bereits vom Dampfer abgestoßen und schwamm von vier Rudern bewegt seinem Ziele zu, jetzt hoch auf der Spitze einer Woge dahingetragen, jetzt wieder durch einen Berg von Wasser unseren Blicken entzogen.
Wir waren dem verunglückten Schiffe allmählich so nahe gekommen, daß wir mit bewaffnetem Auge die Mannschaft zählen konnten. Es waren fünfzehn Menschen, welche sich an die Verschanzung angeklammert hatten, während das Schiff von der Brandung bald auf die eine und bald auf die andere Seite geschleudert wurde. Endlich erblickten wir unser Boot, welches in der Entfernung wie eine Nußschale auf den Wogen aussah und welches nun dem Schiffe so nahe gekommen war, wie die eigene Sicherheit erlaubte, und so, daß die Mannschaft eine von der englischen Barke ausgeworfene Boje mit den darangeknüpften Tauen ergreifen konnte. Die Rettungsmannschaft war hinreichend mit Lebensrettern versehen, und diese wurden nun vermittelst der Taue von den Schiffbrüchigen herbeigezogen. Mit einem solchen Lebensretter um den Leib sprang zuerst der Schiffsjunge in das Meer und wurde zu dem Boote gezogen. Ihm folgten dann die Matrosen meistens zu Zwei und Zwei, bis endlich der Capitain zuletzt den Sprung in die Fluthen machte, nachdem er noch zuvor die Luken hatte öffnen lassen, um dem Wasser das Eindringen in das Schiff zu erleichtern und so das Sinken der Barke zu beschleunigen.
[622] Jetzt wurde das Signal zur Rückfahrt aufgezogen und das Boot steuerte, durch die kräftigen Ruderschläge der wackeren Matrosen bewegt, dem Dampfer entgegen, von dessen Fahnenstange die deutsche Reichsflagge in dem brausenden Winde flatterte, gleichsam andeutend, daß hier unter dem Schutze des deutschen Reiches und in seinem Namen eine edle und heldenmüthige Rettungsthat ausgeführt werde. Aber noch war die Gefahr nicht vorüber, noch waren Retter und Gerettete in der Gewalt der treulosen Elemente, gegen welche die Ersteren mit aller Geschicklichkeit und Kraft ankämpften. Der Dampfer wurde in einer Weise gesteuert, um dem Boote möglich zu machen, auf der Leeseite sich dem Schiffe zu nähern, welches durch seinen Curs dem Boote zugleich entgegenzukommen wußte. Alle Vorbereitungen zum Empfange der mit den Wogen kämpfenden Leute waren gemacht. Die Strickleiter nebst zahlreichen mit Schlingen versehenen Tauen hing über der Brüstung des Schiffes herab, ein Tau, zum Wurf bereit, war in der geübten Hand eines Matrosen, die Flaschenzüge zum Aufziehen des Bootes waren gerichtet, und mit klopfendem Herzen und ängstlichem Blicke beobachteten die Schiffsbewohner jede Bewegung des Bootes. Da erschien es eben auf der Spitze einer haushohen Welle, dann war es wieder hinabgetaucht in das Wogenthal und den Blicken entzogen; aber mochten auch die Wogen kommen, von welcher Seite sie wollten, dem scharfen Auge Eduard Schuster’s entging keine Bewegung des aufgeregten Meeres und mit kundiger Hand lenkte er das Steuerruder, so daß jedesmal die Welle der Spitze des Boots begegnete.
Eine volle Stunde dauerte der Kampf der Bootsmannschaft mit den hochgehenden Wogen, ehe es gelang, dem Dampfer nahe genug zu kommen, denn mehr als einmal, wenn die Zuschauer schon glaubten, daß der Sieg errungen sei, schleuderte eine heranbrausende Welle das Rettungsboot wieder weit zurück in seinem Laufe und der schon einmal zurückgelegte Raum mußte abermals durchrudert werden. Endlich kam das Boot vom Bug des Dampfers her an die Leeseite, und jetzt galt es die vereinigte Kunst und Anstrengung des Steuermannes und des Bootsmannes, das Boot vor dem Anprallen an den Dampfer und so vor Vernichtung zu bewahren. Und es gelang! Mit welcher Hast die geretteten Schiffbrüchigen die herabhängenden Taue um den Leib schlangen und dann die Strickleiter zu gewinnen suchten! Man brauchte nur dieses anzusehen und man konnte fühlen, was diese Armen seit vierundzwanzig Stunden gelitten hatten!
Unter dem lauten Hurrah der Passagiere stieg einer der Geretteten nach dem andern über die Verschanzung des Dampfers; ihnen folgten die Matrosen, und nun wurde das Boot, in welchem sich noch Lieutenant Schuster und Bootsmann Schee befanden, heraufgewunden und auch diese sprangen, herzlich und dankbar begrüßt, auf den Boden des sicheren Dampfers, der jetzt, als wäre nichts vorgefallen, ruhig seinen westlichen Curs wieder aufnahm, ruhig, denn kaum eine Stunde später ließ der Sturm, aus dessen Wuth deutsche Seemannstüchtigkeit fünfzehn Menschenleben gerettet hatte, nach, und schon am nächsten Tage war das Meer so glatt, wie ich es noch nie auf einer meiner Fahrten gesehen habe.
Mit welchen Gefühlen mag der Capitain von der britischen Bark „Lady Love“ noch einen Blick auf sein von den Wogen umhergeschleudertes, dem Untergang geweihtes Fahrzeug geworfen haben? Das Schiff war, mit Welschkorn geladen, von Montreal in Canada nach Liverpool bestimmt. Durch den Sturm war das Getreide auf die eine Seite des Schiffes geschoben und dadurch das Gleichgewicht zerstört worden. Die wüthende See schlug über Bord, und die einzige Rettung schien in dem Kappen der Masten zu liegen. Aber auch dieses Mittel half nicht, die Barke wieder aufzurichten. Die wüthende See ging über sie hinweg, drang in Cabine und Matrosenhaus, setzte die Nahrungsmittel unter Wasser und versperrte den Zugang zu dem Trinkwasser, so daß die armen Leute während achtundvierzig Stunden keinen Tropfen zu trinken und nur ein wenig Brod zu essen hatten. In diesem Zustande wurden sie aufgefunden. Durchnäßt wurden sie aus dem Meere gezogen und in das Boot aufgenommen, wo sie stundenlang verbringen mußten, naß, hungrig, durstig, immer noch in Lebensgefahr schwebend, von einem kalt und schneidend blasenden Winde durchschauert und mehrmals von einem heftigen Regen überschüttet, bis sie endlich ihren Fuß auf den sicheren Boden des Dampfers gesetzt hatten. Der Capitain der „Holsatia“ ließ in liberalster Weise den Schiffbrüchigen deutsche Gastfreundschaft zu Theil werden, und die Passagiere thaten auch das Ihrige, um diese Unglücklichen mit dem Nöthigsten zu versehen. Den wackeren Männern aber, welche ihr Leben so muthig daran wagten, ihren schiffbrüchigen Brüdern Hülfe und Rettung zu bringen, und die durch ihren Heldenmuth die dreifarbige Flagge ehrten, welche ihnen bei ihrem Rettungswerke aufmunternd zuwehte, ein anerkennendes Denkmal in allen denjenigen Theilen des Erdenrundes zu setzen, wohin die Gartenlaube gelangt, das war die Absicht des Verfassers dieser Zeilen.
In Paris ist man zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß man sich um seine Nachbarschaft bekümmern könnte. Jeder geht hier seinen eigenen Gang, oder vielmehr: Jeder rennt hier seinen eigenen Weg, ohne nach rechts oder links zu blicken, und kämpft unablässig den Kampf um das Dasein. Man wohnt hier oft jahrelang in einem Hause, ohne den Nachbar zu sehen, von dem man nur durch eine dünne Wand getrennt ist, und es ereignet sich häufig genug, daß man in einer Abendgesellschaft die Bekanntschaft eines Mannes macht, mit dem man, ohne es zu wissen, seit Jahren dasselbe Stockwerk bewohnt. Indessen ist doch eine Weltstadt ebensowohl wie eine Provinzialstadt aus Straßen zusammengesetzt, und wer längere Zeit eine und dieselbe Straße bewohnt, sieht doch immer dieselben Gesichter und kennt nach Jahr und Tag, wenigstens der Physiognomie nach, die Nachbarn und die von ihnen bewohnten Häuser. Dies gilt freilich nur von kleinen, wenig belebten Straßen, wie der Rue St. Georges, wo ich über ein halbes Menschenalter wohne. So klein indessen diese Straße ist, so ist sie doch in jüngster Zeit viel genannt worden. Auch kann sie sich rühmen, den bedeutendsten Mann Frankreichs zu ihren Bewohnern zu zählen, oder wenigstens bis vor Kurzem gezählt zu haben. Bis zum Ausbruch des letzten Krieges verließ er täglich sein freundliches Hôtel an der Ecke des Platzes Fontaine St. Georges, um seine Visiten zu machen. Der kleine Alte mit dem klugen Gesicht und dem schaukelnden Gange durchschritt niemals die Straße, ohne jeden Augenblick einem Bekannten zu begegnen und mit ihm zu plaudern. Oft sah man ihn mit seinem Jugend- und Busenfreund Mignet im Gespräch begriffen, und die Nachbarn riefen, so oft sie ihn erblickten, mit einem gewissen Stolze: „Voilà Monsieur Thiers!“
Thiers bewohnt nicht mehr die Rue St. Georges und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ihm die Communards sein Hôtel eingerissen. Ueber den Trümmern des Hôtels liegt jetzt eine betheerte Decke von Segeltuch, um dieselben vor Fäulniß zu schützen, und statt der glänzenden Equipagen, die sonst vor dem Eisengitter des Hauses hielten, sieht man jetzt gaffende Fremde und unter ihnen besonders Engländer, die auf den Continent kommen, um die „Ruins of Paris“ in Augenschein zu nehmen. Die blonden Söhne und Töchter Albions besuchen jetzt die Hauptstadt Frankreichs fast ausschließlich, um die hinterlassenen Werke der Communards zu besichtigen.
Das Hôtel des Herrn Thiers ist in einen Schutthaufen verwandelt; aber die Bäume im Garten des Hôtels grünen und blühen wie ehedem. In diesem Garten, wo der Besitzer sich so gern erging, wurden im Mai vorigen Jahres blutige Schauspiele aufgeführt. Hier fiel nämlich gar mancher Communard von den Kugeln der racheschnaubenden Versailler. Das Blut der Hingerichteten bespritzte die Blumen und Blüthen, und statt des Amselschlages hörten die Nachbarn das Knattern der Chassepotgewehre und das Geröchel der Sterbenden. Die Nachbarschaft sah von den oberen Stockwerken die furchtbaren Scenen in diesem [623] Garten und denkt mit Schaudern daran. Während der Herrschaft der Commune hatte man auf das Gitterthor des Thiers’schen Hauses eine rothe Fahne aufgepflanzt. Eines Tages geht ein bekannter Banquier vorüber und empört über den Anblick derselben bietet er einem maulaffenden Schusterjungen zehn Franken, wenn er sie herunterrisse. Der Bursche, von der Belohnung angelockt, legt den Pack der Fußbekleidungen, den er auf dem Rücken trägt, zur Erde und klettert das Gitter hinauf; aber schon auf halbem Wege ändert er seinen Entschluß, steigt wieder herunter und geht pfeifend seines Weges. Da klettert der Banquier selbst hinauf und bemächtigt sich der Fahne mit einem kecken Griffe. In demselben Augenblick jedoch kommt von der Rue Lafontaine ein bewaffneter Föderirter. Der Banquier flüchtet sich in ein benachbartes Haus auf dem Platze. Der Föderirte drückt sein Gewehr los. Die Kugel trifft indessen den Flüchtigen nicht, sondern fliegt in die Façade des Hauses, fünf bis sechs Zoll über dem Kopfe der Tochter eines meiner Freunde, eines jungen Mädchens, das, von Neugierde getrieben, aus dem Zimmer auf die Freitreppe getreten war. Der Föderirte ist wüthend und postirt sich vor dem Hause, in welches der Banquier sich geflüchtet. Er befragt Jeden, der aus dem Hause tritt, auf’s Genaueste über den Bourgeois, der die heilige rothe Fahne geschändet, indem er versichert, daß man mit dem Frevler, sobald man seiner habhaft wird, kurzen Proceß machen werde. Endlich kommt aus dem verfänglichen Hause ein Maler mit einem Bild unter dem Arm, einem breitrandigen zerquetschten Filzhut auf dem struppigen Kopf und einer kurzen Thonpfeife im Munde. Der Communard will auch ihn mustern; der Maler sagt ihm aber leise in’s Ohr: „Ich weiß, wen Sie suchen. Er ist im Keller versteckt.“ Und mit diesen Worten geht er langsam von dannen. Der Maler war kein Anderer als der Banquier, und der Föderirte war geprellt.
Das Beispiel zeigt indessen, wie in jenen furchtbaren Tagen das Leben der Bürger unaufhörlich bedroht war. –
Dicht neben dem zertrümmerten Hause des Präsidenten der französischen Republik steht ein Hôtel, das vor drei Lustren der Sammelplatz der Pariser Journalisten war. Das Gitter vor diesem Gebäude, sowie das Gebäude selbst glitzerte damals in der frischen Vergoldung so sehr, daß die Vorübergehenden davon geblendet wurden. Das Innere war noch reicher vergoldet und veranlaßte viele gute und schlechte Witze. Man hielt den Eigenthümer für einen zweiten Midas, der, was er berührte, sogleich in Gold verwandelte. Er hieß Moses Millaud. In Gemeinschaft mit seinem Freunde und Landsmann Mirès hatte er sich schnell emporgeschwungen. Er gab den Vertretern der Presse und den Spitzen der Literatur und der Kunst prachtvolle Feste, von denen die Blätter mit glühender Begeisterung sprachen. Selbst der alte Lamartine verschmähte es nicht, an der Tafel des Herrn Millaud zu sitzen, den die Männer der Feder in Versen und in Prosa besangen. Er verdunkelte seinen Nachbar Adolph Thiers, der damals zurückgezogen lebte und wenig von sich reden machte. Wer indessen neben der Fortuna auf dem Rade schnell fortrollt, muß jeden Augenblick gewärtig sein, durch einen Rippenstoß der launischen Göttin hinabzustürzen, ja vielleicht gar unter das Rad zu kommen und abscheulich gerädert zu werden. Millaud bekam bald einen solchen Rippenstoß, und fiel er auch nicht unter das Rad, so fiel er doch auf die Nase, und die Vertreter der Presse und die Spitzen der Literatur zogen sich zurück, und man sah keine Leute mehr in schwarzen Fräcken und weißen Cravatten das Millaud’sche Hôtel aufsuchen. Schnell raffte er sich jedoch von seinem Sturze wieder auf. Er gründete das „Petit Journal“, das jeden Morgen, mit einem Artikel von Timothée Trimm (Léo Lespès) versehen, wie eine frischgebackene Semmel von der Menge verschlungen ward. Millaud kam wieder empor, und die Leute in schwarzen Fräcken und weißen Cravatten drängten sich abermals nach seinem Hause, bis ihn das Glück abermals verließ. Millaud starb im vorigen Herbste. Das Mobiliar seines Hauses, das Gold- und Silbergeschirr, die Gemälde, die Bronzen und Marmorbilder wurden vor Kurzem versteigert, und das Haus selbst, an dem die Vergoldungen längst verblichen, steht leer und schmachtet nach einem Käufer. –
Nur durch ein bescheidenes Haus von dem Hotel Millaud’s getrennt, befindet sich dort ein ebenso bescheidenes, das die Ecke der Rue St. Georges und der Rue d’Aumale bildet. An dieses Eckhaus knüpfte sich eine traurige Erinnerung. Bis zum Ausbruch des jüngsten Krieges wohnte in demselben ein junger Mann, der allgemein für ein Sonntagskind gehalten wurde. Ich meine Prévost-Paradol. Er war auch in der That ein Glückskind, dem Alles zu gelingen schien. Er hatte noch nicht das zwanzigste Jahr erreicht, als er bereits zwei glänzende literarische Ehrenpreise davontrug, und in seinem dreiundzwanzigsten Jahre erhielt seine Arbeit über Bernardin de Saint-Pierre den Preis der Beredsamkeit von der französischen Akademie. Seine Vorlesungen, die er als Professor der Literatur in Aix hielt, erfreuten sich des glänzendsten Erfolges, und als er in der Blüthe des Empire dem Lehrstuhl für immer den Rücken kehrte und als Mitarbeiter am „Journal des Débats“ seine politische Laufbahn begann, erregten seine kaustischen Artikel gegen das bonapartistische Regiment das lebhafteste Interesse. Er bildete bald eine Macht, mit der man rechnen mußte, und war von den damaligen Gewalthabern ebenso gehaßt und gefürchtet, als er von seinen politischen Parteigenossen geliebt und befördert wurde. Jeder seiner Freunde, und sein Nachbar Thiers an der Spitze, beeiferte sich, seine Gunst dem jungen Prévost-Paradol zu bezeigen, der schon im sechsunddreißigsten Jahre sich unter der Kuppel des Instituts im Sessel der Unsterblichkeit wiegte, eine Ehre, um welche mit ihm der damals mehr als sechszigjährige Jules Janin vergeblich rang. Prévost-Paradol wohnte mir gegenüber, und wir begegneten uns täglich mehrere Male. Er war liebenswürdig, einfach in seinem Wesen und bescheiden ohne Affectation. Als ich ihn einst um einige Notizen über seinen Lebensgang ersuchte, riß er ein gedrucktes Blatt aus einem Folioband, die Biographien der Mitglieder der französischen Akademie enthaltend. Auf diesem Blatt heißt es von ihm: „Il est un des journalistes les plus savants et le plus spirituels de notre époque.“ (Er ist einer der gelehrtesten und geistvollsten Journalisten unserer Zeit.) Ehe er mir nun das Blatt überreichte, strich er mit dem Ausruf: „C’est bête!“ (Das ist einfältig!) die Zeile dadurch. Ich habe dieses Blatt aufbewahrt und erinnere mich, so oft ich dasselbe betrachte, nicht ohne Wehmuth des Mannes, der in der vollsten Blüthe des Mannesalters seinem Leben ein Ende machte.
Man weiß, daß er unter dem Ministerium Ollivier just beim Ausbruch des Krieges zum Gesandten der Vereinigten Staaten ernannt wurde und, kaum dort angelangt, sich eine Kugel in’s Herz jagte. War es Reue, ein Amt unter dem Empire angenommen zu haben, das er so lange und mit so scharfen Waffen bekämpft hatte? Quälte ihn ein dunkles Vorgefühl des unerhörten Unglücks, das in Folge der bonapartistischen Willkürherrschaft über sein Vaterland kommen sollte? Wer weiß es? Er hat sich vor seinem gewaltsamen Scheiden aus dieser Welt nicht darüber ausgesprochen. Sein tragisches Ende zeigt indessen, daß Diejenigen, die uns am beneidenswerthesten scheinen, es am wenigsten sind, und es bewährt sich an ihm der alte Spruch, daß Niemand vor dem Abgange von der Lebensbühne glücklich zu preisen ist. –
Steigen wir einige hundert Schritte die Straße hinunter, so sehen wir links ein mit einer Terrasse versehenes Haus, das gegenwärtig unbewohnt ist und den Eindruck der Verödung macht. Der Besitzer dieses Hauses war eine europäische Berühmtheit, ja sein Name war während eines halben Jahrhunderts in allen Ecken und Enden der civilisirten Welt genannt. Niemand war glücklicher als er. Ein voller Lorbeerkranz schmückte sein Haupt, unzählige Ordenszeichen bedeckten seine Brust, und es fehlte ihm auch nicht an irdischen Glücksgütern. Er hatte seinen neunundachtzigsten Geburtstag in frischester Gesundheit, im vollsten Besitze seiner reichen geistigen Kräfte gefeiert; er lag sogar noch dem Dienste seiner Muse ob, der man die lieblichsten Melodien zu verdanken hat.
Dieser hohe Greis war Auber. Ich sah ihn, als der Krieg bereits begonnen, einen Tag bevor ich Frankreich verließ, gegen Mitternacht in den Coulissen der großen Oper, wo sein Meisterwerk, „Die Stumme von Portici“, aufgeführt wurde. Auber war gewiß einer der wunderbarsten Greise. Trotz seiner neunundachtzig Jahre kehrte er niemals vor Mitternacht in seine Wohnung zurück. Er ließ im Gespräche die buntesten Witzraketen los, und da er Zeit und Gelegenheit genug gehabt, große Begebenheiten zu erleben und die bedeutendsten Menschen kennen zu lernen, so kann man sich leicht denken, wie fesselnd seine Unterhaltung war. Auber war der eingefleischteste Pariser. Er verließ niemals Paris, selbst [624] während der heißen Sommermonate nicht, wo doch der Aufenthalt in der Weltstadt so unangenehm ist, und er besuchte auch während der Hundstage allabendlich die Theater. Er liebte die Jugend, besonders die weibliche, und er versicherte, daß der Umgang mit jungen, heiteren, frischen Wesen ihn selbst jung, heiter und frisch erhielte. Ich sah ihn nicht selten vor seinem Hause, von einer Mädchenschaar umgeben, in lebhaften Gesprächen, in munteren Scherzen begriffen.
Auber hatte auch, als die deutschen Heere einen furchtbaren eisernen Reif um die Hauptstadt zu ziehen begannen, dieselbe nicht verlassen wollen. Die Blätter verbreiteten damals, er habe sich nach London geflüchtet; ich las die Blätter und glaubte nicht daran. Auber konnte sich nicht von Paris trennen und er ertrug die Belagerung anfangs sehr standhaft. Er, der in seinem theuren Paris so viel gesehen und erlebt hatte, wußte, wenn er spät am Abend in den nun unbeleuchteten und menschenleeren Straßen mit seinen Freunden und Collegen des Comité des ambulances des Beaux-Arts heimkehrte, dessen Präsident er war, tausend Dinge auf eine so fesselnde Weise zu erzählen, daß sie ihm stundenlang vor seiner Hausthür zuhörten und sich nicht von ihm zu trennen vermochten. Als sich aber der Hunger in Paris einstellte und die Requisitionen begannen, hatte er, der sonst so kalte und selbstsüchtige Mann, eine für ihn gar harte Probe zu bestehen.
Auber liebte die Pferde; er hatte deren immer drei bis vier im Stalle, und es war sein größtes Vergnügen, jeden Morgen denselben einige Zuckerstücke zu reichen und sie zu hätscheln. Nun wurden diese seine Lieblingsthiere eins nach dem andern abgeholt. Bald blieb ihm nur noch eins, das schönste, übrig. Als man ihm anzeigte, daß man auch dieses am nächsten Morgen abholen und zur Schlachtbank führen würde, entschloß sich Auber, sein Haus zu verlassen, um nicht die Schritte des armen Thieres zu hören. Ambroise Thomas, der den alten Meister in Verzweiflung sah, wendete sich, ohne ein Wort zu sagen, an ein großes industrielles Haus, welches auf’s Bereitwilligste ein schönes Pferd hingab, das an Stelle des Auber’schen abgeliefert wurde. Als Auber dies von Ambroise Thomas erfuhr, vergoß er heiße Thränen, er, der niemals Thränen vergossen und überhaupt keinen Herzenserschütterungen oder sonstigen Aufregungen zugänglich war!
Sein theures Thier war ihm nun zwar gerettet, aber nur allzu bald stand es wieder in Gefahr, ihm entrissen zu werden. Auf die Belagerung folgte die tolle Herrschaft der Commune und unter dieser wurde das Pferd abermals requirirt. Ambroise Thomas ließ es jetzt an einen Transportwagen spannen und auf diese Art aus Paris schaffen. Auber fiel nun auf’s Krankenlager, von dem er sich nicht mehr erhob. Er bat seinen Freund, der ihm bald in der Oberleitung des Conservatoriums folgen sollte, das theure Pferd zu erhalten, und kam jeden Augenblick auf diese Bitte zurück. Fünf Tage nach dieser letzten Aufregung entschlief der fast neunzigjährige Greis, und nun ward seine Leiche, so zu sagen, von der Commune requirirt, welche die Bestattung des Compositeurs zu einer Manifestation unter Entfaltung der rothen Fahne mißbrauchen wollte. Ambroise Thomas und Auber’s Notar hintertrieben jedoch diese Manifestation unter dem Vorwande, daß die Verwandten des Verblichenen abwesend seien und deshalb die Beerdigung aufgeschoben werden müsse. Beide ließen indessen die Ueberreste heimlich in eine Gruft der nahen Trinitätskirche bringen.
Auber’s Haus, wo die Musen und Grazien so oft und so gern geweilt, steht jetzt öde und verlassen, und Niemand, der den Alten gekannt, geht vorüber, ohne einen schwermüthigen Blick auf die trüben und klaffenden Fenster zu werfen.
Die Elisabethenquelle.
Eine moderne Sage aus dem Elsaß.
Im Thal von Walsborn springt ein Quell,
Gewalt’ge Fluthen silberhell;
Er quillt hervor aus einem Stein –
D’rauf hieb ich, wunderbar erquickt,
Den Namen meiner Liebsten ein.
Und als das Werk vollendet war,
Da bracht’ ich ihm zum Opfer dar
Aus Waldesblumen einen Strauß,
Den küßt’ ich lieb- und sehnsuchtsvoll,
Und froh ging ich zum Thal hinaus.
Zwei Jahre sind’s und – o Betrug!
Ich folge einem frommen Zug –
Da beten brünstig sie am Quell:
„O heilige Elisabeth,
O wasche mir die Augen hell!“
Sie singen fromm die Litanei:
„O mach’ uns von Gebrechen frei!
Mach’ uns vor jedem Weh gefeit,
Du heilige Elisabeth,
Gepriesen und gebenedeit!“
Ich trete zu dem Heiligthum –
Da ist der Quell bekränzt ringsum,
Und oben strahlt in heil’ger Nisch’
Der holde Nam’ Elisabeth,
Behängt mit Blumenwinden frisch.
Ich bringe auch mein Scherflein her,
Waldblumenstrauß, das Herz so schwer,
In tiefen Nöthen steh’ ich hier:
„O heilige Elisabeth,
Ich bitt’, ich bitt’, erscheine mir!
Von wilden Blumen nimm den Kranz,
O nimm dazu mein Herze ganz!
Es blutet sehr, es schlägt so heiß,
O heilige Elisabeth,
Es lebt und stirbt auf dein Geheiß.
O heil’ mein pochend, blutend Herz!
Ich will dich preisen allerwärts,
Ich will dir singen je und je,
O heilige Elisabeth,
Daß du geheilt das tiefe Weh.“
Die ersten Schlachten waren geschlagen. Von jenem Tage an, wo der Zeitungsträger zum ersten Male mit einem Papierstreifen um den Hut, der in Riesenbuchstaben das Wort „Sieg“ trug, Morgens am Kochbrunnen erschienen war, wo ganz Wiesbaden wenige Stunden später der Heldengestalt des vom Hauptquartier in Mainz herübergekommenen Königs zugejauchzt hatte, folgte eine Siegesbotschaft der andern. Die Häuser legten den bunten Flaggenschmuck nicht mehr ab, Glockengeläute und Böllerschüsse gaben jeder neuen, berauschenden Mähr weithin schallenden Ausdruck, und die Tausende, welche im Sonnenlichte gejubelt, vereinten sich im Sternenschein auf dem Markte, um im Angesichte des Gotteshauses dem höchsten Lenker aller Schlachten in begeistertem Chorgesang dankbare Lob- und Preislieder anzustimmen.
Aber all dies Jauchzen vermochte das Stöhnen, das Schluchzen nicht zu übertönen, welches zu gleicher Zeit mit geisterhafter
[625][626] Allgegenwart das Land durchklang. Schon waren in Bieberich ganze Schiffe voll Verwundeter angekommen, schon wußte man in Wiesbaden, wie hart das achtzigste Regiment gelitten, sah man tiefgebeugte Gestalten im schwarzen Ehrenkleide einherwanken. Aus dem einen Hause hastete man angstvoll in die Ferne, um den theuren Verwundeten heimzuholen, oder doch wenigstens Trost und Pflege zu bringen; in dem andern harrte man mit erstarrender Furcht von Stunde zu Stunde vergebens auf ein noch immer ausbleibendes Lebenszeichen. Die Namen der verwundeten, gefallenen Officiere wurden rasch bekannt, die der Soldaten, der Freiwilligen ließen lange auf sich warten, und in den höchsten, wie in den ärmsten Ständen zitterten brechende Herzen in verzweiflungsvoller Ungewißheit um ihr Theuerstes.
Täglich brachten die Bahnzüge Verwundete und Gefangene; die Lazarethe füllten sich und ihre Räume fingen an nicht mehr zu genügen. Unter der Leitung des Regierungsraths Gotter ließ die Behörde die ausgedehnten Räumlichkeiten eines leerstehenden Privathauses zu einem von Frauen aller Stände geleiteten und bedienten Hospitale einrichten. Mit heiligem Eifer setzte Jede, die sich dem freiwilligen Liebesdienst gewidmet, die ganze Summe ihrer Kraft ein. Mochte es nun gelten, mit klugem Hausfrauenblick die Thätigkeit in der zur Speiseanstalt erweiterten Küche zu leiten, oder im Verbandzimmer schaffend und ordnend zu wirken, mochte es gelten, mit Aufgebot aller geistigen Kraft in den von hundert Bildern des Jammers angefüllten Sälen von Lager zu Lager zu wandeln – überall war und blieb es doch das gleiche, unermüdliche Selbstvergessen, die gleiche Opferwilligkeit! Mit jener Energie, die hoher Wille verleiht, stählten sich die reizbarsten Nerven gegen den steten Anblick herzzerreißenden Wehs, und viele bis dahin nur an Ruhe und Behagen gewöhnte Frauen ermüdeten nimmer, mit leichter Hand Wunden zu verbinden, mit frommem Trosteswort das brechende, sehnsuchtsvoll die ferne Heimath suchende Auge aufzuhellen.
Auch Eugenie fand und übte diese Kraft. In den hohen, luftigen Räumen der Villa standen zwanzig Lagerstätten vertheilt, auf denen mehr oder weniger schwer verwundete Soldaten der endlichen Genesung entgegenharrten. War unter ihnen auch kein Amputirter, kein ganz Hoffnungsloser, so veranlaßte doch die vorzügliche Einrichtung, welche dort zur Pflege getroffen war, den leitenden Arzt, diesem Asyl namentlich solche Verwundete zuzuweisen, deren Zustand besondere Sorgfalt erheischte. Eine Diaconissin, von zwei Dienerinnen des Hauses unterstützt, übte die eigentliche Krankenpflege, der sich Eugenie, von ihr unterwiesen, nur in einzelnen Fällen persönlich widmete, denn die Zeit der jungen Hausfrau war durch Leitung des Ganzen vielfach in Anspruch genommen. Doch gab es bestimmte Stunden, von deren Einhalten Eugenie sich durch Nichts abhalten ließ; stets war sie bei Vertheilung der sorgsam zubereiteten Mahlzeiten, stets zur Stunde der ärztlichen Besuche anwesend, trug überhaupt den ganzen Reichthum ihres eigensten Wesens auf die Sorge für Wohlergehen und Tröstung ihrer Kranken über.
So oft die anmuthige Gestalt bei ihren Pflegebefohlenen eintrat, wandten sich ihr alle Augen aufleuchtend zu, denn für Jeden brachte sie das wohlthuende Wort, den erquickenden, freundlichen Blick und meist für Einen unter ihnen eine besondere Gabe, deren Empfang mit um so neidloserer Freude von den Andern miterlebt wurde, als morgen die Reihe froher Ueberraschung an einen Zweiten kam. War es nun ein Brief aus der Heimath, den sie frohlockend an’s Lager des Sehnsuchtsvollen trug, war es eine Nummer der Gartenlaube, eine frische Rose, eine saftige Frucht, deren Genuß der Arzt ausnahmsweise gestattet – das Kleinste wurde gereicht und empfangen mit dem reinen Gefühl doppelter Freude. Heute brachte sie dem blutjungen Füsilier ein buntes Shawlchen, das er voll Stolz um den Hals schlang, da es ihm als selbstgestrickt bezeichnet wurde, morgen dem bärtigen Landwehrmann ein Kistchen mit Spielzeug, an dessen Theilen die vorher abgefragten Namen seiner kleinen Kinder befestigt waren, um es nun eigenhändig mit der Adresse zu versehen. Jetzt erklärte sie mit heiterem Lächeln ein humoristisches Kriegsbild, dann saß sie am kleinen Tische neben dem Bett, die Feder in der Hand, und ließ sich mit sanftem Aufblick den Brief in das heimathliche Dorf dictiren. Wenn die weiße Mädchenhand leise, wie kühlender Windhauch über die fieberheiße Stirn strich, wurde der Stöhnende ruhiger und die von derselben Hand gereichte Limonade erfrischte mehr als vorher. Hier ein Kissen höher rückend, dort ein mitleidig tröstendes Wort spendend, überall empfangen wie ein auf’s dunkle Lager fallender Sonnenstrahl, glitt das holde Bild der Barmherzigkeit von Bett zu Bett, das Herz erschüttert, vom tiefsten Ernste durchhaucht, und doch von einem Gefühl der Erhebung getragen, welches Kraft zum Miterleben der schweren Leiden verlieh.
Zum ersten Mal empfing das in abgeschlossenem Kreise aufgewachsene Mädchen einen Begriff von dem natürlichen Adel der Nation, welcher sie angehörte. Fast mit Ehrfurcht staunte sie die geistige Kraft, den moralischen Muth an, womit von einfachen Männern des Volkes die quälendsten Schmerzen erlitten, die härtesten Geduldsproben ertragen wurden. Das angeborene, dem eigenen reinen, kraftvollen Sinne entsprossene Schicklichkeitsgefühl, die warme, für den kleinsten Beistand geäußerte Dankbarkeit, die tiefe Liebe zu Heimath, Weib und Kind, welche sich in hundert rührenden Zügen äußerte, ergriff ihr Herz täglich von Neuem und flößte ihr höheren Stolz ein, eine Deutsche zu sein und zu heißen, als alle Triumphe der Schlachten.
Das Tagewerk war beendet. Der Arzt hatte seinen Abendbesuch gemacht, die Kranken waren frisch verbunden, die letzte Mahlzeit vertheilt, und Eugenie zog sich zurück, nachdem sie den Wunsch einer guten Nacht von dankbaren Stimmen empfangen. Nun saß sie ruhend am Fenster des Balconzimmers, dessen Einrichtung unverändert geblieben war, und gab sich, ehe sie zur Stadtwohnung zurückging, jenem Träumen hin, das bei körperlicher Ermüdung und geistiger Regsamkeit so leicht die Sinne umfängt. Was unter der drängenden Thätigkeit der letzten Wochen in ihr verstummt war, trat mit plötzlichem Mahnen wieder heran – Vergangenheit! Vergangenheit! Gefährliche Erinnerungen zogen sie an, lockten zum Versinken, wie das Wasser mitunter locken kann, wenn man zu lange träumend in die Wellen blickt. Wie mit einem Zauberschlage erstand vor ihrem Auge und Ohr jene Abschiedsscene, die, ewig unvergessen, in diesen Räumen erlebt worden! Als deren erster Jahrestag wiederkehrte, brannte die Wunde noch so heiß, daß sie es kaum zu ertragen gemeint – vor Kurzem hatte sich der Tag zum zweiten Male erneut und, verdrängt von tausend Pflichten und Sorgen, nicht einmal ihr Gedächtniß berührt. Warum nun heute? Warum ewig wieder der Blick dieser Augen, der Klang dieser Stimme, die vielleicht jenes Tages längst vergessen, oder doch, wenn Erinnerung lebendig geblieben, der Abschiedsstunde in Groll gedachten?!
Heiße Gluth brannte auf Stirn und Wange, hastig, als wollte sie fliehen, erhob sie sich und griff nach Hut und Schirm. Ehe sie aber noch das Zimmer verlassen, öffnete sich die Thür und mit soldatischem Schritt trat eine Ordonnanz des Etappenbureaus ein, stellte sich kerzengerade vor ihr auf und überreichte ihr einige Briefe. Diese Erscheinung bot nichts Ungewöhnliches, da fast täglich ein oder der andere Feldpostbrief für ihre Pflegebefohlenen abgegeben wurde. Mit leisem Bedauern, daß ihr nicht vergönnt war, noch heute Freudenbringer zu sein, öffnete sie, nachdem die Ordonnanz gegangen, ihr Pult, um die Briefe bis zum nächsten Morgen zu verwahren. Während sie dieselben durch ihre Finger gleiten ließ, um zu sehen, welche Adressen sie trugen, fuhr sie plötzlich zusammen. Unter den unscheinbaren Couverts schimmerte eines hervor, das, von fester charaktervoller Männerhand beschrieben, ihren eigenen Namen trug. Die Schriftzüge waren ihr fremd; gleich den übrigen Schreiben war auch dieses mit der Bezeichnung: „Feldpostbrief“ und dem gleichen Stempel, ohne Ortsbezeichnung, versehen. Der Name des Absenders fehlte.
Zögernd wog Eugenie den Brief in der bebenden Hand; er schien mehr zu umschließen als nur ein beschriebenes Blatt. Endlich erbrach sie das mit einem einfachen Genfer Kreuze bezeichnete Siegel. Aus dem losen Bogen, welchen sie hervorzog, fiel ihr ein Orangenzweig entgegen, die Blätter frisch, wie eben gepflückt, die zarten Blüthen welk, aber vom süßesten Duft durchdrungen. Blaß wie diese Blüthen starrte Eugenie das Briefblättchen an; es trug nichts als ein Datum – das des unvergeßlichen Tages ihres Lebens!
Schwül und sternenlos breitete sich die letzte Nacht des August über die weiten, von der Maas durchschnittenen Thalflächen aus. Zur Rechten und Linken des Flusses hatten sich
[627] Tags über zwei Armeen nordwärts bewegt, die vom Kronprinzen von Sachsen geführte östlich, jene des Kronprinzen von Preußen westlich des Stromes.
Mit einbrechender Nacht hatte letztere ihre Bivouacs bezogen, deren vorderste Ausläufer sich fast bis zum Dorfe Vendresse erstreckten. Mitunter blitzte ein Wetterleuchten auf, als wollte es die Wachtfeuer grüßen, welche meilenweit hin aufflackerten. Um dieselben her lagerten die Mannschaften vor brodelnden Kochgeschirren; fröhlicher Lärm und allerlei Kurzweil tönten aus den beweglichen Gruppen. In gemessenen Entfernungen standen gewaltige Pyramiden aus Gewehren, die Helme auf den Bajonneten, die Riemen der Patrontaschen um die Schäfte geschlungen, lange Reihen von Laubhütten und Zelten dazwischen, hier und da sogar eine von den Pionnieren rasch zusammengeschlagene Bretterbude. Da die Nacht erst vor Kurzem hereingebrochen, war noch überall Leben; dennoch blieb der allgemeine Eindruck der einer gebundenen Stille, die jeden Laut einzeln unterscheiden ließ.
Vom Ufer her ertönte Pferdegetrappel; ein Cavallerieofficier ritt an der Spitze einer Patrouille querfeldein, dem Lager zu und befragte den nächsten Posten nach der Richtung, in welcher das Standquartier des Generals von Gersdorff aufzusuchen wäre. Dann sprengte er weiter durch die Zelte, hier und dort anhaltend, bis er das Lager des elften Armeecorps gewonnen hatte.
Im Helldunkel blitzte die Schärpe eines Adjutanten; der Reiter hielt an und bat um Orientirung, um eine für General von Gersdorff bestimmte Meldung baldmöglichst abzugeben.
„Bedaure, Herr Rittmeister, daß eine Verzögerung von mindestens einer Stunde unvermeidlich,“ entgegnete eine Stimme, deren Klang seltsam bekannt an das Ohr des Gardeofficiers schlug. Zugleich trat der Sprechende einen Schritt vor, und ein Schein des nahen Wachtfeuers fiel auf sein Gesicht. „Der General ist augenblicklich nicht anwesend, wird aber noch vor Mitternacht in sein Zelt zurückkehren. Ist Ihnen gefällig, einstweilen abzusitzen, Herr von Triefels, und meine Begleitung zu den Cameraden anzunehmen?“
„Gern, Herr Lieutenant,“ sagte Triefels verbindlich; „ich würde Ihnen aber doppelt dankbar sein, wenn Sie mir Ihre Begleitung vorerst zu einer kurzen Promenade gönnen wollten, falls nichts Sie abhält; nach dem scharfen Ritt wäre mir solche Fußwanderung in Gesellschaft eines alten Bekannten besonders erwünscht.“
Eckhardt verbeugte sich, und nachdem er seinen Leuten Weisung gegeben, schritt Triefels neben ihm durch die Zeltreihen. Der Pfad war dämmerig, fast dunkel, kein Lüftchen regte sich; hin und wieder blinzelte ein einzelner Stern wie verloren zwischen den Wolkenmassen. Hörbar klangen die Schritte der beiden Officiere durch die Nachtstille; mitunter klirrten die Sporen der schweren Reiterstiefel leise dazwischen.
„Darf man fragen, welcher Anlaß Sie über die Maas geführt, Herr Camerad?“ fragte Eckhardt nach geraumer Pause.
„Soweit er mir bekannt, gewiß,“ antwortete Triefels; „die Depesche, welche ich überbringe, bezieht sich auf Marschbewegungen der nächsten Tage. So viel man vernimmt, wird unsere Armee östlich der Maas vorgehen und den Weg zwischen dem Flusse und der belgischen Grenze sperren; bis wir beiderseits die nördliche Spitze erreicht, soll Fühlung mit der Ihrigen erhalten bleiben.“
Wieder schritten Beide schweigend vorwärts.
„Sind Sie in brieflicher Verbindung mit Ihrem Garnisonsorte?“ fragte Triefels plötzlich.
„Ja.“
„Und wie geht es – – erfuhren Sie Neueres über die Familie Wallmoden?“
Eckhardt blieb unwillkürlich stehen, wie festgemauert. Sein Blick bohrte sich durch das Dunkel in den seines Begleiters. Er antwortete nicht.
„Sie begreifen, Herr Lieutenant, daß dieses Thema einmal zwischen uns zur Sprache kommen muß, je früher, desto besser,“ sagte Triefels mit Nachdruck. „Ein Zweifel über die Vorgänge, wobei wir handelnde Rollen gespielt, ist uns Beiden schwerlich geblieben. Vielleicht hat es Sie überrascht, daß ich damals abreiste, ohne Sie – aufzusuchen.“
„Es hat mich überrascht.“
„Wirklich? – In diesem Falle unterschätzten Sie mich mehr, als ich erwartete. Ich habe mir, Ihnen gegenüber, gleichen Vorwurf nicht zu machen, denn ich ließ Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Sie haben gehandelt, wie es Ihnen ziemte. Ich gleichfalls. Was bedeutet sogenannte Genugthuung, einem Riesenverluste gegenüber! Ueberdies erscheint mir ein Duell, bei dem der Fordernde sich als Schuldiger fühlt, nicht von größerem Werth, als die ohnmächtige Thräne eines Weibes, die zuletzt nur auf ihre eigene Wange zurückfällt.“
„Sie ehren mich durch ein Vertrauen, das ich nur mit der Versicherung erwidern kann, daß ich Ihre Auffassung verstehe und theile,“ entgegnete Eckhardt in zurückhaltendem, aber weniger kaltem Tone als bisher.
„Und würden Sie sich jetzt dazu verstehen, mir einige Fragen zu beantworten?“ fragte Triefels rasch.
Die Erwiderung klang gepreßt: „Soweit es in meinem Bereiche liegt – ja.“
„Dann bitte ich, mir einen Rückblick zu gestatten. Waren meine Schritte den Cameraden gegenüber von dauerndem Erfolge? ist jenes – Tischgespräch im Nassauer Hofe nicht in weiteren Kreisen bekannt geworden?“
„Darüber kann ich Sie beruhigen. Man mag hin und wieder geflüstert haben, laut wurde Nichts; jedes auftauchende Gerücht verklang, ehe es Boden gewonnen; allerdings mehr, als zu erwarten stand.“
Triefels runzelte leicht die Stirn. „Ich hatte mir Stillschweigen nachdrücklich erbeten und – nicht in allen Fällen verzichte ich auf Ausgleich durch die Waffe! Nun zur Gegenwart – wie geht es bei Wallmodens?“
„Der Staatsrath ist neuerdings wieder amtlich thätig. Daß Fräulein Eugenie noch im väterlichen Hause lebt, ist Ihnen vielleicht bekannt,“ sagte Eckhardt mit Ueberwindung; „mein Onkel schreibt, daß sie sich mit großer Hingabe der Pflege Verwundeter widmet. Ich selbst sprach sie kurz vor dem Ausmarsche; sie befindet sich wohl.“
Von Neuem senkte sich Todtenstille fast greifbar zwischen die Wanderer, bis auf einmal, gleich einer Windsbraut, die Frage hervorbrach: „Hat sie je das Vergangene gegen Sie berührt?!“
„Herr von Triefels!!“
„Sie haben Recht; entschuldigen Sie mich,“ murmelte Triefels düster; „selbst unter Freunden hat Offenheit ihre Grenzen – geschweige denn –“
Die jungen Männer waren, achtlos weiterschreitend, auf einer freien, links von Buschwerk begrenzten Stelle angelangt. Die Wolkenmassen hatten begonnen, sich zu theilen, nur in der Ferne sprühten noch einzelne Blitze durch die Schwüle; rings wurde es lichter, der Mond stieg auf, halbverschleiert. Sein Strahl küßte in gebrochenem Schimmer das Laub der Büsche, die thauige Wiese; jeder Grashalm erzitterte in weichem Lichte. Vom nächsten Posten her klang leise eine melodische Baritonstimme durch tiefste Stille:
„Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad’“ –
Eckhardt hielt den Schritt an; sein abgewandtes Auge richtete sich ernst auf seinen Begleiter. „Cameraden sollten sich in der That keine Antwort schuldig bleiben,“ sagte er ruhig. „Ja, Herr von Triefels, Eugenie hat über das Vergangene mit mir gesprochen; es waren die letzten Worte, die wir tauschten. Vielleicht gilt dies heute auch für uns Beide. Wie es auch kommen mag, Sie sollen Wahrheit hören. Ich glaubte einst, Kämpe für das Recht sein zu[WS 1] müssen – vielleicht ward dabei ein Glück zerstört. Vergessen – sind Sie nicht!“
Triefels ergriff mit festem Druck die kalte Hand, welche sich ihm rasch wieder entzog. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, schlugen Beide den Weg zurück, nach den Zelten des Hauptquartiers ein.
Der Nachmittag des ersten September rückte vor. In siegendem Glanze strahlte die den Nebelschleiern des Morgens längst entrungene Sonne auf die Thalschlucht nieder, in deren Mitte die Festung Sedan lag, umschlossen von den dichtbewaldeten Ardennen. Hell schlängelte sich die blitzende Maas durch üppiges Wiesengelände. Ueber den Wipfeln der Laubwälder hingen noch einzelne Nebelstreifen wie geisterhaftes Gespinnst. Und auf den Höhen, in den Gründen hatte seit sechs Uhr Morgens die verhängnißvollste aller Schlachten gewüthet.
[628] Seit einer Stunde schwiegen die Batterien; im Kampfe war eine Pause eingetreten. Einer lebendigen Mauer gleich schlossen sich die Sieger des blutigen Tages als doppelter, dreifacher Ring um die Veste und blickten voll wachsender Spannung nach den Wällen, auf denen sich die erwartete Parlamentärflagge noch immer nicht zeigte. Und doch war den Franzosen nur noch die eine Wahl zwischen Ergebung und Vernichtung geblieben.
Tausende von Gefangenen waren in Schaaren zusammengetrieben, Tausende von Todten und Verwundeten bedeckten das weite Schlachtfeld – Mann und Roß, Freund und Feind in jammervoller Eintracht aufeinander gehäuft. Hinter den Kampfeslinien zogen sich ringsum die Sanitätsdetachements. In unheimlicher Geschäftigkeit wanderten Krankenträger mit Bahren und Matratzen rastlos hin und wieder; jene leichten, auf Federn ruhenden, mit Riemen und verhängnißvollen Vorrichtungen aller Art ausgestatteten Fahrzeuge, mit Frischverbundenen immer von Neuem gefüllt, rollten in langsamer Behutsamkeit von den Verbandplätzen den nächstgelegenen Lazarethen zu, um dann, ihrer stöhnenden Insassen entledigt, in raschem Trabe zurückzukehren.
Einen Schleier über die Stätten, wo blühendes Leben wider Qual und Tod streitet!
Eben sprengt ein Adjutant über das Feld hin; er scheint in höchster Eile; plötzlich aber reißt er so scharf den Zügel zurück, daß sein Schimmel sich hoch aufbäumt, ehe er ihn zum Stehen bringen und absitzen kann. Das Pferd am Zügel, folgt er raschen Schrittes einer eben vorübergetragenen Bahre, auf deren Matratze ein Officier ruht, die Augen geschlossen, das Haupt zurückgesunken. Wie ein Marmorbild starrt Eckhardt auf den Regungslosen. Er faßt die schlaff herabhängende Hand und ruft mit dringendem Ton: „Triefels!“ Kein noch so leises Regen antwortet ihm. Während er die kalte Hand aus der seinen gleiten läßt, wendet er sich zu einem der Träger: „Schwer verwundet?“ –
„Durch die Brust geschossen!“
Mit einem Seufzer, der aus dem Grunde der Seele kommt, schwingt sich der Officier auf’s Pferd und reitet in gestrecktem Laufe weiter.
Im nächsten Augenblicke dröhnt es von Neuem auf; der Befehl zur Beschießung der Festung war an die vor den Höhen stehenden baierischen Batterien gelangt. Zündend fliegen die Granaten auf Wälle und Straßen, Alles zerstückelnd, zertrümmernd. Jetzt lodert ein mit Stroh gefülltes Magazin hoch auf; zugleich mit der aus dunkelm Rauchwirbel aufschlagenden Flamme erhebt sich auf dem Walle der Festung die weiße Fahne.
Wie der Sturmwind von Wipfel zu Wipfel über den Wald hinfährt, brauste bei diesem Anblick aus hunderttausend Kehlen ein donnerndes Hurrah! Jauchzen und Springen, Mützenschwenken und Helmeheben, Hochrufe für König und Vaterland blitzten, zündeten gleich einem Lauffeuer durch alle Bataillone und Schwadronen! Als Eckhardt bei seinem Regiment anlangte, ritt eben dessen Commandeur vor die Front. Auf einmal wurde es todtenstill; in kurzen, begeisternden Worten forderte der Oberst seine Truppen zum Danke gegen Gott auf. Wie durch sympathische Uebereinkunft stimmten beide Chöre der Brigade auf denselben Tactschlag den Choral an: „Nun danket Alle Gott!“ und entblößten Hauptes fielen Tausende von Kehlen in strömendem Gesange ein.
Die Schatten des Abends begannen sich über die Betenden herabzusenken. Plötzlich tauchte glühender Wiederschein die Gruppen in helle Beleuchtung – die Flammen von Bazeilles rötheten den Himmel mit feuriger Lohe.
Eine Erinnerung an Robert Prutz. Im Januar 1868, als Robert Prutz in Berlin angekommen war, um seine herrlichen literarhistorischen Vorträge zu halten, lebte dort seit wenigen Wochen ein junger Literat, der in der werdenden Weltstadt sein Glück, das heißt nur ein bescheidenes Auskommen, suchte, bei diesem Bestreben aber, baar aller Subsistenzmittel, in die traurigste Lage gerieth. Er las die Ankündigungen der Prutz’schen Vorträge. Wie hätte er aber den Preis für den Cyclus erschwingen können, da ihm mehr als einmal die Mittel fehlten, seinen Hunger zu stillen! Er wandte sich daher brieflich an den Dichter, bat denselben um ein Billet für die Vorträge und gab, um sein Anliegen zu motiviren, eine kurze Schilderung seiner traurigen Lage. Er erhielt hierauf schon am folgenden Morgen nachstehenden Brief:
In diesem Augenblick, hochverehrtester Herr, werden mir die Zeilen überbracht, welche es Ihnen gefallen hat unter dem gestrigen Datum an mich zu richten. Sie eröffnen mir darin die Aussicht auf Ihre persönliche Bekanntschaft, und so angenehm es mir sein würde, Sie bei mir zu empfangen, so darf ich mir, wenigstens für diese nächsten Tage, doch kaum Hoffnung darauf machen, indem ich, Tag um Tag zwischen hier und Stettin hin- und herreisend, nur selten in meiner hiesigen Wohnung zu treffen bin. Erlauben Sie mir denn, Sie schriftlich meines aufrichtigen Mitgefühls an Ihrer bedrängten Lage, sowie meines Dankes für das Vertrauen zu versichern, mit welchem Sie mir dieselbe dargelegt haben. Ich selbst bin mit dergleichen Bedrängnissen bekannter, als Sie vielleicht glauben, und zwar habe ich dieselben durchmachen müssen, nicht wie Sie in erster rüstiger Jugend, getragen von den Schwingen der Hoffnung und des Muthes, sondern als bejahrter Mann, krank, mit gebrochener Kraft, müde von Enttäuschungen und belastet mit der Sorge für Frau und Kinder. Ich weiß also und fühle in Ihre Seele hinein, was Sie augenblicklich zu leiden und zu kämpfen haben; ich weiß aber auch und habe an meinem eigenen Beispiel erfahren, welche Kraft des Widerstandes sich eben in diesen Kämpfen entwickelt und daß, wer sich nur nicht selbst verläßt, niemals wirklich verlassen ist. Sie sind jung, haben Sie denn auch den Muth der Jugend und glauben Sie fest, daß jedes redliche Streben endlich doch siegt und siegen muß! – Sehr glücklich würde es mich machen, könnte ich durch augenblickliche ausreichende Hülfe Ihnen diesen Sieg erleichtern … Es wird hoffentlich bald die Zeit kommen, wo Sie von einer durch ehrenhafte Thätigkeit gesicherten Stellung aus mit humoristischem Behagen auf Ihre gegenwärtigen Jugendkämpfe und Verwickelungen zurückblicken können. Mit aufrichtiger Hochachtung etc.“
Diesen herrlichen Zeilen, welche der niedergebeugten, von den gemeinsten Sorgen des Lebens bestürmten Seele des jungen Mannes wirklich neuen Muth einhauchten, war die erbetene Karte und ein namhaftes, nicht erbetenes Geldgeschenk beigelegt, welches den Darbenden in den Stand setzte, seinen drückenden Verpflichtungen nachzukommen. Es gelang ihm später, dem edlen Dichter und echten, goldherzigen Volksmann seinen Dank persönlich auszudrücken und einige Worte der Ermuthigung und einen herzlichen Händedruck von Robert Prutz zu empfangen. Diese kurze Berührung hat wie ein Gottessegen gewirkt und wirkt noch jetzt, wo der damals von den Furien des Nahrungskummers Gehetzte in einer sicheren und auskömmlichen Stellung, wie es der Verblichene vorausgesagt, mit humoristischem Behagen auf jene düsteren Zeiten blickt. Der abgedruckte Brief aber ist eine seiner theuersten Reliquien.
Das Muttergottesdorle. In Bezug auf eine Notiz unter „Blätter und Blüthen“ in Nr. 16 Ihres geehrten Blattes erlaube ich mir Ihnen über das weitere Schicksal des Muttergottesbildes aus dem Nachlasse des vulgo Muttergottesdorles Folgendes mitzutheilen:
Wie am Schlusse jenes Artikels bemerkt, wurde jenes wunderthätige Bild öffentlich versteigert. Es ist von einer marianischen Brüderschaft unseres Nachbarstädtchens Scheßlitz auf Veranlassung des Vorstandes des dortigen katholischen Casinos, welcher zugleich Benefiziator ist, um den Preis von zweitausend Gulden ersteigert. Nach Verlauf von einigen Wochen wurde ein bis dahin unbekanntes Testament der früheren Besitzerin producirt, wonach dieses Bild in der Jakobskirche zu Bamberg aufgestellt werden sollte. Allein die wackeren Scheßlitzer ließen sich ihren theuer erkauften Gnadenschatz so leicht nicht nehmen und wahrten ihren Eigenthums- und Besitztitel auf gerichtlichem Wege.
Unter dem Vorantritte obigen Benefiziators wurde denn das Bild in feierlicher Procession in die Stadtcapelle von Scheßlitz übertragen, wo nun der Schwindel von Neuem losgeht. Die ersten Erträge sollen dazu verwendet werden, an die Stelle der jetzigen alten Capelle eine neue glänzende zu setzen, in welcher dann der Humbug in großartigem Maßstabe fortgesetzt werden kann. Es scheint also, daß man mit diesem Bilde ein sehr einträgliches Geschäft machen kann. – Das Ihren werthen Lesern zur Notiz, wenn dieselben allenfalls die Wunderkraft erproben wollten.
Bamberg, den 21. August 1872.
Louis Büchner, der vielgenannte Verfasser von „Kraft und Stoff“, ist vor einigen Tagen nach Amerika abgedampft, wo er auf Einladung in verschiedenen Städten Vorlesungen halten wird. Eine Minimaleinnahme von fünfzehntausend Dollars ist ihm dort garantirt worden. Wir freuen uns, den Lesern der Gartenlaube dabei mittheilen zu können, daß Louis Büchner in einer Reihe von Briefen unter dem Titel „Aus dem Lande der Freiheit. Amerikanische Reise- und Vorlesungsbilder“ seine Erlebnisse und Erinnerungen in unserer Zeitschrift veröffentlichen wird.
E. K. in P. Ihren früheren Brief haben wir nicht erhalten. Schiller’s Tochter, Freifrau von Gleichen-Rußwurm, lebt in Greifenstein ob Bonnland in Unterfranken.
Herrn Alexander Grenz. Ihrem Gedichte „Wenn Du“ sind die Spalten der „Gartenlaube“ nur für den Fall geöffnet, daß Sie die Maske der Pseudonymität lüften. Die Redaction folgt, indem sie diese Forderung stellt, einem nicht zu umgehenden Principe.
- ↑ Aus dem in den nächsten Wochen erscheinenden Werke: „Luftreisen von J. Glaisher, T. Flammarion, W. v. Fonvielle und G. Tissandier. Mit einem Anhang über die Ballonfahrten während der Belagerung von Paris. Frei aus dem Französischen. Eingeführt durch Hermann Masius. Mit zahlreichen Illustrationen. Leipzig, Friedrich Brandstetter. 1872“ theilen wir mit Genehmigung des Herrn Verlegers die ebenso anziehende als belehrende Schilderung G. Tissandier’s von seiner ersten Auffahrt mit, die er mit Duruof unternahm. Später zeichnete er sich noch durch mehrere, theils selbstständige, theils in Verbindung mit Wilhelm von Fonvielle ausgeführte Luftreisen aus, bis er in das belagerte Paris mit eingeschlossen wurde. Hier aber wagte er die vierte von den fünfundsechszig Ballonfahrten aus Paris, nachdem abermals Duruof, als der Erste, ihm das Beispiel gegeben. Die Redaction.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: zum