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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 1.   1871.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Pulver und Gold.

Den Mittheilungen eines Officiers nacherzählt von Levin Schücking.


Wir hielten auf einem Höhenzuge, den die vortrefflich gebaute und wohlerhaltene Chaussee – um die Obstbäume rechts und links waren sogar kleine runde Resedabeete angelegt – überstieg, um sich vor uns in ein weites muldenförmiges Thal niederzusenken. Eine weite, farbenreiche, aber wie träumend und weltentrückt daliegende Landschaft! Grüne Fluren, die Dächer der Dörfer in Grün gehüllt, grüne Waldstrecken, hier und da das Gewässer eines Flusses, der sich durch den fernen Grund schlängelte; jenseits desselben Aecker und Weinberge und leise anschwellende Hügel, über die dunkelviolette Tinten ausgegossen lagen, und, in hellere Bläue gekleidet, Bergzüge dahinter, über denen der Abendhimmel rosigen Schimmer breitete. Und über dem Allen Todtenstille! Wenn ich in eine solche mir fremde, im Abendsonnenlichte daliegende Landschaft blicke, hat sie für mich stets etwas Urweltliches, noch von Menschen nicht Berührtes, Unentdecktes, was mich in allerlei Träumereien versenkt. Es ist eben die überwältigende Macht des Eindrucks der Natur, der uns die Menschen in solch weiter großer Welt, und was darin geschehen, die „Geschichte“, vergessen läßt.

Zu solchen Träumereien hatte ich freilich jetzt sehr wenig Ruhe und Muße. In die still und abendlich da vor uns ausgebreitete Natur brachten wir eben Geschichte genug; in die friedliche Schlummerstimmung, in welcher das Gelände müde vor uns lag, brachten wir den Krieg, den hellen wachen Krieg; in die menschenleere stumme Umgebung unserer Straße schnaubten unsere Rosse hinein, es klirrten die Kinnketten und die Bügel, es klapperten die Säbelscheiden an den Flanken unserer Pferde, deren Hufe das Pflaster schlugen; über uns aber im Abendwinde flatterten die schwarzweißen Fähnlein unserer Lanzen.

Wir waren unser ein Dutzend. Ich, damals noch Vice-Wachtmeister, hatte sie zu führen … lauter frische und rüstige, heute bei dem schönen Herbstwetter fast muthwillige Reitersknechte, die sich nicht anfechten ließen, daß, während die Schwadronen, zu denen wir gehörten, im letzten, eine halbe Meile hinter uns liegenden Städtchen ruhig sich einquartiert hatten, wir noch eine tüchtige Strecke weiter reiten mußten.

Wir sollten, so lautete unsere Ordre, Chateau Giron besetzen; es lief da eine steinerne Brücke über den Fluß, und jenseits der Brücke kreuzte sich die Chaussee, auf welcher wir daher geritten kamen, mit einer anderen, die von Lure, den obern Oignon entlang in der Richtung nach Befangen lief, während unsere Chaussee geradezu auf Mömpelgard führte. Chateau Giron also war zur Bewachung des Ueberganges über den kleinen Fluß und des Kreuzungspunktes der Straßen jenseits ein nicht unwichtiger Punkt. Ich hatte Befehl erhalten, da Posto zu fassen, und von dort aus Recognoscirungspatrouillen auf das jenseitige Oignonufer auszusenden, während sich in unserm Rücken unsere Heermassen über Besoul auf Gray und auf Besançon vorschoben. Unser Rückhalt lag hinter uns in dem Städtchen Noroy, auf das wir uns zurückzuziehen hatten, wenn wir von Franctireurbanden in überlegener Stärke angegriffen worden wären.

Daß die Gegend nicht frei von diesen Banden war, sollten wir noch ein diesem Abende wahrnehmen. Als wir etwa eine Viertelstunde weiter getrabt waren, sahen wir plötzlich, auf einer neuen Bodenerhebung angekommen, unter uns in der Tiefe des Thalgrundes einem Trupp dieser blaubekittelten Miliz … sie waren zu fern, um sie an ihrer primitiven Uniform zu erkennen, aber die Läufe ihrer Flinten blitzen in den letzten Strahlen der Sonne, wie sie in großer Hast durch eine Allee dahineilten, welche von der Chaussee rechtsab auf ein stattliches herrschaftliches Gebäude zuführte. Sie umgaben einen mit einem Tuche überspannten Karren, der von zwei voreinander gespannten Pferden gezogen wurde … wir konnten wahrnehmen, wie sie in hastiger Flucht auf die Pferde einhieben, um sie im Laufen zu erhalten. Es mochten ihrer zehn oder ein Dutzend sein – ein Reiter führte sie, in welchem einer unserer Ulanen, der sich eines Perspectivs erfreute, einen Gensd’armen erkennen wollte.

Der Karren, den sie führten, mußte, so schlossen wir aus ihrer Eile, ihn in Sicherheit zu bringen, Verwundete enthalten – vielleicht auch flüchtige Weiber und Kinder aus der Nachbarschaft, die, beim Anblick unserer Lanzenfähnlein von Schrecken ergriffen, sich vor uns deutschen Barbaren in Sicherheit bringen wollten.

Zwischen den Vorgebäuden des Edelhofes verschwand der ganze Haufe.

Es mußte Chateau Giron sein, dieser Edelhof, just der, den wir besetzen sollten. Wenn die flüchtige Bande sich da hineinwarf und es vertheidigte, so hatten wir die Aussicht auf ein kleines Gefecht, bevor wir und unsere Thiere zur Ruhe kamen. Doch war es nicht wahrscheinlich, daß sie den gefürchteten Ulanen die Stirn bieten würden. Ihre Flucht da unten durch die Allee deutete auf panischen Schrecken.

Wir setzten also ruhig unsern Marsch fort, erreichten die Allee und bogen in sie ein. Ich sandte zwei Eclaireurs vorauf. Sie kamen, nachdem sie den Schloßhof überblickt, mit der Meldung zurück, daß sich kein Feind dort mehr sehen lasse, und Alles sicher [2] scheine. Unser Schwarm hielt bald vor dem eisernen Gitterthor des Schlosses; ein äußerst verdrossen ausschauender Mann in blauem Kittel öffnete es; jenseits eines Rasens, der den Schloßhof ausfüllte, erhob sich das Herrenhaus. Auf dem Treppenperron stand eine Gruppe von Leuten, die unser Nahen neugierig beobachteten. Ich nahm eine Dame von hoher schlanker Gestalt und einen Geistlichen darunter wahr.

Zur Rechten des Hofes, in der Ecke, wo eine niedrige Mauer mit einem Gitterthörchen das Herrenhaus mit einem der vorspringenden Nebenhäuser verband, stand ein Karren, der ganz so aussah, als müsse es der sein, den wir inmittten der flüchtigen Franctireurs wahrgenommen. Von den Letzteren war nichts mehr zu gewahren.

Ich ritt vor, der Schloßtreppe zu; der Geistliche, ein Mann in noch jungen Jahren, mit scharfen Zügen und bleichem Teint, und jenem unterschlächtigen Blicke der dunklen Augen, welcher eher vor Vertrauen warnt, als dazu ermuthigt, stieg die Treppenstufen herab, mir entgegen. Zugleich sah ich die Dame bei unserer Annäherung sich wenden und in das Innere des Gebäudes zurückgehen; doch hatte ihre Bewegung nichts Fluchtähnliches; sie ging so ruhig die paar Schritte über den breiten Perron und in das offenstehende Portal hinein, als ob es sich bei der Verhandlung mit uns um ein Alltägliches handle, das sie den Leuten überlassen könne.

„Was ist des Herrn Begehren?“ sagte der Geistliche, auf der untersten Treppenstufe stehen bleibend, in gutem, nur vom elsässer Dialect gefärbtem Deutsch.

„Der Krieg, ehrwürdiger Herr,“ versetzte ich, aus dem Sattel springend, „bringt unterschiedene Gäste: zwölf Rosse, zwölf Reiter; ich selbst bin der verhängnißvolle dreizehnte; für die Rosse begehren wir Futter und Stall, für die Reiter Kost und Quartier; auf wie lange, das wissen wir nicht; hoffentlich lange genug, um Ihnen den Beweis zu geben, wie liebenswürdige und anspruchlose Leute wir sind, wenn man uns liebenswürdig und freundlich entgegenkommt.“

Die Gesichtszüge des Geistlichen hatten sich während dieser Mittheilung verlängert, und waren womöglich noch bleicher geworden. Auch sah ich, daß die Gruppe von Leuten, dem Aeußern nach Domestiken, auf dem Perron über mir in eine gewisse Bewegung gerieth – sie flüsterten wie erschrocken zusammen. Es mußten also mehrere unter ihnen sein, die Deutsch verstanden.

„Sie wollen sich hier einquartieren, auf mehrere Tage?“ fragte der Geistliche, viel weniger laut, als er anfangs gesprochen.

„Sie brauchen nicht darüber zu erschrecken,“ versetzte ich, „es sei denn, Sie hätten den Haufen Franctireurs, den wir vorhin wahrnahmen, hier im Hause verborgen. Es würde alsdann unserer Einquartierung eine kleine Störung des Hausfriedens vorhergehen müssen, den wir sonst in keiner Weise zu unterbrechen gedenken.“

„O nein, mein Herr,“ fiel der Geistliche ein, „diese Leute haben sich vor Ihnen geflüchtet; sie sind durch unsere Gärten gelaufen, um auf das andere Ufer des Oignon zu kommen, vielleicht haben sie zu ihrem bessern Schutze sogar die Brücke unzugänglich gemacht.“

„So, so,“ sagte ich, den Herrn ‚Curé‘ fixirend. „Seltsam, daß sie alsdann nicht geradeaus der Chaussee folgend über diese Brücke geeilt sind, sondern den bedeutenden Umweg rechts ab über diesen Hof, dieses ‚Schloß‘ gewählt haben!“

Der Geistliche zuckte mit den Schultern.

„Was hatten sie in jenem Karren geborgen?“

„Ihre Tornister, ihre Munition …“

„Und das haben sie hierher in Sicherheit gebracht?“

„Nur den Karren. Sie hatten den Karren mit zwei Pferden gestern Morgen hier requirirt und haben ihn hierher wieder abgeliefert; den Inhalt haben sie unter sich vertheilt und mit sich genommen.“

„Ihre Franctireurs sind außerordentlich ehrliche Leute,“ sagte ich; „auf eiliger Flucht vor uns scheuen sie doch den Umweg nicht, das requirirte Gefährt seinem Eigenthümer zurückzustellen; und sie senden nicht etwa den Fuhrknecht damit heim, sondern begleiten ihn selbst zu größerer Sicherheit, bis sie ihn richtig an seiner Stelle sehen …“

„Daß sie den Umweg machten, scheint mir doch natürlich,“ entgegnete der Geistliche; „auf der Chaussee wären sie bald von Ihnen eingeholt worden; durch unsere Gärten und Gehölze dahinter laufend waren sie sicher, von Reitern nicht verfolgt werden zu können!“

Diese Bemerkung war richtig. Es ließ sich Nichts darauf erwidern. Meine Cameraden, die längst abgesessen waren und unter das Linnendach des Karrens geblickt hatten, bestätigten, daß er entladen sei, es lagen noch ein paar alte einläufige Flinten mit Steinschlössern, ein paar Pferdedecken und die Ueberreste von Brod und Käse, alte Zeitungen, eine Feldflasche von der großen, mit grünem Tuche überzogenen Art und ein rothes Militärkäppi darauf.

Das waren nun freilich keine Beutestücke, um sich weiter darum zu kümmern, und wir wandten uns den Ställen zu; sie lagen in dem niedrigen Gebäude rechts, und über ihnen in einem Kniestock vier oder fünf Kammern für Knechte oder Gesinde; der Mann, welcher uns das Thor geöffnet, zeigte sie uns, und nachdem wir die Ackerpferde unten entfernen lassen und die unseren untergebracht, nahmen wir Besitz davon – es war eine vortreffliche kleine Caserne, in der wir Quartier gefunden, ein Alarmquartier, wie wir es wünschen mußten; die Thiere unten, die Mannschaft darüber, und Alles dicht beieinander. Für mich selbst und den ehrlichen Kriegsgefährten, den der Officier seinen Burschen, der Unterofficier und Freiwillige seinen „Putzcameraden“ nennt, bat ich, ein besseres Quartier im Herrenhause auswählen zu dürfen, und fand gleich beim Eintritt in das Haus ein im ersten Stock über den Souterrains liegendes, sehr schön und reich möblirtes Empfangszimmer, hinter dem ein Fremdenzimmer mit einem großen Himmelbette lag; in einer Garderobe, die daran stieß, ließ ich meinen Cameraden sich einlogiren, um ihn in meiner Nähe zu halten. Dem geistlichen Herrn, der mich führte, schien diese Wahl sehr störend – vielleicht fand er es sehr anmaßend, daß ich sie ohne Weiteres occupirte; aber ich achtete nicht darauf und machte ihn mit Dem bekannt, was uns als Verpflegung zukomme.

Eine Stunde später wurde uns denn auch in dem großen Gesindezimmer neben der Küche ein gutes und reichliches Nachtessen aufgetragen. Der Knecht bediente uns, der weibliche Theil der Dienerschaft ließ sich nicht blicken; als wir fast zu Ende waren und, nachdem der geschärfte Appetit gestillt, die Ermüdung unserer Glieder von dem langen scharfen Ritt doppelt zu empfinden begannen, trat noch der Geistliche ein; er kam zu mir, verbeugte sich und fragte mit einer sanften und wohllautenden Stimme, ob wir zufrieden seien oder noch Wünsche hätten. Dabei holte er einen Stuhl herbei, den er neben dem meinen an’s obere Ende des Tisches stellte, wie um eine längere Unterhaltung zu beginnen.

„Wir sind immer zufrieden, ehrwürdiger Herr,“ versetzte ich, „wo wir mit der Freundlichkeit aufgenommen werden, welche Sie durch diese Frage an den Tag legen – darf ich Ihnen von unserem Weine einschenken?“

Der Geistliche bat darum, ein Cigarre, welche ich ihm bot, lehnte er ab.

„Sie sind Ulanen?“ sagte er, einen forschenden Blick über die meist blonden und treuherzigen deutschen Physiognomien meiner zwölf Tischgenossen streifen lassend.

„Sie sehen es an unserer Ausrüstung.“

„Ich habe nie sicher erfahren können, aus welcher Gegend Deutschlands,“ fuhr er fort, „die Ulanen stammen – und,“ setzte er wie zögernd hinzu, „welcher Confession sie sind!“

Ein schallendes Gelächter war die unmittelbare Antwort, die der geistliche Herr erhielt, obwohl ich Alles that, es zu unterdrücken, damit er sich nicht beleidigt fühle.

„Die Ulanen,“ fiel ein muthwilliger junger Freiwilliger ein, der vor Wochen erst in beschleunigtem Tempo sein Abiturienten-Examen gemacht hatte, um dann sofort in’s Heer einzutreten, – „die Ulanen sind ein verlorener Zweig der alten Hunnen, der sich in den Waldgebirgen des Harzes gehalten hat; als Attila 451 auf den catalaunischen Feldern geschlagen war, retteten diese unbändigen Wilden sich mit ihren Nationalgottheiten auf den Blocksberg, wohin alles Volk Galliens sie ja längst gewünscht hatte, und führten da ein tolles Reiterleben, immer im Sattel und auf dem Rücken ihrer Pferde, auf dem sie geboren werden, heirathen und sterben. Ein bewundernswürdiges Volk, sagt schon Tacitus in seiner Germania – groß durch seine rauhen Tugenden! Was aber ihre Confession angeht, so bedaure ich, Ihnen erröthend gestehen zu müssen, daß sie schon unter Kaiser Valens zum Arianismus [3] bekehrt wurden. Sie sind sammt und sonders Arianer, die, wie Sie ja wohl wissen werden, nicht ganz an die Göttlichkeit Jesu glauben.“

Diese Erklärung wurde mit dem trockensten Tone und der ernstesten Miene von der Welt vorgebracht, aber wieder mit schallendem Gelächter aufgenommen.

„Wenn,“ fuhr der Eulenspiegel in der Reiteruniform, ohne sich dadurch irre machen zu lassen, fort, „dieser Umstand, daß sie in ketzerischer Verstocktheit die Definitionen des Concils von Nicäa über das berühmte Homousios verwarfen, sie nicht Ihrer weiteren Theilnahme unwürdig erscheinen läßt, hochwürdiger Herr, so darf ich zu weiterer Aufklärung über diesen tapferen Volksstamm hinzufügen, daß derselbe unter seinen nationalen Eigenschaften einen wunderbaren Spürsinn besitzt, welcher seine einfache, mit einer glatten Eisenspitze und einem schwarzweißen Wimpel verfehlte Lanze zu einer ganz famosen Wünschelruthe macht, die aber nicht da, wo eine Wasserader sprudelt, sondern da, wo edles Rebenblut in tiefen Kellerverstecken verborgen ist, stehen bleibt! Meine Cameraden werden mir bezeugen, daß wir trotz unserer Ketzerei darin Wunder thun!“

„Farceur!“ murmelte der Geistliche, „Possenreißer!“ während die Uebrigen wieder auflachten.

„Nehmen Sie meinem Cameraden seine Scherze nicht übel,“ sagte ich; „wir treffen hier in Frankreich mitunter auf eine so merkwürdige Unkunde deutscher Verhältnisse, auf so seltsame Vorstellungen von unserem Lande, daß es natürlich ist, wenn wir Anfällen von Heiterkeit dabei nachgeben …“

„Es thut mir leid,“ sagte der Geistliche, „daß meine Frage über die Herkunft der Ulanen eine solche Unkunde verrieth, die die Lachlust der Herren reizte. Ich bin wenigstens belehrt, daß dieser Volksstamm neben seiner kriegerischen Tüchtigkeit eine ausgezeichnete Schulbildung besitzt – unsere Troupiers ist man nicht gewöhnt, von Attila, Arianismus, dem Kaiser Valens und dem Concil von Nicäa reden zu hören! Sind Ihre Cameraden alle so gelehrt?“

„Dafür kann ich nicht einstehen,“ antwortete ich lachend; „möglich immerhin, daß Einer oder der Andere von uns es noch bis zum Präsidenten einer gelehrten Akademie bringt. Nur mich muß ich bescheiden davon ausnehmen. Das Einzige, was ich in der Gelehrsamkeit geleistet, ist eine ziemlich mühsam zusammengeschriebene Doctordissertation!“

„Ah … Sie sind Doctor? Doctor – und … Unterofficier? Wie ist das möglich?“

„Er ist Doctor Juris, Unterofficier, Baron und Referendar,“ rief hier der „Possenreißer“ aus, „ein Mann vom Scheitel bis zur Sohle ganz das, was man die allgemeine Wehrpflicht heißt, oder auch den Kantischen kategorischen Imperativ, in seiner Beziehung zu Vaterland, König und Zündnadelcarabiner …“

Die übrigen elf Paladine meiner Tafelrunde verstanden natürlich von all diesem blühenden Unsinn wenig genug, was sie jedoch nicht hinderte, wieder laut aufzulachen. Ich sah an der Miene des Geistlichen, daß er mit sich schwankte, ob er sich länger zum Mittelpunkt dieser Heiterkeit hergeben solle oder besser thue, sich zurückzuziehen; da ich aber wünschte, daß er bleibe, um von ihm einiges Nähere über unsere Wirthe zu erfahren, so schnitt ich dem „Possenreißer“ rasch das Wort ab, indem ich mich an den Geistlichen mit der Frage wandte: „Sie sind der Hausgeistliche, der Erzieher vielleicht in diesem Hause?“

„Nehmen Sie an, ich wäre das Erstere,“ antwortete der Geistliche, „wenn Sie eine Erklärung wünschen, weshalb ich die Herrschaft vertrete …“

„Der Eigenthümer des Schlosses ist abwesend?“

„Er ist todt; Herr Kühn ist vor drei Jahren gestorben.“

„Er war ein Deutscher, der Herr Kühn?“

„Ein Elsasser; er hatte … wie nennen Sie das: des usines im Departement Oberrhein; Chateau Giron gehörte ursprünglich seiner Frau, die Französin ist.“

„Und sie lebt hier, diese Dame? Ich glaube sie bei unserer Ankunft auf dem Treppenperron wahrgenommen zu haben.“

„Sie irren,“ sagte der Geistliche. „Madame ist leidend, sie ist gelähmt und kaum im Stande, ihren Sessel zu verlassen. Das hat sie gezwungen, auch bei der Annäherung der deutschen Truppen in diesem unbeschützten Hause zu bleiben.“

„Sie hat sehr wohl daran gethan, finde ich nun; den besten Schutz, den sie finden konnte, wird sie in unserer Rücksichtnahme auf die Anwesenheit einer leidenden Dame im Hause finden.“

Der Geistliche antwortete mit einer kleinen Verbeugung.

„Und jene schlankgewachsene junge Dame, die ich sah?“

„Ist Mademoiselle Kühn, die hier bei ihrer Mutter zu deren Pflege geblieben ist.“

„Ah – das ist sehr brav –“

„Daß sie ihre Pflicht erfüllt?“

„Daß sie uns nicht fürchtet … aber freilich, wie sollte sie auch, da sie im Grunde doch eine Deutsche ist?“

„Ah,“ sagte lächelnd der Geistliche, „Mademoiselle Kühn würde das für kein Compliment halten. Sie fühlt sich sehr als Französin – sie ist in einem französischen Kloster erzogen und sehr begeistert für Frankreich, sehr erbittert gegen die Deutschen.“

„Und Sie,“ fiel ich ein, „der Sie deutsch reden, also auch wohl Deutschland ein wenig kennen, thun nichts, um Ihre Damen unparteiischer denken zu lassen?“

„Sollen Frauen unparteiisch denken?“

„Legen Sie den Ton dabei auf das ‚Unparteiisch‘ oder auf das ‚Denken‘?“

„Vielleicht,“ antwortete er an seinem Glase nippend, „auf beide Worte!“

„Also wie Lessing sagt: ‚Eine Frau, die denkt, ist so widerwärtig wie ein Mann, der sich schminkt.‘ Aber da in Frankreich die Männer, wenn nicht sich, doch all ihr Thun und Treiben sehr stark mit schönen Phrasen zu schminken pflegen, so könnten die Frauen auch beginnen, zu denken!“

„Was sollte das helfen?“ sagte er. „Sie werden immer so denken, wie ein persönliches Gefühl oder eine Erfahrung ihres Herzens es sie lehrt, und nichts wird sie davon abbringen und ‚unparteiisch‘ zu denken lehren.“

„Und lehrt Fräulein Kühn eine Erfahrung des Herzens, schlecht von den Deutschen zu denken?“

Sein Schweigen mochte mir andeuten sollen, daß das eine indiscrete Frage sei; ich fuhr um desto rascher fort: „Ich sehe, es bleibt also nichts übrig, als daß wir Deutschen hier, wenn wir lange genug bleiben sollten, selber Propaganda für uns und moralische Eroberungen machen!“

„Sie werden, wenn Sie auf letztere ausgehen, keine Enceinte und unüberwindliche Außenforts finden,“ sagte der Geistliche.

„Desto besser,“ fiel ich lachend ein, „denn dann kann hier unser Feldzug sich ganz in der Ruhe und Stille vollziehen, welche Sie für Ihre kranke Dame wünschen müssen. Sind Sie überzeugt, daß Ihre Franctireurs die Ruhe nicht unterbrechen werden, vielleicht nicht diese Nacht schon? Ihre Sympathien werden auf Seite dieser Leute sein, aber Sie werden selber nicht wünschen, daß dies Haus der Schauplatz eines Ueberfalls und eines Kampfes werde. … würden wir von einer Uebermacht hier überrascht und niedergehauen, so würden die Unsrigen bald da sein, um uns zu rächen, und die nächsten verderblichen Folgen würden Chateau Giron treffen – es würde zerstört, dem Erdboden gleich gemacht werden, man würde die Bewohner …“

„Seien Sie darüber beruhigt,“ fiel der Geistliche, mich mit offenbar sehr erschrockener Miene ansehend, ein. „Wir glauben nicht, daß Franctireurs in der Nähe sind; sollten solche auftauchen, so würde es nicht geschehen können, ohne daß wir von ihrer Annäherung erführen, und dann würden wir es als eine Pflicht gegen Sie, unsere Gäste, betrachten, Sie zu warnen.“

„Nun, mehr verlange ich nicht,“ versetzte ich, dem Geistlichen der aufgestanden war, sich zu empfehlen, die Hand reichend.

Er nahm sie und verabschiedete sich mit einer Verbeugung gegen die Söhne des Ulanenstammes, die während meiner Unterredung mit ihm sich untereinander laut und lärmend unterhalten hatten.

„Sie haben ja eine große Freundschaft mit diesem verdächtigen Schwarzen geschlossen, Herr Bernold,“ sagte einer der Ulanen. „Ich würde dem Gesicht nicht über den Weg trauen!“

„Das ist die alte Wahlverwandtschaft zwischen den Heiligen und den Rittern!“ rief der beredte Abiturient aus. „Der Junker braucht den Pfaffen wie der Schäfer den Hund!“

„Wenn Sie sich in ungehörigen Redensarten ergehen wider Ihren Chef und Commandoführer, lieber Glauroth, so lasse ich Sie die Nacht hindurch zur Strafe in dem Karren schlafen, den die Franctireurs zurückgelassen haben. Vorläufig können Sie mich [4] auf einer Streifpartie begleiten, die ich nach dem Flusse hinab machen will, bevor ich mich zur Ruhe begebe … Ihr Andern könnt Euch legen; aber vergeßt nicht, nach den Pferden zu sehen; sie werden ihr Futter verzehrt haben und müssen getränkt werden.“

Ich ging, und während die Anderen lässiger aufbrachen, folgte mir Glauroth, der beredte Jüngling. Draußen schien der Mond auf Schloß und Hof und Gärten. Diesen letzteren wandte ich mich zu. Da sie hinter dem Schlosse nach der Flußseite hinaus lagen, wollte ich durch sie hinabwandeln, um das Flußufer zu erreichen und zu sehen, ob eine Fähre oder eine Laufbrücke unsere Franctireurs dort bei ihrer Flucht auf das andere Ufer und in das Bergland da drüben aufgenommen habe; war das nicht der Fall, so konnten sie sich immer noch in unserer Nähe versteckt halten und wir mußten dann trotz der Versicherungen des Hausgeistlichen auf unserer Hut sein.

Die Gartenanlagen, die wir betraten, waren schön und, so viel das Mondlicht erkennen ließ, außerordentlich wohlgepflegt. Eine breite Terrasse, dann ein tiefer liegender Grund mit Bassins, Springbrunnen und wasserspeienden Tritonen und Nereiden oder was diese kalt vom Mondlicht übergossenen nackten Figuren darstellten; umher große Blumenbeete in üppiger Fülle; dann Gänge, von niedrigen Spalieren oder sauber geschorenen Hecken eingefaßt; rechts lag das blaue Himmelslicht schillernd auf dem langen Glasdach eines Warmhauses, links zog sich ein ähnliches Gebäude, in dunklem Schatten daliegend, hin.

Wir waren in halblautem Gespräch zwischen zwei langen, etwa vier Fuß hohen Taxushecken hinabgeschritten, die in ein Gehölz führten, durch das sich eine Allee unter dunklen, ihre Aeste zusammenstreckenden Wipfeln vor uns dahinzog. Glauroth blieb plötzlich stehen – wie lauschend.

„Was haben Sie?“ fragte ich.

„Pst,“ flüsterte er zurück, „ich hörte ein Knicken, wie wenn man ein Gewehr spannt.“

„Ah … in welcher Richtung?“

Er trat rasch seitwärts, war im Augenblick neben der Hecke rechts und beugte sich mit dem Oberkörper hinüber.

„He da! … schauen Sie einmal her, Bernold!“ rief er dabei aus.

Ich war bereits neben ihm; ein Mann, der da niedergeduckt gesessen haben mußte, erhob sich just, von Glauroth am Kragen gefaßt. Es war ein Mann in einer Blouse, ein Knecht, wie es schien; er war unbewaffnet. Eine kurze Tabakspfeife, die er in der Hand hielt, war die einzige Waffe, die er führte.

„Was seid Ihr? Was treibt Ihr hier? Weshalb verkriecht Ihr Euch hier?“ rief ich ihn auf französisch an.

Er stammelte Worte zurück, die ich nicht verstand; aber ich glaubte ihn zu erkennen während dessen. Es war derselbe mürrisch aussehende Mensch, der uns mit so verbissener und widerwilliger Miene heute das Gitterthor geöffnet hatte.

„Wo ist Eure Waffe? Ihr habt den Hahn einer Flinte gespannt!“

„Pardon, Monsieur, ich habe nicht daran gedacht, denn ich habe keine Flinte!“ rief er jetzt, seine Pfeife erhebend. „Ich habe nur das gethan!“ setzte er, mit dem Daumen den Deckel aufmachend und dann wieder niederklappend, hinzu.

„Es ist dasselbe Geräusch!“ sagte mein junger Camerad.

„Es war sehr dumm von mir,“ fuhr der Knecht verdrossen fort; „ich dachte nur, daß das Feuer meiner Pfeife, die ich eben angezündet hatte, durch die Hecke schimmern könne, und darum schloß ich rasch den Deckel.“ …

„Aber weshalb haltet Ihr da Wache, und duckt Euch bei unserem Kommen so ängstlich nieder?“

„Ich laure auf Marder, die uns das Obst stehlen!“ sagte er. „Ich bin nicht ängstlich vor den Herren,“ fügte er mürrisch hinzu, „ich hatte mich gesetzt, weil ich müde war. Wenn ich nicht wollte, daß Sie mich wahrnehmen sollten, so war’s natürlich. Ich hatte kein Verlangen nach dem Verhör, das Sie jetzt eben mit mir anstellen – hier in unserem eigenen Garten!“

(Fortsetzung folgt.)




Ein bemoostes Haupt.


Sie verlangen, geehrter Herr Keil, von mir einige Mittheilungen über mein Leben, die Sie zu dem Bildniß abdrucken lassen wollen, das die Gartenlaube von mir bringen wird. Sie führen mich damit in große Versuchung. Ob Jemand nach meinem Tode eine Biographie von mir schreiben wird, weiß ich nicht; geschieht es aber, so werde ich doch in keinem Falle das Vergnügen haben, sie zu lesen. Der Auftrag also, selbst über mich zu schreiben, ist eine Versuchung meiner Eitelkeit, denn natürlich werde ich mich im schönsten Lichte darzustellen suchen – laufe ich da nicht Gefahr, zu schönfärberisch aufzutreten? Sollte ich es thun, verehrter Herr, so schiebe ich die Verantwortung dafür Ihnen zu.

Indem ich an meine Aufgabe gehen will, fällt mir auf die Seele, daß ich für eine Lebensbeschreibung ein recht dürftiger Held bin. Ich habe keine großen Abenteuer erlebt, habe niemals Schiffbruch gelitten, habe Niemanden im Zweikampfe erschossen – ich habe eben nur erlebt, was Tausende und abermals Tausende erleben. Ist doch bei einem Schriftsteller das innere Leben wichtiger als das äußere, und das erstere kann ich doch nicht weitläufig entwickeln. So will ich Ihnen denn sagen, nach was ich gestrebt habe – wie weit mein Wollen ein Gelingen gehabt hat, mag die Welt beurtheilen.

Ich bin vor etwa sechszig Jahren in Leipzig geboren worden und habe in traulichem Familienkreise eine glückliche Jugend verlebt. Das Andenken an meine herrliche Mutter ist mir unvergänglich; ich freue mich der Gelegenheit, das öffentlich aussprechen zu können. Sie hat mir durch Ihren Tod den bittersten Schmerz meines Lebens bereitet. Sie starb kurz vorher, als ich den ersten Erfolg errang. Die Freude über diesen wäre ein kleiner Dank meinerseits für ihre Liebe gewesen – ich habe ihr diesen Dank schuldig bleiben müssen.

Ich habe auf guten Schulen und Gymnasien einen guten Unterricht genossen und mancherlei gelernt. Seltsamer Weise trieb ich am eifrigsten Mathematik. Trotzdem habe ich nicht rechnen gelernt. Daß die Sprachen ein schönes, organisch entwickeltes Erzeugniß des Volksgeistes sind, habe ich erst später begriffen; damals aber lernte ich nur die Form. Schon sehr früh versuchte ich zu dichten. In meinem vierzehnten Jahre habe ich meine ersten Stücke geschrieben, das heißt ich habe einige Erzählungen in Gesprächsform gebracht, was ich damals für Dramen hielt. Daneben habe ich mich viel mit Hexametern herumgeschlagen, habe Stücke aus Homer und Ovid in solchen übersetzt, habe auch eine große Idylle in dieser Versform gemacht. Trotzdem hielt ich das Dichten nicht für meinen Beruf, sondern die Schauspielkunst. Als ich daher das Gymnasium durchgemacht hatte, ging ich statt auf die Universität der Wissenschaften auf die des Lebens: ich wandte mich dem Theater zu. Es war eine schöne Zeit, während welcher ich sechs oder sieben Jahre thätig als Schauspieler – und Sänger gewesen bin. Es liegt ein ungemeiner Reiz darin, die Gestalten der Dichter, die man mit Liebe in seinem Innern aufgenommen hat, auf der Bühne zu verkörpern, das lauschende Publicum zu erregen, ihm Thränen zu entlocken und von seinem Beifall belohnt zu werden. Es liegt auch ein großer Reiz in dem Wanderleben, bei dem man die Welt sieht und alle drei Monate ein neues Publicum hat, welchem man seine Kunst vorführen kann. So habe ich die größeren Städte Thüringens, Rheinlands und Westphalens durchzogen und manche schöne Erfolge errungen. Ich kam als unerfahrener junger Mensch zum Theater, erfahren habe ich da vielerlei, allein klug, das heißt lebensklug bin ich nicht sonderlich geworden.

Trotz vielfacher Beschäftigung fand ich noch Zeit zum Schreiben. Es entstanden einige Erzählungen und in Cleve 1835 ein großes Lustspiel, in Mainz aber 1838 mein „bemoostes Haupt“. Dieses Stück kam auf die Bühne und hatte einen ungewöhnlichen Erfolg, obwohl sich die Hoftheater damals ihm verschlossen. Ich war zu der Zeit in Wesel, kam in Verbindung mit einem Buchhändler, redigirte ein Blatt, schrieb deutsche Volkssagen, eine Geschichte der Freiheitskriege, ein Volksbuch etc. – und damit endigte meine schauspielerische Laufbahn. In Wesel schrieb ich unter anderen Stücken „Doctor Wespe“, der noch größeren Erfolg errang, und siedelte dann nach Köln über, wo ich dreizehn Jahre gewohnt habe. Ich hatte sehr früh geheirathet, hatte Kinder, und so war mir ein fester Wohnsitz erwünscht. In Köln führte ich einige Jahre die Regie des Theaters, auch ein Jahr lang die Direction der Bühne

[5]

Roderich Benedix.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

[6] zu Elberfeld, sonst widmete ich mich ganz der Literatur. Ich habe in Köln vierunddreißig Stücke geschrieben, dabei einige Opern und einen Roman „Bilder aus dem Schauspielerleben“. Die Musikschule in Köln übertrug mir den Unterricht in Literatur und Declamation. Dies veranlaßte mich, mein Lehrbuch „Der mündliche Vortrag“ auszuarbeiten. Dieses Werk hat mich sechs Jahre lang in Anspruch genommen, es enthält eine Lehre, die fast unbeachtet geblieben ist, die Betonung der Sprache, unabhängig von der grammatischen Satzbildung. So mühsam dieses Werk war, hat es mir doch große Freude gemacht, denn in den Betonungsgesetzen der Sprache liegen die größten, fast unbekannten Feinheiten, welche zu erforschen einen hohen Genuß gewährte.

Von Köln aus machte ich mehrere Reisen nach den Hauptstädten Deutschlands, nach der Schweiz, nach Belgien, London und Paris. Ich habe viel, viel Schönes gesehen – habe aber in keiner Form eine Reisebeschreibung drucken lassen.

Im Jahre 1855 hatte sich in Frankfurt am Main eine Actiengesellschaft gebildet, welche das dortige Stadttheater übernahm. Man bot mir die Leitung desselben an, die ich als Intendant auch drei Jahre führte. Dann legte ich sie nieder, denn ich sehnte mich aus dem Theaterbureau nach meiner stillen Studirstube. Ich ging nach Leipzig. Hier, in einer Universitätsstadt, hatte ich endlich Gelegenheit, mir den Doctortitel zu erwerben, wozu mich der Wunsch veranlaßte, nicht mit einer Lüge in der Welt herumzulaufen, da man mich immer Doctor nannte, ohne daß ich es war. Hier verheirathete ich mich auch zum zweiten Male und gründete mir ein neues Heim.

Da haben Sie die Grundzüge meines äußeren Lebens. Soll ich meinen, damit Ihrer Aufforderung Genüge geleistet zu haben? Ist es mir doch, als müßte ich Ihnen eine Abrechnung meines Lebens geben, eine Rechenschaft. Wenn ich diese Abrechnung mache, so muß ich sagen, daß ich meinem Geschicke zu großem Danke verpflichtet bin. Zwar hat es mir äußeres Glück, was man so Glück gewöhnlich nennt, nur in bescheidenstem Maße gewährt, aber die Fähigkeit, die es mir verliehen, wiegt das vielfach auf. Es ist ein hoher Genuß, ein Dichtwerk hervorzubringen. Man empfängt im Geiste den ersten Gedanken, man lässt ihn in sich wachsen und reifen, die Gestalten, die man zeichnen will, gewinnen mehr und mehr an Lebensfülle, die Fäden des Werkes knüpfen sich immer mehr zu festem Gewebe, bis das Ganze Vollendung gewonnen hat und zum Niederschreiben fertig ist. Wer diesen Genuß nicht kennt, ahnt ihn nicht, und er wäre mir durch nichts zu ersetzen. Und mir ist er oft gewährt worden, denn neben anderen Arbeiten habe ich hundert Stücke geschrieben. Und ich will es Ihnen offen bekennen: in der Arbeit habe ich immer volle Befriedigung gefunden.

Auch ein günstiger Erfolg meiner Arbeiten ist mir zu Theil geworden. Der vierte Theil meiner Stücke hat ungewöhnlichen Beifall gefunden und ist über alle deutschen Bühnen gegangen. Lassen sie mich Ihnen einzelne in’s Gedächtniß zurückrufen. „Das bemooste Haupt“, „Doctor Wespe“, „Weiberfeind“, „Steckbrief“, „Vetter“, „Eigensinn“, „Alter Magister“, „Proceß“, „Hochzeitsreise“, „Eifersüchtigen“, „Liebesbrief“, „Gefängniß“, „Lügen“, „Mathilde“, „Dienstboten“, „Concert“, „Störenfried“, „Doctor Treuwald“, „Zärtliche Verwandte“, „Aschenbrödel“, „Relegirte Studenten“, „Neujahrsnacht“ etc. Ein anderes Viertel meiner Stücke ist ziemlich unbeachtet geblieben, die übrigen haben an vielen Bühnen gefallen, sind aber keine Cassenstücke geworden. Meine Stücke haben auf den ersten Bühnen Deutschlands Eingang gewonnen, die größten Hoftheater haben mehr als dreißig derselben auf dem Repertoire. Ebenso haben die kleinsten Theater bis zu den Privattheatern sich von meinen Stücken genährt. Auch über die Grenzen Deutschlands haben meine Arbeiten ihren Weg gefunden. Ich besitze Uebersetzungen in englischer, französischer, vlämischer, holländischer, dänischer, schwedischer, russischer, finnischer, polnischer, czechischer, magyarischer, rumänischer, serbischer Sprache. Sie sehen: dieser Erfolg hat mir nicht gefehlt.

Da ich nun einmal im Beichten bin, so lassen sie mich auch über die Grundsätze Rechenschaft geben, die mich geleitet haben. Jeder Künstler hat eine gewisse Eigenthümlichkeit, die er nicht verleugnen kann, und an der er immer zu erkennen ist.

Wie in der Malerei sich scharf das historische Bild von dem Genrebilde scheidet, so scheint es mir auch in der Dichtkunst zu sein. Wenn die Dichtkunst historische Bilder behandelt, so müssen dieselben in einer gewissen Vergangenheit stehen, in der wir alles aus der Ferne ansehen, in der namentlich die kleinen Züge schwinden. Die Genrebilder dagegen müssen Lebenswahrheit bringen und damit namentlich das Ausmalen in die kleinen Züge. Sie müssen in der Gegenwart wurzeln, in der das volle Leben des Volkes pulsirt. Für jene ist das politische Leben, für diese das Kleinleben in Familie und Gesellschaft Gegenstand. Ich bin immer nur Genremaler gewesen. Auch scheint es mir ein, allerdings sehr verbreiteter, Irrthum zu sein, daß das Lustspiel die Aufgabe habe die Thorheiten der Zeit zu geißeln. Das ist immer Sache der Satire, diese aber gehört nur sehr bedingt in die Poesie. Die Satire kann daher ein Mittel für das Lustspiel sein, nicht aber dessen Zweck, dessen Hauptzweck. Irgend einen sittlichen, socialen Gedanken, eine Lebenswahrheit soll ein Stück haben, aber er muß nicht immer geradezu satirisch sein. Einen solchen Gedanken werden Sie aber in allen meinen Stücken finden.

Wer über die Menschen lachen will, muß sie lieben. Darum habe ich nie Menschen gezeichnet, die man verlachen kann; man darf über ihre Schwächen und Thorheiten lächeln, es dürfen ihnen aber die Züge nicht fehlen, die sie liebenswerth machen. Es ist ein feiner Unterschied zwischen lächerlich und komisch. Ueber ersteres lacht man auch, aber es gehört nicht in die Kunst. Darum habe ich meine komischen Wirkungen nie in Carricaturen, in sogenannten komischen Rollen oder in bitterem Wortwitze gesucht, sondern in den Verwicklungen, die aus den Eigenthümlichkeiten der Charaktere hervorgehen. Man hat dies Situationskomik genannt, ich nehme gern diesen Namen an.

Meine Stücke nehmen ihre Stoffe meistens aus dem Bürgerthum, weil mir in diesem der Kern unseres Volkes zu ruhen scheint. Die vielgeschilderte geistreiche Salonwelt, uniformirt in Frack und Glacéhandschuhen, existirt wenig und ist ebenso eine Fiction, wie auf der andern Seite die gemüthliche Biederkeit der Bauern in der Idylle. Im Bürgerthum wurzelt der Fortschritt, der Fortschritt der ganzen Menschheit in Einsicht und Sittlichkeit, und darum, glaube ich, sei im Bürgerthume der Volksgeist am klarsten ausgesprochen. Dabei meine ich nicht eine besondere Classe des Volkes aufzustellen, denn zum Bürgerthum sind Alle zu rechnen, weß Standes sie seien, welche im Schaffen und Arbeiten ihre Aufgaben erkennen. Und ich habe nur aus dem deutschen Bürgerthume meine Stoffe genommen, weil der Dichter national sein soll, und weil das deutsche Volk etwas besitzt, was anderen Völkern bis auf den Namen abgeht – Gemüth. Ich habe die Saiten desselben oft neben den komischsten Verwickelungen angeschlagen und gern auch eine Thräne der Rührung hervorgerufen.

Der Gedanke ist mir ein erhebender, daß die Menschheit aus den rohesten Anfängen durch viele Jahrtausende hindurch sich zu immer höherer Stufe entwickelt, daß ein Geschlecht dem andern die Erbschaft der Weiterentwickelung abgenommen hat, und weil ich an den ewigen Fortschritt glaube, habe ich meinen Stücken stets eine sittliche Grundlage gegeben. Ich habe jede Frivolität gemieden und bilde mir zuweilen ein, durch meine Werke dem Eindringen und der Ueberwucherung ausländischer Frivolität mit gewehrt zu haben. Ist diese Einbíldung eine trügliche, so hat mich meine Eigenliebe getäuscht.

Ferner habe ich an dem Grundsatze festgehalten, nur durch die größte Einfachheit zu wirken. Alle Bühnenmittel, welche nur die Schaulust anregen, Pomp in Decorationen und Costumen, Wirkung durch Glanz und Feste etc. habe ich niemals angewandt. – Auch habe ich niemals übersetzt oder fremde Stoffe benutzt.

Schließlich erlauben Sie mir ein Wort über meine Stellung. Ich stehe allein, ohne alle literarischen Verbindungen und habe so mein Leben lang gestanden. Die Schuld davon mag an mir liegen. In meiner Natur ist, wenn nicht geradezu Schüchternheit, doch das Gegentheil von Dreistigkeit. Ein Phrenolog fand in meiner Schädelbildung Mangel an Selbstbewußtsein. So habe ich es nie verstanden mich geltend zu machen, mich vorzudrängen, meinen Vortheil zu wahren.

Aber ich fühle, daß es Zeit ist, zum Ende zu kommen. Wenn Ihre Leser mein so gelungenes Bild ansehen, werden sie in dessen ernsten Zügen wohl kaum das Wesen eines Lustspieldichters erkennen. Doch nur mein Streben ist ein ernstes gewesen, meine Beurtheilung der Menschen war immer eine milde und versöhnliche, meine Lebensanschauung eine heitere.

 Mit bestem Gruße Ihr

Roderich Benedix. 



[7]
Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Achter Brief. „An der Loire grünem Strande“.


„O, glauben Sie nur nicht, daß Ihre Armee mit dem Heere Frankreichs, welches ihr in furchtbaren Massen gegenübersteht, so leichtes Spiel haben wird, wie mit den Soldaten Napoleon’s.“

„Aber wer sagt Ihnen denn, Herr Abbé, daß unsere bisherigen Erfolge uns wie reife Früchte in den Schooß fielen? Ich sage Ihnen, unser Volk und seine Führer haben heiß darnach gerungen, sie haben gekämpft mit dem Kopfe, mit dem Herzen, mit dem Aufgebote aller Kraft. Sie haben die Schlachtendonner nicht gehört. Sie haben das Wüthen des Kampfes, das Ringen der Verzweiflung nicht gesehen, mit dem die französischen Soldaten den Unseren den Sieg abtrotzen wollten. Sie saßen in Ihrer dichten Laube, lasen die telegraphischen Berichte, ließen Ihrem cholerischen Temperamente seinen Lauf, riefen am nächsten Sonntage gegen uns von der Kanzel das göttliche Strafgericht herab und begehen jetzt das Unrecht – verzeihen Sie, wenn ich Ihnen das sage, – Ihr eigenes Volk herabzusetzen; denn die Soldaten Napoleon’s sind so gut Ihres Volkes Kinder, als es jetzt die Schaaren an der Loire sind.“

„Schaaren, Monsieur? Nein, nein, das ist eine disciplinirte Armee –“

„Verzeihung, Herr Abbé, man schafft in drei Monaten keine disciplinirte Armee – o ja, man bringt Leute zusammen, man zieht ihnen eine Uniform an, giebt ihnen ein Gewehr in die Hand und spricht zu ihnen: Ihr seid die Hoffnung Frankreichs, ihr seid die Säulen des Vaterlandes, en avant! Ich sage Ihnen, beim ersten Kanonenschusse werden manchen dieser Säulen des Vaterlandes die Beine gewaltig schlottern – und die Hoffnung Frankreichs wird zuletzt die Beine über die Achsel nehmen, und man wird ein großes Laufen erleben – doch ich will nicht der Unglücksprophet sein – bitte, geben Sie mir gefälligst noch ein Stück Braten.“

Der Herr Abbé reichte mir die Schüssel mit dem Braten.

„Danke, danke, Herr Abbé, und nun noch eine freundliche Bitte. Sie waren als Quartiergeber so freundlich und zuvorkommend gegen mich, daß es mir peinlich ist, Ihnen Dinge sagen zu müssen, die Ihnen nicht angenehm sein können und es mir noch weniger sind. Sie sind Franzose, von Natur von leicht erregbarem Temperament, ich bin als Deutscher vielleicht ruhiger, aber man fängt im Fortgange des Krieges an, seine Nerven zu spannen, man ist nicht mittelbarer oder unmittelbarer Zeuge so großer Ereignisse der Geschichte, ohne daß diese Aufregungen ihre Nachwirkung üben – Sie werden heftig, ich werde empfindlich – lassen wir daher diese Gespräche, wir kommen in unseren Ansichten und Empfindungen doch nie zusammen. Sie waren mit Monseigneur Dupanloup beim Concile in Rom. Sie haben mir gestern davon sehr interessante Schilderungen gegeben, wenn Sie mir davon noch etwas erzählen wollen, würden Sie sehr liebenswürdig und ich Ihnen sehr dankbar sein.“

„Wie Sie wünschen, mein Herr. Haben Sie den Brief gelesen, den Monseigneur Dupanloup jetzt an die Pfarrgeistlichen von Orleans geschrieben hat?“

„Nein, Herr Abbé. Aber was Monseigneur Dupanloup schreibt, ist immer bedeutend, vom Standpunkte ganz abgesehen, und da mich kirchliche Fragen sehr interessiren, so würde ich Ihnen sehr verbunden sein, wollten Sie mich den Brief lesen lassen.“

„Hier ist er! Lesen Sie!“

Damit zog der Abbé aus der Tasche seiner Soutane ein Zeitungsblatt und deutete auf eine Stelle, wo der erwähnte Brief begann. Ich sah sehr wohl das triumphirende Lächeln, das über seine Züge glitt.

Ich las allerdings eine vorzüglich stylisirte und äußerst schwungreiche und beredte Lobrede auf die Loirearmee, der Brief enthielt zum Schlusse eine Parallele der jetzigen Zeit und der vor vierzehnhundert Jahren, als Attila, der Hunnenkönig, gegen Orleans zog, dasselbe bedrohte und plötzlich durch das Erscheinen des römischen Feldherrn Aëtius zum Abzuge gezwungen wurde und kurz darauf auf den catalaunischen Feldern eine schmähliche Niederlage erlitt.

„Nun, was sagen Sie dazu?“ frug der Priester, als ich ihm den Brief zurückgab, mit leuchtenden Augen und mit gespannten Mienen,

„Wenn der Vergleich mit dem Hunnenkönig nun nicht zutrifft, Herr Abbé, was dann?“

„Was meinen Sie?“

„Merkwürdiges Zusammentreffen! Unser Generalfeldmarschall trägt als Uniform allerdings einen Attila. So weit stimmt die Anspielung – aber wie, wenn ihn das prophezeite Schicksal nicht erreichte, wenn es im Gegentheil Ihre Armee wäre, die eine Niederlage erlitte?“

„Unmöglich! Niemals – nie – nie! Die Jugend Frankreichs steht Ihnen entgegen, es ist Frankreich selber, in jedem Arme schlagen tausend Herzen, die Begeisterung lehrt sie die Waffen führen, die Führer sind alte, erprobte Generale, ich sage Ihnen, diese Armee wird nicht vor der Ihrigen weichen – ein furchtbares Strafgericht Gottes wird über die deutschen Länderräuber hereinbrechen, und dieses wird sie in dem Walde vor Orleans erreichen!“

Ich hätte dem sonst sehr gescheidten und im Umgange liebenswürdigen Manne sagen können, daß ich mich vor jeder wahren nationalen Begeisterung, als etwas Großem und Herrlichem, tief beuge, daß aber die jetzige Stimmung Frankreichs nur ein Wuthgeschrei des verletzten Selbstgefühls ist, und darum auch zu keinem gedeihlichen Ziele führen wird; ich hätte ihm erwidern können, daß ein guter Unterofficier ein viel besserer Lehrer ist, die Waffen zu gebrauchen, als die flammendste Begeisterung; aber zu solchen Erwiderungen war der Mann plötzlich zu „wild“ geworden, es blieb mir also nichts Anderes übrig, als von dem Tische aufzustehen, indem ich ihm sagte:

„Herr Abbé, um das Gespräch mit einer erneuerten Bitte um den Braten abbrechen zu können, dazu bin ich zu satt. Um aber derartigen Aufregungen zu begegnen, bleibt mir nichts Anderes übrig, als mich Ihnen für heute ganz gehorsamst zu empfehlen.“

Diese Unterhaltung, wie ich sie hier mitgetheilt habe, wurde in einem katholischen Erziehungshause zu Pithiviers zwischen mir und dem Vorsteher dieser Anstalt, bei dem ich einquartiert war, geführt.

Wie sind Sie denn von Metz nach dem Westen von Frankreich gekommen? werden mich manche der lieben Leser fragen.

Von der Mosel bis zur Loire ist ein gutes Stück Wegs, wir brauchten dazu mit den paar Ruhetagen, die wir unterwegs gemacht hatten, gerade vierunddreißig Tage, und dabei machte das Hauptquartier per Tag durchschnittlich vierundzwanzig Kilometer, also, die Stunde zu viertausend Schritt angenommen, sechs Stunden oder drei deutsche Meilen. Wir berührten auf dem Wege Domremy, den Wohnort der Jungfrau von Orleans, wir sahen das noch vorhandene Haus, in welchem sie gewohnt haben soll, ehe sie der Stimme von Oben folgte, die ihr zurief: Va en France – en France! Es ist ein dem Verfall naher steinerner Bau, der mehr einer Höhle, als einer Wohnung für menschliche Wesen ähnlich sah. Das Haus hatte links eine sehr niedrige Thür, die Fräulein Ziegler, die geniale Darstellerin der Schiller’schen Jungfrau, nicht passiren könnte, einen Wohnraum, dem ein einziges Fenster Licht verschafft; vier nackte, kahle Wände starrten uns fast feindselig an; der Bau schien bewohnt zu sein, obwohl wir Niemanden fanden; in dem Kamin glimmte noch die Asche.

Es waren herrliche, warme Novembertage, in denen wir so durch Frankreich zogen, der General-Feldmarschall Prinz Friedrich Karl immer voran und so und so viel Reiter und Pferde und Wagen ihm nach, und die Franzosen standen in Blaukitteln, Holzschuhen und weißen Zipfelmützen vor ihren Häusern und meinten, in Deutschland könne Keiner daheim geblieben sein.

Von Troyes aus aber ging es rascher. Die französische Loirearmee hatte sich tüchtig auf die Beine gemacht und war vielleicht schneller, als man’s dachte, auf Orleans marschirt, um General von der Tann mit seinen Baiern aufzuheben und den Herren Parisern zu Hülfe zu kommen. Hätten sie das ausgeführt, dann stünde Manches für uns jetzt nicht mehr so günstig, als es der Fall ist, und sie machten wirklich Miene, den ganz geschickten Gedanken in’s Werk zu setzen. General von der Tann zog sich vor der großen Uebermacht des Feindes zurück – das Einzige, was er unter diesen Umständen thun konnte. Das soll auch General von Moltke’s Meinung gewesen sein. Freilich, den

[8] Franzosen stieg dieser scheinbare Sieg bei Coulmiers gewaltig zu Kopfe. Nun konnte der Loirearmee nichts mehr widerstehen und welche Hoffnungen man auf sie setzte, hat man aus den Aeußerungen des Herrn Abbé vernommen. Es war aber doch sehr gut, daß die Dinge vor Metz ihren Abschluß erreicht hatten, daß die Truppen aus dem Morast und von dem angestrengten Dienst erlöst wurden, und daß der König seinem Neffen, dem General-Feldmarschall, in dem Sinne schreiben konnte: „Fritz Karl, jetzt marschire weiter, damit die von der Loire herauf uns hier vor Paris nicht über den Hals kommen.“

Und es wurde weiter darauf losmarschirt, trotz der Steine und Bäume, die man überall unseren Colonnen in den Weg zu werfen bemüht war, trotz der tiefen Gräben, die man hier über die Wege gezogen hatte. Die armen Schächer von Franzosen, die kennen unsere Pionniere nicht. Wenn so ein Hinderniß kam – „Angepackt, Jungen! So was darf einen Deutschen nicht geniren! Frisch drauf los!“ In einer halben Stunde war die Geschichte gemacht, und fort ging es, unaufhaltsam, und immer frisch und fröhlich, immer mit einem Scherz oder einem Liede – unser General, unsere Officiere und Soldaten haben in diesen Märschen Außerordentliches geleistet.

In Pithiviers, wo ich in dem oben erwähnten katholischen Erziehungshause Quartier fand, wurde Halt gemacht, um die Truppen in dortiger Gegend auf einem Punkte zu vereinigen; man mußte sich auch erst vergewissern, wo denn eigentlich der Feind sich aufgestellt hatte und welches seine Absichten waren. Dazu gehört Zeit, namentlich einem Feinde gegenüber, der sich unseren Fängen mit Schlangenklugheit zu entziehen suchte; denn der damalige Führer der Loire-Armee, Aurelles de Paladines oder „General Oreiller“, wie ihn unsere Soldaten nennen, ist ein ganz tüchtiger General. Den Feind durch einzelne Ordonnanzofficiere oder durch zusammengesetzte Truppenabtheilungen aufsuchen, das nennt man in der militärischen Sprache „Fühlung gewinnen“, und unsere Officiere und Soldaten bekamen es auch zu fühlen; es gab da heftige Zusammenstöße und blutige Köpfe hüben und drüben und dort mehr als bei uns. Man sagte sich, daß es zu einer Schlacht kommen würde, aber wo und wann, das wußte eigentlich Niemand. Der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin wurde erst mit seiner Armeeabtheilung erwartet und es kam auf die Bewegungen des Feindes an; dieser war diesmal sehr unbeständig; er wechselte mehrmals mit seinen Stellungen, er argwöhnte ein zweites Sedan; dem wollte er entgehen; aber wieder die alte Geschichte, die Maus, die auf den Speck in der Mausefalle nicht anbeißt, die fängt sich an ihrem langen Schweife.

In der Nacht vom zweiten zum dritten December, als ich eben einen süßen Traum von der Heimath träumte – da wurde an meine Thür gepocht.

„Wer ist da?“

„Eine Ordonnanz!“ war die Antwort. „Morgen früh sieben Uhr rückt das Hauptquartier ab.“

„Wohin?“

„Ist nicht gesagt. Guten Morgen!“

„Guten Morgen! Wie viel Uhr ist es denn?“

„Ein Uhr.“

Nach dieser kurzen Unterhaltung durch die Thür trabte die Ordonnanz die Treppe hinab.

Was soll das bedeuten? Wozu dieser plötzliche Aufbruch? Wodurch war dieser veranlaßt? Sollte es sich bewahrheiten, was man seit einigen Tagen munkelte, sollte der Feind wirklich beabsichtigen, Pithiviers und das Hauptquartier überfallen zu wollen? Das wäre ja nicht so sehr schwer gewesen. Stand er doch auch mit fünf Brigaden um Beaune la Rolande, ehe man sich dessen versah. Es wäre eine Unwahrheit, wollte ich sagen, ich hätte meinen Traum vom Rheine weiter geträumt; abgesehen von allen diesen Gedanken und Möglichkeiten, in welchen sich die erregte Phantasie bewegte, war das unthunlich, denn unter mir waren die beiden großen Schlafsäle „Dortoir de St. Joseph de Gonzague“ und „Dortoir de St. Charles“ zu Lazarethen eingerichtet worden; die verwundeten Preußen und Franzosen jammerten und stöhnten die ganze Nacht, daß man sich fast seines gesunden Schlafes schämte. Auf dem Hofe war das Rad, um frisches Wasser zu pumpen, fast unaufhörlich in Bewegung, und durch die Nacht ging das Heulen der Hunde, als ginge selbst ihnen der Jammer der Menschen zu Herzen.

Am frühen Morgen war der Herr Abbé sehr verwundert, mich schon gerüstet zur Abreise zu sehen. Er kam eben aus der Kirche zurück, wo er täglich um sechs Uhr die Messe zu lesen pflegte.

„Ich muß Ihnen leider Adieu sagen, mein verehrter Herr Abbé. Schade, daß wir unsere lebhaften Tischgespräche nicht fortsetzen können; aber der Aufenthalt in Ihrem Hause wird mir immer eine interessante Erinnerung sein.“

„Ah, Sie gehen so schnell? Vielleicht ein Rückzug?“

„Im Gegentheil, ein Vorgehen, Herr Abbé – auf Orleans ist die Losung.“

„Niemals, mein Herr! Geben Sie den Gedanken nur auf. Ich sage Ihnen noch nicht Adieu[WS 1]; ich denke immer, Sie werden nach Pithiviers zurückgehen.“

„Da kennen Sie die Brandenburger nicht; die gehen niemals zurück. Adieu!“

Am Sammelplatze, von dem die Abfahrt stattfinden sollte, frug ich einen Officier, warum der Befehl zum Abrücken zu so ungewöhnlicher Zeit gegeben worden sei.

„Um die Einwohner hier nicht vorher aufmerksam zu machen, um der Benachrichtigung des Feindes durch sie zu begegnen,“ war die Antwort. „Ganz sicher haben die Einwohner trotz unseres strengen Vorpostendienstes mit dem Feinde Verbindungen. Wer kann die geheimen Waldwege in dem Walde von Orleans alle kennen? Gerade heute wäre das ein verwünschter Streich.“

„Warum heute? Steht etwas zu erwarten?“

„Seine königliche Hoheit wird mit dem Stabe ebenfalls um sieben Uhr abreiten; das heißt soviel, als in den nächsten Stunden werden die Kanonen die erwartete Schlacht intoniren.“

Es war ein recht naßkalter Morgen und der Himmel hing voller Schnee, nachdem wir kurz vorher das herrlichste Wetter, den hier zu Lande sogenannten „Martinssommer“ gehabt hatten. Gegen zwei Uhr Mittags waren wir nach Toury gekommen; dort sollten wir weitere Ordre empfangen, wohin das Hauptquartier vorgehen sollte. Vor dem Orte fuhr der Wagenpark auf, große Bivouacsfeuer wurden gemacht, Kessel mit Wasser aufgestellt und in diese die Büchsen mit präparirtem Fleische gestellt. Teller gab es nicht, man aß nach türkischer Weise mit den Fingern, und zur Gesellschaft stellte sich der Schnee ein. Wie den ganzen Morgen über, so horchten wir auch jetzt überall hin, ob nirgends Kanonendonner zu vernehmen sei. Alles war still. Also keine Schlacht.

„Das Hauptquartier soll nach Artenay vorrücken!“ meldete eine ankommende Ordonnanz dem Führer der Colonne, dem Gensd’armerierittmeister Schröder.

„Artenay? das war aber am Morgen noch vom Feinde besetzt?!“

„Alles rausgeschmissen!“

„Also war doch eine Schlacht?“

„Na, und was für eine! Ich sag’ Ihnen, ganz propper. Unser Herrgott da oben hat sich heute vor dem Lärm gewiß die Ohren zuhalten müssen.“

„Aber wir haben doch nichts gehört!“

„Dann waren Sie nicht im richtigen Wind. Seien Sie froh, mir ist von dem ‚Bumbum‘ jetzt noch, als hätte ich mir eine Ohrenklappe von Pelz umgebunden.“

„Ist der Generalfeldmarschall schon in Artenay?“

„Was Sie denken! Heute war er wieder ‚All vorrup‘, erst bei der sechsten Cavalleriedivision, dann beim neunten Corps. Heute ist wieder sein Plaisir – heut’ läßt er nicht locker, und die Herren Adjutanten und Ordonnanzofficiere müssen sich die Seele aus dem Leibe reiten; heut’ dirigirt er das Ganze. Aber auch die Keile, die die Franzosen besehen haben!“

Zum Rittmeister sich wendend, ob derselbe noch weitere Befehle für dieselbe habe, sprengte die Ordonnanz davon.

Die Straße nach Artenay war mit fünffachen Colonnen bedeckt. Proviant- und Munitionscolonnen, Infanteriebataillone, Ulanenschwadronen und Wagen mit Verwundeten; die Fahrer fluchten, die Soldaten sangen, die Verwundeten stöhnten, und dabei goß es vom Himmel in Strömen. In Artenay war fast kein Durchkommen. Wo sollte in dem kleinen Orte Raum für die Tausende herkommen, die sich in den beiden Straßen der Stadt zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen den Platz streitig machten?! „Jeder von den Herren nehme Quartier, wo er es findet!“ lautete die Weisung des Quartiermachers. Das hieß eine Anweisung auf [9] ein Nachtlager unter freiem Himmel ausstellen. Viele der Häuser waren zerschossen, und die noch bewohnbar, waren bereits voll Soldaten gepfropft, sie hatten sich nach den Strapazen eines heißen Kampftages auf eigene Faust Quartier gemacht; das war nicht schwer, die Einwohner der meisten Häuser waren geflohen, Alles, was transportabel war, hatten sie mitgenommen, nur die Räume und die Möbel hatten sie zurückgelassen; glücklich aber, wer zuerst gekommen war und vier Wände gefunden hatte. Endlich in einem Hofgebäude über einem Pferdestalle war es auch mir gelungen, eine bewohnbare Stätte und darin ein Unterkommen zu finden. Die Stube hatte wenigstens einen Kamin, Holz war auch bald gefunden, bald brannte ein gemüthliches Feuer, und das Stroh, das zum Nachtlager auf den Steinboden gestreut wurde, war immer besser als ein unreinliches Bett. Mit einem Lederkissen und ein paar Decken wurde eine ganz prächtige Lagerstatt zugerichtet, während der Nacht wurde das Kaminfeuer unterhalten und sanft hätte man in den Morgen hineingeschlummert, wenn nicht plötzlich schnelle Tritte die Treppe heraufgekommen wären mit dem Rufe:

„Feuer – Feuer! Im Nebenhause brennt es!“


Der Bürgermeister von Riedselz und sein Sohn im Verhör.
Nach der Natur aufgenommen von Prof. P. Thumann.

Ein recht angenehmes Erwachen! Durch die Spalten der Fensterläden sah man an der weißen Wand eine rothe Flamme züngeln, als ich das Fenster aufstieß, stieg die Lohe aus dem Dachstuhle des Nebenhauses bereits auf. In demselben hatte der Commandeur der hessischen Division, Prinz Ludwig von Hessen, Wohnung genommen. Es brauchte dieses Zwischenfalles nicht, um den tapferen Prinzen im Feuer zu sehen, er war mit seinen braven Hessen während dieses Feldzuges so oft im dichtesten Kugel- und Granatenregen gewesen, und was am Tage von Mars la Tour die hessische Artillerie durch ihr Erscheinen geleistet, wird nicht vergessen werden. Auch an den glorreichen Erfolgen des 3. und 4. Decembers hat die hessische Division einen namhaften ruhmreichen Antheil.

[10] Vom Feuer, das bald gelöscht wurde, ging es schon am frühen Morgen in’s Feuer, das hüben und drüben wieder entbrennen wollte. Der Feind war bis zum Rande des Waldes von Orleans zurückgeworfen worden, heute sollte er bis nach Orleans gedrängt werden.

Das Hauptquartier sollte nachrücken. Wohin? Wer wußte es? – selbst die leitenden Spitzen nicht. Des Tages über mußten die Schlafstätten, in denen man Abends sein Haupt hinlegen konnte, erst erprobt werden.

(Schluß folgt.)




Eine französische Poststation im deutschen Walde.
Sinn bei Herborn (R.-B. Wiesbaden).     

Es war ein denkwürdiger Tag, der 15. December 1870, für uns friedlich stille Dorfbewohner, und der Fang einer französischen Luftpost ein großes freudiges Ereigniß.

Auf den Ruf: „Ein Luftballon, ein Luftballon!“ war ich mit wenigen Sätzen im Freien, und wahrhaftig, da oben etwa dreihundert Fuß hoch schwebte das gespenstische Ding wie ein riesengroßer Raubvogel, in seinen Krallen die noch lebendige Beute.

Kein Luftzug war wahrnehmbar, und nur wenig schneller, als man laufen kann, flog der Ballon fast rechtwinkelig gegen den nahen an dreihundert Fuß hohen bewaldeten Mühlberg. Ohne Besinnen eilte ich in die nahen Werkstätten, wo schon meine schwarzen Maschinenbauer auf dem Sprunge standen, mich fragend ansehend.

„Lauft, was Ihr laufen könnt; den Ballon müssen wir haben mit Allem, was darin ist,“ war meine Antwort, und hinaus ging die wilde Jagd der Stelle zu, wo er sich eben niederzulassen schien. Wir konnten ihn schon beinahe greifen; die ersten flinken Jungen waren kaum zwanzig Schritte davon, da ging der Ballon sanft wieder in die Höhe; doch die Gondel mit den Insassen lag auf dem Platze umgestürzt, hier ein aufgerissener Sack mit Briefen, Briefe auf dem ganzen Boden herum, dort ein Handkoffer, da ein Brieftaubenkäfig und dazwischen allerlei Kleidungsstücke, Schwimmgürtel, Instrumente und sonstige Geräthe. Mitten in diesem Chaos die beiden Franzosen, deren äußere Verfassung nicht viel von der Arbeitskleidung meiner Leute abstach, so daß ich im ersten Momente gar nicht rasch herausfinden konnte, ob es zwei, drei oder vier Mann seien.

Die Luftschiffer, bei allem Unglück so glücklich, auf glattem Erdboden zwischen hohen Bäumen zu landen, standen sprachlos vor Schrecken, mit einer Armsündermiene, die mein herzliches Mitleid erweckte. Hörten sie doch von mir, daß sie sich in der Provinz Nassau in Preußen, etwas weit von dem gewünschten Ziele, befänden. Ich sorgte sofort für Sammlung der Beute. Aber da lagen auch Papierschnitzel, in die kleinsten Stückchen zerrissene Briefe. Ich ahnte gleich, was das bedeute, und der Vordermann unserer Sturmcolonne erklärte mir, daß im Augenblick des Aussteigens aus der Gondel der Eine, unter der Wahrnehmung, nicht in Frankreich zu sein, eine Anzahl Briefe in aller Hast zu tausend Fetzen zerrissen habe. Zu spät wurde mir dieser Bericht, denn Laub, Erde und Papierschnitzel waren von den etwa siebenzig Füßen, die sich darauf herumgetrieben, ganz gründlich vermischt worden und eine Analyse auf dem Platze kaum möglich. Doch wie es in Paris steht, das mußte ja aus den anderen Tausenden von Briefen noch deutlich genug hervorgehen; deshalb traten wir an, und im Triumph ging es mit unseren Gefangenen und ihren Habseligkeiten nach Hause.

„Wie weit sind wir von Paris? wie heißt die nächste Stadt?“ und andere kurze Fragen war Alles, was die Ersteren sprachen.

Wie ich die frohe Erwartung, wenigstens einen höheren Herrn der Pariser Regierung in Empfang nehmen zu können, bereits bei dem Anblick der beiden Gefangenen herabgestimmt sah, so ergab auch die amtliche Untersuchung, daß man es wahrscheinlich nur mit einem Luftschiffer und seinem Gehülfen zu thun hatte. Bei unserem Einzuge hatte uns bald der Bürgermeister des Dorfes erreicht und die Bagage der Luftschiffer, mit Ausnahme eines Körbchens, das der Aeltere liebevoll unter dem Arm trug und welches ihm wegen des unverfänglichen Inhaltes, bestehend aus einer Flasche Rothwein, einer Flasche Cognac, einem Brod und einem Stück Schinken, belassen wurde, mit Beschlag belegt; die Leute selbst nahm ich unter Bewachung mit nach Hause. Sie zitterten vor Frost und Aufregung, und ich konnte nicht umhin, sie mit einer Tasse Kaffee, die sie mit Dank annahmen und nach Pariser Sitte mit dem mitgebrachten Cognac würzten, ein wenig aufzuwärmen.

Die Ortsbehörde hatte sich inzwischen in Bereitschaft gesetzt, und nachdem unsere Gefangenen, vielleicht zum Danke, daß wir ihnen ihr armes Leben ließen, noch eine halbe Tasse Cognac auf meine Gesundheit getrunken, wurde der Weitermarsch in die nahe Stadt Herborn zum Zweck der Ablieferung an die höheren Behörden angetreten.

Nach ihrer Angabe waren die Luftschiffer Morgens um vier Uhr in Paris eingestiegen, um ein Uhr Mittags stiegen oder vielmehr fielen sie hier im deutschen Buchwalde auf das Land, um vier Uhr Nachmittags standen sie schon vor dem Untersuchungsrichter, um sechs Uhr saßen sie mit ihren sieben Sachen in Gesellschaft eines Gensd’armen hinter der Locomotive, die in rascher Eile, wie ich höre, die Gefangenen nach Ehrenbreitstein, die Briefe nach Versailles beförderte.

Nun noch einmal zurück zum Ballon. Früher fertigte man solche aus schwerem Seidenstoff. Zwanzigtausend Franken mindestens sollte einer kosten, und so that es uns leid, ihn über die Berge dahin fliegen zu sehen. Kaum zwei Stunden von hier fiel er jedoch wieder nieder, und die Bewohner des nächsten Dorfes schafften ihn nach Hause, nachdem vorher ein Bäuerlein hinaufgeklettert war und eine Klappe geöffnet hatte, um zu sehen, ob nicht noch Jemand darin säße. Einige Athemzüge des dort ausströmenden Gases genügten, daß das Bäuerlein bewußtlos herabrollte, um erst nach mehreren Stunden wieder gesund zu erwachen. Die Bauern theilten unter sich zunächst die kernhaften Stricke und waren drauf und dran, auch den Ballon zu theilen. Derselbe befindet sich jedoch jetzt in dem Hause des zur Zeit als Vereinslazareth für kranke Krieger eingerichteten Schlosses zu Herborn, und ist zu Zwecken des Lazarethes gegen ein kleines Eintrittsgeld zur Besichtigung ausgestellt.

Der Luftballon, in Form einer Birne, besteht aus ziemlich leichtem Baumwollenstoffe, der mit einem wachsartigen Firnisse getränkt ist. Seine Höhe ist vierundzwanzig, sein Umfang fünfzig Meter. Rundum geht ein Netz mit etwa ein Fuß weiten Maschen, darunter acht starke Stränge bis herab durch das Geflecht und um den Boden der aus starkem Weiden- und Rohrgeflecht bestehenden, etwas über ein Meter langen und breiten und neunzig Centimeter hohen Gondel. Die sämmtlichen Seile laufen überdies unterhalb des Ballons, oberhalb der Gondel zu den Haken eines starken hölzernen neunzig Centimeter weiten Ringes. In der Mitte dieses Ringes hing eine Davy’sche Sicherheitslampe. Die untere Spitze des Ballons hat eine unverschlossene gegen einen halben Meter weite Oeffnung. Von der Gondel durch die erwähnte Oeffnung geht ein Seil mitten durch den Ballon bis hinauf zu den beiden halbmondförmigen, sich nach innen öffnenden Klappen. In der Mitte, außerhalb der Klappen, ist noch ein kleines Gestell, über welches eine starke Gummischnur gespannt ist, deren Enden mit den Klappen verbunden sind. Die beiden Klappen und die ringförmige Platte mit den beiden sechszig Centimeter weiten Ventilöffnungen sind aus festem Eichen- oder Nußbaumholze sehr sauber gearbeitet und stark mit Oel getränkt. Zieht der Luftschiffer unten am Seile, so öffnen sich die Klappen nach innen, ein Theil des Gases strömt aus; läßt er das Seil nach, so zieht sich die Gummischnur unter Mithülfe des nach oben hin drückenden Gases wieder zu. Der Ballon wird mit den Seilen und Netzen auf fünfzehn bis zwanzig Centner geschätzt, die Gondel wog dreiundneunzig Pfund. Ein Anker war nicht vorhanden. Die Luftschiffer hatten angeblich drei Briefsäcke mitgenommen, jedoch schon zwei nebst mehreren mit Sand gefüllten Säcken zur Entlastung an anderen Orten herausgeworfen. Der hier noch vorgefundene Briefsack war von wasserdichter Leinwand und mußte mit den Briefen von vier Mann getragen werden. Die Briefe und Zeitungen waren vom dünnsten Papier, nach allen Weltgegenden bestimmt, trugen die gewöhnlichen Pariser Poststempel mit dem Datum des 13. December 1870 und die Aufschrift: „Par Ballon monté.“ A. Doering. 

[11]

In den Steppen von Afrika.

Ich bin auf meinen Reisen in Afrika leider nie in der Lage gewesen, eine Jagd mitzumachen, und muß das um so mehr bedauern, als ich Alle, die jemals auf afrikanischem Boden der Waidlust fröhnten, stets mit Begeisterung von diesem an Aufregung so reichen, den deutschen Jagdsport weit hinter sich lassenden Vergnügen sprechen hörte. Wenn ich somit auch nicht aus eigener Anschauung und aus eigenem Wagniß berichten kann, so glaube ich doch die Leser durch die Schilderungen und Mittheilungen meines Freundes, des berühmten Afrikareisenden Schweinfurth[1] entschädigen zu können, der mir seine eigenen Erfahrungen für die nachfolgenden Zeilen und für meine Farbenskizze gerne zu Gebote stellte.

Zu den interessantesten Jagden in Afrika gehört die auf Antilopen, diese unvergleichlichen Läufer und Springer, aus deren Familie auch Europa in seiner Gemse einen Vertreter hat. Die Körperfarbe der genannten Thiere ist nicht durchgängig die der Hirsche; häufig vielmehr bunt, bietet dieselbe eine zuweilen höchst angenehme Abwechselung dunklerer und hellerer Flecken und Streifen dar. Ihr Naturell ist durchgängig ein scheues; einige größere Arten aber, wie die Hirschochsen, die Wasserböcke, die Gnu’s vertheidigen sich muthig und kraftvoll gegen ihre Angreifer.

Das Hauptland der Antilopen bildet Afrika. Dieses Festlandes Wüsten, Steppen, Wälder, Fluß- und Seegebiete beherbergen die zahlreichsten Arten. Auf den kurzbegrasten und dünnbebuschten Ebenen des afrikanischen Südens weiden fleckweise Herden von fast fabelhafter Stückzahl. Zwar werden diese ungeheuren Schaaren von Jahr zu Jahr mehr gelichtet und nach innen gedrängt durch die Pionniere der Cultur, durch die auf Jagdvergnügungen erpichten Sportsmänner, aber trotzdem gewähren die Steppen der Herero, Betschuanen und Kaffern immer noch bedeutenden Mengen jener Geschöpfe Aufenthalt. Bei Gelegenheit eines von den Boers in Südafrika am 24. August 1860 für den Prinzen Alfred von England angestellten Kesseltreibens, zu welchem ein ganzer Kaffernstamm aufgeboten worden, sollen zwanzig- bis dreißigtausend Antilopen zusammengetrieben sein. Weniger groß sind die Antilopenherden, welche man in Ost-, West- und Mittelafrika beobachtet, Landestheile, deren ausgedehnte Walddickungen die Entwicklung und Ansammlung sehr vieler Individuen einer Thierart an bestimmten Orten bedeutend erschwert. Auf den mit hohen, steifen und dichtstehenden Gräsern, mit knorrigen Kappern- und dornigen Akazienbüschen bewachsenen Steppen in Nubien und Sennaar beobachteten meine Freunde und ich immer nur kleinere Rudel von Dama-, Addax-, Leucoryx-Antilopen, von Gazellen etc.

Größere Ansammlungen dieser Thiere finden sich dagegen auf den südlich und westlich von der Provinz Kordufan gelegenen Steppen.

Man jagt die Antilopen in Afrika auf sehr verschiedenartige Weise, mit dem Feuergewehr, dem Bogen, dem Speer, dem Schwert, man fängt sie mit Wurfschlingen, mit Jagdfalken, Schlaghölzern, in Fallgruben etc. Großartige Treibjagden werden auf einem Theile der vorhin erwähnten zwischen dem weißen Nile und den südkordufanischen Bergen oder in Westkordufan sich ausdehnenden Steppen von Kababisch, Bagara, Hasanîeh und anderen Nomadenstämmen veranstaltet, und zwar gewöhnlich im Frühlinge oder Herbste. Jene Beduinen, unter denen vielleicht die gewandtesten Reiter und die geschicktesten, kühnsten Jäger der Welt, besteigen ihre nicht großen, im Extérieur den arabischen ähnelnden Pferde, deren mit abyssinischer Lederdecke belegter Bocksattel ihnen den festesten Sitz gewährt. Das schwarze Haar des braunen Steppensohnes ist geflochten oder aufgeknotet. Meist wallt nur ein baumwollenes Umhängetuch in malerischen Falten um die schlanken Bronzegestalten, seltener bedeckt noch eine kurze Hose einen Theil ihrer Schenkel. Ueber der Schulter hängt das lange Schwert mit Kreuzgriff in rothbrauner Lederscheide, am linken Ellenbogen schaukelt am dünnen Riemen der kurze Dolch, ein, zwei, ja drei und mehr Speere mit Bambusschaft ruhen in der Rechten. Die große Zehe in den engen Bügel klemmend, trabt der äthiopische Centaur in die Ebene hinaus. Hinterher folgen Knaben und Sclaven mit Wasserschläuchen und kargem Mundvorrathe auf den nicht großen, aber flinken Kameelen oder auf den schönen, kräftigen Buckelrindern.

Die Steppe starrt von hohem Grase, von dem unserem Besenginster ähnelnden Sarcostemma, von schmal- und breitblättrigen Kappern, von Akazien, Nachtschatten etc. Hier und da erhebt sich auch das barocke, vielkantige, demjenigen der Orgel- oder Säulencactus ähnelnde Geäst einer Baumwolfsmilch. Uebermannshohe Kegelbauten der Termiten schauen aus dem lehmigen, in der Sonnengluth zerrissenen und zerklüfteten Erdreiche empor. Die Luftspiegelung zaubert Teiche und Ströme vor, die hier und da in anmuthiger Bläue, in zartem Rosa und Violet auftauchenden Berge scheinen in der trügerischen Fata Morgana manchmal über dem Horizonte zu schweben und spielen ihre von Wasserrunsen durchfurchten Abhänge in dem „Teufels“- oder „Gazellenwasser“ des Phänomens wieder.

Da weiden die Steppenkuh, gedrungenen Baues, mit langen Säbelhörnern, der Tetal oder das Hartebeest, mit knotigen, nach vorn und plötzlich nach hinten gebogenen Hörnern und mit hohem Widerrist, die ihr ganz ähnlich gebaute Kuhantilope mit kleinerem Gehörne, die Addax und der Njellet oder Kudu, beide groß, spiralhörnig, die schlanke Dama mit breiten rostfarbenen Flecken auf weißem Grunde gezeichnet, die gemeine Gazelle, die Dakula mit weißen Streifen und Flecken auf röthlichbraunem Grunde, seltener sogar auch Giraffen und Wildbüffel. Sehr langohrige Isabellhasen, Perlhühner und Francolinhühner hüpfen und laufen dazwischen her.

Man treibt das Wild zusammen mit höllischem Geschrei und Gepfeife. Der Reiter sprengt gegen die sich mehr und mehr zusammenschließenden Rudel, schleudert mit nerviger Faust den nie fehlenden Speer oder zerhaut mit dem langen breiten Schwerte die Sprungsehnen der Hinterfüße seiner Opfer.

Welch wüstes, in manchen Zügen selbst ergreifendes Gemälde! Zwischen hochwirbelndem Staub, dessen graubraune Wolken die glühende Tropensonne mit grellen Lichtflecken erhellt, die schweißbedeckten Reiter, die Zähne fletschend, die Naslöcher blähend, ihre Augen funkelnd vor roher Mordgier, den widerhakigen Speer, die schimmernde Klinge zu Wurf, Stoß und Hieb bereit haltend, sich gegenseitig mit gellendem Allahruf anfeuernd; die schnaubenden und wiehernden, muthig einherstürmenden Rosse! Zwischen ihnen durch das angsterfüllte, sich wirre schiebende, das laufende, springende, sich bäumende und überschlagende, in Noth und Todesqual schnaubende, pfeifende, zischende, stöhnende Wild! Hier wälzt sich eine Dama mit vom Speerwurf durchbohrtem Nacken in ihrem Blute, da sinken ein Kudu, eine Steppenkuh, ein Hartebeest mit zerschlagenen Hinterbeinen wie gelähmt zusammen; dort röcheln andere Thiere schwer, bereits im letzten Todeskampfe zuckend. Aus den weitgeöffneten Mäulern und Nüstern strömt rother Lebensquell, aus den großen schönen Augen fällt noch ein letzter Blick des Jammers. Manche prächtige Tochter der Wildniß bahnt sich mit kühnem Anlaufe, mit wüthigem Drängen, Stoßen und Schlagen den Weg durch die umzingelnden Jäger. Allmählich aber verringert sich mehr und mehr die Zahl der gehetzten Thiere, immer mehr häufen sich ihre Körper auf und zwischen zertretenen Grasbüscheln, zerknicktem Buschwerk an. Einzelne Reiter haben ihre Rosse eingebüßt durch die verzweifelten Hörnerstöße sich wehrender Böcke und jagen zu Fuß weiter, öfters die Termitenhügel benutzend, um von ihnen aus ihre Speere zu schleudern oder gelegentlich auch kleinere Gazellen, Junge der größeren Arten, Hasen und Hühner mit dem Stocke niederzuwerfen.

Hin und wieder auch bluten Roß und Reiter, von Hörnerstößen zu Boden gestreckt oder in der Jagdhitze über irgend ein Hinderniß gestürzt, zwischen den Opfern der Jagd.

Der Preis einer solchen Schlächterei ist ein guter. An manchem glücklichen Jagdtage werden Hunderte der Antilopen erlegt und zerlegt.

Der leider zu früh verstorbene ausgezeichnete Reisende und Botaniker Theodor Kotschy erzählt in einem seiner mir vorliegenden Tagebücher etwa Folgendes: „Auf der zwischen Kordufan und dem unabhängigen Negerstaate Dar-Fur gelegenen, Kaadja genannten Steppe unternehmen die daselbst wohnenden Nomaden vor und gleich nach jeder Regenzeit eine große Treibjagd auf einem zwei

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Antilopen-Schlacht in den Steppen Afrikas.
Nach einer Farbenskizze von Professor R. Hartmann in Berlin von H. Leutemann

[13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [14] bis drei Tagereisen sich erstreckenden Gebiete. Die Antilopen werden da zusammengetrieben. In einem Thale werden über zehn Stunden weit Schlingen gelegt und die Zwischenräume so mit Holz verkleidet, daß die Thiere nur durch einzelne leere Gassen entweichen können. Auf der Seite hinter dem Thale reiten die Beduinen einher und tödten die eingeschlossenen Thiere, bevor diese noch Zeit gewinnen, die Schlingen zu durchbrechen. Am letzten Jagdtage erfüllt sich der allertollste Jubel. Alsdann wird oft die Hälfte der Schlingen von den größeren Thieren fortgeschleppt, und manchmal gelingt es diesen, zu entkommen. Häufig aber werden sie von den Reitern noch eingeholt und niedergestoßen oder niedergehauen. Die Nomaden jener Gegend bezahlen der ägyptischen Regierung ihre Steuern in aus Antilopenhaut verfertigten Schläuchen. Alle jene riesigen in Aegypten und Nubien gebräuchlichen Ledersäcke, deren ein Kameel nur zwei zu tragen vermag, stammen von dorther.“

Zu El-Obêd, Kordufans Hauptstadt, zeigte man Kotschy ungeheure durch jene Nomaden eingelieferte Vorräthe von Schläuchen.

Jeder unserer Leser, auch der mit Afrikas Naturverhältnissen nicht vertraute, wird aus dem beifolgenden Bilde einer Treibjagd auf Antilopen bald heraussehen, daß dasselbe nicht in dem Atelier eines Künstlers erfunden, sondern in seiner Skizze nach der Natur aufgenommen und nach Originalnotizen hergestellt ist.

R. Hartmann.[WS 2]     




Auf unseren Vorposten vor Paris.
Von Ludwig Pietsch.
I.
Die Villenstädtchen vor dem Festungsgürtel. – Vernichtung und Zerstörung ringsum. – Der „Onkel Baldrian“. – Fast in den Straßen von Paris. – Ein Lustschloß als Brandruine. – Lulu’s Spielplatz. – Architektonische und landschaftsgärtnerische Kunstthätigkeit der Militärbehörden. – Gefährliche Spaziergänge. – In den Kellerräumen von St. Cloud. – „Wie der Herrgott von Frankreich“. – Zwischen Stein- und Flatterminen. – Ein bombenfester Tambour. – Unsere braven Vorposten.
Versailles, 1. December 1870. 

Eine Belagerung wie die von Paris hat die Welt noch nicht gesehen, und auch keine Festung wie diese. Der Kreis, der sie umspannen will, muß zwölf Meilen in seiner Ausdehnung haben. Denn noch weit hinaus vor die riesige Enceinte (Festungsgürtel) schieben sich die mächtigen Forts, die es, zunächst in etwas respectvoller Entfernung mit einzuschließen gilt. Einer solchen Veste mit vorschriftsmäßigen Belagerungsarbeiten, mit ersten, zweiten und dritten Parallelen, die durch Tranchéen verbunden sind, beizukommen, erscheint, zumal angesichts des außerordentlich wechselvollen hügeligen und waldigen Terrains ihrer Umgebung, als eine Unmöglichkeit. Man mußte sich deshalb zunächst auf die Cernirung und auf die Herstellung gewisser durch ihre Lage die Umgebung beherrschender Schanzen für die Aufnahme schweren Geschützes beschränken, von welchem aus etwa ein paar Forts mit Wirkung beschossen werden können, um somit nöthigenfalls den langsamen Effect der vollständigen Ein- und Abschließung beschleunigen zu helfen. Hand in Hand mit den Arbeiten zur Herstellung solcher etwaigen Angriffspositionen mußten die nicht minder wichtigen gehen, deren Zweck es war, möglichst starke Vertheidigungslinien für die einschließende Armee zu schaffen, um derselben verdoppelte Sicherung gegen Ausfälle und Ueberraschungen zu gewähren, wie sie dieselben bereits so vielfach zu bestehen gehabt hatte.

Um ganz Paris zieht sich bekanntlich ein Kreis von Ortschaften, die man nicht eigentlich Städte oder Dörfer in unserem Sinne, sondern Villenstädtchen nennen kann. Sie setzen die Reihe der eleganten Landhäuser und Schlösser fast ununterbrochen fort, welche vor der Enceinte der Stadt beginnen, und ziehen sich hier an der Südwestseite bis in die Nähe von Versailles hin. Geschlossenere Ortschaften, wie Bougival, Marne, Sceaux, Sèvres, St. Cloud, Meudon, Montretout etc., bilden eine Art von Kern. Aber deren von zusammenhängenden Wohnhäusern gebildete Gassen gehen allseitig über in eine zwischen reizende Gärten und weite Parks lustig und willkürlich gleichsam verstreute Villengruppe.

Das überall von reicher Vegetation, von herrlichem Baumwuchs bedeckte Hügelland mit seinen weiten Fernsichten über den vielgekrümmten Seinespiegel und über das pittoreske Häusermeer der ungeheuren Stadt mit ihren schimmernden Kuppeln und ragenden Thürmen bietet das glücklichste Terrain für solche Anlagen. Dort findet der zu einem Rentenbesitz, dem ersehnten Ziel all’ seines Arbeitens und Kargens, gelangte, wie der von Haus aus zur günstiger situirten Minderheit gehörige Franzose Alles vereinigt, was für ihn zum wahren Lebensgenuß gehört: trauliches Behagen in seinen vier Pfählen inmitten einer mit Kunst und Geschmack benützten, anmuthigen Natur, ländliche Stille, reine Luft und doch gleichzeitig im steten Anblick des nahen Paris das für ihn so erhebende, so erquickende Bewußtsein, in jedem Augenblick durch eine kurze Eisenbahn- oder längere Omnibusfahrt in den Qualm und Lärm und Glanz wieder untertauchen zu können, welcher dort aufsteigt.

Wenn es, wie die „Gartenlaube“ neulich in so beherzigenswerther Weise hervorhob, für eine Festung schlimm ist, reiches bürgerliches Behagen und Denkmale hoher Kunst in ihren Wällen einzuschließen, so ist es ebenso schlimm für letztere beide, wie ein prangender Gürtel die Mauern und Forts der Veste zu umhegen. Erbarmungslos fallen sie der zwingenden Nothwendigkeit zum Opfer, wenn die Stunde der Belagerung kommt. Einen Theil vernichtet die Axt und vernichten die Geschosse der Vertheidiger, den andern zerstören noch gründlicher und sicherer die unvermeidlichen Arbeiten der Angreifer.

Jene Umgebung von Paris hat es zu erfahren seit drei Monaten!

Aus eigener Anschauung kenne ich nur einen Theil der betreffenden Arbeiten an der Süd- und Südwestseite von Paris, auf jener Linie, die sich von den Stellungen des sechsten Corps und der Baiern im Osten bei Villeneuve und Chatenay gegen Villejuif zur großen Schanze von Clamart (de la Tour à Moulde), Meudon, Sèvres, St. Cloud, Montretout gegen Bougival und St. Germain en Laye hinzieht. Besonders das Gebiet von St. Cloud mit der damit eng verbundenen entzückenden Villenstadt Ville d’Avray und Marne war wiederholt das Ziel meiner Besuche und mein Aufenthalt während so mancher interessanter Tage, die mir ebenso durch die Gegenstände, welche sich meiner Beobachtung zeigten, als durch die echte Liebenswürdigkeit der dorthin commandirten gastfreien Officiere zu lieben und unvergeßlichen geworden sind.

Gerade diese Partien des großen Belagerungskreises haben eine besonders wichtige Bedeutung und die darin Thätigen eine besonders schwierige Stellung durch die Nähe des mächtigsten und gefährlichsten aller Pariser Forts, des viel genannten Mont Valérien, welchen unsere Soldaten den „Onkel Baldrian“ zu nennen lieben.[2] Es ist das jene weithin herrschende, mit ungemein starken Werken und Casernenbauten gekrönte Höhe im Westen von Paris, welche für das Bois de Boulogne und sein zierliches Landschaftsbild einen so ernsten großartigen Hintergrund bildete und an deren Fuß unmittelbar die Eisenbahn nach Versailles vorbeiführt.

Die wirksame Ergänzung der oben erwähnten Vertheidigungsbauten bildet das bei Boulogne angelegte französische Werk, wie andererseits weiter östlich das detachirte Fort von Issy. Im Nordwest dieser interessanten Nachbarschaft erhebt sich über dem Plateau de Closeaux jener Hügelrücken, über welchen sich weithin der prächtige waldähnliche Park von St. Cloud ausdehnt – mit dem berühmten französischen Herrscherschloß, das er umhegt, mit der hübschen Stadt, die sich von ihm am Abhang bis zur Seine herniederzieht, sonst einer der beliebtesten Zielpunkte der Pariser Spazierfahrten und Landpartien.

Es war bekanntlich am 17. September, nach dem ersten Gefecht, noch vor Paris bei Valentin und Breteil, als das bei Weißenburg, Wörth und Sedan bereits durch seine glänzende Tapferkeit so ausgezeichnete Bataillon des preußischen achtundfünfzigsten Regiments, unter dem ritterlichen Hauptmann Wernecke, [15] den Feind in aufgelöster Flucht bis unter die Wälle des damals noch gänzlich unarmirten Forts Charenton trieb. Es wäre in Paris selbst eingedrungen, wenn es statt der stricten Ordre umzukehren die nöthige Unterstützung durch das nächste Armeecorps empfangen hätte. Schon damals besetzte dasselbe Regiment den Park und die nächsten Umgebungen von St. Cloud, und jener tapfere Officier empfing den Schlüssel des Schlosses. Der denkwürdigen Geschichte dieses französischen Herrschersitzes hatten die dem Kriege zunächst vorangegangenen und die dessen Erklärung zunächst gefolgten Wochen noch manches interessante Capitel hinzugefügt. Dort war vom Kaiser das schicksalsvolle Document unterzeichnet worden, das die Furien des Verderbens entfesselte. Dort hatte die Kaiserin-Regentin noch eine Zeit lang, mit dem Schatten der Macht bekleidet, Hof gehalten und den abwesenden Gemahl repräsentirt. Militärisch war die Position des nahen Mont Valérien halber schwer haltbar. Man gab sie daher zunächst auf und zog die Truppen aus dem Park und Schloß zurück. Und doch erkannte man ihre Wiederbesetzung bald als eine Nothwendigkeit. Ende September wurde der Park neuerdings in Besitz genommen, nicht ohne Verluste der preußischen Truppen, welche ihrerseits leider genöthigt waren, die am Endpunke einer der prächtigen Alleen befindliche und von den Franzosen als Zielpunkt benutzte hochragende „Laterne des Diogenes“ in die Luft zu sprengen.

Wollten die Franzosen dafür Rache üben? Am 13. October schüttete der Mont Valérien auf das wenig besetzte und an sich strategisch wenig wichtige Schloß St. Cloud jenen Regen von Brandgranaten, der den schönen Prachtbau in Flammen setzte und es gleichzeitig den zur Bergung und Rettung der unersetzlichen Kunstschätze, Bibliotheken und Denkwürdigkeiten unerschrocken thätigen preußischen Jägern unmöglich machte, ihr Rettungswerk ganz durchzuführen.

Seitdem ist das prächtige Lustschloß so vieler Herrscher Frankreichs eine traurige Brandruine; statt durch hohe Spiegelscheiben in schimmernde kunstgeschmückte Säle scheint der Tag durch leere ausgebrannte Fensterhöhlen auf ein Chaos von Trümmern, verkohlten Balken, verbogenen Eisen; und was der Bau enthielt, liegt theils darunter zerschmettert, theils ging es draußen im langen Regen zu Grunde, theils ist es in alle Welt zerstreut; nur Weniges im Verhältniß hat durch die Vorsorge der Höchstcommandirenden der deutschen Heere gesichert und erhalten werden können. Mit so viel schönen und bedeutenden Dingen ging denn auch ein mehr zierlich spaßhaftes zu Grunde; der große Spielplatz des „Kindes von Frankreich“, der sich zur Linken des Schlosses auf einem freien, höhergelegenen, von hohen Bäumen eingefaßten Platze noch heute in geringen Resten erkennen läßt. Das Niedlichste darauf war eine in Form einer großen Acht gebildete und somit überall in sich selbst zurückkehrende Miniatureisenbahn, mit allem Zubehör getreulichst ausgeführt, mit Waggons, heizbaren Locomotiven, Bahnhöfen, Weichenstellung, Signaltelegraphen, mit hübschen Viaducten über Thäler, und Tunneln, sicher ein so vergnügliches als lehrreiches Spielwerk für einen vierzehnjährigen Burschen.

Seitdem aber sowohl die Pracht als das Spiel hier auf diesem Gebiet ihr Ende gefunden haben, hat die harte kriegerische Arbeit darauf um so ernstlicher und energischer begonnen. Der ganze weite Park mit den zunächst an seine Umfassungsmauern angrenzenden Ortschaften, mit den Eisenstraßen und Chausseen, die ihn theils durchschneiden, theils berühren, den Gebäuden, die er enthält, ist im Augenblick nur noch Material, aus welchem die unsere Vertheidigungs- und Belagerungsarbeiten leitende Militärbehörde die ihr nothwendig und geeignet erscheinenden Werke formt. Unter den mancherlei Unbequemlichkeiten, welche diese Thätigkeit erschweren, sind die bei Tag und Nacht nie ganz ausbleibenden Granatwürfe die störendsten. Aber auch gegen diese sind die soldatischen Arbeiter bereits ziemlich abgestumpft. Ihr Hauptärger ist nur, daß denen, die jene schleudern, noch immer nicht (hoffentlich jetzt bald!) mit gleicher Münze heimgezahlt werden soll. Wie stark aber auch die Macht der Gewohnheit sei, der Wachdienst auf den Vorposten ist darum doch immer ein in hohem Grade nervös aufregender für Officiere wie Soldaten. Die bereits vom Anfange des Feldzugs her datirenden freundschaftlichen Beziehungen zu Einigen der hierher Commandirten und hierher Commandirenden erschließt mir manches Gitterthor und manche Straße, die für den profanen, den nichtsoldatischen „Kriegsbummler“ sonst ziemlich streng verschlossen bleiben. Wenn Ihre Leser mir dorthin folgen, werden sie jenes eigenthümlich Aufregende dieser Art von Dienst sehr begreiflich finden und Gattungen von architektonischer und landschaftsgärtnerischer Kunstthätigkeit kennen lernen, die schwerlich ihres Gleichen haben.

Von Ville d’Avray aus, nahe vor der großen Bogenüberwölbung seiner Hauptstraße durch die Eisenbahn Paris-Versailles, führt ein ziemlich steil ansteigender Weg zwischen Villen und niedrigen Gartenmäuerchen zum östlichen Seitenthore des Parkes von St. Cloud. Wer allein mit seinem Passirscheine ausgerüstet den Eintritt zu erhalten hoffte, würde diese Hoffnung sicher an der Unerbittlichkeit des Wachtpostens scheitern sehen. Hier hilft nur die persönliche Begleitung eines gastlichen Officiers, wie unseres verehrten unermüdlichen Freundes Lieutenant Bringer vom ersten Bataillon des achtundfünfzigsten Regiments, die mir glücklicherweise nicht gefehlt hat; wie denn durchweg diese Herren dort auf Vorposten gegen ihre wißbegierigen Gäste eine liebenswürdige Aufmerksamkeit und Bereitwilligkeit, gute und unschätzbare Dienste zu leisten, an den Tag legen, die nicht hoch genug anzuerkennen ist.

Nach kurzem Gange durch die nächsten Alleen gelangen wir an den freien weiten Platz, den „Stern“. Nach allen Seiten hin gehen breite Avenuen von ihm aus. Militärische Arbeitercompagnien sind hier mit Axt, Spaten und Hacke beschäftigt, einen großen, quer durch den ganzen nordwestlichen Theil des Parks gehenden Verhau anzulegen, breiten Graben und Wall, Deckungen für Infanterie und Positionen für Feldgeschütz, eine dritte Vertheidigungslinie gleichsam, deren Feuer das jener breiten Alleen beherrscht und dem ausfallenden Feinde, der etwa die beiden vorliegenden überwunden haben sollte, das weitere Vordringen sehr verleiden würde. Erde, Rasen, Sandsäcke und besonders Gesträuch und Bäume des Waldes selbst geben die Baumaterialien, und Pionniere und Linieninfanterie wetteifern im Geschick und in der Schnelligkeit ihres Herbeischaffens und in der Herstellung dieser Arbeiten. – Um von hier aus nach dem Platze der „Laterne“ vorzugehen, thut man immer gut, nicht gerade in der freien breiten Straße zu spazieren, sondern lieber zu „wandeln unter den Bäumen“. Sie haben drüben zur Linken auf dem Mont Valérien merkwürdig scharfe Augen und sind mit Pulver und Granaten von der kolossalen Art der Fünfundvierzig- und Fünfundsiebenzigpfünder so unerlaubt verschwenderisch, daß sie nicht zögern, auch den harmlosen einzelnen Spaziergänger mit deren Sendungen zu beehren. Freilich ist auch das Dickicht nur ein mehr eingebildeter Schutz, denn überall zeigen sich im Moosboden dort die „Trichter“, welche früher eingeschlagene und im Boden crepirte Geschosse zurückließen, zersplitterte Stämme, ja auch wohl verstreute einzelne Exemplare dieser eisernen „Zuckerhüte“ selbst noch uncrepirt auf der dürren Laubdecke.

Diese kritische Stellung darf natürlich unsere Pionniere nicht stören und nicht verdrießen, welche gerade hier etwas weiter vor gegen den Abhang und unterhalb die große feste Batterie zu vollenden im Begriff sind, die, mit schwerem Geschütz armirt, in dem vielleicht doch noch bevorstehenden großen Concert der Beschießung von Paris eine sehr wichtige Rolle zu spielen haben wird. Wenn auch im Allgemeinen die praktischen Resultate dieser französischen Schießübungen hier kaum die theuren Kosten derselben werth sind, so müssen die Unseren doch zugestehen, daß die zwei Monate der Belagerung der artilleristischen Ausbildung der Pariser Besatzung sehr zu Gute gekommen und daß entschiedene Fortschritte in ihren Leistungen gegen früher bemerkbar geworden sind.

Weiter hinaus, dort unten links am bewaldeten Abhange, schimmern die Waffen der da postirten „Feldwachen“ zwischen den Stämmen herauf. Tiefer, gerade vor uns, die Seine. Durch das raschelnde dürre Laub am weichen Waldboden steigen wir hinab bis zum ersten Absatz, den eine breite Allee, dem Fluß ziemlich parallel, hier auf der Hälfte des Hanges bildet. In dieser Allee ist die Wahl der beschleunigten Gangart und das wiederholte „Deckung suchen“ hinter den Stämmen der Eichen jedem nicht lebensmüden Spaziergänger sehr anzurathen. Gerade von hier aus liegt ziemlich nah und deutlich da unten vor uns die gesprengte Seinebrücke, und in den ersten Häusern von Boulogne drüben hart am jenseitigen Ufer und an der Landstraße nach Paris sind an den Fenstern und draußen an den Gartenmauern die französischen Schützen permanent im Anschlage. Unsere Feldwachtposten diesseits mögen ihrerseits auch der Lust nicht widerstehen, den Grad ihrer Schieß- und Trefffähigkeit an ihrem Vis-à-vis praktisch zu erproben. Die Folge ist ein nie ganz schweigendes, [16] unregelmäßiges Flintengeknatter von beiden Ufern. Wird aber hier oben ein Kopf oder Leib, gleichviel ob uniformirt oder nicht, sichtbar, so spürt der Besitzer desselben sehr bald an dem unheimlich nahen Zwitschern der Chassepotkugeln und ihrem klatschenden Einschlagen in der Bergwand, daß jene Läufe drüben eine bedenkliche Richtung nach seinem eigenen höheren Standpunkte erhalten haben.

Wir nähern uns nun dem schönen Schloß St. Cloud selbst mittelst einer Art von Springprocession von einem deckenden Stamme zum andern. Die auf seine nun vernichtete Façade führende Allee ist in einiger Entfernung vom Schlosse durch ein Gatterthor abgeschlossen. Im Wachtlocale haben sich, in einem Zimmer die Gemeinen, im andern die Officiere des Postens ein soviel als möglich behagliches Dasein geschaffen. Was seine Einrichtung in Bezug auf Einheit des Stils und Geschmacks vermissen läßt, wird wieder durch die Kostbarkeiten mancher Einzelheiten ersetzt. Die Fauteuils und Sessel haben noch immer etwas von dem Glanz ihrer einstigen Bestimmung bewahrt, und man speist nur von Sèvresporcellan, welches mit dem kaiserlichen N mit der Krone darüber gestempelt ist, und trinkt aus Tassen und Gläsern, welche dieselbe Erinnerung an den ehemaligen Lenker der europäischen Geschicke tragen.

Wie traurig und unwohnlich das verbrannte Schloß dort drüben auch gegenwärtig sein und erscheinen möge – eine nicht zu unterschätzende Wohnstätte haben Granaten und Flammen dennoch auch heute noch in seinem verwüsteten Innern zurückgelassen. Freilich nur im Keller. Man hat wunderliche finstere vielverschlungene Gänge zwischen seinen Grundmauern zu gehen, um dort in jenen gewölbten und, Dank seiner Lage und Bauart, ziemlich bombensichern Raum zu gelangen, in welchem die dorthin commandirten Officiere sich gar nicht unbehaglich einzunisten verstanden haben. An Matratzen und wollenen Decken zum Nachtlager ist kein Mangel. Die „Liebesgaben“, die Postpakete aus der Heimath und die gefundenen Schätze in der Nachbarschaft lassen Speisekammer und Weinkeller nie ganz leer werden; und so wird es nicht allzu schwer, hier gute Miene zum bösen Spiele zu machen und sich dieses unterirdische bombensichere Dasein mit guten Cameraden ein paar Tage gefallen zu lassen.

Neben „Lulu’s Spielplatz“ dient eine Reihe von Zelten den Musketieren dieses Postens zum Wohnsitz; ein anderer Posten liegt in einem benachbarten historisch besonders denkwürdigen Raume, dem Orangeriehause, dem classischen Locale des 18. Brumaire und des Staatsstreichs des ersten Napoleon. Von den Einrichtungen für die damaligen Sessionen des Raths der Fünfhundert blieb natürlich längst keine Spur. Der weite Raum zeigt eben nur noch kahle weiße Mauern und hohe kleinrautige Fenster nach dem Park zu. Die alten mächtigen Orangenbäume in ihren grünangestrichenen großen Holzkübeln stehen oder standen vielmehr noch vom Sommer her draußen vor der Pforte. Da das Holz dieser Kübel zum Brennen und besonders zum Feueranmachen sehr geeignet ist und beim Zerspalten jedenfalls viel weniger Mühe verursacht als das harte und zähe der Eichenstämme draußen im Park selbst, so haben sich natürlich die kriegerischen Bewohner dieses Hauses nicht besonnen, von solchen Vortheilen Nutzen zu ziehen. Daß die alten Orangenbäume darüber jämmerlich verdorrt an die Erde zu liegen kommen, ist eben schwer zu vermeiden.

Drinnen in den ungeheuren kahlen Saal hatte man am Tage des Schloßbrandes und den nächstfolgenden Alles bunt durcheinander hineingeflüchtet und gerettet, was man zuerst dem Feuer und dann dem Regen draußen zu entreißen vermochte. Aber es blieb noch eine bedeutende Menge prächtiger Möbel hier zurück, Pianinos, Stutzuhren, Tische mit Bronzebeschlägen, vor Allem aber köstliche Divans, Chaiselongues, Armstühle und Sessel. Rothe Sammet-, reiche Gobelin-, lichte, mit reizenden Bouquets gestickte Atlasbezüge, vergoldete oder geschnitzte, graciös geschweifte Beine und Lehnen Louis des Fünfzehnten, classisch geradlinige Louis des Sechszehnten, – überall eine Eleganz und Pracht, die unsern Schlesiern und Posenern aber nicht im Mindesten imponirt und sie keinen Augenblick abhält, von der in diesen elastischen weiten Polstern gewährten Bequemlichkeit den ausgedehntesten Gebrauch zu machen. Auf dem Fliesenboden sind die Feuerheerde mit ein paar Steinen schnell und leicht construirt, das Kochgeschirr liefert der eigene Tornister, das Tafelgeschirr der anscheinend an Unerschöpflichkeit den hiesigen Weinadern gleichkommende Bestand edler und köstlicher Porcellane und Fayencen. Für den Abzug des Qualms sorgen zersplitterte Scheiben und Thürflügel zur Genüge. Das giebt dann Genrebilder so voller Charakter, und zumal, wenn die helle Morgensonne auf Bronze, Atlas, Sammet, Vergoldung und Fliesen blitzt, so voller brillanter Farbenwirkungen, daß man ihnen nur einen Meyssonnier zum Darsteller wünschen möchte. Ein paar dieser derben Burschen schüren das Feuer, rühren den Erbswurstbrei; andere spalten das Holz, die Flamme zu nähren; einer sucht nach Melodien auf dem gänzlich verstimmten kostbaren Piano aus Ebenholz, und jener dort liegt mit vorgestreckten und bis zum Schenkel mit Lehmkoth bedeckten Beinen im weißen Atlasfauteuil und studirt die gestern endlich von der Feldpost an ihn gelangte alte Nummer der lieben, über Alles willkommenen „Gartenlaube“. Draußen knarren schwere Räder durch den fetten, kothigen, ausgefahrenen Parkweg. Es sind das die massiven, flachen, niedrigen Wagen, welche sonst zum Transport jener riesigen Orangenbäume in ihren Kübeln gedient haben. Jetzt führen sie eine andere Last von einem Theil des Parks zum andern: gewaltige Eichenstämme von hundertjährigem Alter, die man in jenen Alleen und Dickichten gefällt hat, und die nun, von sechs davor gespannten starken Pferden unter reitender Artilleristen Begleitung und Aufsicht dorthin gefahren werden, wo man ihrer zu den Arbeiten an den Batterien und Verschanzungen bedarf.

Sie spielen eine wichtige Rolle in dieser Art von militärischer Baukunst. Hier nicht weit hinter dem Orangeriehaus zieht sich die lange, etwa sieben bis acht Fuß hohe Mauer des Parks von St. Cloud in unabsehbarer Ausdehnung hin. Die Pforte, die dort gerade hinaus zum unmittelbar darangrenzenden Villenstädtchen Montretout führt, ist das sogenannte Grille d’Orleans. Montretout geht in das hart an der Seine gelegene Städtchen St. Cloud fast ohne Abgrenzung über. Beide, bis nicht vor langer Zeit in des Feindes Händen, waren für diesen sehr gelegene Ausgangspunkte für Ausfälle zur Störung unserer Arbeiten und Posten, und zur Vertreibung der letzteren. Seit dem großen blutigen Ausfall gegen hier und Bougival am 21. October sind unsere Pionniere daher auf’s Eifrigste thätig gewesen, diese Mauer und das diesseits und jenseits angrenzende Terrain nach allen Regeln der Ingenieurkunst zu befestigen und den Gegnern den Winteraufenthalt dort in jenen Ortschaften so unerträglich als möglich zu machen. Das beste Mittel zu letzterm Zweck war jedenfalls die Vernichtung der Gebäude selbst, hinter und in denen sich seine Schützen einnisten und decken konnten. Und solch ein Werk besorgt das Feuer bekanntlich besser und geräuschloser, als jedes Geschoß. Jede Villa selbst liefert das geeignetste Material zu ihrer Selbstverzehrung. Wohlausgetrocknete Pianinos, alte Kunstmöbel und minder moderne Seiden- und Sammetfauteuils, zumal mit einem etwas freigebigen Beisatz von Petroleum, empfehlen sich in dieser Hinsicht als das Zweckentsprechendste. So von kleinen Anfängen ausgehend, ist man denn von Stufe zu Stufe weiter vorgerückt, und hat bereits eine ganz hübsch ausgedehnte Ruinenstadt im Umkreis des Parks geschaffen, an deren Vollendung die französischen Granaten, statt sie zu verhindern, auch ihrerseits nicht unwirksam mitgearbeitet haben. Wenn nun auch nicht mehr der Feind, so können doch dafür unsere vorgeschobenen detachirten Unterofficierposten dort Stellung und Deckung finden; letztere ist dort gegen Seine und Mont Valérien gleich sehr wünschenswerth.

Für den kaum wahrscheinlichen Fall, daß der Feind, diese Posten zurückwerfend, und das Feuer unserer „Montretout-Schanze“ aushaltend, dennoch gegen den Park vordringen sollte, dürfte er in dessen Nähe sich noch auf manche Ueberraschung gefaßt machen und seinen Weg gewiß nicht mit Rosen bestreut finden. Es giebt außer den kaum sichtbaren, jeden Fuß unentrinnbar zum Straucheln zwingenden Fallen, welche dort den Boden überspinnen, für solche Anlässe besonders zwei Gattungen von sinnreichen Veranstaltungen. Bei der einen derselben, von mehr idealer Natur, beabsichtigt man hauptsächlich einen moralischen Effect: sie nennt sich die „Flattermine“; bei der andern den derbsten physischen Effect: die „Steinmine“. Auch der Tapferste wird im stürmischen Vordringen für einige Momente lang stutzen, wenn er plötzlich nahe vor sich den Boden bersten und Flammen speien sieht. Das allein und die dadurch gewonnene kurze Frist bezweckt und erreicht die erste Gattung. Die zweite aber sprengt, schleudert, zerschmettert auffliegend mit ihrer fürchterlichen Füllung Alles, was sich ihr naht.

Das Ausgangsthor der Parkmauern ist hier wie anderwärts

[17]

Im Granatfeuer bei Villiers.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.

Straße nach Villiers.  Fort Nogent.     Fort Rosny.     Berg Avron.

[18] heute ein sogenannter „Tambour“, dessen Wände aus dicken festen Eichenstämmen aufgerichtet und als Dach mit eben solchen gedeckt sind, deren Lage durch darauf gehäufte Erde und Rasen eine selbst für schwere Geschosse fast undurchdringliche Dichte und Festigkeit erhalten hat. Solche Bedachung ist es denn auch, die dem großen „bombensicheren Gang“ seine Schutz- und Widerstandskraft giebt, welchen man eben jetzt nahe der Mauer, unterhalb ihres Umkreises herzustellen beschäftigt war. In schrägem Winkel gegen dieselbe gerichtet, ist er tief und weit genug in die Erde gewühlt, um nöthigenfalls fast einer ganzen Compagnie gesicherten, wenn auch etwas unbequemen Aufenthalt zu gewähren. Wände, Dachwölbung, Eingangspforte zu seiner Höhle sind Meisterstücke solider Architectur aus dicken eisenfesten Stämmen und Erde. Auch während des Arbeitens daran ist der noch unfertige oft genug den abwechselnd dazu commandirten Pionnieren und Infanteristen ein sehr willkommener Zufluchtsort. Wenn sie auch an dieser Stelle nicht direct mehr von feindlichen Posten gesehen werden können, so wissen die Leiter der französischen Batterien doch die allgemeine Lage, wo unsere Hauptarbeiten vorgenommen werden, gut genug, um nach deren Richtung hin ihre Granaten aus den weit tragenden Geschützen werfen zu können. Von Zeit zu Zeit erdröhnt von fern her der laut hallende Krach des Schusses, dem das eigenthümlich zischende und schmetternde Heulen des die Luft durchschneidenden Projectils folgt. Für besorgtere Herzen, wie sie auch wohl unter der Uniform schlagen, ist das genügend, schleuniges Hineinspringen in die bombenfeste Pforte zu veranlassen. Die Mehrzahl der durch lange Gewohnheit Abgehärteten und einsichtig Gewordenen erkennt aus der Art des Knalls sicher den Ort, von wo er ausging, und ebenso aus der zischenden Flugbahn das Ziel, für das der jedesmalige „Zuckerhut“ bestimmt ist. Spaten oder Hacke ruht wohl einen Moment lang in der Hand, die eben zum Hiebe oder Stoße damit ausholte. „Geht nach Sèvres-Schanze,“ „geht nach Montretout-Schanze,“ „für Batterie bestimmt,“ „ist vom Onkel,“ „ist Kanonenboot“ ruft je nachdem Einer dem Andern das Resultat seiner Prüfung zu; das laute scharfe „Pang“ der platzenden Granate ertönt näher oder ferner, jenes Urtheil bestätigend oder berichtigend – und die Spaten klirren wieder von Neuem; und die Vorsichtigen tauchen wieder aus auf dem dunkeln Höhlenthor des Bombensicheren unter dem ironischen Willkommengruß der Cameraden: „Lieb’ Vaterland, kannst ruhig sein, sie schießen nicht mehr!“ –

Die Parkmauer, welche diesen ganzen weiten Bezirk umhegt, hat nicht nur zum Vertheidigungswall, sondern ebenso sehr zum Beobachtungsposten zu dienen. Zu diesem Zwecke sind an ihrer innern Seite in halber Höhe die sogenannten „Banquets“ angebracht, d. h. horizontale Bretterlagen, welche es den auf ihnen postirten Soldaten ermöglichen, mit den Augen über den obersten Mauerrand hinwegzulugen. Wo dicht an der Mauer Bäume standen, ruhen diese Banquets auf deren unteren Zweigen oder ad hoc bearbeiteten Stämmen. Wo die fehlen, muß jeder gerade zur Hand liegende Gegenstand zur tragenden Stütze dienen, aufgehäuftes Holz, Steinhügel, häufig genug auch Möbel, zuweilen solche von der kostbarsten Art, wie sie die benachbarten Villen und Schlösser hergaben. Aus Schrank- und Stubenthüren, aus Commodenwänden und Tischplatten aber construirt erheben sich in gewissen Abständen, meist paarweise nebeneinander, auf diesen Banquets die freilich auch nur sehr geringe Deckung gewährenden Wachhäuschen für die einzelnen Beobachtungsposten.

Gewiß, es giebt angenehmere Schildwachdienste als diese dort: nicht ohne aufrichtige Bewunderung konnte ich immer diese braven Männer und Burschen dort stundenlang stumm und unbeweglich ausharren sehen, das Gewehr schußfertig im Arm, den Blick spähend hinausgerichtet über den Mauerrand, anscheinend gleichgültig auch gegen den kalten Herbstregen, den ihr luftiger Verschlag so wenig wie ihr grauer Tuchmantel hindert, sie bis auf die Haut zu durchnässen, gleichgültig auch gegen jene schlimmen fünfundsiebenzigpfündigen Schloßen, die in jedem Augenblick ihrem Postendienst ein Ziel für immer setzen und sie ablösen können zur ewigen Ruhe.




Blätter und Blüthen.


Die Kämpfe um Brie und Villiers gehören bekanntlich zu den blutigsten dieses so opferreichen Krieges; namentlich waren es die Sachsen, welche in dem von ihnen mit so bewundernswerther Tapferkeit genommenen Dorfe Brie unter dem Granatenregen der nahe liegenden Forts ungeheure Verluste erlitten, die sie denn zuletzt auch zwangen, das so hartnäckig und heldenmüthig behauptete Object des Kampfes doch wieder aufzugeben. Zu der Illustration des Plateaus von Villiers, die wir in heutiger Nummer bringen, erhalten wir von unserem Specialartisten F. W. Heine nachträglich einen kurzen, die Bedeutung jener Kämpfe vom 30. November und 2. December erläuternden Text mit der Entschuldigung, daß es ihm unmöglich sei, unter der Aufregung, die er von den Eindrücken der genannten Tage mit hinweggenommen habe, eingehender und ausführlicher zu schreiben. Er macht uns vielmehr auf den Brief eines auch uns befreundeten Leipzigers aufmerksam, des Einjährig-Freiwilligen[WS 3] Rudolph Krauße, der zwar nur persönliche Erlebnisse, diese aber so lebhaft und anschaulich schildert, daß wir den Brief gerne hier in Abdruck folgen lassen. Er lautet:

„Die ganze Zeit vom 14. bis 29. November waren wir vom hundertsiebenten Regiment fortwährend auf dem Marsche, erst nach Cournay, von da nach Broux, Montfermeil, Pomponne, bis wir schließlich am 26. früh nach Noisy le grand kamen. Am 30. gegen vier Uhr Morgens ertönt plötzlich das bekannte Alarmsignal; wir schnell umgehängt und ohne Kaffee und Brod angetreten; um fünf Uhr rückten wir ab und erfuhren beiläufig, daß wir die württembergischen Vorposten beziehen sollten. Kaum waren wir eine Stunde marschirt, so sahen wir schon am dunklen Himmel das heftige Blitzen der Kanonen, den Donner vernahmen wir noch nicht; doch ging’s von nun an mit gespitzten Ohren vorwärts, daß wir gegen sieben Uhr Morgens nach Champigny kamen. Das Feuern hatte mittlerweile gänzlich aufgehört und die Vorposteneintheilung nahm ihren ruhigen Verlauf; ich war mit noch ungefähr zehn Mann in ein Kloster gekommen, woselbst wir uns gegen die rückwärtsliegenden Franzosen decken sollten. Wir hatten Platz genug, zu kochen und es uns gemüthlich zu machen; aber ich weiß nicht, in die Mannschaft war eine Unruhe gefahren, die auch mich ansteckte; wir hatten uns in der Küche zusammengedrängt, aber an Tornisterablegen und Koppelabschnallen dachte kein Mensch. Gegen halb acht Uhr begann denn auch eine so fürchterliche Kanonade, daß wir förmlich betäubt wurden; links und rechts, in’s Dach hinein, überall hin schlugen die Granaten, die Fensterscheiben klirrten; kurz, es war ein Höllenscandal.

Während wir, wie von Gott verlassen, dasaßen, kam auf einmal ein Alarmposten in’s Kloster und schrie: ‚Um Gotteswillen fort, fort, die Franzosen sind ja schon im Dorfe!‘ Wie ein Blitz schlug uns die Nachricht in die Glieder. Im Nu waren wir vor die Thür, und hier bot sich uns ein Anblick, den ich mir nicht mehr wieder wünsche. Keiner von unseren Leuten war mehr zu sehen, dafür aber erblickten wir am Ende der Straße eine Compagnie Franzosen, welche die Häuser durchsuchten; wir rannten, was Zeug hielt, die Straße hinauf, während die Franzosen ein Salvenfeuer auf uns abgaben. Hier büßten wir schon vier Mann ein, so daß wir nur noch sechs Mann waren. Als wir glücklich um die Straßenecke und in’s Freie gekommen waren, sahen wir vorn und hinten schon die Franzosen feuern, so daß uns nur rechts hinauf die Fluchtlinie übrig blieb, wir warfen uns in den Chausseegraben und rutschten auf dem Bauche vorwärts. In der Mitte der Straße, von den Franzosen nach vorn ungefähr hundertfünfzig Schritte, nach rückwärts ungefähr dreihundert Schritte entfernt, sprangen wir auf und rannten nach rechts in der Richtung einer dort aufgefahrenen Batterie vorwärts; die aber wurde aus den links liegenden Forts von einem wahren Granatenhagel überschüttet, wovon auch ein guter Theil zu kurz, also auf uns zufiel. Sonach erhielten wir von drei Seiten Feuer, und trotzdem fiel blos ein Mann; aber das Rennen! Ich taumelte zuletzt nur noch so fort, im schweren Mantel, den vollen Tornister auf dem Rücken, und die Aufregung dazu; es war zum Umkommen, nur der eine Gedanke, nicht Gefangener zu werden, hielt mich aufrecht. Neben mir lief mein Stubencamerad Müller, er konnte auch bald nicht mehr fort; endlich erreichten wir den Eisenbahndamm und zu unserer größten Freude stand dort unter einer Böschung Hauptmann Franke mit circa zwanzig Mann von der ersten Compagnie.

Nachdem wir ein Weilchen verschnauft und unsere Mäntel gerollt hatten, sagte Hauptmann Franke: ‚Na, Kinder, hier können wir nicht müßig stehen bleiben, vorwärts auf den Damm, dort oben stehen Franzosen, die müssen wir aufhalten, sonst kommen uns die Kerle zu nahe heran.‘ Also hinauf, Franke voran – oben legten wir uns platt an die Böschung und schossen nun, was wir konnten, auf die links und vorn sich entwickelnden Rothhosen. Die rechts auf der Höhe anlangten, wurden von einem württembergischen Jägerbataillon in Empfang genommen. Links neben mir lag mein guter Müller, Student der Medicin in Leipzig, und schoß wacker drein, bis er auf einmal rief: ‚O Gott, ich habe eine Kugel!‘ Dann lag er eine Weile ganz ruhig und athmete nur; über dem rechten Auge quoll ruckweise das warme Blut, es dauerte nicht lange, so fing er an zu röcheln, streckte sich und war todt. Ungefähr fünf Minuten später sah unser Adjutant Lieutenant Zimmermann mit dem Fernrohre zurück, als ihn eine Kugel in die Schläfe traf, er war auf der Stelle todt; unser kleiner Lulu, der Avantageur von Uslar-Gleichen, Bruder des gleichnamigen Premierlieutenants in Leipzig, erhielt eine Kugel in die Brust, das Blut kam armstark zum Munde heraus, nach fünf Minuten war der arme sechszehn und ein halbes Jahr alte Kerl auch eine Leiche. Aehnliche Schüsse erhielten noch vier Mann von uns auf dem Damme, so daß wir dort allein sieben Mann einbüßten. Mittlerweile kamen vorne immer mehr und mehr Franzosen in’s Gefecht, so daß wir uns kaum halten konnten; es fuhren französische Batterien auf, Reiterei ließ sich sehen.

‚Wenn wir keine Unterstützung bekommen, müssen wir retiriren,‘ mit diesen Worten kam ein württembergischer Lieutenant von den Jägern, die neben uns lagen, auf unsern Hauptmann zu; kaum hatte er die Worte gesprochen, als er eine Kugel in den Rücken erhielt. – In den Rücken? wir sahen uns nicht schlecht erschrocken um und – hilf Samiel! im Rücken

[19] von uns, den Berg herunter debouchirte mit Plänklern vorneweg mindestens ein Bataillon Franzosen und drohte uns paar Mann abzuschneiden. Jetzt schnell auf die andere Seite des Dammes und auf die Bande gefeuert. ‚Schießt ruhig und sicher,‘ mahnte Hauptmann Franke, ‚nehmt Euren Mann auf’s Korn, in der Nähe schießen die Franzosen ganz schlecht;‘ mit diesen Worten suchte Hauptmann Franke den etwas gesunkenen Muth in uns wieder aufzurichten, und wie zum Beweis seiner Aussage stellte er sich frei über die Böschung, ohne daß es ihm geschadet hätte; die Franzosen schossen viel zu hoch. Dadurch wurden auch wir ruhig, luden hinter der Böschung unsere Flinten, Einer sprang allemal vor, zielte eine Weile ruhig, gab Feuer und sprang zurück, um dem Nächsten Platz zu machen; auf diese Weise gelang es uns, das Corps aufzuhalten. Einmal versuchten sie eine Attaque, aber da sprangen wir Alle wie ein Mann vor, gaben nach Commando fünf bis sechs geschlossene Salven ab, und da auch die Württemberger, welche sich jetzt an uns angeschlossen hatten, auf den Damm kletterten und von da aus feuerten, so gelang es, den Anprall abzuhalten. Auf die Dauer konnten wir uns der Uebermacht aber doch nicht erwehren.

‚Ich will,‘ sagte darum der die Württemberger commandirende Hauptmann zu unserem Capitain, ‚ich will mit meinen Leuten vorne etwas Luft machen, und Sie, Herr Hauptmann, halten die dort rechts im Schach, dann ziehen wir uns retour.‘

Wir waren fünf Stunden gegen eine mindestens zehnmal so starke Truppe im Feuer gewesen, hatten ziemlich die Hälfte unserer Mannschaft eingebüßt und vergaben unserer Ehre nichts mehr, wenn wir uns rückwärts zogen. Von zweiunddreißig Mann waren noch achtzehn kampffähig, die Anderen todt und verwundet; das württembergische Bataillon war über tausend Mann stark gewesen, und waren, nach Aussage des Hauptmanns, auch nur höchstens sechshundert Mann noch auf den Beinen. Eine Compagnie Württemberger blieb bei uns, und die Anderen machten unter Hurrah einen Bajonnetangriff auf die Franzosen, es gelang auch ganz gut, nur drückten die Franzosen so furchtbar nach und beschossen uns auch mit Mitrailleusen so kolossal, daß wir statt langsam im Laufschritt zurückgehen mußten.

Nach einer Viertelstunde, welche ich nie vergessen werde, kamen wir in das Dorf Villiers, hier legten wir uns eine halbe Stunde in den Chausseegraben und ruhten etwas aus. Es war gegen zwei Uhr Nachmittags, mir schlug der Puls fieberhaft; nichts gegessen und getrunken, ermattet bis auf’s Aeußerste, so lagen wir im Graben, ich dachte nicht anders als: es ist Alles verloren! Doch zu unserm Glück rückte das siebente Regiment Prinz Georg, sowie das sechste Regiment Nr. 105 zu unserer Unterstützung vor; Reserve-Batterien von uns und den Württembergern kamen auch in tollster Carrière herangejagt und protzten vor Villiers ab. Das Regiment Prinz Georg formirte mittlerweile dicht neben uns eine Gefechtsstellung.

‚Vorwärts, Leute, was vom hundertsiebenten Regimente da ist, mir nach!‘ rief Hauptmann Franke, indem er uns an den linken Flügel des siebenten Regimentes führte; ‚wir müssen die Bande wenigstens aus Villiers wieder hinausjagen.‘

Mitrailleusen, Granaten, Shrapnells, kurzum allen Tod und Teufel warfen die Franzosen auf uns herab, aber das half Alles nichts, unter Hurrah machten wir in das verwünschte Villiers hinein und trieben die Franzosen wieder hinaus. Leider hielt das Corps nicht so lange Stand, daß wir unsere Bajonnete hätten benützen können; ehe wir heran kamen, waren die rothen Hosen schon wieder hinter der nächsten Mauer. Um fünf Uhr verschanzten wir uns in Villiers und marschirten, nachdem uns Preußen abgelöst hatten, nach Noisy le grand, wo wir unsere alten Quartiere bezogen. Ich hatte früher mit neun Mann in einer Stube gelegen, heute fanden sich blos zwei Mann ein, Gräfner aus dem Schützenhause kam herunter, und wir drei Mann kochten uns nun eine tüchtige Erbswurst.

Den 1. December lagen wir wieder in Angriffscolonnen von früh sechs Uhr bis Nachmittag sieben Uhr im freien Felde (fünf Grad Kälte), dann marschirten wir nach Malnou; hier hatten wir sehr schlechte Quartiere, und außer einem alten Feldzwiebacke gar nichts zu essen. Lieutenant Gruhl, unser Compagnieführer, dem ich unsere Noth klagte, sagte noch zu mir: ‚Na, geben Sie sich nur zufrieden, lieber Krauße, mir geht es selber nicht besser, morgen will ich Euch schon bessere Quartiere verschaffen, es ist jetzt aber nicht möglich.‘ Er ahnte nicht, daß es seine letzte Nachtruhe auf dieser Erde sein würde. Früh am 2. December gegen vier Uhr Alarm! ‚Heiliges Pech, was ist denn schon wieder los? Daß dem Trompeter doch seine Messingtute in den Hals fahre!‘ Diese und noch kräftigere Soldatenwünsche fielen rings herum. Na, wir hingen unser Zeug um und marschirten mit leeren Magen bis Noisy le Grand, wo bereits die ganze vierundzwanzigste Division versammelt war. ‚Erstes und zweites Bataillon vom hundertsiebenten Regiment stillgestanden! Das erste und zweite Bataillon vom hundertsiebenten Regiment haben den Auftrag erhalten, das von den Franzosen besetzte Dorf Brie mit Sturm zu nehmen, das dritte Bataillon vom Friedrich-August-Regiment bleibt zur Unterstützung bereit, ein Zurückgehen kenne ich nicht, nur vorwärts, rührt Euch!‘ Jawohl, uns rührte bald der Schlag, wie Maior v. Bose uns diese Rede hielt. Gewehr über, rechtsum, marsch, durch Noisy durch und im Laufschritt mit vollem Gepäck nach Brie hinein. Rechts lag der verwünschte Mont Avron mit seinen Batterien, weiter zurück Fort Rosny und Fort Nogent, links war die erste französische Feldwache, unsere dritte Compagnie links hinauf in die Franzosen mitten hinein. Ihr hättet nur im Anfang den Spaß sehen sollen, die Kerle saßen ganz fidel da und tranken Kaffee und schrieen mordsjämmerlich, als wir so ‚wie ein Gebild aus Himmelshöh’n‘ mitten hineinplumpsten. Rechts von mir sprangen zwei Franzosen ohne Gewehr auf, ‚pardon, monsieur, pardon!‘ schrieen die beiden Kerlchen und legten sich lang auf die Erde; ich sprang hinzu, nahm den Zunächstliegenden am Kragen, riß ihn in die Höhe und versetzte ihm einen Fußtritt, daß er gleich den kleinen Abhang nach der Straße hinunterpurzelte, wo er sofort von den untenstehenden Mannschaften in Empfang genommen und gefangen wurde; der zweite sprang gleich von selbst mit hinterher.

Wir drangen viermal vor und wurden viermal zurückgeschlagen, unser Lieutenant Gruhl fiel; Oberlieutenant Röderer von der vierten Compagnie rief nicht weit von mir einem französischen Officier zu, sich zu ergeben; er hielt ihm dabei die Pistole vor die Brust; der Franzose nahm seinen Säbel unten an der Spitze und reichte Röderer den Griff dar; Röderer ließ sofort seine Pistole sinken, während er aber die Linke nach dem Säbel ausstreckte, zog der Hund von einem Franzosen mit der Hand, die er frei hatte, einen Revolver aus der Rocktasche und schoß Röderer auf der Stelle nieder. Ich kann den Eindruck dieser entsetzlichen Scene nicht schildern. Kaum aber war die Unthat geschehen, so stürzten wir auf den infamen Hund los, im nächsten Augenblick schon lag er am Boden und mit Bajonnet und Kolben hackten wir den Kerl förmlich zu Brei. Ich habe dort oben noch zwei Franzosen mit dem Bajonnet über den Haufen gerannt und keinen Pardon mehr gegeben. Gegen vier Uhr war auch dieser Kampf zu Ende; unser Regiment hatte an diesen beiden Tagen zwölf Officiere und sechshundertsiebenunddreißig Mann verloren.“

Aus dem Briefe des Malers Heine selbst heben wir nur noch folgende, zum Verständniß des Bildes nöthige Stelle aus:

„Schon am frühen Morgen des 2. December, um zwei Uhr, wurden wir in Champs aus unserem Schlafe durch Alarm geweckt. Es kam der Befehl, daß unsere Truppen die am 30. November eingebüßten Stellungen von Brie und Champigny wieder zu nehmen hätten. Die Truppen, denen wir gegen acht Uhr folgten, marschirten um sechs Uhr aus; kurz nach sieben Uhr rückten die Sachsen gegen Brie, und ihr Angriff war so stürmisch und plötzlich, daß, obwohl die Franzosen durch das Terrain sehr begünstigt waren, das Dorf mit etwa dreihundert Gefangenen unter hallendem Hurrah genommen wurde. Wir verfolgten inzwischen unsern Weg in der Richtung gegen das am 30. November in unseren Händen gebliebene Villiers, unaufhörlich schlugen die Granaten in nächster Nähe von uns ein, furchtbares Geschützfeuer, sowie das ohne Unterbrechung dröhnende Kleingewehrfeuer zeugten von dem furchtbaren Kampfe, der vor uns wüthete. Brie wurde um diese Zeit von den ringsum liegenden Forts aus mit Granaten förmlich überschüttet, und es war den wackeren Sachsen unter solchen Umständen unmöglich, das Dorf zu halten. Nach allen Richtungen fielen die Geschosse; auf dem Plateau von Villiers, welches meine Illustration darstellt, regnete es Kugeln aller Art; selbst auf dem Verbandplatze war keine Sicherheit mehr, und dem ganzen Lazareth-Detachement, Oberarzt, Aerzte, Gehülfen und Wagen, blieb nichts übrig, als eilenden Schrittes sich zurückzuziehen über das Ackerfeld, durch dornige Hecken, über breite Gräben. Wohl wehte die weißrothe Fahne, aber die Franzosen nahmen ihrer nicht in Acht, und die Entfernungen, in welchen sie schossen, waren wahrhaft kolossal. Wie Brie, so fiel auch Champigny, gegen das die Württemberger vorgegangen waren, wieder in die Hände der Feinde; gegen vier Uhr endete das mörderische Gefecht. Am nächsten Tage besuchte ich wiederholt das Schlachtfeld, und der freundlichen Mittheilung des Hauptmanns von Minkwitz, den ich dort beim Stabe des Prinzen Georg traf, verdanke ich manche Ergänzung des von mir selbst Tags zuvor Gesehenen und somit auch die Ergänzung und vermehrte Authenticität meines Bildes.“


Einiges über den Aberglauben des deutschen Soldaten im Kriege. (Von einem preußischen Officier.) Es ist eine vielfach bekannte und oft behandelte Thatsache, daß alle Handwerke, die mit einer gewissen Gefahr für denjenigen, der sie betreibt, verbunden sind, auch einen ganz eigenthümlichen Aberglauben erzeugen, der wohl so alt sein mag, wie diese Gewerke selbst. Der Seemann läuft Freitags nicht in die offene See, der Bergmann enthält sich im Schachte des Fluchens, der Jäger erwartet ein Unglück, wenn ihm am Morgen als erstes ein altes Weib begegnet, der Schieferdecker stellt die Arbeit ein, wenn er dreimal klopfen hört, der Seiltänzer wagt das Seil nicht ohne sein Amulet zu besteigen – wie mir Fräulein Elise Godeau Anno 64 bei Kolter-Waitzmann oft genug versicherte – u. s. w.

Natürlicherweise kann man deshalb erwarten, daß auch der Soldat seinen besonderen Aberglauben habe, und man wird seine Erwartungen nicht getäuscht finden; denn allerdings huldigt auch er – natürlich nur im Kriege – vielfach abergläubischen Gebräuchen und Ansichten, von denen ich, nach meinen in den letzten Feldzügen gemachten Erfahrungen, einige Proben hier mittheilen will.

Es war im Jahre 1866 am Abende nach der Erstürmung von Königinhof. Das Regiment, dem ich damals zugetheilt war, hatte im Divisionsverbande ein Bivouac am Rande eines Waldes bezogen und war gerade mit dem Abkochen beschäftigt. Da es bereits stark dunkelte, so sah man in der Ferne den Horizont vom Feuerschein noch brennender Ortschaften nordlichtartig erhellt. Gluthrothe Rauchwolken, mit glimmenden Funken untermischt, trieben in dichten Massen am Himmel dahin und zeugten von den fürchterlichen, nunmehr auf kurze Zeit ruhenden Kämpfen der letzten Tage. Ich stand gerade im Schatten einiger starker Stämme, am Saume des Waldes, und betrachtete in Gedanken versunken das unheimlich-schöne Schauspiel. Einige Schritte von mir entfernt, doch so, daß sie mich nicht sehen konnten, saßen zwei Grenadiere, die offenbar in dieselbe Betrachtung versunken zu sein schienen. Der Eine sagte zum Andern: „Dort scheinen mir immer noch einige Dörfer zu brennen;“ worauf ihm der Andere in belehrendem Tone entgegnete: „Weißt Du denn noch nicht, daß im Kriege immer solche Feuerzeichen am Himmel stehen? Das hat mir schon mein Großvater erzählt, der die Freiheitskriege mitgemacht hat!“ Hierauf unterhielten sie sich etwas leiser und für mich unverständlich. Ich konnte ihre Reden erst wieder verstehen, als der Zweite den Ersten fragte: „Hast Du denn nicht auch den Brief, der unverwundbar macht?“ Der Angeredete verneinte diese Frage, und Beide standen auf und entfernten sich flüsternd.

Nun muß ich vorausschicken, daß ich schon oftmals unter den Mannschaften verschiedener Regimenter von einem noch heutzutage vorhandenen wunderthätigen Briefe hatte sprechen hören, der angeblich im dreißigjährigen Kriege unter den Landsknechten weitverbreitet gewesen sein und die Eigenschaft besessen haben soll, seinen Eigenthümer unverwundbar zu machen.

[20] Es war mir aber trotz aller Nachfragen noch niemals geglückt, ein Exemplar desselben aufzutreiben, da der Brief nur dann seine wunderbare Eigenschaft beibehalten sollte, wenn ihn der Besitzer ganz geheim hielte. Auch diese schöne Gelegenheit, von den beiden Grenadieren vielleicht über das Geheimniß etwas Näheres zu erfahren, ließ ich ungenützt verstreichen und mit ihr jede Hoffnung, jemals in den Besitz desselben zu gelangen.

So kam indessen das Jahr 1870 heran und mit ihm der noch jetzt nicht beendete deutsch-französische Krieg. Mein Regiment wurde gleich anfangs mobil und sollte am 27. Juli früh um fünf Uhr abmarschiren. Ich hatte gerade meine Marschtoilette vollendet und stand im Begriffe, mich auf den Sammelplatz der Compagnie zu begeben, als ein etwa achtjähriger Junge, ohne zu klopfen, in meine Stube trat, mir einen Brief übergab und sich, ein kleines ihm dargereichtes Trinkgeld ausschlagend, schleunigst entfernte. Da ich der festen Ueberzeugung war, der Brief enthalte eine noch unbezahlte Rechnung, so steckte ich ihn – um mir die letzten Momente in der Garnison nicht zu verbittern – ungelesen zu mir und öffnete ihn erst während des Marsches auf unserem ersten Rendezvous. Wer aber beschreibt mein Erstaunen, als ich statt der Klagen eines durch den Ausmarsch der Truppen hart betroffenen Kaufmanns jenen vielfach ersehnten und oft gesuchten Brief entdeckte, den mir irgend ein für meine Erhaltung besorgtes Wesen in liebevollem Aberglauben zugesendet haben mochte. Ich gebe hier wortgetreu einen Theil seines unglaublich albernen Inhaltes wieder.

Die Überschrift lautet: „Ein Brief aus Holstein gesandt.“ Rechts daneben steht gewissermaßen als Motto:

„Der Glaube muß dabei sein,
Der Brief thut’s nicht allein.“

„Dieser Brief ist vom Himmel gesandt und in Holstein gefunden worden Anno 1579. Er war mit goldenen Buchstaben geschrieben und schwebte über dem Taufbecken zu Rudnau. Sowie man ihn ergreifen wollte, wich er zurück, bis 1591, wo Jemand den Gedanken faßte, ihn abzuschreiben und der Welt mitzutheilen. Zu diesem richtete sich der Brief und stand. Wenn Einem die Nase blutet oder er sonst einen blutigen Schaden hat und das Blut nicht stillen kann, der nehme diesen Brief und lege ihn darauf. Wer dies nicht glauben will, der schreibe diese Buchstaben: H. K. J. L. F. auf einen Degen oder auf die Seite des Gewehrs und stecke es auf einen Platz, so wird man ihn nicht verwunden können. Wer diesen Brief bei sich trägt, der kann nicht bezaubert werden, und seine Feinde können ihm keinen Schaden zufügen. Das sind die heiligen fünf Wunden Christi: H. G. L. G. K., und Du bist sicher, daß Dir kein falsches Urtheil geschehen kann. Wer sonst diesen Brief bei sich trägt, dem kann kein Blitz, kein Donner, kein Feuer oder Wasser Schaden thun. Und wenn eine Frau gebiert, und die Geburt nicht von ihr will, so gebe man ihr diesen Brief in die Hand und so wird sie gebären, und das Kind wird glücklich werden. – – – Wer diesen Segen gegen den Feind bei sich hat, der wird vor Gewehr und Geschütz bewahrt bleiben. Wer dieses nicht glauben will, schreibe es ab, hänge es einem Hunde an den Hals und schieße nach demselben, so werdet ihr sehen, daß es wahr ist (!!!). Wer diesen Brief bei sich hat, wird nicht gefangen, noch durch Feindes Waffe verletzt werden, so wahr es ist, daß Christus geboren und gen Himmel gefahren ist, so wahr er auf Erden gewandelt ist. Alles soll unbeschädigt bleiben. Ich beschwöre alle Gewehre und Waffen bei dem lebendigen Gotte im Namen † Gottes des Vaters † und des Sohnes † und des heiligen Geistes. – –

Gott mit uns.“

Dies und noch vieler andere Unsinn steht in dem „Briefe“.

Man sollte es gar nicht glauben, daß unzählige deutsche Männer an so Etwas glauben und sich wirklich für unverwundbar halten, wenn sie Derartiges bei sich tragen. Und dennoch habe ich von diesem Briefe nicht nur in den verschiedensten preußischen Provinzen sprechen hören, sondern ihn auch, während des noch andauernden Feldzuges, wörtlich in der Rheinpfalz gefunden. Es war in dem anmuthigen Städtchen Annweiler, in der liebenswürdigen Familie des Steuereinnehmers Herrn Rupertus, wo mir eine seiner Töchter ein Exemplar dieses Briefes als Curiosum zeigte. Irgend Jemand hatte dasselbe ihrem gegen Frankreich ziehenden Bruder als Universalmittel gegen Chassepots und Mitrailleusen mitgeben wollen.

Neben diesem so weit verbreiteten Aberglauben findet man auch noch so manchen andern; wobei es sich natürlich immer nur um das „kugelfest“ machen dreht. Was ich hierüber habe in Erfahrung bringen können, will ich noch in Kürze erwähnen.

Es ist ein vielfach verbreiteter Glaube unter den Soldaten, man müsse, ehe man in’s Gefecht geht, „drei“ Gegenstände von sich werfen. In Folge dessen sehen denn auch die Rendezvousplätze der Truppen nach dem Abmarsche oft verwunderlich genug aus. Sie sind bedeckt mit allem Möglichen, was der Soldat etwa entbehren kann: kleine Spiegel, Knöpfe, Knopfgabeln, Bürsten etc. liegen überall umher. Ganz besonders sind es Spielkarten, deren sich der Soldat gern auf diese Weise vor der Schlacht entäußert, da er annimmt, sie seien ein Werk des Teufels und „zögen die Kugeln an“. Deshalb findet man jene am allerhäufigsten unter den weggeworfenen Gegenständen. Besonders habe ich dies im Jahre 1866 in Oesterreich bemerkt, wo man die weggeworfenen Karten auf den verlassenen Bivouacsplätzen oftmals massenweise finden konnte. – Auf Camphausen’schen Gefechtsbildern kann man diese Wahrnehmung bisweilen angedeutet finden. – Auch Geld soll, aber in anderer, für den Besitzer heilbringender Weise „die Kugeln anziehen“. Deshalb sucht sich jeder Mann womöglich einige harte Thaler einzuwechseln, um sie in die verschiedenen Taschen zu vertheilen, weil er glaubt, die Kugeln werden ihn nunmehr nicht verwunden, sondern sich die Münzen als Ziel aussuchen und daselbst platt schlagen.

Man könnte nun fragen, ob es nicht Sache des Officiers sei, solchem Aberglauben zu steuern oder ihn sogar gänzlich auszurotten. Allerdings muß ich diese Frage bejahen; aber ich glaube nur, daß der Krieg selbst dazu nicht die geeignetste Zeit ist. Im Kriege ist der Soldat eine Maschine, die mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften arbeiten muß, gleichviel, woher sie dieselben nimmt. Der Schwache, der des Aberglaubens benöthigt ist, mag ihn zunächst behalten, wenn er nur hierdurch zu einem höchsten Kraftaufwande befähigt wird. Vielleicht aber dienen diese Andeutungen dazu, daß Ihnen auch von anderer Seite Beobachtungen und Erfahrungen auf diesem nicht nur dem Culturhistoriker interessanten Gebiete mitgetheilt werden.


Aus den ersten Tagen des Krieges bringen wir nachträglich noch eine Illustration des Professor Thumann, welcher uns dazu schreibt: „Am Tage nach der Einnahme von Weißenburg kam ich auf der Besichtigung des Gefechtsterrains nach dem südlich der Stadt gelegenen Bahnhofe, der wie sämmtliche vom deutschen Thore her vor der Mauer gelegenen Gärten die Spuren des erbittertsten Handgemenges trug. Der Kampf hatte hier besonders gewüthet und die Zerstörung sämmtlicher Räume herbeigeführt. Jetzt war der Bahnhof belebt von Gefangenen, Verwundeten, die auf Beförderung warteten, Aerzten und Krankenpflegern, und in diesem Chaos spielte eine kurze ergreifende Gerichtsscene.

In einem der Gepäckräume saßen gut bewacht drei Gefangene, ein französischer Soldat und zwei Civilisten, von denen die zuletzt genannten lebhaft mit unseren Soldaten verhandelten. Ein dazukommender Johanniter v. P. bedeutete letztere, ihre cameradschaftlichen Gefühle gefangenen Soldaten, nicht aber zwei so Elenden, wie diese hier, die trotz ihrer deutschen Sprache sich an unsern Verwundeten vergriffen hätten, zuzuwenden. Unsere Soldaten zogen sich scheu von den beiden Verbrechern zurück, und ich vernahm nun, daß die beiden Männer angeschuldigt waren, aus Fanatismus einen verwundeten hülflosen Baier auf dem Schlachtfelde mit Gewehr und Sichel ermordet zu haben. Kurz darauf erschienen zwei baierische Officiere und stellten mit kurzen Fragen die Persönlichkeiten der beiden Verbrecher, des Bürgermeisters aus Riedselz (Namen habe ich nicht behalten) und seines Sohnes, fest. Die Antworten, welche die Angeklagten gaben, waren kaum zu vernehmen; eine Krankenpflegerin aber, welche die Unthat auf dem Schlachtfelde mit angesehen und auch die Gefangennahme der beiden Männer veranlaßt hatte, bezeichnete sie mit aller Bestimmtheit als die Mörder. Damit war die Verhandlung geschlossen; den weiteren Verlauf wartete ich nicht ab; wenige Tage darauf aber war in allen Blättern zu lesen, daß der Bürgermeister aus Riedselz mit seinem Sohne wegen Ermordung eines verwundeten baierischen Jägern erschossen worden sei.“


Die deutschen Kinder haben ihre Sache brav gemacht: sie haben ihre Christbescheerung für arme deutsche Kinder des Krieges dies- und jenseits den Rheins, im Verhältnis zur beschränkten Zeit, mit glücklichem Eifer ausgeführt. Weit über zweitausend Thaler sandten sie in wenigen Wochen an die Redaction der Gartenlaube und gegen siebenzig und darunter centnerschwere Waarensendungen halfen mit ihrem reichen Inhalte auf das Mannigfaltigste die Bescheerungstafel schmücken. In den vielen kindlichen Zuschriften an den „Onkel Keil“ oder an den Herrn Dr. Fr. Hofmann spricht sich die Ehrfurcht und die Dankbarkeit gegen die Helden des Krieges ebenso warm aus, wie die echt deutsche Schwärmerei für Straßburg, „die wunderschöne Stadt,“ und das ganze alte Reichsland, das ihre Alten auch nie vergessen konnten, und sogar mit Verschen werden die neuen Cameraden begrüßt, aus Weimar, Ilmenau, Römhild etc. Im Ganzen vereinigen sich all’ die frischen Stimmchen in dem Wunsche und Gruße des kleinen sechsjährigen Hänschen H. in Apolda, der da lautet:

„Auch über’m Rhein schlägt Lieb’ für Euch,
Drum tretet gern zum deutschen Reich!
Denn seht, wie gut zum heil’gen Christ
Noch Eure alte Mutter ist!“

Es werden nicht wenige Gaben für eine Christbescheerung zu spät kommen; sollten diese dann nicht für die armen Angehörigen unserer Ausmarschierten als Unterstützung verwendet werden dürfen? –


Die Europa, einstens von August Lewald, dann von Gustav Kühne und jetzt von Friedrich Steger redigirt, verfolgt die Tendenz, ihre Leser mit allen bedeutsamen culturgeschichtlichen Bestrebungen der Gegenwart und mit den wichtigsten Erscheinungen der deutschen und fremden Literatur bekannt zu machen, fort und fort in der anerkennenswerthesten Weise. Unmittelbar aus dem reichen geistigen Leben schöpfend, widmet die genannte Wochenschrift dem Neuesten, was sich auf dem Gebiete des Schönen und Interessanten darbietet, ausführlichere und den Zweck der Unterhaltung voranstellende Schilderungen. Im Hauptblatte führt sie die besten neu erscheinenden Werke vor, jedoch mit Ausschluß der gelehrt wissenschaftlichen, und empfiehlt dieselben durch Mittheilung eines besonders interessanten Abschnittes, oder durch eine auf ihren Hauptinhalt eingehende Darstellung. Im Beiblatte giebt sie eine Wochenchronik, welche keine neue anerkennenswerthe Leistung in den Fächern der Literatur, Musik, bildenden Kunst und Theaterwelt unbeachtet läßt. Diese Chronik erhält die Leser in steter Bekanntschaft mit der geistigen Thätigkeit Deutschlands und des Auslandes auf allen den Feldern, die für jeden Gebildeten vom höchsten Interesse sind, und hat bekanntlich überall, namentlich in allen Kreisen, welche sich für Literatur und Kunst interessiren, großen Anklang gefunden.


Ein Sohn sucht seine Eltern. Obwohl die kriegerische Zeit uns noch nicht gestattet, die Rubrik der Vermißten wieder in ihrem ganzen Umfange zu eröffnen, so lassen wir doch einzelne Ausnahmen gelten, und darauf hat gewiß jetzt Niemand mehr Anspruch, als unsere Soldaten im Felde. Ein solcher ist’s, der uns folgenden Aufruf zum Abdruck zusendet:

„Der Schauspieler Rudolph Wilhelm Retty, augenblicklich im Felde und beim Regiment Nr. 77, 12. Compagnie, 7. Armeecorps, wünscht hierdurch seine Angehörigen, über deren Verbleib er seit zwei Jahren nichts erfahren, in den Stand zu setzen, ihm solche Kenntniß zukommen zu lassen.“

Möge dem Mann im Feld diese Freude bereitet werden!



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir freuen uns, an dieser Stelle mittheilen zu können, daß wir schon in einer der nächsten Nummern unseres Blattes in der Lage sein werden, einen Originalartikel aus der Feder dieses weitbekannten Naturforschers und Reisenden zu bringen. D. Red. 
  2. Siehe Abbildung der letzten Nummer des vorigen Jahrganges.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Adien
  2. Vorlage: A. Hartmann
  3. Vorlage: Unteroffizier, vergl. Berichtigung