Die Gartenlaube (1870)/Heft 6
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No. 6. | 1870. |
(Fortsetzung.)
Erregt und erhitzt wie Adelheid war, hatte sie alle Herrschaft über sich selbst verloren und zum ersten Mal, seit Alfred das Licht der Welt erblickt hatte, sah er seine Mutter in solcher Wuth gegen sich. Sie zog ihn durch die Hinterthür in das Haus, um Niemandem zu begegnen und führte ihn in sein Zimmer. Dort warf sie sich auf einen Stuhl und brach in Thränen des Unmuths aus.
„Mütterchen was hab’ ich Dir gethan?“ fragte Alfred erschrocken, „weinst Du um mich?“
„Das fragst Du noch?“ rief die schöne Frau. „Du hast mich hingestellt vor den fremden Leuten, als wäre ich eine Rabenmutter, als erzöge ich Dich zum Menschenfeind und gönnte Dir keinen Umgang. Für wie beschränkt und hochmüthig müssen mich diese Leute halten, wie tief hast Du mich gedemüthigt vor Menschen, denen es ein Vergnügen ist, an Höherstehenden eine Schwäche, einen Makel zu entdecken, der diese wenigstens moralisch unter sie stellt! Und das von meinem eigenen Kinde, dem ich jede Stunde meines Lebens, jeden Wunsch meines Herzens opfere, an dessen Pflege ich meine besten Kräfte setze, dessen Gebrechlichkeit mich tausend Mal mehr leiden läßt als andere Mütter, dessen krankhafte Stimmungen ich mit unerschöpflicher Geduld ertragen muß und das mir nicht einmal mit dem Einzigen lohnte, womit ein Kind lohnen kann, mit Gehorsam!“
Alfred stürzte vor der Mutter auf die Kniee und legte das Gesicht in ihren Schooß, soweit es der grüne Augenschirm gestattete. „O Mutter, ich habe keine Minute vergessen, was Du für mich thust, und es brennt mich wie Feuer auf der Seele, daß Du so viel Plage mit mir hast, aber Du denkst nur daran, was Du leidest durch meine Kränklichkeit und welche Geduld Du mit meinen Gebrechen haben mußt – o, denke auch an das, was ich leide und, und an die Geduld, die ich haben muß, und Du wirst mir verzeihen. Aber ich will ja alle Prüfungen und Entsagungen, die mir mein kranker Körper auferlegt, gerne tragen, ich will Hunger und Durst erleiden, ich will meine schwere Maschine am Beine herumschleppen, ich will Alles ertragen – nur Eines: warum Ihr diese Prüfungen noch erhöhen müßt, warum Ihr mir noch mehr versagen müßt, als mir schon versagt ist, das, Mutter, das kann ich nicht einsehen!“
„Was denn, was versagen wir Dir denn?“ rief Adelheid, die ihn durchaus nicht zu verstehen schien.
„Was, Mutter? Alles! Geradezu alles! Das Licht beschränkt Ihr mir durch den grünen Augenschirm, Gottes freie frische Luft durch beständigen Zimmerarrest, und nun wollt Ihr mir noch schmälern, was so frei, so unermeßlich ist wie die Luft, die uns umgiebt, und so schön, wie das Licht der Sonne – die Liebe, den Glauben an die Menschen. Ich weiß jetzt Alles, denn ich habe heute Nachmittag, während Du Dich anzogst, und ich Dich auf der Bank vor dem Salonfenster erwarten mußte, ein Gespräch von Tante Wika mit dem Vater angehört, das mir die ganze Abscheulichkeit Eurer Grundsätze zeigte. Eben als sie von Dir zu reden anfing, mußte ich weg, weil ich, mit Dir Hösli’s zu besuchen, gerufen wurde. Aber ich weiß es nun: wie mein Bein, so wollt Ihr auch mein Herz einschnüren und wollt meine Liebe tödten. O, wenn Ihr mir kein besseres Dasein gewähren könnt, so laßt mich lieber sterben.“ Er brach in ein lautes verzweiflungsvolles Schluchzen aus.
„Alfred, was ist Dir?“ fragte plötzlich die Stimme des Candidaten. „Entschuldigen Sie, gnädige Frau, die Besorgniß um Alfred, dessen Schluchzen ich hörte, trieb mich herein.“
„Herr Feldheim – o mein – mein lieber Herr Feldheim!“ schrie Alfred auf und warf sich wie Schutz suchend an seine Brust.
„Herr Feldheim,“ rief Adelheid händeringend, „können Sie mir erklären, welche Veränderung mit meinem Sohne vorgegangen ist.“
„Wenn das Maß voll ist, läuft es eben über,“ sagte der Candidat finster und drückte Alfred’s Kopf zärtlich an sich. „Ich habe das längst kommen sehen. Der Knabe steht im vierzehnten Jahre und wie weit er auch körperlich zurückgeblieben – geistig ist er seinem Alter um so weiter vorausgeeilt, wie jedes kränkliche Kind, das zu beständigem Stillesitzen und Nachdenken verurtheilt und immer unter Erwachsenen ist; er mußte sich endlich der Unerträglichkeit seines Zustandes bewußt werden. Ich habe Sie mehrfach darauf aufmerksam gemacht. Sie wollten mir nicht glauben.“
„Mein Gott – Sie fordern stets das Unmögliche für Alfred – und lehren ihn das Unmögliche fordern. Sie setzen ihm Abhärtungstheorieen und Freiheitsideen in den Kopf, die den Knaben zum Widerstand aufreizen. Nicht wir sind es, die ihm sein Leben unerträglich machen, sondern Sie, Sie, Herr Candidat, der Sie ihm eine der unsern entgegengesetzte Richtung geben, der Sie, selbst ein Abtrünniger, Ihre Freude daran finden, auch Andere abtrünnig zu machen und zwar nicht nur einer großen Idee – [82] sondern auch den leiblichen Eltern! Sehen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, der Vorwurf fällt auf Ihr Haupt zurück, auf Ihres allein!“
Der Candidat sah sie an, lange, tief, unaussprechlich traurig. Es nachtete in seinen dunkeln Augen, als ginge seine Lebenssonne unter. Still, unbeweglich stand er vor ihr, den Knaben im Arm, kein Athemzug hob seine Brust, er war ruhig, ruhig wie ein Fels, dessen schroffe Umrisse kahl und starr in die sternenlose Nacht hineinragen. – Eine lange Minute zog so über Alfred’s Haupt hin. Endlich öffneten sich die Lippen des Candidaten und er sprach mit leiser Stimme: „Ich will es nicht versuchen, mich zu vertheidigen. Noch weniger steht es mir zu, Sie den Schmerz ahnen zu lassen, den ich bei Ihren Worten empfunden habe. Beides betrifft nur mich und hat kein Recht auf Ihr Interesse. Wegen Ihres Sohnes aber erlaube ich mir zu bemerken: Es giebt einen adeligen Verband, einen unsichtbaren, dessen Mitglieder nur diejenigen werden können, welche die höchsten Eigenschaften des Geistes und Herzens besitzen und entfaltet haben – zur Aufnahme in diesen Verband wollte ich Ihren Sohn erziehen – nicht ihn dem Gemeinen nahe bringen. Ich bekenne gern, Ihre Freundlichkeit, Ihre Empfänglichkeit für so manches, was ich Ihnen mittheilen durfte, hat mich geblendet und mich hoffen lassen, daß ich Ihnen auf dem eingeschlagenen Wege Ihren Sohn zuführe, statt ihn Ihnen abwendig zu machen. Sie haben mich eines Besseren belehrt und gern würde ich sagen, ich gebe Ihnen Ihren Sohn zurück – wenn ein Mensch in den Jahren einer gewissen Zurechnungsfähigkeit gegeben und genommen werden könnte wie eine Sache, an der nichts verändert worden ist. Ich kann Alfred jetzt nicht mehr glauben machen, daß ich ihn Unwahres gelehrt, und wenn ich’s könnte, so thäte ich es nicht. Ich kann Ihren Sohn verlassen, aber ihn Ihnen wiedergeben, wie ich ihn empfing, und so, wie Sie ihn wollen – das steht nicht in meiner Macht.“
„Verlassen,“ schrie Alfred auf, „Sie mich verlassen? Was hab’ ich Ihnen gethan, Herr Candidat, daß Sie mich so schwer strafen wollen? O Mutter, wenn Du mich als Dein Kind liebst, wenn Du nicht willst, daß ich umkommen soll vor Heimweh, Herzeleid, so laß mir meinen Lehrer!“ Er riß sich von dem Candidaten los und fiel vor seiner Mutter auf die Kniee. Athemlos, fast erstickt von Angst stieß er diese Worte hervor und es lag eine unwiderstehliche Macht in seinem kindlichen Flehen. Des Candidaten Brust hob sich schwer, eine tiefe Bewegung schien sich seiner zu bemächtigen. Adelheid hatte lange stumm und starr dagestanden, jetzt schlug sie beide Hände vor das Gesicht und sie waren von Thränen naß, als Alfred sie herabzog und mit Küssen bedeckte. Sie trat einen Schritt dem Candidaten entgegen und streckte ihm die Hand hin: „Um dieses Kindes willen,“ begann sie, aber die Stimme versagte ihr.
Der Candidat hatte sie dennoch verstanden. Er nahm ihre dargebotene Rechte in die seine: „Um des Kindes willen!“ wiederholte er ernst.
Es war stille im Zimmer, man hörte nichts als Alfred’s leises Schluchzen, der noch immer seiner Mutter Kniee umfaßt hielt.
Sie hob ihn auf und drückte ihn an ihr Herz: „Gott möge mich erleuchten und mich immer würdiger machen, einen solchen Sohn zu erziehen. O mein Gott – ich fühle ja, wie wenig ich es noch bin,“ rief sie plötzlich wie zusammenbrechend unter der Last eines großen Schuldbewußtseins, und als fürchte sie sich, noch mehr zu sagen, eilte sie aus dem Zimmer.
„Was ist das?“ murmelte der Candidat unwillkürlich vor sich hin und sein dunkler Blick folgte der schönen Gestalt, bis sich die Thür hinter ihr schloß.
Nun waren die Beiden allein und tiefathmend warf sich Alfred an seines Lehrers Brust: „Ach, Herr Feldheim, lassen Sie mich ausruhen – so – so!“ Er schmiegte sich in Feldheim’s Arm und sah innig zu ihm auf: „Sehen Sie mich an, lieber Herr Feldheim! Was ist Ihnen? Sie haben etwas, es thut Ihnen etwas wehe! Sagen Sie, was ist’s? Ihr Herz hämmert lauter als sonst, ich kenne seinen Schlag.“ Alfred betrachtete ihn einige Augenblicke und fuhr dann fort: „Wissen Sie, Herr Feldheim,“ sagte er, „jetzt begreife ich auf einmal, was hier zu Hause immer so schwer auf mir liegt: es ist, daß ich Niemand von Euch Allen glücklich sehe. Sie glauben gar nicht, wie weh mir das thut! Ich meine ordentlich, es sei mir deshalb oft so eng und bang und meine Brust sei nur deshalb so schmal, weil sie zusammengeschnürt wird durch ein erstickendes Band von Angst und Sorge. Aennchen hat einmal so gelacht, daß ihr die Haften des Kleides sprangen; nun meine ich, das schreckliche Band müsse auch zerreißen, wenn ich einmal so recht aus vollem Halse lachen könnte, aber das wird wohl nie vorkommen!“
Der Candidat sah betroffen den Knaben an, der wie eine verdurstende Blume das Haupt hängen ließ. „Das ist ein schwerer Vorwurf, den Du uns Allen da machst, ohne es zu wissen, mein theures Kind! Und doch danke ich Gott, daß Du mich noch zu rechter Zeit an eine Pflicht mahnst, die ich nur zu lange versäumt. Wohl hast Du Recht.“
Alfred liebkoste seinen Lehrer und blickte wehmüthig auf den rothen Strahl, der die grüne Tapete erleuchtete: „Jetzt geht die Sonne unter. Gewiß haben wir heute Alpenglühen – wie schön muß das sein! Wenn nur mein Zimmer nach dem See zu läge, da könnt’ ich’s sehen – aber in die Vorderstube mag ich jetzt nicht, ich will den Tanten nicht begegnen. Wer jetzt hinaus dürfte an den Strand und hineinschauen in die Herrlichkeit und hören, wie die Wellen murmeln und sich zausen lassen vom Abendwind! Jetzt setzt sich Aennchen gewiß in einen Kahn und ihre Brüder rudern sie in den See hinaus, und dann geht der Mond auf und streut einen silbernen Weg über das Wasser und sie fahren darüber hin und her und singen ihre heiteren Lieder in den milden Glanz hinein. Sie sehen gewiß nicht all’ das Schöne, das da ist, vor lauter Lustigkeit. O, wenn ich dabei wäre, ich wollte stille sein, ganz stille und nur schauen und horchen. Was würde ich da wohl Alles hören und was Alles sehen!“ Er holte tief Athem und seine traurigen Augen starrten geisterhaft in die Dämmerung hinein.
Der Candidat hatte ihm schweigend zugehört, jetzt nahm er den Knaben in die Arme und sagte mit einer liebevollen Wehmuth: „Das, was Du da draußen sehen und hören würdest, mein Kind, trägst Du in Dir – die Poesie! Wer sie nicht im Busen hegt, der wird offenen Auges mitten durch die Schönheiten dieser Erde hindurchgehen und sie dennoch nicht sehen. Du aber, Du malst Dir in den engen Raum Deines Zimmers Berge und See – der zitternde Abendstrahl, der dort an der Wand spielt, weckt Dir das Entzücken eines Sonnenuntergangs. Wie aber, wenn draußen der Erde ein Dunst, ein Rauch entstiegen wäre? Er hätte Dir den Genuß, nach dem Du Dich sehnst, getrübt – den Sonnenuntergang, den Du in Deiner Phantasie erlebt, konnte er Dir nicht trüben, siehe, das ist der Ersatz, den Dir Gott gab für alle Entbehrungen, die er Dir auferlegt – das sind die Rosen, mit denen er Dir das Kreuz umwunden, das er Dich tragen läßt.“
„Ja, ja – o ja!“ rief Alfred begeistert und breitete die Arme aus, „ich verstehe, was Sie meinen, und ich will mein Kreuz tragen, soweit meine Kräfte reichen. Welch große Helden sind unter dem Kreuz erstanden, welche große Thaten unter ihm vollbracht worden, auch ich will unter dem Kreuze gehen! O Herr Feldheim, Sie haben mir die Geschichte der Kreuzritter gelehrt, die in alle Welt auszogen, das Christenthum mit dem Schwerte einzupflanzen, und wie dieser Orden allmählich einging und zusammenschmolz auf das kleine Häuflein der Johanniter, die sich damit begnügen, das, was ihre Vorfahren mit Schwert und Blut gepflanzt, friedlich zu pflegen und weiter zu bauen. Und wissen Sie, Herr Feldheim, als neulich unser Vetter, Graf Schorn, der Johanniter, von seiner Urlaubsreise in den Orient zurückkam und uns hier besuchte – Sie waren damals gerade auf dem Rigi – da faßte ich den Entschluß, auch ein Johanniter zu werden.“
„Und wie kam das?“ fragte Feldheim überrascht.
„Der Vetter hat so schön erzählt von allem Guten, was die Ritter thun, wie sie Kranke pflegen und Spitäler errichten, wie sie überall da sind, wo es gilt, einem Bedrängten beizustehen, und wie doch noch lange nicht genug Hände seien für all’ das Elend. Da dachte ich, ich könne doch vielleicht auch mit helfen, wenn ich groß bin, und Schöneres könne doch kein Mensch auf Erden thun, als Schmerzen und Noth lindern – ach, ich weiß ja, wie Schmerzen thun!“
Der Candidat schwieg erstaunt über diese Pläne Alfred’s, die ihm bisher ganz fremd geblieben waren. Dieser aber fuhr mit fieberhafter Redseligkeit fort, wie sie nervösen Kindern eigen ist, die einmal in’s Reden kommen: „Ich will Ihnen noch etwas erzählen, Herr Candidat, wollen Sie es hören?“
„Ja, mein Kind!“ Der Candidat legte seine Hand auf das [83] Haupt des Knaben, dessen Mienen etwas Seherhaftes angenommen hatten. Es dunkelte bereits und unwillkürlich zog es die Beiden dem letzten Abendschimmer nach an das Fenster. Dort setzten sie sich einander gegenüber und Alfred schaute verklärten Blickes hinaus in die dämmernde Nacht.
„Graf Schorn brachte mir auch ein Stück von dem Dattelbrod mit, das die Mönche am Sinai backen – o Herr Feldheim, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was ich da gefühlt. Ich sah das stille Kloster an dem öden baumlosen sonnverbrannten Abhang und über ihm den steilen kahlen Gipfel in ewige Wolken gehüllt, als könne die Stätte, auf der das Feuer des Herrn gebrannt, nimmer aufhören zu rauchen. Ich sah in dem Kloster die Mönche, die stillen, darbenden, durstenden Mönche, die einsamen! Ich sah sie das Brod backen aus den Früchten, die sie mühsam dem dürren Boden abgewonnen, ich sah sie es austheilen mit milder Hand an die Armen und Elenden des schmachtenden Landes. Und dann sah ich sie mit den bloßen Füßen durch den glühenden Sand schreiten zu den sterbenden Opfern der furchtbaren Seuchen dieser Gegend, um ihnen den letzten Trost zu bringen, und, sehen Sie, Herr Candidat, da habe ich mich gefragt, was haben nun diese Menschen für ihr entsagungsvolles Dasein? was zieht sie dahin, den vergessenen armen Bewohnern dieses verödeten Landes den Segen des Christenthums zu bringen, und läßt sie sich anbauen an dem unwirthlichen Rücken des Sinai in der ewigen Stille, als wollten sie jetzt noch den Nachhall von Gottes Stimme hören über Tausende von Jahren hinaus? Und ich konnte mir auf alle diese Fragen nur antworten: ‚Die Liebe! Die Liebe zu Gott und zu den Menschen. Sie ist ihr Antrieb und ihr Lohn! Welch eine Liebe muß das sein!‘“ Der Knabe faltete die Hände: „Und da, da kam es über mich wie ein unaussprechliches Glück, daß es solche Liebe gäbe in der Welt und daß ich sie in meinem Herzen nachempfinden kann. Und sehen Sie, Herr Candidat, in dem Augenblick versprach ich dem lieben Gott, Johanniter zu werden.“
Der Candidat breitete die Arme aus und zog Alfred an seine Brust: „Alfred, mein Alfred,“ rief er und preßte seine Lippen auf des Knaben Mund. „Das ist nicht die Frömmigkeit eines Kindes – das ist die Frömmigkeit eines Dichters! Sei getrost, schmerzgeprüftes Kind – Du wirst überwinden, Alles, Alles – Deine Leiden, Deine Feinde, Dich selbst!“
Es tagte bereits, als Adelheid in ihrem Zimmer noch am Schreibtisch saß und einen eben vollendeten Brief überlas, um nachträglich die Komma’s hineinzumachen, die sie in der Hast, mit der sie geschrieben, vergessen hatte.
Der Brief lautete:
„Mein Egon!
Du wirst mir wieder zürnen und dennoch mit Unrecht. Ich habe heute einen letzten Versuch gemacht, den Candidaten zu entfernen, er ist gescheitert an dem Widerstande meines Sohnes. Ach
verzeih’, verzeih’, daß ich Dir um seinetwillen einen Wunsch abschlage! Er gerieth so außer sich, als er von der Trennung von
seinem Lehrer hörte, daß ich es nicht über das Herz bringen konnte,
weiter in dieser Sache zu gehen. Dies unglückliche Kind hat ja
so wenig vom Leben, soll ich ihm das Wenige, worin es sich glücklich fühlt, noch nehmen? Nein! Ich habe ohnehin nie genug
gethan, um mich dieses Kindes würdig zu zeigen, das eine so
große, so engelgleiche Seele in seinem Körper birgt! Ich habe
meine Pflichten gegen den Knaben stets nur mit halbem Herzen
erfüllt und mußte zu meinem Schrecken heute erkennen, daß er es
empfunden und daß es ihn geschmerzt hat. Du weißt nicht, Egon,
und meine Feder ist zu schwach, es Dir zu schildern, was es heißt,
wenn ein Kindesauge sich vorwurfsvoll auf uns richtet und wir
im Innersten fühlen, daß es Recht hat! O, solch’ ein Kind ist
unser lebendig gewordenes Gewissen! Vor Keinem meiner Umgebung demüthige ich mich. Ich habe an Keinem von ihnen ein
Unrecht begangen. Die Tanten ertrage ich mit übermenschlicher
Geduld, meinem – o daß ich ihn so nennen muß – Gatten habe
ich den einzigen Zweck erfüllt, um dessen willen er mich zur Frau
nahm: ich gab ihm einen Sohn, und was ich Dir gebe, mein
Herz, meine Liebe, raube ich ihm nicht, denn Du besaßest es vor
ihm, und er wußte, daß es nie sein werden könne. Aber vor
meinem Kinde schlage ich die Augen nieder, denn es hat ein
heiliges Anrecht an meine ganze Liebe, meine ungetheilte Aufmerksamkeit – und Du, Du heiß ersehnter Mann, machst ihm
dieses Anrecht streitig.
Es giebt Stunden, wo es über mich kommt wie eine Offenbarung, welch’ ein unermeßliches Glück mir in der Erziehung dieser wundervollen Kindesseele aufgehen könnte, aber das Mutterglück ist das einzige, das Keinem unverdient zu Theil werden kann, denn man kann es ja nur empfinden in der strengsten treusten Pflichterfüllung! Ich ahne dieses Glück, aber ich kann es nicht verdienen. Selbst während ich an Alfred’s Bette sitze, sind meine Gedanken bei Dir! Immer und immer wieder schweift mein Wünschen und Sehnen in namenloser verzehrender Qual über das Kind hinweg zu Dir, und wenn mich dann in solchen Stunden sein Blick trifft, und es so bekümmert fragt, warum ich immer traurig sei, nach einem Lächeln sucht, nach einem Lächeln der Mutter, und sich dann, wenn es ihm nicht geworden, geschlossenen Auges still und bleich in die Kissen zurücklegt – Egon, Egon, da wünschte ich oft, daß mich die Erde verschlänge! Da stürze ich vor dem Bette auf die Kniee und der Gedanke zerfleischt mich: wenn das Kind einmal so die Augen schlösse, um sie nie wieder aufzuthun, und ich hätte ihm das letzte Lächeln der Mutterliebe versagt, weil mir das Verlangen nach dem Kuß des Geliebten die Lippen zusammenpreßte! Dürfte ich mit dem Brand dieses Verlangens auf den Lippen den erkaltenden Mund der Leiche meines Kindes berühren?
Ach Egon, theurer, treuer, geduldiger Mann, der Du meiner harrst seit fünfzehn Jahren – vergieb, vergieb, daß ich es sage: in solchen Stunden da grolle ich Dir, daß Du je in mein Leben tratest mit Deiner unwiderstehlichen Liebesgewalt, daß Du mir eine Leidenschaft eingeflößt, die mir das einzige Glück, dessen ich mich ohne Vorwurf erfreuen könnte, werthlos macht. O mein Gott, nicht nur vor meinem Sohne muß ich erröthen, auch vor dem Manne, dem ich die Leitung seiner Erziehung anvertraut und der mich täglich beschämt durch eine Hingebung an den Knaben, die mir, der Mutter, besser anstünde als ihm, dem bezahlten Fremden! Ach, es sind furchtbare Augenblicke, Augenblicke, die meine ganze Jugendblüthe abstreifen, und Du solltest nichts verlangen, Egon, das diesen Zwiespalt noch auf’s Aeußerste treibt, es ist nicht wohlgethan! Denn so oft ich Alfred um Deinetwillen vernachlässige, liebe ich Dich weniger! So oft Dein Einfluß zwischen ihn und mich treten will, empfinde ich ihn als etwas Feindliches, als Etwas, das ich ausstoßen muß. Denn so eng verbunden ist doch nichts wie die Mutter mit dem Kinde. Und wenn Du und mein Kind mit einander in meinem Herzen ringen – da bleibt doch zuletzt das Kind Sieger, ob auch mein ganzes Herz in Stücke geht! Deshalb, Egon, fordere nicht mehr, daß ich den Mann entferne, der dem Knaben Das ersetzt, was ihm durch Dich an meiner Liebe abgebrochen wird, der es mir allein möglich macht, mich stunden- und tagelang ungestört dem Gedanken an Dich zu überlassen – was ich nimmer könnte, wenn ich Alfred nicht in so guten Händen wüßte! Wahrlich, Egon, Du handelst wider Dich selbst, wenn Du wider Feldheim handelst! Wüßte ich nur überhaupt, was Dich so eifersüchtig auf ihn werden ließ! Daß ich Dir, dem ich keinen Gedanken meiner Seele vorenthalte, meine Verehrung für den seltenen Mann aussprach, – sollte Dich nicht auf so unselige Gedanken gebracht haben! Hätte ich Etwas zu verbergen, so würde ich nicht mit so unbefangener Wärme von ihm reden. Laß dieses reine Bild in einer Seele, die ja ganz nur Dir gehört, unangefochten, – ich schwöre Dir“ – hier hielt Adelheid’s den Zeilen folgende Feder plötzlich inne – „Du hast keinen Grund, auf den Blick ernster Verehrung eifersüchtig zu sein, mit dem ich es betrachte, wie man ein Heiligenbild in der Kirche ansieht!“
Sie kam nicht über die Stelle weg, ihr Auge kehrte zu dem „ich schwöre Dir“ zurück und blieb darauf haften. Eine dunkle Blutwelle stieg ihr in das Gesicht, als habe sie sich auf einmal von Jemandem beobachtet gefunden; sie sah sich unwillkürlich um, aber sie war ganz allein. Sie hatte ohne Erröthen einen Brief geschrieben, in dem jede Zeile Ehebruch athmete; aber über den Gedanken eines Treubruchs an dem Geliebten erröthete sie. Es war ihrer verirrten und doch ursprünglich edeln Natur ein unbewußtes Bedürfniß, das widerrechtliche Verhältniß, in welchem sie stand, durch Treue zu adeln, sich vor der beleidigten Sittlichkeit durch die Macht einer großen unwiderstehlichen Leidenschaft zu entschuldigen. Sobald diese blinde, aus der ersten Jugend, wo sie [84] noch kein Unrecht war, in die Ehe herübergebrachte Leidenschaft so weit erkaltete, daß sie dem Gedanken an einen Andern Raum geben konnte, so wurde das Verhältniß, das durch jahrelanges Bestehen und tausend Schwüre ein unzerreißbares für sie geworden, einfach eine Gemeinheit. Instinctiv schauderte sie vor dieser kaum in die Form eines Gedankens gekleideten Ahnung zurück.
Nochmals überlas sie die Stelle; nein, sie konnte, sie durfte schwören; es war ein neckender Dämon der Nacht, der sie auch nur einen Augenblick daran zweifeln machte, und sie fügte im Gefühle des flüchtigen Unrechts, das sie an dem Geliebten begangen, eine Fluth erneuter Liebesbetheuerungen als Nachschrift hinzu. Aber sie schloß auch diese rasch ab; sie fand etwas Absichtliches, Gezwungenes darin; was brauchte sie eine Liebe erst zu betheuern, in der ja ihr ganzes Leben aufging? Sie hatte den Brief noch lange vor sich liegen und starrte sinnend darauf nieder. Ihr Haupt ruhte auf ihrer Hand und mechanisch entwirrte sie mit der andern die lockige Fülle ihres Haares. Endlich fiel blendend ein Strahl der Morgensonne durch die grauen Wolken auf das Papier; sie faltete es rasch zusammen; es war ihr unerträglich, diese Zeilen von dem Lichte der Sonne beschienen zu sehen. Sie siegelte und überschrieb den Brief: „Dem Grafen Egon von und zu Schorn, Ehrenritter des St. Johannisordens etc. etc. etc.“ Dann löschte sie das Licht, schloß den Brief ein und begann sich zu entkleiden, um sich noch ein paar Stunden auf ihr Bett zu legen. Sie trat dabei zufällig vor den Spiegel, und wie oft sie auch das schöne Bild, das ihr daraus entgegenschaute, schon gesehen, heute in ihrer Aufregung berührte es sie doppelt lebhaft.
Wie ein Strom geschmolzenen Goldes flossen ihre langen rothen Locken über ihre schneeigen Schultern nieder und blieben wie in eine schöne Form gegossen auf ihrer gewölbten Brust liegen. Sie hätte nie in ihrem Leben gelernt haben müssen, was die Schönheit eines Weibes ausmacht, um nicht von ihrem eigenen Anblicke entzückt zu sein. Und sie zog die ganze Fülle ihres Haares vom Hinterhaupte vor und wog seine Schwere in der Hand. Wie viele Millionen dieser weichen Fäden, kaum stärker als eine Faser ungesponnener Seide, gehörten dazu, um ein solches Gewicht zusammenzubringen? Um den Besitz dieser Haare würde eine Italienerin oder Französin jedes erdenkbare Opfer bringen, und was waren sie erst werth, da sie auf einem solchen Haupte wuchsen! Und diese großen und doch von den langen dichten Goldwimpern geheimnißvoll verschleierten Augen mit den üppigen leichtgeschwungenen Brauen, die in ihrer Fülle fast dunkel erschienen! Und die feine römische Linie des Profils! Sie drehte sich so weit seitwärts, als möglich war, um sich noch im Spiegel zu sehen; es genügte nicht, und sie nahm einen Handspiegel zu Hülfe, um sich damit im Profil zu betrachten. Warum sollte sie nicht, ganz allein, ganz unbelauscht, die eigene Schönheit bewundern, wie man wohl manchmal einen kostbaren Schmuck betrachtet, den zu tragen die Gelegenheit fehlt, und ihn dann wieder wegschließt, zufrieden in dem Bewußtsein, daß man ihn hätte, wenn je die Gelegenheit käme, wo man ihn brauchte. Wenn sie in einer Gemäldegallerie einem Bilde wie das, was sie im Spiegel sah, begegnet, so wäre sie stehen geblieben und hätte es staunend betrachtet, und nun sollte sie sich nicht doppelt dessen freuen, da es ihr eigenes Antlitz war? Und sie berauschte sich mehr und mehr im Gedanken an alle die Triumphe, die sie feiern konnte, wenn sie gewollt hätte. Wäre sie in Paris geboren, sie hätte nicht nöthig gehabt, einen alten verwitterten Mann zu heirathen, um ihren Vater vor dem pecuniären Untergange zu retten, sie hätte sicher eine große glänzende Partie gemacht, sie wäre der Mittelpunkt eines Kreises von Menschen geworden, die sich an ihrem Reize bewundernd gelabt hätten, sie wäre als die schönste Frau Frankreichs anerkannt worden! Welch ein kaiserlicher Titel, die schönste Frau eines Landes zu heißen!
Sie strich mit den zarten Fingern die Locken zurück und warf das Haupt nach hinten über, daß sich die weiße Stirn scharf auszeichnete. Ja, das war ein Kopf, bestimmt, ein Diadem zu tragen. Ach, sie besaß keins. Doch! Sie öffnete ihre Schatulle und zog ein diamantenes Halsband hervor, ein altes Familienerbe der Salten. Sie band es statt um den Hals – ein solcher Hals bedurfte keines Schmuckes, es wäre zu schade um jedes Grübchen, das er bedeckte – um den Kopf an Stelle eines Diadems. Die immer mächtiger vordringende Morgensonne, die sich hier noch nie anders als in flüssigen, schnell zerrinnenden Diamanten gespiegelt hatte, sah ihre Strahlen verwundert von dem unlöslichen Wasser dieser Steine abprallen und hundertfach zersplittert einen Regenbogenkranz um das stolze Haupt flechten, das sie nicht um ihren Glanz zu beneiden brauchte. – Wie schön war dieses Haupt in dem geheimnißvollen Durcheinanderweben von Gold- und Juwelenschimmer! Alles leuchtete und flimmerte in dem grellen Morgenscheine, die Brillanten, die Haare, die Augen, eine Glorie hüllte Adelheid ein. O, wenn sie wollte, sie konnte noch jetzt Alles bezaubern, die Freiin von Salten-Hermersdorff konnte noch jetzt eine Rolle an jedem Hofe der Welt spielen. Die Schönheit hatte doch auch ihr Recht, wozu war sie schön, wozu diese strahlende Herrlichkeit? Sie wollte – nein, sie wollte nicht genießen; es jammerte sie nur, daß die Fülle von beglückender Kraft, die in dieser Schönheit lag, ungenossen untergehen sollte. Das Kunstwerk des Menschen darf bewundert werden in öffentlicher Schaustellung und Tausende von Augen entzücken, – aber das Kunstwerk der Natur, das höchste aller Meisterwerke, das soll Einem allein gehören, und wenn dieser es absperren will von der Welt, so muß es ungesehen verwelken und Niemand darf sich dessen erfreuen. Solch ein todtes Bild von Leinwand oder Stein fühlt es nicht, welch Entzücken es bereitet; aber das Menschenbild, das die Natur geschaffen, das lebendige, warme, sich selbstbewußte, würde es fühlen und die Wonne mit genießen, die Andere bei seinem Anblicke empfinden. Ist denn das Sünde, ist es verwerflich?
So philosophirte die junge Frau in der Trunkenheit ihres eigenen Anschauens, und sie erschien sich immer mehr als eine Märtyrerin der Verhältnisse, und das Opfer, das sie brachte, indem sie solche Gaben auf den Altar ihrer häuslichen und Mutterpflicht niederlegte, erwuchs in diesem Augenblicke zu einer so unermeßlichen Größe, daß kein Mann und kein Kind es jemals zu lohnen im Stande wäre; ja, wer weiß, ob es ihr nur möglich gewesen wäre, es zu bringen, wenn nicht wenigstens Einer lebte, der sie zu würdigen verstand, Einer, für den sie noch schön sein durfte: Egon! Ja, an seiner Seite wäre sie eine bewunderte vielumworbene Frau geworden, denn er war ein Mann der großen Welt und nahm eine hervorragende Stellung ein, die sie mit ihm getheilt hätte. Sie würde seine herrlichen Reisen in den Orient mitgemacht, über die Grenzen Europas hinaus den Ruf ihrer Schönheit getragen haben, – o welch ein Leben wäre das gewesen! Warum mußte der geliebte Mann ein jüngerer Sohn und also vermögenslos sein, daß es den beiden armen Kindern versagt war, einander anzugehören, und Adelheid von ihrem Vater zu der unseligen Partie mit Salten gezwungen ward? Warum, warum sollte sie die Folgen dieses grausamen Geschickes immer fortschleppen in geduldiger Ergebung? Warum sollte sie nicht auch einmal in die Welt hinaus dürfen, in die Heimath, an den Hof zu ihrem Geliebten? War es denn ein Unrecht, wenn sie sich nach jahrelanger Abwesenheit bei den Ihren und in der Vaterstadt zeigte? Nein, sicher nicht! Sie wollte noch heute mit dem Freiherrn sprechen; Alfred war ja so wohl versorgt bei dem Candidaten. Welche Mutter würde nicht einmal ihr Kind verlassen, um die Heimath wiederzusehen? Hatte sie denn nur Pflichten, nicht auch Rechte? Und ihr Athem ging rasch und die Goldwellen ihrer Locken wogten auf ihrer jugendlich gehobenen Brust auf und nieder, die Diamanten funkelten und in den Blättern des Dümas’schen Romans neben ihrem Bette rauschte es, wie wenn winzige verführerische Kobolde daraus entstiegen, um in den Strahlenbüscheln, die das reizende Haupt umkränzten, ihren Carneval zu halten. Und das Herz des schönen Weibes pochte laut, als wäre der Versucher schon in der Nähe. Er war es auch, denn der größte und siegreichste Versucher einer schönen Frau ist ihr Spiegel, das Werkzeug, mit welchem Mephisto dem Faust die Wege ebnet!
Da plötzlich – was war das? Hatte es nicht geklopft? Alles Blut drängte sich ihr nach dem Kopfe, es war ja kaum fünf, – sie hatte sich getäuscht. Ihr eigenes Gewissen hatte ihr den Streich gespielt, sie so zu erschrecken! Aber nein, wieder klopfte es an die Thür, diesmal lauter, unverkennbar. Adelheid fuhr vom Spiegel zurück, als könne der da draußen durch die Thür sehen, daß sie vor dem Spiegel stand.
„Was ist?“ rief sie und ihre zitternden Hände bemühten sich, das Diadem aus den Locken zu wirren. Doch umsonst waren alle Anstrengungen der jungen Frau; Zacken und Steine hatten sich in das Haar verwickelt wie eine Klette.
In der Nähe von Hamburg liegt an der seenartig sich erweiternden Alster das Dorf Eppendorf. Im Sommer ziemlich belebt, da die hübsche Lage des Orts viele Hamburger anlockt, ist es im Winter desto stiller und einsamer. So war es auch schon vor hundert Jahren. Eine Ausnahme machte jedoch das Jahr 1769. Da hatte in der Neujahrszeit eine seltsame Erregung die sonst so stillen Eppendorfer ergriffen und in den Familien, vor Allem aber in der Schenke wurde viel und heftig debattirt über – den neuen Schulmeister, der vor wenigen Tagen im Dorfe eingezogen war.
„Dat ist gar keen richtiger Schulmeister,“ meinte der Eine, „er ist ja so stark und groß, daß er kaum in der Schulstube gerade stehen kann.“
„Er soll auch früher Soldat gewesen sein,“ sagte ein Anderer, „aber das möchte Alles sein, wenn er nur nicht, wie unser Pastor erzählt, ein Freimaurer wäre.“
Alle entsetzten sich, fanden es aber schließlich kaum glaublich, da die Freimaurer ja bekanntlich nicht in die Kirche gingen, und der Schulmeister doch morgen zum Neujahrstage die Orgel spielen müßte. Da würde sich die Sache schon ausweisen.
Die Kirche war gedrückt voll, weniger der Predigt wegen, als um den neuen Schulmeister zu sehen und zu hören. Ein großer Mann war er, das sahen nun Alle; er schien gar nicht auf das kleine Chor und die schmale Orgelbank zu passen. Als er aber die Orgel zu spielen begann und mit wohltönender voller Baßstimme das Morgenlied anfing, da winkten die Eppendorfer vergnügt einander zu; denn ein Mann, der so erbaulich singen und spielen konnte, war gewiß kein Freimaurer.
Jetzt betrat der Pastor, ein ziemlich unbedeutend aussehendes Männchen, die Kanzel. Wie wurden nun die guten Leute erschreckt, als dieser, nachdem er viel von der Verderbniß der jetzigen Menschheit gepredigt, mit erhobener Stimme gegen die falschen Aufklärer, die Freimaurer, donnerte, die überall die fromme Christenheit verführen wollten und sich nun auch hier in der stillen Gemeinde Eppendorf eingeschlichen hätten!
Das konnte nur dem neuen Schulmeister gelten. Nun war’s also doch wahr. Aller Augen richteten sich nach dem Chore, dort stand der falsche Aufklärer, der Freimaurer. Aber anstatt von der Wucht der schweren Anklage zerknirscht zusammenzusinken, stand er hoch aufgerichtet da und blickte den erregten Pastor ruhig an. Ja, einige Näherstehende meinten sogar, ein flüchtiges Lächeln auf seinem Gesichte bemerkt zu haben. Der Mann mußte furchtbar verstockt sein.
Am Abende war die Gesellschaft im Wirthshause lebendiger denn je. Der Bälgetreter hatte Genaueres beim Pastor erfahren und erzählte nun, daß der neue Schulmeister von Haus aus ein Obersachse sei, der früher Soldat gewesen, dann desertirt und sich nun viel herumgetrieben habe. In Hamburg habe er vielen Umgang mit Komödianten und Freimaurern gehabt und sei dann lange beim dänischen Grafen Schimmelmann gewesen, der solche Freigeister liebe. Der habe ihm nun auch zu der Stelle hier in Eppendorf verholfen. Der Pastor sei wohl dagegen gewesen, weil er die gute Stelle gern seinem Vetter verschafft hätte; er wäre aber rundweg abgewiesen worden.
Die Stimmung wurde immer bedenklicher. Man wollte zu einem solchen Menschen die Kinder nicht schicken; ja, einige Hitzköpfe hielten es für das Beste, den Schulmeister mit Kind und Kegel zum Dorfe hinauszuwerfen. Da erhob sich der Pachtmüller, ein angesehener und erfahrener Mann, und erklärte, wenn der Schulmeister das Schulehalten so gut verstände, wie heute in der Kirche das Singen und Orgelspielen, da möchte er immerhin ein Freimaurer sein. Der Pastor sei wahrscheinlich nur deswegen so fuchswild, weil sein Vetter die Stelle nicht bekommen habe. Das war denn auch den Meisten einleuchtend, und so war wenigstens zunächst der Friede gesichert. – Am andern Morgen erzählte der Bälgetreter dem Pastor, wie der Pachtmüller, den doch der liebe Gott mit seinem taubstummen Kinde hart genug gestraft, den Freimaurer in Schutz genommen habe. „Ja,“ meinte der Pastor, „das sind hartgesottene Sünder, aber wir werden sie schon zu beugen wissen.“
In der stillen Küsterwohnung saß an demselben Abende still und allein der neue Küster, Cantor und Schulmeister Samuel Heinicke. Weib und Kind waren längst zu Bette, ihn ließ die Sorge um die Zukunft nicht schlafen. Was sollte daraus werden. Nach einem vielbewegten Leben meinte er endlich ein arbeitsvolles, aber friedliches Wirken gefunden zu haben, und nun begann ein neuer Kampf mit dem bigotten, hochmüthigen Pastor und der aufgehetzten Gemeinde. – Lassen wir den Mann jetzt weiter sinnen und überlegen und sehen wir uns einstweilen seine Vergangenheit etwas genauer an. – Im Jahre 1729, dem Geburtsjahre Lessing’s, geboren, blieb Samuel Heinicke der einzige Sohn wohlhabender Landleute. Da er später das väterliche Gut bewirthschaften sollte, so sah es der Vater gar nicht gern, daß sein kleiner Samuel so große Lust zu den Büchern zeigte. Und als dieser gar den Wunsch zu studiren äußerte, da nahm der Bauer, außer Bibel und Gesangbuch, alle Bücher weg. Wozu brauchte ein rechtschaffener Bauer solchen gelehrten Krimskrams! Der arme Junge fügte sich mit schwerem Herzen und war nur froh, daß er bei seinem Großvater das Violin- und Orgelspielen lernen durfte. Später wollte der Vater wieder gewaltsam in das Leben des Sohnes eingreifen. Er meinte eine Frau für ihn aussuchen zu müssen. Samuel hatte aber bereits gewählt, und als sein Mädchen dem Alten nicht gefiel, war der Friede wieder auf lange Zeit gestört. Da nun auch die Eltern des Mädchens einen andern Freier bevorzugten, so faßte der hitzige Bursche raschen Entschluß. Er prügelte seinen Nebenbuhler tüchtig ab und ging dann heimlich nach Dresden, wo sich der kräftige, hochgewachsene Bauernbursche, eine wahre Siegfriedsgestalt, in die kurfürstliche Leibgarde aufnehmen ließ. Hier brach der lang zurückgehaltene Wissensdurst mächtig durch und mit Aufopferung jeder freien Zeit suchte er sich Kenntnisse zu erweitern. So lernte er mit Hülfe des Feldpredigers französisch und lateinisch, [86] und bald konnte der Gardist Samuel Heinicke die Classiker dieser beiden Sprachen lesen. Inzwischen hatten sich die Eltern mit ihm ausgesöhnt, er verheiratete sich und verdiente durch Privatstunden den Unterhalt für seine Familie. Aber noch war er Soldat und eben, als er den Abschied nehmen wollte, brach der siebenjährige Krieg aus und er mußte mit in’s Feld rücken. Der Finkenfang bei Maxen brachte ihn in preußische Gefangenschaft. Er entfloh und seine Frau verbarg ihn hinter alten Fässern vor den eifrig suchenden Preußen. Als alter Dorffiedler verkleidet gelang es ihm endlich aus Dresden zu entkommen und nach Jena zu flüchten. Dort ließ sich Heinicke als Student inscribiren; aber wieder waren es die preußischen Werber, die ihn auch hier aufjagten. Jetzt, fast ganz mittellos, ging er nach Hamburg. Hier nahmen sich Klopstock und Cramer, später Reimarus, Büsch, Unzer des armen Flüchtlings an und verschafften ihm Privatstunden. Auch die Loge nahm sich seiner an, und als er später in das Haus des Grafen Schimmelmann als Secretär kam, da hatte für ihn und die Seinen die äußere Noth ein Ende. Jetzt hatte der Graf ihm auch zu der Eppendorfer Stelle verholfen.
Nach solchem vielbewegten Leben sollte also Heinicke noch immer nicht zur Ruhe kommen. – Die Gereiztheit der Eltern hatte sich auch auf die Schulkinder übertragen, sie versuchten den Schulmeister zu ärgern. Es blieb aber beim Wollen. Die mächtige äußere Erscheinung des Mannes, sein ruhig ernster Blick, vor Allem die eigenthümliche Art und Weise seines Unterrichts übten bald auf die Kinder einen solchen Einfluß aus, daß sie zum großen Staunen der Alten sehr gern in die Schule gingen und mit großer Achtung von dem Lehrer sprachen. Nun wurde auch die Stimmung im Dorfe milder, man grüßte ihn freundlicher; aber bis jetzt war nur Einer in engeren persönlichen Verkehr mit ihm getreten. Das war der schon oben erwähnte Pachtmüller. Bei einem Spaziergange sah Heinicke dessen taubstummes Kind und sein warmes Herz trieb ihn, sich dieses Unglücklichen anzunehmen. Hatte er doch schon vor Jahren, als er noch in Dresden[1] lebte, einen taubstummen Knaben mit dem besten Erfolge unterrichtet. Mit dankbarer Freude ging der Pachtmüller auf den Vorschlag, sein Kind zur Schule zu schicken, ein. Auch die andern Dorfbewohner, obschon sie im Sinne ihrer Zeit das Unglück des Pachtmüllers als Strafe Gottes ansahen, fühlten die Menschenfreundlichkeit des Lehrers heraus und näherten sich ihm mehr und mehr; nur der Pastor stand ihm noch ebenso schroff und feindlich gegenüber, wie am ersten Tage. Er konnte es nicht vergessen, daß Heinicke gegen seinen Willen hergekommen, und sein Aerger stieg, als er sah, daß der fleißige und gewandte Lehrer immer einheimischer wurde. Er suchte neue Angriffspunkte und fand sie in Heinicke’s Lehrweise, die allerdings von der damals gebräuchlichen Schulmeisterei himmelweit verschieden war. Der althergebrachte Schulschlendrian war dem denkenden Lehrer ein Gräuel und mit Eifer begann er in seiner Schule zu reformiren. Vor Allem trat er dem „quälenden, zeitraubenden, begriffslosen, leeren Wortkram im Buchstabiren und Lesen und dem damit verbundenen Bläuen und Poltern in den Schulen, wodurch das Volk von Jugend an auf die unsinnigste Weise behandelt wird,“ auf’s Entschiedenste entgegen.
Mit dieser Art Schulmeisterei wollte Heinicke nichts zu thun haben. Vom Leichten zum Schweren fortsteigend, führte er seine Schüler erst in die sinnliche und dann in die geistige Welt ein. „Lehrt eure Lehrlinge mit Worten Begriffe verbinden; und wenn ihr nicht unsinnig seid, so fangt nicht mit zarten unwissenden Kindern da an, wo ihr aufhören sollt. Der Katechismus ist daher kein Buch für begrifflose Leseanfänger.“ Das Lesen lehrte Heinicke nach der damals ganz ungewöhnlichen Lautirmethode, und hier meinte der Pastor seinen Haken einschlagen zu können. Den guten Eppendorfern kam es nämlich wider alle Natur sonderbar vor, daß ihre Kinder gern zur Schule gingen. Und wenn an schönen Sommertagen die Fenster der Schule geöffnet waren, so vernahmen die Vorübergehenden ganz seltsame Töne. Das zischte, knurrte, brummte, summte so eigenthümlich, daß, „wenn es nicht lichter Tag gewesen, den Bauerweibern die Gänsehaut über den Rücken gelaufen wäre.“. Es fiel dem Pastor nicht ein, den Leuten zu sagen, daß dies die Lautirmethode so mit sich bringe, daß jene merkwürdigen Töne weiter nichts als Sprachlaute seien, die sie ja selbst bei jedem Worte gebrauchten. Er erklärte vielmehr, daß dies ganz unnütze Allotria wären, wodurch der Schulmeister die Kinder an sich lockte, und daß überhaupt die neue Lehrweise nichts tauge, sondern sogar ganz gottlos sei.
Jetzt wurde den Bauern wieder angst; sie meinten, ihr Schulmeister wolle eine neue Religion einführen, und in der Schenke erhoben sich abermals heftige Debatten. Es kam sogar so weit, daß Einige beschlossen, in die Schule zu gehen und den Lehrer zur Rechenschaft zu ziehen. Und wirklich, eines schönen Tages kam ein Haufe angezogen, und die Vorlautesten drangen gewaltsam in die Schule ein. Da aber regte sich in Heinicke das alte Soldatenblut; er machte kurzen Proceß, warf die Deputation zur Thür hinaus, und hatte nun auf einmal – da überlegene Körperkraft dem Ungebildeten am meisten imponirt – vor seinen Bauern Ruhe.
Eine bald darauf folgende Schulprüfung ergab nun ein sehr gutes Resultat, und die Bauern sahen mit Erstaunen; daß man mit der neuen Schulmeisterei viel weiter komme, als mit dem alten Schlendrian. Bei ihnen hatte der Schulmeister gewonnen, aber der Pastor blieb unversöhnlich. Er suchte einen neuen Angriffspunkt. –
Wie ich schon oben erzählte, hatte sich Heinicke des taubstummen Kindes des Pachtmüllers bald nach Antritt seines Lehramtes angenommen. Er sann auf Mittel und Wege, auch dieses Kind zu bilden und ihm Begriffe beizubringen. Die mechanische Fertigkeit des Schreibens bot keine Schwierigkeit dar; aber das genügte Heinecke nicht, er überlegte, ob der arme Junge nicht so viel von der Sprache zu lernen vermöge, daß er sich nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich mit anderen Menschen verständigen könne. Die Schrift allein war seiner Meinung nach nicht dazu ausreichend, da ja ein gut Theil der gewöhnlichen Leute nicht lesen konnte. Hier gab’s nur Ein Verständigungsmittel – das gesprochene Wort. Sollte es nicht möglich sein, da der Knabe wohlgebildete Sprechwerkzeuge hatte, ihn das Sprechen zu lehren? – Heinicke forschte nach, ob nicht früher schon solche Versuche gemacht worden seien, und er fand Manches. So hatte in Spanien Ende des sechszehnten Jahrhunderts Ramirez de Carrion einen taubstummen Marquis de Priego sprechen gelehrt. Der Schüler mußte eine seinem Temperamente angemessene Purganz einnehmen, der nach einiger Zeit eine stärkere, aus Nießwurz und Blätterschwamm bestehend, folgte. Hierauf wurden ihm oben auf dem Wirbel die Haare abgeschnitten und die kahle Stelle jeden Abend mit einer Salbe von Spiritus, Salpeter, bitterm Mandelöl und Wasserlilienwasser eingerieben. Dann mußte sich der Schüler jeden Morgen mit einem Kamme aus Ebenholz die Haare wider den Strich kämmen und abermals eine Latwerge einnehmen, die diesmal aus Mastix, Ambra, Moos und Süßholz bestand. Nun mußte er sich das Gesicht waschen, Nase und Ohren ganz besonders rein abtrocknen, und der Lehrer sprach ihm dann mit lauter Stimme oben über dem Wirbel erst die einzelner Buchstaben des Alphabets, dann Sylben und endlich die Namen bekannter Dinge vor. Der Marquis soll in kurzer Zeit nach diesem Verfahren die Sprache erlernt haben. Es war klar, daß der kluge Spanier solche eigenthümliche Mittel gewählt hatte, um nicht der Inquisition in die Hände zu fallen, die das Streben, Taubstumme ohne äußere Hülfsmittel redend zu machen, bestimmt als Teufelswerk hingestellt haben würde. Damit war also Heinicke nicht gedient. Nutzbringend war ihm aber das Verfahren des Arztes Johann Conrad Amman, der, 1669 in der Schweiz geboren, sich später nach Holland gewandt hatte. Der hatte seinen Schülern die jedem Laute eigenthümliche Mundstellung gezeigt und sie veranlaßt, dieselben vor dem Spiegel nachzuahmen. Da nun aber hierbei noch kein Ton zum Vorschein kam, so ließ er den Taubstummen, während er selbst den Laut aussprach, die Hand an seine Kehle halten, um ihn auf die beim Sprechen entstehende zitternde Bewegung der Luftröhre aufmerksam zu machen. Der Schüler legte dann die Hand an den eigenen Kehlkopf und ahmte dem Lehrer so lange nach, bis der gewünschte Ton kam. Amman’s Schrift: „surdus loquens“ (der redende Taubstumme) gab unserm Heinicke wichtige Fingerzeige, obschon sie über das rein mechanische Verfahren wenig hinausgeht. Von den Versuchen, die Abbé de l’Epée in Paris mit Taubstummen anstellte, hatte Heinicke damals noch keine Kenntniß, es hätte ihm auch nichts geholfen, denn er wollte die Taubstummen entstummen, während de l’Epée die Stummen stumm ließ, und ihnen anstatt des lebendigen Wortes die Schrift und die Pantomime gab.
[87] Heinicke benützte die von Ammann gegebenen Fingerzeige, und weiteres Nachdenken über die Natur der Taubstummen führte ihn auf den richtigen Weg. Zur großen Freude des Pachtmüllers und zum großen Erstaunen aller Eppendorfer begann der stumme Knabe zu sprechen und schon nach zwei Jahren konnte er, da er gut befähigt war, zur Confirmation angemeldet werden.
Nun denke man sich aber die Verwunderung Aller, als der Pastor – ich will seinen Namen bei dieser Gelegenheit der Vergessenheit entreißen: er hieß Granau – am nächsten Sonntag gegen Heinicke predigte und von der Kanzel herab den erstaunten Bauern nachwies, daß ihr Schulmeister ein Frevler gegen Gottes Allmacht und Weisheit sei, ein Mensch, der Gott meistern wolle, da er die, welche Gott gezeichnet habe – die Taubstummen sprechen lehre!
Der arme Pastor – er würde vergessen sein, wenn ihn sein Streit mit Heinicke nicht lächerlich gemacht hätte. Es wird aber auch erklärlich, warum Heinicke der Geistlichkeit seiner Zeit – es gab noch mehr solcher Zeloten – nicht eben günstig gesinnt war und sie in seinen späteren Schriften so hart mitgenommen hat. Zunächst kümmerte er sich nicht weiter um seinen Pastor, sondern ging mit seinem Zögling nach Hamburg zum Hauptpastor Götze[WS 1], dem bekannten Gegner Lessing’s, und machte ihn mit der Sachlage bekannt. Das sofort angestellte Examen fiel befriedigend aus und nun stand der Confirmation kein Hinderniß im Wege und Granau mußte sie auf höheren Befehl selbst vollziehen. Heinicke’s Lehrverfahren hatte die gelehrte Welt Hamburgs interessirt und zu verschiedenen Artikeln in öffentlichen Blättern Veranlassung gegeben. In Folge davon wurden dem tüchtigen Lehrer von verschiedenen Seiten her taubstumme Kinder zur Erziehung übergeben und die Eppendorfer konnten sich nicht genug wundern, was für vornehmen Besuch ihr Schulmeister fortwährend erhalte. Ihr Erstaunen fand aber keine Grenzen, als sogar 1774 der russische Graf von Vietinghof bei dem Küster vorfuhr und ihm seine taubstumme Tochter zur Erziehung übergab. Doch stets erzielte Heinicke glückliche Resultate und namentlich ward die Sprechfertigkeit seiner Schüler gerühmt. So erklärten verschiedene Hamburger Gelehrte ihre Verwunderung über die Fortschritte, welche die taubstummen Zöglinge im Sprechen machten, und waren überrascht von der Fertigkeit, mit welcher z. B. die Baronesse von Vietinghof vom Munde abzulesen verstand. Kein Wunder, daß sich der Ruf Heinicke’s mehr und mehr steigerte und ihm neue Schüler zuführte. Wie aber sollte er Zeit finden sie alle zu unterrichten? Die Dorfschule war überfüllt und forderte eine volle Manneskraft, und doch galt es auch die taubstummen Pensionäre nach Möglichkeit zu fördern. Es war eine Riesenarbeit, die auf Heinicke lastete, die nur eine solche körperlich und geistig kräftige Persönlichkeit einige Jahre bewältigen konnte. Auf die Dauer vermochte es aber auch diese eiserne Natur nicht auszuhalten. Heinicke ward seines Lebens nicht mehr froh, er fühlte, daß er sein Amt oder sein junges Institut aufgeben müsse, und es konnte für ihn nicht fraglich sein, welches von beiden. Sofort ließ sich dies aber nicht ausführen.
Da wurde ihm durch den Grafen Schimmelmann, seinen alten Gönner, der mit großer Theilnahme die Bestrebungen Heinicke’s verfolgt hatte, der ehrenvolle Antrag gestellt, er möge sein junges Institut nach Wandsbeck, dem Lieblingssitze des Grafen, verlegen. Dort werde die Anstalt sowohl durch hinreichende Localitäten, wie durch Geldmittel in ausreichender Weise unterstützt werden. Heinicke würde auf dieses großmüthige Anerbieten sofort mit Freuden eingegangen sein, wenn der Graf eine größere Stadt, etwa Altona, gewählt hätte, denn er meinte, daß „für eine Taubstummenbildungsanstalt eine große volkreiche Stadt gewählt werden müsse, in deren vielbewegtem bürgerliche Leben für taubstumme Zöglinge sich ein weites und reiches Feld nützlicher und bildender Anschauungen und Erfahrungen öffne“. Das bot aber das eben erst zum Flecken erhobene Wandsbeck nicht, und deshalb zerschlugen sich die Verhandlungen mit dem Grafen, dessen Lieblingsidee es eben geworden war, diesen Ort zu vergrößern und zu verschönern und durch die Begründung einer Taubstummenanstalt – der ersten in Deutschland – berühmt zu machen.
Die Last, welche unsern Heinicke drückte, wurde immer größer, als im Spätherbste des Jahres 1775 seine Gattin starb, die einundzwanzig Jahre hindurch so treulich Freud und Leid mit ihm getragen hatte. Sie hinterließ ihm vier Kinder.
Wohl traf ihn dieser Schlag härter, als alle früheren zusammen, aber seine kräftige Natur überwand auch diesen Verlust; in schwerer Arbeit begrub er seinen Schmerz und unablässig waren seine Bemühungen seine Methode zu vervollkommnen. Die junge Anstalt in Eppendorf wurde immer bekannter. Das Dorf wurde durch Heinicke berühmt und Besucher aller Art selbst aus den höchsten Ständen, kehrten ein in der niedrigen Küsterwohnung. Es ging nun nicht mehr länger, Heinicke mußte sich entscheiden und Ostern 1777 legte er sein Amt als Cantor, Organist und Küster in Eppendorf nieder, um nun ganz seinen Taubstummen leben zu können. Es war dies ein schwerer Schritt, er hatte für vier Kinder zu sorgen und die Eppendorfer Stelle hatte ihn reichlich genährt; aber um der guten Sache willen wagte er das Entscheidende. Zunächst blieb er noch in Eppendorf.
Da, im Sommer desselben Jahres, kam unter anderem Besuche auch ein sächsischer Hauptmann von Schröder nach Eppendorf, der sich ungemein für Heinicke’s Bestrebungen interessirte. Er erfuhr im Verlaufe des Gesprächs, daß Heinicke aus Kursachsen gebürtig sei, und fragte nun, warum Heinicke nicht nach Sachsen zurückkehre. Daran hatte Heinicke nie gedacht. Der Gedanke entzückte ihn, aber er hielt ihn nicht für ausführbar. Schröder erklärte weitere Schritte thun zu wollen, und hielt rechtschaffen Wort. Nach Dresden zurückgekehrt, sprach er mit dem Geheimrath von Ferber weiter über diese Angelegenheit und dieser, eine bei Hofe angesehene Persönlichkeit, legte dieselbe dem Kurfürsten vor und hatte in Folge davon die Freude, an unsern Heinicke schreiben zu können, daß der Kurfürst „den ihm desfalls gewordenen Vorschlag beifällig angenommen habe, und daß Heinicke seinen Willen und die Bedingungen unter welchen er sein Institut nach Sachsen verlegen würde, schriftlich einsenden möge.“
Heinicke zögerte nicht mit der Antwort. Er erbat sich eine Besoldung, die dem Einkommen der Eppendorfer Stelle – vierhundert Thaler – gleichkomme und ihn mit den Seinigen gegen Mangel schütze, wofür er sich anheischig machte, arme Taubstumme, wenn sonst für ihre Beköstigung gesorgt würde, zu unterrichten. Da ihm die Wahl des Ortes freigestellt war, so bestimmte er Leipzig hierzu.
Sehnsuchtsvoll harrte Heinicke auf den Bescheid, der so tief in sein Leben eingreifen sollte. Er sollte nicht lange warten Das kurfürstliche Schreiben kam an und mit zitternder Hand erbrach er das Siegel. Alles war ihm bewilligt, und der Brief enthielt schon das von Friedrich August eigenhändig unterzeichnete Vocations-Rescript, datirt vom 13. September 1777. Es sei unvergessen in der Geschichte der Menschheit, daß dieser Fürst der erste gewesen, der in seinem Lande eine Taubstummenanstalt errichtete.
Heinicke war glücklich. Ohne Sorge für die Existenz seiner Familie war er nun in den Stand gesetzt sich ganz seinen edeln Bestrebungen hingeben zu können. Er wendete sich zunächst nach Hamburg, um von dort aus seine Vorbereitungen zur Uebersiedlung nach Leipzig zu treffen, vor Allem aber um seinen Kindern und Pflegekindern eine neue Mutter zu geben. Diese Frau, Katharina Elisabeth Heinicke, ist für die Leipziger Anstalt von großer Wichtigkeit geworden, denn sie hat nach Heinicke’s Tode durch die schlimmsten Kriegsjahre hindurch die Anstalt geleitet und behütet und somit ihres Mannes Schöpfung vor sicherem Untergange bewahrt.
Anfangs April 1778 war endlich Alles zur Abreise fertig und Heinicke zog mit den Seinen – unter ihnen neun taubstumme Zöglinge – dem alten Heimathlande zu. Als armer hülfloser Flüchtling hatte er dasselbe vor zwanzig Jahren verlassen müssen und jetzt kehrte er zurück, gerufen von dem Fürsten des Landes, als ein angesehener, hochgeehrter Mann. Am 13. April kam er in Leipzig an, stieg im Gasthofe zum Helm, dem jetzigen Hôtel de Prusse, ab und eröffnete daselbst schon am nächstfolgenden Tage sein Institut, das erste seiner Art in Deutschland.
Nur zwölf Jahre waren ihm noch vergönnt, am 30. April 1790 starb er, aber in dieser Zeit hat er unendlich viel für das Wohl der Taubstummen gethan. Leider fand er nicht die Anerkennung[WS 2], die er verdiente. Er mußte sogar erleben, daß auch in Deutschland die Lehrweise des Abbé de l’Epée der seinigen vorgezogen wurde, daß Kaiser Joseph in Wien eine Anstalt nach französischem Muster einrichten ließ. Freilich war Heinicke hierbei nicht ohne Schuld; er war verbittert worden und schrieb eine so scharfe Feder; daß die Zahl seiner Gegner fortwährend wuchs. Literarische Fehden ohne Ende waren die Folge hiervon, und diese schadeten seiner Person und seinem Werke. Erst die Neuzeit ist [88] ihm gerecht geworden. In allen deutschen Anstalten bildet die Lautsprache die Grundlage des Unterrichts und jetzt, hundert Jahre nachdem Samuel Heinicke damit begonnen, fangen auch Franzosen und Engländer an, die deutsche (Heinicke’sche) Unterrichtsweise als die richtige und naturgemäße zu erkennen und anzunehmen. (Vgl. Gartenlaube 1869, Nr. 3, S. 42.[WS 3]) Frankreich hat dem Abbé de l’Epée ein prächtiges Denkmal zu Versailles errichtet, während in Deutschland Samuel Heinicke nahe daran war, ein vergessener Mann zu werden. Gewiß wird aber nun das deutsche Volk diesem echten Menschenfreunde ein treues Gedächtniß bewahren. An der Leipziger Taubstummenanstalt wirkt heute noch segensreich eine Enkelin Heinicke’s als Mutter der Taubstummen. Es ist dies die Gattin des gegenwärtigen Directors, Frau Elisabeth Eichler. Das beigegebene Portrait ist nach einem im Besitz dieser Familie befindlichen Oelgemälde gefertigt worden.
(Schluß.)
Unter den Reliquien des Kästchens fanden sich auch noch zwei Exemplare einer vortrefflichen Photographie in Visitenkartenformat, welche den großen Condottiere in jener classischen Freischaarentracht darstellte, in der er beide Sicilien dem jungen Königreiche Italien hinzugewann. Als er am 7. September 1860 in Neapel als Sieger eingezogen war, schrieb er dem König: „Sende mir Pallavicino-Trivulzio als Statthalter!“ Und der König sandte Pallavicino, und dieser waltete, an Königs Statt und zugleich wiederum wohl als ein Mittler in schwieriger Situation zwischen diesem und dem factischen Sieger, Garibaldi, eine Zeit lang über dem schönsten Stück dieser Erde. Freilich, um die Neapolitaner zu regieren, dazu gehören nüchternere, härtere und kühlere Naturen als so ideelle Politiker wie die Garibaldi und Pallavicino. Als die Marchesa Anna nun Frau Präfectin von Neapel war, da mußte ihr Garibaldino, es half kein Widerstreben, dem Photographen in jenem Gewande sitzen, in welchem er zu Marsala gelandet war, und kurze Zeit darauf in Neapel einen Siegeseinzug gehalten, wie ihn kein Triumphator des alten Rom nur entfernt so umjauchzt über das Forum hinauf zum Capitol genommen hatte.
Auf diese Art entstand ein kleines Historienbild von größtem Inhalt, und die Marchesa hatte die Güte, mir von ihren letzten beiden Exemplaren desselben eines zugleich mit ihrem eigenen Bilde zum Andenken zu verehren, und da sitzen sich denn in meinem Album als dessen werthester Schmuck die beiden verehrten Gestalten gegenüber: der Held und seine Freundin! Jener sitzt fast etwas unbeholfen und linkisch da, aber um so mehr macht das Bild den Eindruck ungekünstelter Wahrheit, da ist Alles Natur und Nichts akademische Pose. Unter seinem ein ganz klein wenig zur Seite gerückten runden Filzhut mit nach oben umgebogenem Rand („Turnerhut“ hieß er früher bei uns), blinzelt Garibaldi den Beschauer aus dem Bildchen fast etwas scheu und mürrisch an, daß er da sich so ruhig hinsetzen und dem Photographen in Santa Lucia Nr. 28 stillhalten muß, wo es in Neapel jetzt so viel Wichtigeres für ihn zu thun giebt. Die beiden knorrigen Hände, gleich gewohnt, das Schwert wie den Pflug zu führen, auf den Oberschenkel gestemmt, sitzt er so unmalerisch als möglich da, die Beine in weite, helle Hosen gesteckt, den linken Fuß etwas einwärts gebogen; der Pallasch hängt ihm tief und nachlässig zur Seite herab, gerade als wüßte er gar Nichts damit anzufangen: und wie hat er ihn geführt! Freilich, ein Salonofficier wüßte ihn coquetter zu tragen! Der Oberkörper zeigt sich mit dunkler Blouse von dickem carrirtem Stoff bekleidet (vermuthlich die famose „rothe“), über die jedoch, so daß von ihr nur die Aermel sichtbar werden, noch ein weites, mantelartiges, um den Hals in einem Kragen anschließendes, aber ärmelloses Obergewand von hellem Zeug geworfen, das auf der Brust in Form eines dreieckigen, mit der Spitze nach unten auslaufenden Latzes zugeknöpft ist – vielleicht eine Reminiszenz aus Peru oder den Pampas der Laplatastaaten. Lose um die Schultern geschlungen und vorn geknüpft endlich noch das bekannte charakteristische Tuch, welches Garibaldi auf seinen Freischaarenzügen stets, und zwar so zu tragen pflegte, daß es im Dreieck auf den Rücken herabfiel, gerade wie bei uns ein Dienstmädchen oder eine Bauersfrau ihr Umknüpftuch.
So sitzt er da, mit dem hellfarbenen Ueberwurf und dem umgeschlungenen Tuche, genau wie Einer, der – man vergebe, aber der Vergleich ist durchaus zutreffend – eben barbirt werden soll –; so sitzt er da, schlicht und einfach, der große Tribun mit dem Löwengesicht, der Vertheidiger Roms, der Guerillasführer von den Alpen, der Eroberer beider Sicilien, der Kämpfer von Volturno, der Cincinnatus von Caprera!
Mit gesteigerten Empfindungen ganz besonderer Art blickte ich in diesen Räumen um, hier, wo ich mich so recht eigentlich „hinter den Coulissen“ befand, die schon so manches historische Ereigniß vorbereiten sahen, das sich nachher draußen auf der Weltbühne abspielte und die kosmopolitische Zuschauerschaft, je nachdem, mit Zittern oder mit Bewunderung erfüllte! Denn hier, innerhalb dieser Wände, unter dem Schutze des hochgeachteten Namens und Hauses der Marchesa Pallavicino, war es unter Anderm ja auch gewesen, daß die glänzendste und folgenreichste Waffenthat Garibaldi’s, der Argonautenzug nach Sicilien, zu einem großen Theile vorbereitet und dazu die letzten Dispositionen getroffen wurden; – von diesem Hause aus ging Garibaldi zwei Jahre vorher, im Frühjahr 1860, direct nach Genua ab zur nächtlichen Ausfahrt der Eintausend nach Marsala! Man ermesse, mit welchen Gefühlen diese Frau ihren Liebling und Schützling zu jenem maßlos kühnen Abenteuer entlassen mußte, das bestimmt war, der Karte Europa’s in so kurzer Zeit eine so durchaus veränderte Gestalt zu geben!
Auf meine Frage an sie: „Ob denn die Regierung von der beabsichtigten Expedition gewußt habe?“ wurde mir mit gedämpfter Stimme die Antwort: „Ja, sie wußte darum!“ Was die Marchesa damals leise sagte, – heute, nach acht verhängnißvollen Jahren, die so viele Schleier gelüftet haben, darf man es ja wohl laut sagen, zumal auch dies ja längst kein eigentliches Geheimniß mehr ist! Die Genuesischen Hafenbehörden hatten den Auftrag von der Regierung, officiell auf die Freischärler zu fahnden, officiös aber ihre Flotille durchschlüpfen zu lassen. Warum auch nicht? Den Preis der siegreichen Expedition durfte man sich ja nicht entgehen lassen, – die gescheiterte aber mußte man desavouiren können. Es war ein Zufall, ein Mißverständniß, daß die Garibaldi’schen Boote entkamen, wie es nachher ja auch nur ein Zufall war, daß sich zwischen diese und die neapolitanischen Kriegsschiffe just im Momente der Landung in Sicilien eine englische Fregatte dergestalt ungeschickt quer mitten in den Weg legte, daß die ersteren ganz und gar am Feuern verhindert waren, und somit die Garibaldianer unter der Deckung der englischen Flagge ihre Ausschiffung bewerkstelligen konnten! Man kennt ja diese historischen „Zufälle“ und „Mißverständnisse“!..[2]
In denselben Räumen fand später auch, und ebenfalls durch die Marchesa eingeleitet und herbeigeführt, die berühmte Versöhnungsscene zwischen Giuseppe Garibaldi und Enrico Cialdini statt. Marschall Cialdini, wohl die bedeutendste militärische Kraft, und daher auch „das Schwert Italiens“ zubenannt, hatte bekanntlich einen scharfen Absagebrief an Garibaldi geschrieben, und ihm darin vorgeworfen, daß er sich überhebe, sich über den König stelle, einen Staat im Staate, eine Dictatur neben der gesetzlichen Regierung bilde, in seiner rothen Blouse in’s Parlament komme etc. Dem in strenger soldatischer Disciplin geschulten Geiste des tapfern [89] Kriegsmanns und ausgezeichneten Patrioten waren derlei Ueberschwenglichkeiten und Extravaganzen an dem italienischen Nationalheros abstoßend und zuwider; aber mit Schmerz sah Italien, sah die Marchesa Pallavicini diese beiden würdigen Söhne ihres Adoptivvaterlandes entzweit. Ihrer Alles ebnenden und ausgleichenden zarten Hand gelang es denn auch, was so leicht keinem Manne gelungen wäre: – die Getrennten wieder zusammenzuführen, und bald schon sanken sich die zwei tapfersten Männer Italiens nächst dem Könige brüderlich und versöhnt in die Arme. Die Marchesa aber hatte ihren neuen Bund geweiht!
Hatte ich so Unrecht, sie den guten Genius Italiens zu nennen?!
Aber noch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens hat sie verstanden segensreich zu wirken und sich auch Dem zu weihen, „was frommt und nicht glänzt“. So hat sie 1870, einem Aufrufe Garibaldi’s an die Frauen Italiens folgend, die Gründung und Präsidentschaft eines aus den ersten Namen der Turiner Damenwelt gebildeten Centralcomités übernommen, dessen Zwecke am besten aus nachstehender Hauptstelle seines alsbald veröffentlichten Programms ersichtlich werden:
„General Garibaldi’s Aufruf an die italienischen Frauen bezeichnet den Zweck unseres Vereins. Unser Hauptaugenmerk wird auf die Wohlfahrt der untern Classen gerichtet sein, wir wollen für die Bedürfnisse der Allerärmsten sorgen, ihre Leiden erleichtern, in ihnen religiöse und patriotische Gefühle, Achtung für das Gesetz, Liebe zur Arbeit, zur Reinlichkeit und Mäßigkeit zu erwecken suchen. Um das Ziel zu erreichen, wollen wir alle Mittel anwenden, die uns unsre Herzen dictiren, und auch alle Vorschläge anhören, die uns aus Italien oder aus der Fremde von Menschen, die unserm Unternehmen zu nützen wünschen, gemacht werden.
Wir haben die Absicht, ohne Aufschub, wenn möglich, 1) eine Armenschule, 2) eine Fürsorgungsgesellschaft und 3) eine Pension für die mittellosen Töchter der italienischen Befreier zu gründen. Wir wünschen, unsere Bestrebungen über ganz Italien ausbreiten zu können, aber zuerst müssen wir unsre Thätigkeit da concentriren, wo das Volk am meisten durch zügellosen Despotismus gelitten hat, und das ist Neapel und Palermo. Da ist die Freiheit noch etwas Neues, da sind die Völker am hülflosesten, da bedarf man am meisten der Unterstützung, die General Garibaldi gefordert hat. Wir appelliren demnach an alle Frauen Italiens, in jeder Stadt und jedem Flecken Comités zu gründen und Sammlungen zu veranstalten, sowohl unter unsern Mitbürgern als unter Fremden, diese Sammlungen aber dem Turiner Comité zukommen zu lassen und sich mit demselben in directe Verbindung zu setzen.“
Ein schöneres und edleres Programm kann gewiß nicht gedacht werden! Es gelang, die wärmste Theilnahme dafür im In- und Auslande, namentlich aber unter den reichen Frauen der englischen Geld- und Geburtsaristokratie anzuregen, und man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß auch der bedeutende Aufschwung, den neuerer Zeit das Unterrichtswesen in der Provinz Neapel genommen, zum Theil wenigstens im Zusammenhang mit den Bestrebungen der Marchesa Pallavicino erreicht wurde.
Inzwischen hat Turin seine Stellung als Hauptstadt des Königreichs Italien an Florenz abtreten müssen und schmollt und grollt in seiner Ecke am Fuße der Alpen. Es hat der Sache des Vaterlandes unter allen Städten desselben das größte Opfer gebracht; in der Zeit des Kampfes war es der Mittelpunkt der nationalen und kriegerischen Bewegung; aber die goldene Frucht des Sieges hat die Arnostadt gepflückt, vielmehr sie fiel ihr in den Schooß. Doch nur um so herrlicher und unvergänglicher strahlt der Name Turins in der Geschichte der Wiedergeburt Italiens!
Ob auch die Marchesa Pallavicino ihrem Könige nach Florenz gefolgt ist? Ich weiß es nicht; ich glaube es aber auch nicht. Sie ist zu sehr mit Turin verwachsen, scheint sich überdies jetzt auch ganz von der öffentlichen Bühne zurückgezogen zu haben, wie ihr geliebter – Garibaldino!
Ich muß Sie heute, Madame, an die Ufer des schönsten deutschen Stromes führen – und Sie folgen mir gewiß willig dorthin.
Vielleicht brütet auf der Ostsee gerade ein düsterer Nebeltag, die sandigen Nehrungen hüllen sich in Schleier; unruhig und mürrisch brandet die Fluth an den steilen Uferhängen; ein naßkaltes Frieren geht durch den Park und leichte Flore schweben um die mächtigen Eichen. Die Bernsteinnixen haben sich zurückgezogen in ihre unterseeischen Gemächer und überlassen das Wellenspiel der Oberfläche den übellaunigen Mächten des Tages.
Da ist es Ihnen gewiß willkommen, Madame, wenn ich Sie auf Flügeln der Phantasie aus so unheimlicher Gegenwart forttrage an den „alten deutschen Rhein“! Denn wer auch nur eine flüchtige Rheinreise gemacht hat, wie Sie, dem blühen doch, schon bei dem Namen des prächtigen Stromes, die anmuthigsten Erinnerungen auf. Sie stehen wieder auf dem Verdeck des Dampfers, sehen das vielthürmige goldene Mainz vorübergleiten und in goldenem Dufte die Rebenhügel des Rheingaues; Sie sehen die Romantik der Felsen und Burgen, welche der gespenstige Mäusethurm in seinen Strudeln bewacht.
Doch mitten durch die Romantik bohrt sich der minirende Geist des Fortschritts seine Bahn, in die Felslöcher zur Rechten und Linken huschen die Locomotiven; aber es sind Felsenthore, die ihren Weg nicht hemmen. Fremdartig gemahnt’s die Lorelei, die noch immer auf hohem Felsenthrone sitzt; auch ihre Zeit ist vorüber, sie verführt uns Keinen mehr! Weiterhin Burg an Burg, bis das mächtige Ehrenbreitenstein die ritterlichen Adler- und Falkenhorste beschämt; freier öffnet sich das Thal, wo die weinreiche Mosel durch ihre Rebenhügel dem Rheine zuströmt. Doch noch einmal verengt es sich; die Siebenberge drängen sich mit ihren reizenden Häuptern an den Fluß; Burgen zur Rechten, zur Linken und mitten im Strome die umschattete Klosterinsel.
So steht das flüchtig genossene Rheinpanorama anmuthig vor jeder Erinnerung, auch vor der Ihrigen, Madame! Man muß indeß am Rhein gelebt haben, um dauernd in der Seele die ganze Frische zu tragen, die der prächtige Strom ausathmet, um mehr in sich aufzunehmen als den duftigen Hauch der Landschaft.
Ich habe meine Jugend verlebt in dem goldenen Mainz. Rebenhügel und Winzerfeste, prächtige Sonnenuntergänge, das Wandeln auf der Rheinbrücke, in den schattigen Gängen der Neuen Anlage, deren idyllischer Friede damals noch nicht durch die aufdringliche Eisenbahn gestört war – das Alles gab meiner Phantasie für immer eine Fülle anmuthiger Bilder, die sie zuweilen noch zur Decoration ihrer nächtigen Träume benutzt. Damals schwärmte ich für Jean Paul, dessen Naturbegeisterung ich auf die schöne Rheinlandschaft übertrug. Und im Vertrauen will ich’s Ihnen sagen, daß ich diese Schwärmerei noch immer theile. Aber plaudern Sie’s nicht weiter aus; denn man könnte mich sonst für einen unreifen Jüngling halten, der weit hinter der Zeit zurückgeblieben ist. Wer liest heute noch Jean Paul? Er ist ja nicht mehr Mode. Und wenn man ihn gelesen hat – man kann in keinem Salon davon sprechen; sein Name verhallt in’s Leere. Man liest ja doch nur, um über das Gelesene sprechen zu können, um sich ein kleines Kopfkissen für die Unterhaltung zurecht zu machen. Ich spreche nicht von Ihnen, Madame! Für Sie ist Lesen Andacht, Cultus, geheime Zwiesprache mit dem Genius der Menschheit, der sich durch seine begabten Priester offenbart.
Damals, wenn ich über die Schiffbrücke am Abend ging, das Abendroth um die Waldgipfel des Taunus schwebte, die Strommühlen vergoldete und in den Fluthen des Rheins sich spiegelte, begriff ich nicht, wie hier Menschen vorübergehen konnten mit dumpfer Seele, Menschen, die mein Entzücken nicht theilten. Jetzt begreife ich das nur zu gut und ein Abendroth muß schon besonders stylvoll colorirt sein oder eine aufgeschlossene Stimmung treffen, wenn es mir in die Seele leuchten soll.
Damals hatte ich einen Freund, den ich innig, überschwänglich liebte, um seiner selbst willen; ich begriff die Helden Schiller’s und Jean Paul’s, Carlos und Posa, Flamin und Horion. Solche Freundschaft ist zur Mythe geworden in unserer Zeit. Wir kennen nur die Freundschaft, die auf Gemeinsamkeit der Interessen beruht, höchstens die Freundschaft der Ressourcen, der Kegelclubs, der Kaffeegesellschaften. Doch jene Ideale sind für mich unlösbar verknüpft mit der Poesie des Rheins.
Und diese Poesie des Rheins trat mir lebendig in dem neuen Romane eines namhaften Autors entgegen, in Berthold Auerbach’s „Landhaus am Rhein“ (fünf Bände). Zwar spielt der Roman nicht in jenen Gegenden, in denen meine Erinnerungen am liebsten verweilen: man muß seinen Schauplatz weiter rheinabwärts suchen, obgleich im Ganzen der Phantasie der Leser hierin die größte Freiheit gelassen ist. Das warme Naturgefühl des Dichters zeigt uns die Rheinlandschaft in aller Magie einer wechselnden Beleuchtung; wir gleiten auf dem Kahne über den stillen Strom und verlieren uns dann in die Schatten der Klosterinsel; wir fahren auf dem belebten Dampfer bei Sonnenschein und Unwetter; wir sehen die Villa Eden mit ihrer Blumenpracht hineingebaut in die herrliche Landschaft oder besuchen die improvisirte Burg, eine Stätte fashionabler Romantik; wir nehmen Theil an den fröhlichen Winzer- und Schifferfesten, an den Gesprächen in den Weinstuben des Städtchens, an dem muntern Leben der Rheinlande. Reizende Arabesken, kleine rothbäckige Bacchanten, mit Rebenguirlanden umkränzt und vollbeerige Trauben in der Hand haltend, umgaukeln den Rahmen der Dichtung und heben sich von ihren düsteren Bildern mit heiterem Lächeln ab.
Die Stimmung der Natur, der Landschaft, des Volkslebens ist in diesem Rheinromane glücklich getroffen – und das ist kein geringes Lob.
Freilich, der Dichter gönnt sich auch Muße, dies Alles mit vollem Behagen auszumalen, mit einer gewissen Schönseligkeit, welche an die Romane Adalbert Stifter’s erinnert. Wie oft gemahnt uns die Villa Eden an die mit wunderbarer Rosenpracht umkleidete Villa in Stifter’s „Nachsommer“! Wie viele botanische Gespräche finden sich in beiden Romanen! Wie breit tritt die pädagogische Tendenz in beiden hervor! Diese Menschen haben Zeit, das Kleinste zu beachten, jede aufgehende Blume im Garten, jede aufgehende Stimmung in der Seele! Das wird Alles mikroskopisch untersucht; die Geheimnisse des äußeren und geistigen Wachsthums werden unter die Lupe genommen. So sanft ist der Wellenschlag der Handlung, so wenig Ruderkraft wird in Anwendung gebracht, daß der Roman mehrere Bände hindurch kaum von der Stelle kommt.
Ich muß Ihnen bekennen, Madame, daß ich sehr geduldig bin, wenn es gilt, ein umfangreiches philosophisches Werk zu Ende zu lesen, daß mich aber bei mehrbändigen Romanen leicht eine unbezwingbare Ungeduld anwandelt, wenn die Helden und Heldinnen lange Capitel hindurch nur spazierengehen und sich unterhalten, und die Handlung sich nach gar keinem bestimmten Ziele hinbewegt. Nennen Sie Das immerhin Ketzerei; doch ich verlange vom Romane in erster Linie einen spannenden Fortgang und lasse mich nicht abspeisen mit geistreichen Gesprächen und ansprechenden Schilderungen. Der Roman ist für das Abendland, was das Märchen ist für den Orient – und wie rasch würde jener Sultan eingeschlafen sein, wenn seine Scheherezade, statt ihm wundersame Geschichten von Fischern, Riesen und Geistern zu erzählen, ihm eine Abhandlung über Rosenzucht vorgetragen hätte!
Ich nehme damit den blos stoffartigen Reiz geistverlassener Romandichtung durchaus nicht in Schutz; doch die Handlung des Romans selbst soll, auf Grund einer phantasiereichen Erfindung, den Gedanken spiegeln und dieser nicht neben dem Strome der Handlung sich ein selbstständiges Bett wühlen.
Auerbach bleibt indeß nur in der ersten größern Hälfte des Romans in den Banden jener oft sinnigen Beschaulichkeit, welche die erfindende Phantasie gänzlich in den Hintergrund treten läßt. In der zweiten Hälfte des Werkes fehlt es nicht an romanhaften Ueberraschungen, und gegen den Schluß hin drängen sich die Ereignisse in solcher Weise, daß ihre Darstellung eine skizzenhafte wird. Diese Ungleichheit der Behandlung, die Windstille im Anfange und der Sturm am Schlusse, ist eine Hauptausstellung, die man gegen den Aufbau des Werkes machen kann.
[91] Der Held desselben ist ein am Rhein wohnender Nabob, der Besitzer der Villa Eden, der Millionär Sonnenkamp, ein Egoist im großen Styl, dessen dunkle Vergangenheit sich allmählich vor unsern Augen enthüllt. Er ist trefflich gezeichnet als ein moderner Titane, aber nicht aus unsern Denkerschulen; schon äußerlich eine mächtig athletische Gestalt, welche den Eindruck der Ueberkraft macht, ein praktischer Weltmensch, dem nichts heilig ist, der rücksichtlos alles für seine Zwecke benutzt und die Menschen mit kalter Verachtung behandelt. Von seinen früheren Schicksalen und Thaten gehn nur dunkle Gerüchte. Es ist das Recht des Romanschriftstellers, unsere Spannung nach der Vergangenheit hin zu lenken, und von diesem Rechte macht Auerbach uneingeschränkten Gebrauch. Er bedient sich indeß dabei einiger Hülfsmittel der Romantechnik, welche sich kaum rechtfertigen lassen. Er führt Personen des Romans zusammen, von denen die eine, eingeweiht in jene Geheimnisse, der andern Aufschlüsse darüber giebt. Gleichwohl theilt er diese Aufschlüsse nicht seinen Lesern mit; er schlägt ihnen gleichsam die Thüre vor der Nase zu. Er schildert uns nur die Wirkungen, welche jene Enthüllungen ausüben, aber diese Enthüllungen selbst bleiben uns Geheimniß. In so grober Weise darf indeß ein Romandichter nicht die Geheimnißkrämerei betreiben; er darf uns nicht eine Unterredung verschweigen, zu der er uns miteingeladen hat. Da ist der Daumen des Herrn Sonnenkamp ein besserer Wetterprophet für die Witterungswechsel des Romanschicksals. Dieser Daumen trägt einen Ring und der Ring soll eine Bißwunde verdecken. Wir erfahren, daß ein Neger, den er in das Meer stürzte, ihn hier in die Hand biß.
Immer klarer wird es, daß dieser Millionär in frühern Zeiten ein Sclavenhändler und Sclavenmörder war. Gerade als der Fürst bereit ist, seinen heißesten Wunsch zu erfüllen und ihn in den Adelstand zu erheben, bringt die Zeitung diese verhängnißvolle Enthüllung über die Vergangenheit des transatlantischen Nabob. Der Fürst selbst erfährt dies während der Audienz, hält das Document zurück und zum Uebermaß des Unglücks für Sonnenkamp fällt jetzt auch der Leibmohr des Fürsten über ihn her; es ist derselbe Neger, der ihn in den Daumen gebissen hat, den der Sclavenhändler in’s Wasser warf, der sich aber gerettet hat. Rachedürstend umklammert er sein Opfer, welches erst der Befehl des Fürsten zu befreien vermag. Sonnenkamp, stöhnend wie ein getroffener Stier, noch den Schaum vor dem Munde, schleudert dem abgehenden Fürsten einige Majestätsbeleidigungen nach.
Wir sind mit einem Male im schönsten Fahrwasser des Romans; doch leider findet sich diese fesselnde Katastrophe erst am Schluß des vierten Bandes! Das ist Manna für die müden Seelen, die sich durch so lange, so geistreiche Vorbereitungen hindurcharbeiten mußten, um sich endlich einmal an einem drastischen Bilde zu erquicken.
Sonnenkamp ist vernichtet! Der alte Praktiker geräth auf den sehr unpraktischen Einfall, ein Ehrengericht zusammenzuberufen, welches ein Urtheil über ihn fällen soll, und vereitelt diesen doch ernstgemeinten Zweck wieder durch seine Rechtfertigung, die nur ein Hohn gegen die Gesellschaft ist und gegen Alles, was in ihr als Ehre gilt. Er spielt seine Trümpfe mit der größten Offenheit aus, erklärt, daß die Welt nichts als ein Zusammenhang von Egoismen, nichts als in Anstand maskirtes Laster sei. Alles sei öde, nichtig, ein endloses Gähnen, das nur im Todesröcheln aufhöre. Er habe die ganze Sandwüste der Langenweile durchlaufen, nichts helfe darüber hinaus als Opium, Haschisch, Hazardspiel und Abenteuer. Wir erfahren, daß Sonnenkamp Spion und Depeschendieb, Löwenjäger, Wallfischfänger, Sclavenhändler und Plantagenbesitzer war. Als Sclavenhändler stürzte er einmal seine ganze Menschenfracht in’s Meer, um der Untersuchung durch verfolgende Schiffe zu entgehn; er behauptet, dabei in seinem Rechte gewesen zu sein.
Diese Rede ist höchst pikant; aber der Mann wird uns auf einmal zu geistreich. Er mag verachten, was die Welt für Ehre und Tugend hält, und hinter Allem die gebotene Heuchelei suchen; doch jene Blasirtheit weltschmerzlicher Dichter, jenes Hamletthum, welches Alles schal und abgestanden findet, steht dem Manne der That übel zu Gesicht; es ist ein fremdartiger Zug, der nicht hineinpaßt. Sonnenkamp hat dem Lord Byron nicht gelesen; er hatte keine Zeit dazu; er vertritt die gottesleugnerische Praxis; aber in fortdauernder rüstiger Bethätigung der eigenen Kraft, im Pflanzen und Bauen, Arbeiten und Schaffen hat er nicht Muße gefunden, sich auf jenem Lotterbette der Geistreichigkeit auszustrecken, welche das Leben unendlich langweilig findet.
Anders verhält es sich mit Gräfin Bella. Das ist die geistreiche Salondame, deren Menschenverachtung durch zahlreiche Zuflüsse aus den geistigen Reservoirs unserer Dichter und Denker gespeist wird, deren Abenteuerlust aus der innern Unbefriedigung eines leidenschaftlichen Herzens entspringt. Daß diese beiden Charaktere sich zuletzt finden, daß Bella, nach dem Tode ihres Gatten, dem Sclavenhändler nach Amerika folgt, wo beide in dem Secessionskriege auftauchen und untergehn: das ist eine Erfindung, welche das volle Gepräge psychologischer Wahrheit an sich trägt.
Das Gegengewicht gegen den hartgesottenen Egoisten bilden seine edeln Kinder, Roland und Manna, und der Hauslehrer derselben, der Hauptmann-Doctor Erich Dournay, der eigentliche Idealheld des Romans. Es ist eine alte Erfahrung, daß solche Figuren in der Regel etwas Verblaßtes und Verschwommenes haben, während die dämonischen Gestalten, die Zöllner und Sünder, den Dichtern weit besser gelingen, als die Heiligen. Bei den ersten sprechen die eigenen Züge; die letztern brauchen in der Regel noch einen nach der Schablone gefertigten Glorienschein, der uns auch äußerlich andeutet, mit wem wir es zu thun haben. Seit den Zeiten Jean Paul’s, dessen erhabenste Gestalten, wie Emanuel, ihres Zeichens Hauslehrer sind, ist es in Romanen Mode geworden, die Herren und Damen, die sich dieser gewiß ehrenvollen Stellung widmen, mit den seltensten Vorzügen des Geistes und Herzens auszustatten. Wer kennt nicht das Trotzköpfchen Jane Eyre aus dem Gouvernantenroman der Frau Currer-Bell und dem Drama der Frau Birch-Pfeiffer? Nachdem indeß Spielhagen in den „Problematischen Naturen“ uns einen interessanten Hauslehrer vorgeführt hat, der allerlei aristokratische Abenteuer erlebt, hätten wir von einem Auerbach’schen Romane wohl gewünscht, daß nicht dieselbe Erfindung zur Grundlage gewählt worden wäre.
Freilich, die Durchführung ist eine andere. Auerbach stellt die Erziehung in den Vordergrund und schüttet eine Menge treffender Bemerkungen und geistvoller Maximen über dies Thema mit freigebigen Händen aus. Erich Dournay sucht die schwierige Aufgabe, den Sohn eines Millionärs zu erziehn, in entsprechender Weise zu lösen, wobei ihm der edle Charakter seines Zöglings wesentlich zu Hülfe kommt. So ist der Roman Auerbach’s im Grunde ein Erziehungsroman, wie Rousseau’s „Emil“ und Jean Paul’s „Unsichtbare Loge“, und gewährt den erfreulichen Eindruck, daß die Sünden der Väter nicht an den Kindern gerächt werden, sondern daß ein jüngeres Geschlecht dieselben durch Hochsinn und Edelmuth sühnt.
Wenn indeß auch wir die bildenden Einflüsse eines Lehrers wie Dournay auf Gemüth und Charakter anerkennen, so hegen wir doch begründete Zweifel, daß der junge Roland viel bei ihm gelernt hat, und fürchten, daß er bei einem ernsten Examen schlecht bestehen würde. Das tumultuarische Leben in Villa Eden, die Reisen nach der Residenz und nach Karlsbad dulden keinen geregelten Lehrplan, und überdies hat der Lehrer selbst ja so viel mit seinen eigenen Empfindungen zu thun, daß wir ihm kaum die Ruhe zutrauen, welche für wissenschaftliche Lectionen unerläßlich ist.
Sie werden sich nicht wundern, Madame, wenn ich Ihnen mittheile, daß sich Erich Dournay in die Tochter vom Hause verliebt. Es ist dies bei einem Hauslehrer so wenig ungewöhnlich, daß nur das Gegentheil überraschen würde. Er ist schön und hat edle Grundsätze; es ist ebenso wenig wunderbar, daß Manna seine Liebe erwidert.
Manna ist die poetische Erscheinung des Romans; die Entfaltung dieser Mädchenseele ist mit großer psychologischer Wahrheit geschildert. Am Anfang der Erzählung sehn wir sie bereit, der Welt zu entsagen und sich dem Kloster zu widmen, um für ihren Vater Buße zu thun. Die erwachende und wachsende Neigung für Erich, der ihr eine neue geistige Welt enthüllt, führt sie immer weiter ab von dem Entschluß der Entsagung, bis sie den Muth gewinnt zum Bekenntniß der Liebe, bis der Bußgürtel, den sie als klösterliche Mahnung um dem zarten Leib trägt, von ihr gelöst in den Garten hinabschwebt, auf einem Baume hängen bleibt und die Beute eines jungen Staars wird, der die dünne hänfene Schnur in den Schnabel faßt und sein Nest damit baut!
Neben dieser anmuthigen Gestalt, welche in den Familiengruppen der Villa Eden vorzugsweise mit anziehender Magie wirkt, steht nun zunächst die Mutter Ceres, ein trefflich gezeichneter [92] Charakter. Ein Naturkind, geistesschwach bis zum Stumpfsinn, ohne Bildung, nur an äußerem Prunk und Putz hängend, von kindischer Eitelkeit, wie die Töchter der Wilden, die nur äußerlich die Civilisation berührt hat, geräth sie in die kaum verstandenen Verwickelungen der Gesellschaft und verfällt dem Wahnwitz und Untergang, als der eigene Gatte sie treulos verlassen hat. Sie ist die wahre Frau des Sclavenhändlers, der in ihr nur die Sclavin sieht und das Reich der Bildung von Hause aus vor ihr verschlossen hält.
Mannigfach sind die anderen Charaktere des Romans schattirt: die beiden Aristokraten, der Freiherr von Pruncken und Graf Clodwig, jener mit seinen bigotten Anwandlungen, dieser mit seinem edeln Freisinn; der köstlich gezeichnete gemüthliche Major mit seinem stets citirten Orakel, dem Fräulein Milch; die Frau Professorin, die würdige Matrone; der praktisch humane Weidmann; die Männer vom Hof, aus der Stadt und vom Lande. Es wird Sie nicht befremden, Madame, daß Auerbach auch dorfgeschichtliche Episoden in die Handlung verwebt – on revient toujours à ses premiers amours.
Und damit auch die blaue Blume der Romantik nicht fehle, giebt sie der Dichter dem märchenhaften Kinde Lilion in die Hand, welches die unsichtbaren Geister des Waldes mit all’ ihrem Zauber ausstatten und dem jungen Roland zuführen als vorbestimmte Märchenbraut.
Je mehr sich die Vergangenheit Sonnenkamp’s enthüllt, desto mehr tritt die Sclavenfrage in den Mittelpunkt des Romans, der gegen den Schluß hin große geschichtliche Perspectiven gewinnt. Wie Sonnenkamp und Bella schiffen auch Erich, Manna und Roland über den Ocean, und der Bürgerkrieg sieht Vater und Kinder in getrennten Lagern sich feindlich gegenüberstehn.
Ich beklagte schon, Madame, daß wir hier, wo ein großes allgemeines Interesse rege wird, uns mit Brieffragmenten, mit flüchtigen Kreideskizzen begnügen müssen, statt der farbenreich ausgeführten Gemälde, welche die früheren Bände darbieten. Der Dichter verwies in einen Anhang, was uns gerade für selbstständige und glänzende Darstellung besonders geeignet scheint. Hier vollendet sich erst Roland’s Erziehung, hier erscheint Erich als Mann und Held, und auch der als Sclavenmörder gebrandmarkte Sonnenkamp sühnt den Frevel in tapferem Kampf.
Wieviel bedeutender ist dies Alles, als die Werbung um den Adel und das Scheitern dieser Bemühungen, die uns mit so ausführlicher Detailmalerei geschildert werden!
Sie sehn, Madame, der neue Roman Auerbach’s ist ein geist- und inhaltsvolles Werk; wichtige Fragen der persönlichen Erziehung und der Erziehung der Menschheit werden in demselben verhandelt; die stylistische Einkleidung ist edel und würdig, wenn auch in Inhalt und Form gleichmäßig der Denker mehr hervortritt als der Dichter, philosophische Weltbetrachtung mehr als der unmittelbare Hauch schöpferischer Phantasie und die Grazie erzählender Kunst.
Sie werden, Madame, diesen Roman nicht ohne Befriedigung, ohne vielfache Anregung aus der Hand legen und sich freuen, die Bekanntschaft eines so geistreichen Schriftstellers gemacht zu haben. Freilich dürfen Sie längere Zeit hindurch an seiner dichterischen Erfindungskraft nicht verzweifeln, Sie müssen ihr einen uneingeschränkten Credit eröffnen in der begründeten Hoffnung, daß sie später baar bezahlen wird.
Um jeder Schwierigkeit vorzubeugen, schickte am nächsten Tage der Pfarrer nach Schwester X., er habe mit ihr zu sprechen, ließ er sagen.
„Wenn ich Dich recht verstanden habe,“ nahm er die Unterredung an dem Punkte wieder auf, wo er sie gestern abgebrochen, „so möchtest Du, daß Deine Familie den ersten Schritt zur Versöhnung thäte. Allein das kann nicht sein; sie ist der beleidigte Theil, und Dir kommt es zu, ihre Verzeihung zu erbitten. Willst Du das, so bin ich bereit, Dir dabei zu helfen. Aber Deine Reue muß aufrichtig und vollständig sein; Du mußt rückhaltslos bekennen, daß Du durchaus unrecht gehandelt hast. Bist Du dazu entschlossen?“
„Ich glaube ja, mein Vater; ich beginne einzusehen, daß dies Klosterleben, welches meine Phantasie so sehr bestrickt hatte, seine strengen und fürchterlichen Seiten besitzt, denen ich mich nicht gewachsen fühle. Und, wie ich Ihnen schon gestern sagte, … ich habe selbst zu unserer Oberin das Vertrauen verloren.“
„Gut, meine Tochter; das ist aufrichtig gesprochen. Ich sehe jetzt, daß ich mich nicht geirrt habe, wenn Du mir von Anfang an nicht den Eindruck machtest, als habest Du inneren Beruf zum Klosterleben. Was sollen wir also beschließen? Reuig und demüthig, mit dem festen Vorsatze, Alles aufzubieten, um Deinen Fehltritt wieder gut zu machen, mußt Du in das Elternhaus heimkehren. In diesem Sinne hast Du zu schreiben; ich will ein paar fürbittende Worte unter Deinen Brief setzen und dafür sorgen, daß dieser in Deiner Eltern Hände gelangt, in St. Marceau oder in der Gascogne … wenn sie wirklich dahin gereist sind.“
Das junge Mädchen brach abermals in einen Thränenstrom aus.
„Aber,“ fuhr der Geistliche fort, „keine Silbe von dem, was zwischen uns verabredet worden ist, weder an die Oberin noch an sonst wen im Kloster! Halt! ich vergaß einen wichtigen Punkt. Wie willst Du es möglich machen, unbemerkt zu schreiben? Stehen Dir Feder, Tinte und Papier zur Verfügung?“
„Nichts von alledem, mein Vater. Sie wissen, wir bedürfen zum Schreiben einer speciellen Erlaubniß, und was wir schreiben, hat unvermeidlich die Controle der Oberin zu passiren.“
„Es ist wahr.“
Er überlegte und schien lange zu keiner Entscheidung kommen zu können.
„Trotz alledem,“ sagte er endlich, „kann ich’s nicht über’s Herz bringen, Dich im Stiche zu lassen, mein armes, irregeleitetes Kind; ich kann Dich nicht blind in Dein Verderben hinein rennen lassen. Nimm den Bleistift und dies Blatt Papier; es müßte doch sonderbar sein, wenn Du nicht einen unbelauschten Augenblick finden könntest, um ein paar aus dem Herzen kommende Zeilen zu schreiben. Für das Uebrige will ich schon sorgen. Aber jetzt gehe; eine längere Unterredung möchte Argwohn erwecken. Komm’ übermorgen an meinen Beichtstuhl. Sei verschwiegen und traue Niemandem, sonst kann ich für nichts stehen. Gleich Dir fürchte ich, es sind Intriguen im Spiele.“
Sein Verdacht war nur allzuwohl begründet.
Um zwei Uhr Nachts stand die Oberin, welche den ganzen Tag über in ungewöhnlich guter Stimmung gewesen war, wie ein verhängnißvolles Omen vor dem Bette der Schwester X. und gebot dieser, sich unverweilt zu erheben und anzukleiden. Ein Befehl der „Generalin“ (générale) des Ordens, welcher mit der letzten Post eingelaufen sei, rufe die Schwester sonder Verzug nach Paris.
Die Nonnen in den nebenstehenden Betten schenkten dieser Eröffnung wenig Aufmerksamkeit. Zwar richteten sich einige derselben in die Höhe und starrten umher, doch auf ein Zeichen von der Oberin legten sie sich ruhig wieder hin. Keine wagte ein Wort weder der Theilnahme noch der Neugier. Madame Blandine schien in ausgezeichneter Laune zu sein; auf ihrem bleichen, aber lächelnden Gesicht ließ sich deutlich der Ausdruck einer grausamen Befriedigung erkennen. Wohl hatte Schwester X. die größte Lust, sich wider den Befehl aufzulehnen, – allein früh um vier Uhr war sie bereits auf dem Wege nach Paris.
Im Mutterhause zu Paris trat Schwester X. ihr Noviziat an. Das Klosterregiment versteht sich vortrefflich auf die Bändigung rebellischer Geister und ruht nicht eher, als bis es sie geschmeidig und hämmerbar gemacht hat. Neun Tage völlige Absperrung, neun Tage Demüthigungen und Erniedrigungen, Betrachtungen, Predigten, schwülstige Gespräche und endlose Gebete in einer dunklen Capelle, die so still ist wie das Grab und mit ihrem ewigen Weihrauchsdufte betäubt – das vermag viel. Und nun denke man sich den Eindruck, welchen dies Alles auf das Hirn
[93][94] eines unerfahrenen und von Natur zu Träumereien und religiösen Hallucinationen neigenden Mädchens machen muß! Nimmt man dazu noch die klösterliche Ausmalung künftiger Strafen gegenüber den unsäglichen Wonnen, welche die Gottheit ihren Auserwählten vorbehält, die reinen Freuden des Klosters im Vergleich mit den Abscheulichkeiten einer bösen Welt – und man wird zugeben, das ist mehr als genug, um einen unentschlossenen und schwankenden Willen schließlich zu bestimmen.
Eines Tags erhält Schwester X. die Nachricht vom Tode ihres Vaters; es traf sie wie ein Donnerschlag, um so mehr als aus dem Briefe deutlich hervorging, daß ihr Verhalten dem alten Manne das Herz gebrochen: der Gram um sie hatte ihn getödtet. Sie schrieb sofort an ihre Mutter; betheuerte ihre tiefe Reue und erbot sich, zu ihr zurückzukehren. Madame Soubeyran antwortete kurz und bitter; sie weigerte sich entschieden, die Tochter wieder bei sich aufzunehmen. Eine weitere Entfremdung zwischen Mutter und Kind führten die Advocaten herbei, die im Auftrage des Klosters darauf bestanden, daß Alles, was der Hauptmann an beweglicher Habe hinterlassen, verkauft würde, damit das Mädchen alsbald sein volles Erbtheil bekäme. Erst mehrere Jahre später erfuhr Schwester X. selbst von diesen gehässigen Proceduren. Ihre Mutter hat sie niemals wiedergesehen.
Schwester X. war eine von fünf Novizen, die sämmtlich am nämlichen Tage Profeß ablegten. Während der strengen Absonderung, welche dieser Handlung voranzugehen pflegt, werden sie dringend und unablässig ermahnt, ihre Angehörigen fortan ganz aus ihren Gedanken zu verbannen und jedes Gefühl menschlicher Neigung sich aus dem Herzen zu reißen. Dies Verbot der irdischen Liebe erleidet indeß gelegentlich Modificationen, sobald nämlich das Kloster von den betreffenden Familien Schenkungen und Stiftungen zu erwarten hat; je nach dem Maßstabe derselben wird von der Observanz der Regel entbunden.
Die Nonnengelübde begreifen zwei Perioden. Während der erstern binden sie nur auf fünf Jahre, nachher werden sie lebenslänglich. So lange die erste dieser Perioden dauert, schenkt man den Nonnen, welche Vermögen besitzen, alle mögliche Nachsicht und Berücksichtigung und beugt sich tief vor ihnen, vom Augenblicke an aber, wo das lebenslängliche Gelübde ausgesprochen wird, streicht das Haus Geld und sonstige Habe ein, welche den Nonnen gehört, und alle persönlichen Rücksichten haben ein Ende. Jetzt gilt nur noch der unbedingte Gehorsam ohne Ansehung der Person.
Nach ihrem Profeß ward Schwester X. nach einem Kloster der Auvergne geschickt, dem Mutter Ludivine als Oberin vorstand, welcher es vor Allem darum zu thun war, die äußeren Güter des Klosters zu vermehren. Auf die Art der Mittel und Wege dazu kam es ihr nicht an. So hatte sie unter Anderem neben dem Kloster ein Zufluchtshaus für ältliche Damen etablirt, das heißt für Damen, welche Geld und Gut besaßen, das sie dereinst dem Kloster vermachen konnten. Diese Damen wurden in jeder Weise gehegt und gepflegt, natürlich um so besser und sorgsamer, je größer ihr Vermögen war. Man nahm ihnen jegliche Noth und Beschwerde des Lebens ab, selbst die Mühe ihre Renten in Empfang zu nehmen und ihre Güter zu verwalten. Ueberdies wurde ihnen das Privilegium eines gottseligen Todes verbürgt. Wer möchte gegen ein solches Arrangement etwas einwenden? Kann man denn von seinem Gelde einen weiseren Gebrauch machen, als wenn man sich dadurch ein ruhiges Leben hienieden und jenseits die Freuden des Paradieses sichert?
Durch allerhand kluge Manöver hatte Mutter Ludivine es dahin zu bringen gewußt, daß sich eine der reichsten alten Damen der Gegend, ein Fräulein St. Chéron, unter diese Pensionärinnen aufnehmen ließ. Sie hatte nicht den Schatten von Religion, rauchte wie ein Dragoner und behandelte die Nonnen, als wären sie ihre Sclavinnen. Aber was that dies? Sie gebot über viele, viele Tausende von Franken, über herrliche Felder und Wiesen und war bereits in die Achtzig. Ließ sich eine bessere Acquisition für das Kloster denken, zumal ja auch noch das verdienstliche Werk der Bekehrung einer verstockten Sünderin in Aussicht stand?
In der Regel hatte eine der Laienschwestern die Bedienung der sehr cholerischen Dame zu besorgen, die bei der geringsten Kleinigkeit in Zorn gerieth und sich oft genug zu thätlichen Mißhandlungen der Dienerin hinreißen ließ. Eines Mittags aber wurde Schwester X. zu diesem Posten commandirt. Zwar fühlte sie sich gekränkt, daß ihr eine derartige niedrige Arbeit zugemuthet wurde, welche eigentlich den Nonnen nicht angesonnen zu werden pflegte, allein sie mußte gehorchen. Fräulein St. Chéron empfing sie äußerst ungnädig, da sie ihrer Meinung nach schon zu lange auf ihr Diner hatte warten müssen, und schickte sich an, die Suppenschüssel nach der Schwester zu werfen. Bald aber schien sie an dem sanften Wesen und dem ruhigen Gesicht ihrer neuen Aufwärterin Gefallen zu finden und begann diese nach ihrer Familie und nach den Gründen zu fragen, welche sie veranlaßt, sich hinter Klostermauern zu begraben. Wahrnehmend, daß Schwester X.’s Stimme bebte und ihre Augen feucht waren, rief sie aus:
„Ach, Sie haben noch etwas wie ein Herz; die Erinnerung an Vater und Mutter macht Sie weinen. Morbleu, das ist das erste Mal, daß ich so etwas sehe, seitdem ich in dieser alten Baracke eingesperrt bin!“
In diesem Stile ging es eine Zeit lang fort, und da Schwester X. sie weder unterbrach noch ihr widersprach, so faßte die Alte eine immer größere Zuneigung zu ihr. Dann erzählte sie dieser alle ihre Abenteuer ausführlich und schloß mit der Klage, daß man ihr hier im Kloster ihr Geld gestohlen habe und sie wider ihren eigenen Willen festhalte.
„Hören Sie mich an,“ setzte sie jählings hinzu. „Ich lese schon in Ihrem Herzen, in dem mir nichts mehr verborgen ist; Sie sind Ihres Lebens hier müde und möchten gern wieder jenseits der Klostermauern in der Welt draußen sein. Helfen Sie mir; wir wollen zusammen die Flucht ergreifen. Ich habe noch Vermögen, von welchem die Nonnen nichts wissen; ich habe auch einen Neffen, einen hübschen jungen Mann von dreißig Jahren. Er soll Sie heirathen. Sie werden mir eine Familie lieber Kinder schenken, denn wahrhaftig, Sie sind noch hübsch und jung trotz aller Ihrer Leiden. Was meinen Sie dazu? Ist’s unmöglich, herauszukommen? Sie sollen nicht länger von Kohl und Wassernuß[WS 5] leben …“
Ein Klopfen an der Thür unterbrach ihre Eröffnungen. Es war eine Laienschwester, welche meldete, daß die Oberin Schwester X. zu sprechen wünsche. Ohne Verzug verabschiedete sich die Nonne von Fräulein St. Chéron.
„Madame Ludivine,“ schließt Schwester X. ihre Aufzeichnungen, „begrüßte mich sehr liebenswürdig. Sie drückte ihr Bedauern aus, daß durch ein Mißverständniß mir eine Aufgabe zugetheilt worden sei, welche so große Selbstverleugnung erheische; allein sie hoffe, ich werde die Gelegenheit benützen, mich in der Meinung der Schwestern zu rehabilitiren, welchen meine Gleichgültigkeit für das Interesse des Hauses zum schweren Aergerniß gereicht habe. Sie bat und, falls nöthig, befahl mir, gewisse Illusionen nicht zu zerstören, die man unter allen Umständen in Fräulein St. Chéron erhalten möchte; sie von dem wirklichen Sachverhalte nichts wissen zu lassen; ihr in nichts zu widersprechen; viel von der Bedrängniß zu reden, in der sich das Kloster bei ihrer Ankunft befunden habe, und ihrer Eitelkeit zu schmeicheln, indem man sie als unsere Stütze, unsere Gönnerin, unsere Vorsehung bezeichnete. Gelegentlich sollte ich auch religiöse Gegenstände auf das Tapet bringen und der alten Dame Angst einflößen vor ihrer letzten Stunde.
Da ich nichts erwiderte, so frug mich die Oberin, die, trotz ihrer Anstrengungen, sich liebenswürdig zu zeigen, ihren Aerger nicht verhehlen konnte: ‚Meine Schwester, soll ich mir Ihr Schweigen als Zustimmung zu meinen Ansichten oder als den Entschluß deuten, mir nicht gehorchen zu wollen?‘
‚Meine Mutter, ich will Alles thun, was ich kann,‘ antwortete ich, ‚und versuchen, mein Gewissen mit Ihren Befehlen in Einklang zu bringen.‘
‚Sie wollen’s versuchen! Bitte, keinen Vorbehalt und keine Einschränkung, meine Schwester. Ich habe die Linie vorgezeichnet, der Sie zu folgen haben, und nehme alle Verantwortlichkeit auf mich. Sie werden von Fräulein St. Chéron ein weiteres Darlehen erzwingen. Offenbar findet sie Wohlgefallen an Ihnen, und Sie werden Alles von ihr erlangen, wenn Sie sagen, daß Sie sonst sie wieder verlassen müßten. Desselben Mittels wollen Sie sich bedienen, um sie zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten zu veranlassen.‘
‚Meine Mutter!‘
‚Ich habe Ihnen gesagt, ich dulde keinen Widerspruch: ich fordere einfachen und stricten Gehorsam.‘
‚Nun denn wohl, Madame; ich will nicht gehorchen,‘ rief ich [95] aus, empört über den Despotismus. ‚Ich will mich nicht verleiten lassen, Handlungen zu begehen, welche nicht nur einer Nonne, sondern selbst jedes ehrenhaften weltlichen Menschen unwürdig sind. Im Gegentheil will ich die arme alte Dame über ihre wahren Interessen aufklären. Glauben Sie denn, daß ich mich an den Manipulationen zur Mitschuldigen machen werde, durch welche Sie das Vertrauen einer eingesperrten alten Dame mißbrauchen und sie täuschen wollen?‘
‚Sie schwatzen Unsinn,‘ erwiderte die Oberin. ‚Sie hoffen, durch Ihre Unverschämtheit nach Paris zurückgesandt zu werden, doch das paßt nicht in meine Pläne. Wir werden Sie hier behalten und mit Gottes Hülfe Herr werden über Ihren erschrecklichen Charakter. Wenn Sie bei Ihrer Weigerung beharren, so schicken wir Sie morgen auf’s Land. Ein paar Wochen ländlicher Arbeit werden Ihnen den Stolz schon austreiben. Ueberlegen Sie sich das wohl und wählen Sie!‘
Sie ward durch einen Besuch abgerufen, sagte mir aber, ich sollte auf ihre Rückkunft warten, da sie mit mir noch nicht fertig sei.
Ich fand mich in der größten Aufregung. Die Drohung, mich auf’s Land schicken zu wollen, war seltsam. Natürlich war darunter das Landhaus des Klosters verstanden, welches nur von fünf bis sechs Nonnen und ebensoviel Laienschwestern und Laienbrüdern bewohnt wurde. Als ich im letzten Jahre mit einer jener Laienschwestern im Garten des Hauses lustwandelte, zeigte sie mir einen unterirdischen Kerker und sagte lachend: ‚dahinein werden die Schwestern gesteckt, die sich nicht geziemend aufführen. Sie sehen, wie unsere Mutter für unser Seelenheil sorgt; sie ist auf alle Fälle gehörig vorbereitet.‘ Es überlief mich kalt bei dieser Erinnerung. ‚Sie ist im Stande, das zu thun,‘ sagte ich mir; ‚denn sie hat weder Herz noch Gewissen noch Gottesfurcht und weiß, daß sie am Mutterhause einen Rückhalt findet.‘“
Leider brechen die Aufzeichnungen hier allzu rasch ab; es kam ihrer Verfasserin nur darauf an, das zu schildern und zu sagen, was sie hinter der Klosterpforte Alles geduldet und getragen. Den Höhepunkt ihrer moralischen Leiden bildete das eben geschilderte letzte Gespräch mit der Oberin, welches ihr eine so verhängnißvolle Zukunft in Aussicht stellte. Nun war keine Zeit zu verlieren, und in diesem Augenblick galt es, alle Kräfte zusammenzuraffen und einen Entschluß zu fassen.
Es war sieben Uhr Abends und ganz dunkel; nur im Cabinet der Oberin brannte ein kleines Nachtlicht. Schwester X. öffnete das Fenster, stieg hinaus und drückte es hinter sich leise wieder zu; dann ließ sie sich am Spalier der Mauer hinab. Als sie den Erdboden erreichte, ward sie schwindlig, doch rasch gewann sie wieder Muth und Kraft. Sie entdeckte eine Lücke in der Mauer, welche eben in der Ausbesserung begriffen war, und zwängte sich durch einen dicken Weißdornzaun. Zwar kam sie geschunden, zerrissen und blutend auf der andern Seite an, – aber sie war frei!
Bonapartes an allen Ecken und Enden. – In den letzten Tagen machte durch alle Zeitungen eine Nachricht aus Bern die Runde, die auch unseren Lesern nicht entgangen sein wird, und die zur Befriedigung eines dringenden Bedürfnisses nichts Geringeres als das Auftauchen eines neuen Bonaparte verkündet, welcher ein Enkel Napoleon’s des Ersten sein will, und sich „Prince royal Louis Napoleon Bonaparte“ nennt. Er soll dem jetzigen Kaiser (in jüngeren Jahren) auffallend ähnlich sehen, und sammelt Subscribenten für eine Schrift: „La société et mon droit“, welche der französischen Nation gewidmet ist. Man wird gerne zugeben, daß der neue Bonaparte keinen unglücklicheren Augenblick für sein Auftreten wählen konnte, als den gegenwärtigen, da die Franzosen Veranlassung genommen, gelegentlich der Ermordung Noir’s Betrachtungen über die Eigenthümlichkeiten einer corsischen Natur anzustellen – indeß giebt uns die Nachricht aus Bern Gelegenheit, die Aufmerksamkeit unserer Leser auf einen anderen „Bonaparte“ hinzulenken, der bereits vor einigen Monaten in Stuttgart aufgetreten ist, und dessen Erscheinen weniger Beachtung gefunden hat, als der Anspruch auf eine so nahe Verwandtschaft mit dem Cäsar Frankreichs erwarten durfte. Was uns darüber geschrieben wurde, lassen wir unverkürzt hier folgen, und es braucht kaum der Versicherung, daß die Gartenlaube keinerlei Verantwortlichkeit für die Richtigkeit der ihr gewordenen Mittheilung übernehmen kann:
„Verschiedene die öffentliche Aufmerksamkeit im höchsten Grade beschäftigende Ereignisse lassen es begreiflich finden, daß die Nachricht von dem Auftreten eines neuen Napoleoniden in Stuttgart fast ohne Eindruck vorüberging. Derselbe behauptet in einer an das Wiener Landesgericht in Strafsachen erlassenen Schrift: er sei der Sohn des verstorbenen Herzogs von Reichstadt, und als solcher macht er Ansprüche auf Rechte, Titel und Vermögen, wie sie ihm als legitimen Prinzen gebührten. Von seiner Mutter sagt er, sie stamme aus einer ungarischen Grafenfamilie.
Da mir das Leben und Treiben des Herzogs von Reichstadt, zumal in den letzten Jahren vor seinem Tode, ziemlich genau bekannt ist, weil ich mich zu jener Zeit in Wien befand, auch von seinen damaligen theils überall bekannten, theils geheim gehaltenen Liebschaften genaue Kenntniß hatte, interessirte es mich nicht wenig, Näheres über diesen angeblichen Prinzen zu erfahren, umsomehr, da ich es nicht für unmöglich halte, daß ein Nachkomme des Herzogs leben könnte und zwar, wie ich aus sehr zuverlässiger glaubwürdiger Quelle erfahren habe, einer aus gesetzlicher Ehe. Ich wandte mich demnach brieflich an den Prätendenten des Titels eines Prinzen nach Stuttgart und erhielt nach wenigen Tagen von seinem Beauftragten, Herrn Paul von B–m–r, ehemaligem bairischen Officier, eine bestätigende Antwort darauf, daß dieser Prinz wirklich sich für einen Sohn des Herzogs von Reichstadt ausgebe und daß er im Jahre 1833 nach dem – wie er annimmt – gewaltsam erfolgten Tode seines Vaters auf böhmischem Boden heimlich zur Welt gekommen sei. Außerdem aber, behauptet der genannte Briefsteller, sei eine unverkennbare Familienähnlichkeit mit den Napoleons in den Zügen dieses prinzlichen Individuums im Profil zu finden. Von Kindheit an wurde derselbe in Wurzen unweit Leipzig bei einem Schneider, Namens Ludwig, erzogen, der ihn adoptirt hatte, später arbeitete er bei einem Stuttgarter Schneider als Lehrling. Daß er seine Geburt und die Ermordung des Herzogs von Reichstadt auf das Jahr 1833 angiebt, hält sein Beauftragter für einen Anachronismus.
Das, was ich nun selber noch zu Lebzeiten des Herzogs von Reichstadt während seines Aufenthaltes in Wien erfahren und später von einem Herrn gehört, welcher zu den vertrautesten Officieren des kaiserlichen Generals Grafen von G… gehörte, der hinwieder mit dem Herzog von Reichstadt sehr intim gewesen, ist das Folgende und ich muß es den Lesern der Gartenlaube überlassen, wie weit sie es mit den Angaben des prätensiven Prinzen in Uebereinstimmung bringen können und wollen.
Joseph von Sz.m…ti, ehemals kaiserlich österreichischer Uhlanenofficier, später während des ungarischen Unabhängigkeitskrieges Honved-Major ad latus des Generals Dembinski, hat im Beisein vieler seiner Verbannungsgenossen in London, unter welche auch ich gehörte, erzählt, sein ehemaliger Chef, damals noch Oberst Graf G…, sei Zeuge bei der Vermählung des Herzogs von Reichstadt mit der ungarischen Comtesse Marie S… gewesen; der andere Zeuge war der auch als Schriftsteller berühmte Fürst Fritz Sch…, ein ebenso intimer Freund des Herzogs. Die Bekanntschaft und nachherige Verlobung und Trennung habe sich folgendermaßen zugetragen.
Der junge Herzog machte die Bekanntschaft der Comtesse S…, welche zu den ersten Schönheiten Wiens und Ungarns gezählt wurde, während der großen Ueberschwemmung im März 1830, in der Vorstadt Rossau, wo er sie auf einem Kahne aus einem Hause rettete. Bei der Gräfin Louis K…, welche dem Prinzen als Liebesvertraute diente, wurde dann die Bekanntschaft weiter fortgesetzt. Die Comtesse hielt viel zu sehr auf ihren guten Ruf, als daß sie es nicht eingesehen hätte, daß eine solche prinzliche Bekanntschaft diesen nur gefährden würde, und sie hielt den Prinzen stets in der gebührenden Entfernung von sich. Ob dies aus Berechnung geschah, um seine Flamme zu steigern, oder ob sie von ihrem Vater hierzu gezwungen wurde, das ist schwer zu entscheiden, wahr ist es jedoch, daß sie sich damals mit dem ungarischen Leibgardisten-Lieutenant Baron Ferdinand von H–ky verlobte und Wien verließ. Der Herzog war über ihre Abreise untröstlich, und um die Bekanntschaft mit ihr erneuern zu können, bat er sogar seinen Großvater, den Kaiser Franz, ihn in ein anderes Regiment, zu den Sachsen-Kürassieren, die damals in und um Oedenburg herum lagen, folglich in unmittelbarer Nähe der Gräflich S…’schen Domäne, zu versetzen. Der Kaiser jedoch wollte seinen Enkel nicht aus den Augen lassen und man gab sich Mühe, seine Neigung in einen andern Canal zu lenken. Der ehemalige Erzieher des Herzogs von Reichstadt, Montbel, erzählt in seinen Memoiren, wer die Blitzableiterin des herzoglichen Elektrons gewesen: es war eine der berühmtesten Tänzerinnen Europas.
Zu jener Zeit spielten am Wiener Hofe zwei erbitterte Gegner ihr politisches Schach: es waren die Kaiserin Carolina Augusta und der Reichskanzler Fürst Metternich. Die Kaiserin, um den letzteren zu chicaniren, da sie wußte, daß die neue Flamme des Herzogs von Reichstadt vom allmächtigen Minister nach Wien verschrieben worden, um den jungen Prinzen von seiner ersten Liebe abzuleiten, brachte es dahin, daß die Tänzerin, nachdem ihr eine Beleidigung widerfahren war, Wien verließ. Es wäre nun schwer gewesen, den aalschlüpfrigen Prinzen in Wien zu behalten, ja wenn man es ermöglichen wollte, so genügten kleine Mittel nicht, sondern man mußte zu heroischen greifen, um so mehr, da sich die Napoleonisten in Paris nach der Thronbesteigung Ludwig Philipp’s zu regen begannen, und sogar, wie weltbekannt, einen ihrer thätigsten Agenten, den Grafen S…r, welcher schon zu Zeiten Napoleon des Ersten einige Jahre in diplomatischen Missionen an verschiedenen Höfen und auch in Wien zugebracht, dahin absendeten, um den Prinzen nach Frankreich zu entführen. Metternich, welchem ein Budget von zwölf Millionen Gulden jährlich für geheime Ausgaben zu Diensten stand, hatte den Tag der Abreise des französischen Emissärs erfahren; er durfte ihm nicht Zeit lassen, mit dem Prinzen zu sprechen, und als Gegenzug ließ er die Comtesse S… nach Wien holen. Der Vorwand hierzu war leicht gefunden, indem ihrem Vater eine Stelle im Staatsrathe angeboten wurde, um die sich dieser schon längst bewarb. Comtesse Marie [96] und der französische Emissär kamen gleichzeitig in Wien an, und der Prinz erfuhr ihre Ankunft am Vorabende des Stelldicheins mit dem französischen Cavalier. Bei Jünglingen in den zwanziger Jahren behält Liebe stets die Oberhand über den Ehrgeiz. Metternich, als routinirter Menschenkenner, wußte dies nur zu gut und hat damals sein Spiel gewonnen. Der Prinz erneute seine Bekanntschaft mit Marie, und da er sie noch immer so spröde fand, bot er ihr zuletzt seine Hand als Zugabe zu seinem Herzen an; der damit verbundene Titel einer Herzogin von Reichstadt blendete die junge Dame derart, daß sie in eine Heirath, welche einstweilen geheim gehalten werden sollte, willigte, und diese soll nach meines Gewährsmannes Joseph von Sz.m…ki Behauptung im Monat December des Jahres 1831 in einer Kirche der Vorstadt Wieden von einem Piaristen als Trauenden vollzogen worden sein.
Mittlerweile hatte der Prinz seine Verbindungen mit Paris nicht ganz aufgegeben, und da er seiner jungen Gattin vorläufig noch das Führen des Titels einer Herzogin nicht gestatten konnte, wollte er ihr einen größeren, den einer Kaiserin der Franzosen, geben.
Die nach dem Tode des Herzogs von Reichstadt ausgestreuten Gerüchte, als sei er in Folge seiner Ausschweifungen gestorben, erwiesen sich durchaus nicht stichhaltig, denn niemals war der Prinz solider als während dieser Zeit, vom Herbst des Jahres 1831 bis zum Sommer des nächstfolgenden; er widmete sich dem Studium von politischen und kriegswissenschaftlichen Werken, da er es sich zur Aufgabe gestellt, dem Namen, den ihm sein Vater hinterlassen, falls er doch berufen wäre, seine Stelle einst auf dem Throne von Frankreich einzunehmen, Ehre zu machen. Drei Tage vor seinem Tode soll er noch im Volksgarten gewesen sein und sich mit mehreren Officieren seines Regimentes (des ungarischen Infanterie-Regimentes Prinz Gustav Wasa, dessen Oberst er gewesen) unterhalten haben; er beklagte sich nur, daß er an Zahnschmerzen litte, und zwar noch mehr, als er sich denselben von Dr. Karabély plombiren ließ. Drei Tage darauf war er todt.
Die Wittwe des Herzogs hat, nach einer bei dem Minister Fürsten von Metternich stattgefundenen Privataudienz, Wien sofort verlassen und verehelichte sich bald darauf mit ihrem ehemaligen Verlobten, dem Baron Ferdinand von H–ky, mit dem sie jedoch nur kurze Zeit lebte, um alsdann Oesterreich zu verlassen. Sie hielt sich ein paar Monate in Teplitz (Böhmen) auf, wo sie außer mit einem Dresdener, einem Arzt und dessen Gattin, mit Niemand sonst verkehrte; hier kann es gewesen sein, daß der Prätendent, welcher sich Prinz Eugen Joseph Napoleon Bonaparte nennt, geboren wurde, und von hier konnte er nach Wurzen gekommen sein. Mein mehrmals erwähnter Gewährsmann Major Sz.m…ki behauptete, die Gräfin sei in gesegneten Umständen gewesen, als der Herzog starb.
Der Beauftragte dieses angeblichen Prinzen giebt noch in seinem Briefe an, dieser Letztere sei in seiner Kindheit oftmals nach N… bei Wurzen zu einer Freiin von R.z…b…g geführt worden, welche er für seine Mutter hält. Wäre dies dieselbe Comtesse Marie S…? Ist es ihr wirklicher Name, den sie mit Recht trägt oder getragen hat? Wir wollten dies sehr bezweifeln, denn da die ofterwähnte Comtesse eben so wie Ihr zweiter Gemahl Baron Ferdinand H–ky katholischer Religion war, konnte eine gänzliche Scheidung zwischen ihnen nicht stattgefunden haben, höchstens eine von Bett und Tisch; eine solche gestattet aber eine andere Ehe nicht. Von der Comtesse S… weiß ich als positiv, daß sie sich bis zum Jahre 1856 in Dresden aufgehalten; was später aus ihr geworden, ist mir unbekannt; ihr Ruf war nicht der beste, namentlich soll sie eine heillose Verschwenderin gewesen sein; es ist sogar wahrscheinlich, daß sie noch im Jahre 1867 gelebt, denn damals traf ich mit dem Baron Ferdinand in Pest zusammen, den ich nach ihr fragte; er wußte mir aber nicht viel von ihr zu sagen, nur daß sie noch damals am Leben war.“
Der Vollständigkeit wegen nehmen wir nach der Berner auch diese Mittheilung auf, ohne, wie schon oben bemerkt, dafür irgend eine Verantwortlichkeit tragen zu wollen.
Der erste Kirchgang der Genesenen. Mit Abbildung. „Verse,“ sagt der Philosoph von Ferney, „werden darüber, ob sie poetischen Geist haben oder nicht, am besten geprüft, wenn man sie in Prosa überträgt, und wenn sie ihn darin behalten.“ Sollte eine zweckähnliche Metamorphose sich nicht auch auf dem Gebiete der Malerei vornehmen lassen? Sind doch im Grunde genommen alle Kunstwerke der Ausfluß eines poetischen Geistes! – Ein Gemälde in Prosa übersetzen, was heißt das aber anders, als ihm den holden Farbenschimmer abstreifen, es durch die graphischen Künste, deren schmuckloseste sich im Holzschnitt bewährt, zur Anschauung bringen? Wirkt selbst dann – nach so wesentlichem Verluste! – das Bild noch sympathisch auf uns zurück, verbleibt ihm selbst dann ein unverwüstlicher Kern an poetischer Kraft: so ist der Beweis seines wahren, idealen Kunstgehaltes geliefert. – Auch das jetzt zu besprechende Gemälde konnte, weil darin das malerische Element zur Geltung gekommen und die Form in einen verklärenden Farbenschein getaucht war, die xylographische
Uebertragung nicht ohne Einbuße passiren. Wie vermöchte der Grabstichel
jenes goldenduftige Licht wiederzugeben, welches im Originale durch die
ehrwürdigen Räume der Kirche bricht und weihevoll über den Häuptern der
frommen Betenden schwebt? wie vermöchte er jene zarte Mischung in der
Erscheinung des Mädchens anschaulich zu machen, dessen blasses, von der
Anstrengung des ersten Ganges nur leicht angehauchtes Gesicht und dessen
müdes und doch gewinnendes Lächeln ob der Fürsorge des alten Mütterchens
ebensosehr die ersten Zeichen völliger Genesung, wie die letzten Spuren
überstandener Krankheit zeigt?
All’ dieser holden Farbenwirkung, welche dem Gemälde einen so unwiderstehlichen Zauber verleiht, muß der formgebundene Holzschnitt entbehren, und trotzdem, welcher beträchtliche Fond an Poesie ist noch in ihm verblieben! Gleich vorn der weißhäuptige Alte, andächtig durch’s Glas in die mürben Blätter seines Gesangbuches schauend, wie charakteristisch ist er in jeder Linie! Man sieht es ihm an, daß es sein Leiblied ist, das trostreiche „Befiehl du deine Wege“, was laut der am Chore hängenden Nummer eben gesungen wird, und wie scharf contrastirt mit ihm der im Mittelgrund befindliche, am Glanze seiner wohlbeleibten Selbstzufriedenheit leicht erkennbare Dorfschulze, in dessen Nähe die Alte aus dem Gemeindespital auf das Pflaster gesunken ist, in der Hand die Krücke, auf der sie sich mühsam in die Kirche geschleppt! Es ist das Ende eines sorgen-, vielleicht auch schuldgebeugten Lebens, das hier unsere wärmste Theilnahme anregt, und wie lichtvoll hat der Künstler die in das Leben tretende Unschuld danebengestellt in den beiden Kindergestalten mit dem noch unverletzten Siegel Gottes auf der Stirn!
Obwohl sich noch eine Fülle von solchen Hinweisen aufdrängt, glaube ich doch – bei der Raumbeschränkung des Blattes – dem Leser selbst das Nachempfinden des diese Gestalten belebenden Schönheitsgefühles überlassen und mit der Mittheilung schließen zu müssen, daß der „Sächsische Kunstverein“ die Originaldarstellung als Hauptbild für das Jahr 1870 erworben und der junge Maler, Hugo Oehmichen (geboren 1843 zu Borsdorf bei Leipzig), seinen Bildungsgang in Prof. Dr. Julius Hübner’s Atelier begonnen hat.
Einer nach dem Andern. Unsere Leser haben gewiß aus München
von der Ausstellung des neuesten Kaulbach’schen Bildes gehört, welches
den im Jahre 1867 zu Rom heilig gesprochenen einstmaligen spanischen Inquisitor Peter Arbues von Saragossa darstellt, umgeben von blutgierigen und
fanatischen Priestern, mitten in den Gräueln der mord- und opferreichen
Inquisition. Das Bild erregte in den Münchener katholischen Kreisen
natürlich großes Aergerniß und die dortigen ultramontanen Blätter, noch
nicht befriedigt durch die Lorbeeren, die sie sich im Kampfe bei den Abgeordnetenwahlen erworben, richteten nun auch auf Meister Kaulbach ihre
giftspeienden Geschosse. Ja, sie vermochten den Ingrimm der fanatischen
Masse dergestalt zu steigern, daß dem Schöpfer des Bildes anonyme Droh-
und Schmähbriefe der verschiedensten Art zugingen. Kaulbach beachtete
dieselben anfangs nicht; als sie sich aber in bedenklicher Weise häuften und namentlich auch wiederholt die Zerstörung oder doch Beschädigung seines Bildes in Aussicht stellten, zog es der Meister vor, die Thüren seines Ateliers zu schließen und sein Werk sicher zu stellen in einer Stadt, welche einst F. D–dt insofern mit dem gelobten Lande verglich, als auch in ihr Milch und Honig fließe – nämlich die Wolfsmilch des „Volksboten“ und der Honig[WS 6] der „historisch-politischen Blätter“. In jenen Tagen nun, da Kaulbach’s Bild stündlich mehr Beschauer anlockte, befand sich unter denselben auch, wie der Gartenlaube geschrieben wird, ein Prinz, dessen Haus gegenüber den liberalen Neigungen des Königs im Augenblick so ziemlich als der Mittelpunkt aller für Ultramontanismus einerseits und Particularismus andererseits streitenden Mächte angesehen wird. Kaulbach führte den Prinzen selbst, und dieser konnte sich zuletzt nicht enthalten, seinem Unmuthe wenigstens insoweit Luft zu machen, als er dem Künstler das Grausige seines Motivs vorwarf.
„Die Geschichte,“ rief er, „bietet doch eine Menge anderer Gegenstände; warum greifen Sie immer zu so schrecklichen Gegenständen? Erst malten Sie diesen Nero – jetzt hier Arbues …“
„Hoheit verzeihen,“ fiel Kaulbach sich verbeugend ein, „ein Spitzbube nach dem andern!“
Uniformen der Eisenbahn-Beamten. Eine buntere Musterkarte von Uniformen läßt sich wohl nicht auffinden, als wenn man eine Reise durch unser liebes Deutschland macht und die verschiedenen Uniformen der
Eisenbahn-Angestellten betrachtet. – Da trägt der Eine Blau mit rother
Passepoilirung, ein Anderer desgleichen mit weißer Besetzung, wieder Andere tragen reichen Goldbesatz an ihren Uniformen und dergleichen. Kurz, es ist das Uniformenwesen so bunt, daß das Publicum sein blaues Wunder
darüber haben muß. Am schlimmsten tritt diese Verschiedenheit in der
Bekleidung aber hervor, wenn man Fahrcolonnen sieht, die aus Beamten
verschiedener Verwaltungen zusammengesetzt sind. Es ist das zum Beispiel
der Fall bei den zwischen Berlin und Köln coursirenden Courier- und
Schnellzügen, und bei den Schnellzügen zwischen Berlin-Kassel-Frankfurt
a. M.; da sieht man bei ein und demselben Zuge Beamte mit der Uniform der preußischen Staatsbahn, der braunschweig’schen und der Berlin-Potsdam-Magdeburger Bahn, welche erheblich in ihren Dienstkleidungen von einander abweichen. Einsender hatte neulich Gelegenheit, das Staunen eines fremden Reisenden über diese Angelegenheit zu beobachten und die satirische Bemerkung zu hören: „So etwas ist doch nur in der Kleinstaaterei Deutschlands möglich.“ Der Mann hatte Recht. Aber sollte denn in dieser Sache bei gutem Willen der Directionen nicht Besserung zu schaffen sein? Wie wäre es, wenn zunächst durch den ganzen Norddeutschen Bund die Uniform der königlich preußischen Staatsbahn-Beamten, allenfalls mit Weglassung der kostspieligen Goldstickerei, eingeführt würde? Diese aus blauem Tuche bestehende Dienstkleidung ist wohl die beste und auch die billigste mit, d. h. wie nochmals hervorgehoben wird, wenn die Goldstickerei, welche überflüssig ist, fortgelassen würde. Die Post- und auch die Telegraphen-Beamten kleiden sich im Norddeutschen Bunde seit dem Jahre 1866 nach einem Muster, und gewähren einen Anblick, der auf Einigkeit schließen läßt: Man mache das mit den Eisenbahn-Beamten ebenso. Freilich ist das bei den vielen selbstständigen Eisenbahn-Directionen leichter gesagt, als ausgeführt; allein im Interesse der Sache dürfte ein so geringfügiges Opfer der Nachgiebigkeit doch wohl mehr als gerechtfertigt erscheinen.
Inhalt: Aus eigener Kraft. Von W. v. Hillern. (Fortsetzung.) – Der Wohlthäter der Taubstummen. Von Ernst Stötzner. Mit Portrait. – Aus den politischen Salons des neuen Italiens. Von Emil Pirazzi. 1. Die Frau des Märtyrers. (Schluß.) – Großvatersspielen. Originalzeichnung von E. Schulz in Elberfeld. – Literaturbriefe an eine Dame. Von Rudolf Gottschall. II. – Hinter der Klosterpforte (Schluß.) – Blätter und Blüthen: Bonapartes an allen Ecken und Enden. – Der erste Kirchgang der Genesenen. Mit Abbildung. – Einer nach dem Andern. – Uniformen der Eisenbahn-Beamten.
- ↑ Ob im Jahre 1754 oder 55, ist nicht genau erwiesen, aber beachtenswerth ist es, daß es in derselben Zeit war, als Abbé de l’Epée in Paris anfing, Taubstumme zu unterrichten.
- ↑ Eine eigenthümliche Ironie des Zufalls war es auch, daß es bei Garibaldi’s im August 1862 unternommenem Zuge auf Rom gerade, wie man sich erinnern wird, ein Oberst Pallavicino sein mußte, welcher als Führer des ihm nachfolgenden piemontesischen Corps ihn in den Schluchten von Aspromonte zum Gefangenen machte: – wohl ein entfernter Verwandter der Marchesa.