Die Gartenlaube (1870)/Heft 28
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No. 28. | 1870. |
(Fortsetzung.)
Nach der Vorderseite nach Süden hin blickte das Schloß in eine hügelige Landschaft voll abwechselnder Kornfluren und Wiesen, dazwischen zerstreut Gehölze von geringer Ausdehnung; nahe liegende Dörfer, aus denen spitze Thürme und Kirchendächer aufragten, bewiesen, daß das Land sehr bevölkert sei. Weiter im Süden dehnten sich blaue Berghöhen; sie lagen jenseits eines bedeutenden Flusses, der zwar nicht schiffbar war, doch reiches Leben an seinen Ufern förderte; er trug Kohlennachen und bewegte Mühlen, Drahtziehereien, Eisenhämmer. –
Von den Fenstern des ersten Stockwerks des Schlosses aus konnte man die Spitzen der Masten der Kohlennachen sehen, wenn sie den Fluß hinunterglitten; es war ein eigenthümlicher, überraschender Anblick, die Masten mit ihren flatternden Wimpeln leise durch Kornfelder und Obstbaumwipfel ziehen zu sehen – den Fluß gewahrte man ja nicht – es hatte etwas von Traum, von Zauberei!
Hinter diesen Fenstern, in einem Saale, der mit einer großen Landschaftstapete bekleidet und oben an der Decke mit reichen Stuckarabesken verziert war, ging ein hoch und schlank gebauter Mann auf und ab. Er mochte fünfunddreißig Jahre oder weniger haben – vielleicht sah er älter aus, als er war; er hatte eine tiefe Furche zwischen den dunklen starken Brauen; das lange schwarze, ganz schlichte Haar, das dicht an seinen Schläfen niederhing, gab dem blassen Gesichte mit den markirten Zügen fast etwas Leidendes, Abgespanntes, wenn die tiefliegenden Augen Ruhe ausdrückten. Wenn er wie stolz oder ungeduldig den Kopf aufwarf und das Auge sich belebte, verschwand dieser Ausdruck ganz. Die Nase war lang und scharf gezeichnet, mit weiten Oeffnungen, der Mund viel voller und weicher als es zu dem männlichen Schnitte des Gesichtes in Harmonie stand.
Der Mann trug einen grünen Jagdrock und über engen gelben Beinkleidern Stiefel mit grauen Klappen und klirrenden Sporen.
Er trat jetzt an das mittlere Fenster und schien die Abendröthe zu betrachten, die über die fernen Höhen hinzog. Ein rosiger Schein fiel von daher in den Saal, und sich wendend, ließ der Schloßherr jetzt sein Auge über die Landschaftstapete ringsumher gleiten, die unter diesem Widerschein ein eigenthümliches Leben bekam.
Es waren Scenerien aus China, die diese Bilder darstellten. Der junge Mann starrte eine Weile auf eine Gruppe gelber Mandarinen, die auf rothen Stühlchen saßen und hohe grüne Pfauenfedern in ihre Zöpflein gesteckt hatten. Dann schlug er plötzlich ein starkes Gelächter auf, das fast unheimlich durch den großen öden Saal widerklang und dessen Echo er selbst mit einem Gesichte belauschte, das ebenso rasch wieder den vollsten Ernst ausdrückte.
„Zwischen diesen Chinesen in diesem leeren alten Hause könnte man verrückt werden,“ sagte er, indem er begann, in rascher Bewegung wieder durch den Raum zu schreiten. „Ich werde mir meine Pferde in diesen Saal stellen lassen, um eine Gesellschaft zu haben, oder ein paar alter Saufbrüder aus unserm Regiment kommen lassen – etwa Staupitz oder Horwath. Sie haben ja jetzt Zeit, seitdem wir Friede haben. Dann hätte ich freilich nur ein Paar andere Thiere da. Ich ziehe die Pferde vor. Wenn nur der Krieg wieder begönne. Doch – sie haben mich ja vom Regimente fortgejagt. Wenn ich wieder Soldat sein will, muß ich schon in die Reihen der Franzosen treten – sie sind ja ohnehin meine Landsleute und Landesherren jetzt – und eher ließe ich mich in Stücke hauen! So müßte ich denn schon auf eigene Faust ein Freicorps stiften wie weiland der Menzel und der Trenck! – Diese tödtliche Einsamkeit! – Daß man auch nichts gelernt hat, als wodurch man von Anderen abhängig wird! Tanzen, Französischreden, Schach spielen, Weiber verführen, immer braucht man ein anderes Menschenkind dazu! Es soll ein lüderlicher, aber kluger und witziger Pfaffe, dem man wegen seines schlechten Lebenswandels von seiner Stelle fortgejagt hat, im Dorfe wohnen, unter der Aufsicht des Pfarrers … Das wäre am Ende mein Mann … ich könnte ihn als Hofnarren brauchen – ohnehin paßten wir zusammen, der weggejagte Pfaffe als Gesellschafter des weggejagten Rittmeisters! Heda, Joseph!“
Auf diesen Ruf, den der „weggejagte Rittmeister“ laut ausstieß, indem er sich einer den Fenstern gegenüberliegenden Flügelthür näherte, öffnete sich diese und ein Jäger trat ein.
„Bringe mir Licht dort in das Cabinet, der Tag ist nun lang genug gewesen; schließ die Blendläden, und sieh, ob Wein da ist!“ rief er diesem entgegen; „dann nimm den Armvoll Bücher vom Tische, bringe sie in die Bibliothek zurück, und bringe einen andern Armvoll daraus her!“
„Zu Befehl, Herr Graf!“ versetzte der Jäger und ging durch die offenstehende Seitenthür in das Cabinet, auf welches sein Herr gedeutet hatte.
Dieser folgte ihm, sah still zu, wie der Diener seine Befehle [434] ausführte, und setzte sich endlich in einen alten gestickten Lehnstuhl, dessen Seidenfäden sich lang und stark ausgefasert hatten. Ein großer Windhund war bei seinem Nahen heruntergesprungen. Er wartete nun mit hinten übergelehntem Kopf, bis der Jäger, der eben einen Stoß Bücher vom Tische genommen, zurückkam und einen ebenso großen Stoß von Büchern in sauberen Halbfranzbänden mit goldgepreßtem Wappen auf dem Deckel, aber von den verschiedensten Formaten, vor ihm auf den Tisch legte.
„Du kannst gehen; komm nach einer Stunde wieder zu sehen, ob ich etwas bedarf,“ sagte der Graf und nahm das erste der Bücher, um es aufzuschlagen.
„Lateinisch!“ sagte er und warf es mit einer unmuthigen Bewegung auf die Erde.
Er nahm ein zweites; es war französisch und er blätterte darin; dann sah er nach der Seitenzahl auf dem letzten Blatte.
„Vierhundertdreißig Seiten! Wie unverschämt ist es, so dicke Bücher zu schreiben! Auch der klügste Kopf hat ja doch am Ende seines Lebens und Studirens nicht mehr ermittelt und Neues entdeckt, als was, wenn’s hoch kommt, eine Seite füllt!“
Er las die letzte Seite.
„Ach,“ fuhr er dann in seinem Selbstgespräch fort, „hier haben wir, was der Mann als seine Moral, als den Inbegriff seiner Weisheit mitzutheilen hat! Man mag,“ las er, „immerhin annehmen, daß jeder Mensch seines Schicksals Schmied und sein Charakter, seine Willensrichtung das ist, was seine Verhältnisse und seine Lage schafft. Er hängt dennoch nur vom Zufall und Glück ab. Der junge Mensch ist wie eine Wetterfahne. Der scharfe Nordwind giebt ihr die Richtung zum sonnigen Süden, der Südweststurm wirft sie nach dem kalten Nordost. Ein guter echter Stein bedarf doch, um ein heller Demant zu werden, daß Demant ihn schleift! Findet aber jeder Demant solchen Stoff, der ihn schleift? Wenn das Leben uns zum Pochhammer und Glühofen wird, können wir guter blanker Stahl werden, sonst nicht. Und so ist am Ende doch nur die Erziehung durch das Leben das, was uns macht und uns dann unser Schicksal machen läßt.“
„Larifari,“ sagte der Schloßherr, das Buch zuklappend und von sich werfend. „Sollte es darauf ankommen, ob die Umstände uns zu Stahl schmieden oder nicht? Sind wir Eisenstangen, die in’s Feuer und auf den Ambos müssen, um ein nützliches Geräth zu werden? Ah bah! Wenn man die Menschen hämmert, denke ich, so werden sie spröde, bröcklich, tückisch, böse. Ich möcht’s ihm nicht rathen, auf mir viel herumzuhämmern! Ich glaube, es käme ein widerborstiger, ungefüger, häßlicher Klumpen dabei heraus, weiter nichts!“
Er zog das Buch wieder an sich und las noch einmal die letzte Seite. Lange blickte er wie in Gedanken verloren darauf; dann warf er es abermals von sich, und aufseufzend sagte er: „Und am Ende doch nicht – am Ende blieb’ ich ein guter echter Stein, wenn ich auch keinen Demant fände, mich zu schleifen, sondern nur recht harte Schläge, die auf mich loshämmerten! Ich denke, gutes Metall hält’s aus. Aber wer weiß es vorher? Es kommt Alles auf die Probe an!“
Der Jäger unterbrach ihn – er trat ein und sagte: „Frau Wehrangel bittet, den Herrn Grafen sprechen zu dürfen – sie ist draußen.“
„So führe sie herein – was braucht’s da langes Anmelden.“ …
Er stand auf und ging der Frau, die draußen wartend im Saale stand, entgegen, um sie hereinzuführen.
Frau Wehrangel begrüßte ihn mit einem sehr förmlichen Wesen. Sie machte eine tiefe Verbeugung und der Blick, den sie auf ihn warf, während er zuvorkommend seinem Diener den Stuhl, den dieser für die Dame herantrug, abnahm, hatte etwas Scheues, Sorgliches.
„Warum machen Sie Complimente mit Ihrem Hausgenossen, Madame?“ sagte der Graf dabei; „lassen Sie sich nieder, damit wir bequem plaudern können. … Sie führen mein Hauswesen mit souveräner Vollmacht, wie Sie es früher gethan – ich bedarf Ihrer in hundert Dingen – Ihrer Hülfe, Ihrer Auskunft, Ihres Raths, Ihrer Vermittlung bei den Leuten, die Alle in Ihnen die gute alte Herrschaft fortleben und in mir eine Art von fremdem Usurpator sehen – gut, daß ich den deutschen Namen Maurach habe, wie dies Schloß und dieses Gut – ich fürchte, hätte der Name nur etwas von französischem Klang, sie würden sich nicht ausreden lassen, ich sei mit den andern Franzosen, mit dem langen Dienstschwanz des edeln Großherzogs Joachim in’s Land gekommen, und habe an Maurach so viel Recht wie der an unserm gesegneten Großherzogthum Berg! Aber da die Sachen so stehen und wir aufeinander angewiesen sind, so wollen wir uns den Verkehr erleichtern; treten Sie ohne Anmeldung bei mir ein, so oft und zu welcher Stunde Sie wollen. Sie fürchten dabei vielleicht die Gegenseitigkeit? denken, ich werde mir dann herausnehmen, ebenso oft in Ihren Thurmbereich da oben mit seiner hübschen Aussicht und seine Schwalbennester dringen zu wollen? Beruhigen Sie sich darüber. Ein für alle Mal, Sie können ganz ruhig darüber sein! Ich bin überhaupt,“ unterbrach der Graf sich auflachend, „nicht solch ein Ungeheuer, wie die Leute sagen mögen! Und nun hab’ ich Ihnen eine lange Rede gehalten. Sonst ist’s meine Natur nicht, viel reden. Aber die Einsamkeit macht zum Schwätzer. Jetzt reden Sie.“
„Ich wollte Sie davon unterrichten, Herr Graf,“ sagte Frau Wehrangel, die ihr Auge wie forschend auf den jungen Mann gerichtet hatte, ohne im Geringsten bei seinem offenen Wesen und Sichaussprechen ihre förmliche Haltung zu ändern – „ich wollte Sie davon unterrichten, und um ihre Genehmigung bitten, daß ich zwei Gäste für die Nacht aufgenommen und einquartiert habe – der Herr Graf waren, als sie ankamen, noch mit dem Förster draußen, und so konnte ich nicht vorher anfragen.“ …
„Gäste?“ fiel Graf Maurach ein – „und wen?“
„Es ist ein Herr mit seiner Tochter – es sind französische Emigranten, welche eine Zuflucht in Holstein gefunden hatten, die Stadt Ploen, denk’ ich, nannten sie; es ist ihnen da ziemlich kümmerlich, scheint’s, gegangen, und nun haben sie sich aufgemacht, nach Frankreich heimzukehren, wo sie etwas von ihrem alten Erbe wieder zu erhalten hoffen.“
„Und die hat ihr Weg hierher, über Maurach geführt?“
„Es ist so – der Weg liegt nicht weit ab von ihrer Straße; außerdem hofften sie wohl Förderung ihres Zweckes hier zu finden, denn sie glauben – geben vor wenigstens, dem Herrn Grafen entfernt verwandt zu sein.“
„Verwandt, mir?“
„Der Herr nennt sich Vicomte de la Tour de Bussières.“
„Windbeuteleien! Ich habe den Namen in meinem Leben nicht gehört!“
„Die verstorbene Gemahlin des Vicomte sei eine geborene Baronin Marillac und deren Mutter eine Gräfin Maurach gewesen.“
„Ach – warum sagten Sie das nicht gleich?“ rief der Graf aus. „Marillac – das ist richtig – ich habe von Verwandten des Namens Marillac, die wir in Frankreich besitzen, gehört!“
„Auch der verstorbene Herr Graf hat den Namen wohl genannt, wie ich mich erinnere,“ sagte Frau Wehrangel.
„Nun, und wo haben Sie sie untergebracht, Frau Wehrangel?“
„In den Fremdenzimmern im rechten Flügel.“
„Gut, gut – weshalb kommen sie nicht zu mir? – erwarten sie, daß ich zu ihnen hinübergehen soll?“
„Keineswegs,“ versetzte Frau Wehrangel. „Sie waren sehr dankbar für das Nachtquartier, welches ich ihnen bot, und haben sich ermüdet darin zur Ruhe zurückgezogen. Sie hoffen, morgen den Herrn Graf erwarten zu dürfen.“
„Es wäre gescheidter gewesen; sie hätten mir diesen langweiligen Abend verplaudert und Sie hätten uns ein gutes Souper dazu hergerichtet, Frau Wehrangel,“ sagte der Schloßherr; „aber mag sein – ich will sie morgen sehen, Sie werden für ein Frühstück zu sorgen die Güte haben.“
Frau Wehrangel verbeugte und erhob sich.
„Gute Nacht, gute Nacht,“ sagte der Schloßherr sich ebenfalls erhebend, „also ein Herr und eine Dame, sagen Sie?“ fuhr er dabei fort. „Ist der Herr alt – und die Tochter – eine unverheirathete Tochter – oder nicht? Wie alt ist sie?“
„Mademoiselle de la Tour scheint etwa fünfundzwanzig Jahre zu haben,“ antwortete Frau Wehrangel. Wenn der Schloßherr erwartet hatte, etwas Näheres über das Aussehen seiner Gäste zu erfahren, so überließ ihn Frau Wehrangel ein wenig versteckt seiner Spannung. Sie knickste und ging.
„Ich könnte auch eine amüsantere Person zu meiner Wirthschafterin hier haben als die steifleinene Donna!“ sagte der Schloßherr [435] ihr nachblickend; „sie sieht ganz darnach aus, ehemals ein ganz schmackhaftes Gemüse gewesen zu sein, jetzt aber ist sie in einen häßlich dicken Teig von langweiliger Förmlichkeit eingebacken. – Also Gäste hätten wir – desto besser – Joseph, geh’ und hole mir die große Mappe mit den Pergamenten voller Wappen aus der Bibliothek – ich will in den alten Aufschwörungen und Stammbäumen nachschauen, wie wir mit den Marillacs verwandt sind … solch’ einem französischen Vicomte gegenüber darf man nicht verrathen, daß man in der Genealogie seines Hauses so unbeschlagen wie ein friesischer Milchesel ist.“
Am andern Tage, Vormittags, standen die Balconthüren des Saales mit den Landschaftstapeten weit offen und ließen die sonnige warme Luft hereinströmen; auf dem runden Tische inmitten des Raumes prangte schweres altes Silbergeräth; schöne alterthümliche Humpengläser mit darin geschliffenen Wappen und Sprüchen, und japanisches Porcellan; er trug das Frühstück, bei welchem der Jäger Joseph bediente, während ein alter Diener mit gepudertem Kopf und im schwarzen Anzug eines Hausofficianten den Buffettisch mit seinen Vorräthen an Silber und Karaffen und Flaschen unter seiner Obhut hatte. Am Tische saß Graf Ulrich Maurach, neben sich seine zwei Gäste, der Vicomte de la Tour rechts und links seine Tochter, die der letztere mit dem Namen Melusine de la Tour de Bussières vorgestellt hatte.
Graf Ulrich Maurach machte mit einer Unbefangenheit und einer Formlosigkeit den Wirth, die doch seinen Gästen ein gewisses gezwungenes Wesen nicht nehmen konnte. That es eben diese etwas rücksichtslose Weise des Hausherrn, sich zu geben und auszusprechen, welche den zierlich gebauten und ceremoniösen alten Herrn aus Frankreich verschüchterte, oder that es die hohe gesteifte Halsbinde, in welcher nach der Mode der Zeit sein Kopf stak – er saß steif da, sprach wenig, aß wenig und beobachtete viel mit den lebhaften braunen Augen, die ganz das Widerspiel von denen des Grafen waren; dessen Augen schauten mit ruhiger Stetigkeit, nur zuweilen aufglühend, unter starken dunklen Brauen hervor; die des Vicomte waren flachliegend, und stets bewegt schienen sie Alles wahrzunehmen, was um ihn her vorging. Man konnte annehmen, daß er am Ende des Mahles ein Inventarium jedes Stückes des Geräths, der aufgestellten Flaschen, der Speisen und nicht minder der gesprochenen Worte im Kopfe habe.
Erfüllte ihn dieser Reichthum, der ihn umgab, dies schöne Schloß mit seiner Aussicht in die herrliche sonnige Landschaft, über reich angebaute Fluren, die, so weit sein Auge ohne Brille und Fernrohr reichte, seinem glücklichen Wirthe gehörten, mit einem inneren Neide, der gestachelt war durch den Gedanken an das, was er einst daheim besessen, und vielleicht unwiederbringlich verloren?
Gewiß, man hätte ihm nicht zu sehr darüber zürnen können, denn er befand sich, wie er dem Hausherrn bereits gestanden, in der hülflosesten Lage von der Welt. Er wußte, daß von seinen ehemaligen Besitzungen in Berry die eine, die unbedeutendste und geringfügigste, noch nicht als Nationaleigenthum von den Machthabern von Frankreich veräußert sei; daß er Hoffnung habe, sie zurückerstattet zu bekommen; aber es fehlten ihm alle Geldmittel, die Ministerialbeamten in den Bureaux zu Paris, von denen eine solche Rückgewährung abhing, sich geneigt zu machen, ja, es fehlten ihm die Mittel, nur einige Wochen in Paris zu leben, wenn er sich auch in sparsamster Weise bis dahin durchgeschlagen habe.
Bei der Auseinandersetzung dieser Verhältnisse hatte vielfach seine Tochter Melusine, des Vaters ein wenig verworrenen Vortrag ergänzend und erklärend, das Wort genommen; ihr edles blasses Gesicht hatte sich dabei leicht erröthet, und während Graf Ulrich Maurach es mit bewunderndem Wohlgefallen angesehen, hatte er sich doch gesagt: „Dies schöne Geschöpf soll am Ende die Lockente sein, die mir meine gelben Vögel aus der Schatulle lockt! Wir kennen das! Ich werde mich hüten, mich umstricken zu lassen.“
Schön war sie in der That, Demoiselle Melusine de la Tour de Bussières. Sie hatte eigentlich mehr einen deutschen, als einen französischen Typus. Vielleicht that es das deutsche Blut, welches in ihren Adern rollte. Vorzüglich schön war der obere Theil ihres Gesichts, die hohe Stirn, die großen von den breiten Lidern halbbedeckten blauen Augen, die zierliche längliche Nase, das feine Oval der Wangen, an denen zwei starke Flechten hellbraunen Haares niederhingen, um, das zierliche Ohr bedeckend und hinten zusammenlaufend, sich in einen hohen Chignon zu verschlingen. Der untere Theil des Gesichtes mit den schwellenden Lippen war vielleicht ein wenig zu stark ausgebildet, um dem Ganzen seine harmonische Schönheit zu lassen. Das Kinn kündigte Energie an, und die Farbe, ein leiser gleichmäßig vertheilter olivenfarbener Ton, war es allein, was dem Gesichte im Lande blonder und rosiger Schönheiten etwas Fremdartiges gab.
Die junge Dame hatte ein außerordentlich wohltönendes Organ, so metallrein; sie mußte ohne Zweifel eine schöne starke Singstimme haben. Sie sprach meist in kurzen Sätzen, mit einer gewissen Bestimmtheit. Dabei ruhte ihr Auge fast unausgesetzt auf dem Vater; sie schien ihn mit unnachlassender Sorge im Auge zu halten; Graf Ulrich glaubte auch ein paar Mal zu bemerken, daß sie durch leises Kopfwinken ihn ermunterte oder abhielt, von den dargebotenen Speisen zu nehmen.
Der verwandtschaftliche Zusammenhang war zuerst erörtert worden. In Ulrich’s Cabinet lag noch die Mappe mit den Stammbaum-Pergamenten, den Aufschwörungsbriefen voll Wappenbildern in Gold und Silber und bunten Tincturen geöffnet auf dem Tische.
Man hatte ermittelt und klar gestellt: Graf Walram Maurach-Maurach, der letzte Besitzer der Herrschaft, der vor drei Monaten gestorben und sein Erbe seinem Lehnsvetter von der Linie Maurach-Godeneck, die bisher in Oesterreich seßhaft gewesen, hinterlassen, hatte keinen Verwandten gehabt, als eine Base, eines Oheims einzig überlebende Tochter, die jedoch wie todt oder vom Stamme abgeschnitten in dem jüngsten Pergamente durchstrichen stand. Graf Ulrich gab über ihr Ende keine weitere Auskunft; sie mußte nicht mehr unter den Lebenden sein. Sodann war ein Urgroßoheim des letzten Besitzers, der sich in Frankreich vermählt, auch dort gestorben; er hatte zwei Söhne, die ebenfalls längst todt, und eine Tochter hinterlassen, welche einen Baron Marillac in Berry geheirathet hatte, und deren Tochter war die Mutter des Vicomte de la Tour. Ulrich’s Gast, der Vicomte, der eine Gräfin Maurach-Maurach zur Mutter gehabt, war also allerdings mit dem verstorbenen Grafen Walram verwandt. Mit dem Schloßherrn Ulrich Maurach-Godeneck war er kaum mehr verwandt zu nennen, denn dessen Linie hatte sich schon vor längerer Zeit, schon im dreißigjährigen Kriege von der Hauptlinie getrennt; Ulrich hatte als Stamm- und Lehnsvetter die Herrschaft in Besitz genommen.
„Es ist gut,“ hatte der Vicomte hingeworfen, „daß der Vetter Walram auch nicht einmal eine weibliche Seitenverwandte hinterlassen hat; denn die jetzt hier eingeführte französische Gesetzgebung hat die alten Lehens- und Fidei-Commiß-Verhältnisse sämmtlich aufgehoben und beseitigt …“
„Und so wäre alsdann nicht ich Erbe geworden,“ fiel Graf Ulrich ein, „sondern“, setzte er mit einem Blicke auf den Stammbaum den Namen suchend hinzu, „diese durchstrichene Verwandte Ernestine von Maurach – vielleicht, heißt das, denn wer weiß es, solche Erbrechte sind gewöhnlich verwickelt!“
Er hatte dies völlig unbefangen hingeworfen und dabei nicht bemerkt, wie unruhig bewegt des Vicomte und wie forschend seiner Tochter Auge auf ihm lag.
„Ich hoffe,“ fuhr nach einer Weile der Vicomte fort, „Sie versagen mir eine große Gunst nicht, nämlich die, von diesen alten Stammbäumen Abschrift nehmen zu dürfen und sie als richtig und mit den beschworenen genealogischen Schemen übereinstimmend von einem Notar beglaubigen zu lassen.“
„O nein, gewiß nicht,“ versetzte Graf Ulrich. „Wenn es von Werth für Sie ist, so beginnen Sie damit, was Sie wollen. Und da dies nicht die Arbeit eines Tages ist, gewährt es mir die Aussicht, Sie länger an mein Haus als Gäste gebunden zu sehen, was mir ein sehr großes Vergnügen sein wird.“
Die junge Dame erröthete, als sie antwortete: „Wir werden diese Güte gewiß nicht mißbrauchen. Wenn Sie es erlauben, werde ich selbst schon heute beginnen, die Abschriften zu machen, die mein Vater zu besitzen wünscht; hoffentlich werde ich sie auch heute schon zu Ende bringen.“
„Das würde ich bedauern. Wir finden schon irgend Jemanden im Dorfe, der die Arbeit macht; Ihnen selber, Mademoiselle, sie zuzumuthen wäre doch sehr unritterlich von uns. Unterdeß erlauben Sie mir, während der Nachmittagsstunden Ihnen das Gut zu zeigen, und morgen, denk’ ich, fessele ich Ihren Herrn Vater, [436] indem ich ihn in das Archiv voll alter Pergamente führe; ich selbst habe mich noch nicht das Mindeste darum gekümmert; aber da der Vicomte ein Freund dieser Sachen ist, bin ich überzeugt, daß er ein Interesse daran findet; für die Geschichte unserer gemeinsamen Familie wird es alle möglichen Materialien und Aufschlüsse geben.“
„Sie beweisen mir ein außerordentlich großes Vertrauen, Herr Graf, das ich sicher nicht mißbrauchen werde,“ sagte der Vicomte.
„Ein Vertrauen?“ fiel Graf Ulrich ein. „Wie so? Haben Sie nicht am Ende ein Recht darauf, auf diesen alten Plunder, und wie könnten Sie es mißbrauchen?“
„Ich könnte es in der That nicht,“ entgegnete der Vicomte, „schon wegen der ritterlichen Weise, in welcher Sie selbst mir Ihre Familienpapiere zur Disposition stellen. Die Einsicht in dieselben muß mir jedoch um so willkommener und werthvoller sein, als mir selbst alles und jegliches Material der Art fehlt; unsere Papiere sind während der Revolution zerstört, verbrannt; ich habe mich mit meiner verstorbenen Frau und meinem Kinde mit falschen Pässen zum Lande hinausschleichen müssen; wenn ich heimgekehrt sein werde, um meine Ansprüche auf jene Besitzung im Berry zu erheben, wird es mir sogar schwer werden, auch nur meine Identität zu beweisen, falls man es dabei sehr genau nehmen wollte.“
„Sind Sie so ganz außer Beziehungen zu Verwandten und Standesgenossen gekommen, die doch in großer Anzahl zugleich mit Ihnen Frankreich verlassen haben, und deren viele mit Ihnen dieselben Wege, nach dem Norden, zogen, um dort eine Zuflucht zu finden?“
„Leider,“ versetzte der Vicomte, „wir sind damals in die Irre gestreut worden und haben einander aus den Augen verloren. Um bei diesem großen sauve qui peut die allgemeineren Interessen und die Personen im Auge halten zu können, war ich zu arm: meine Gemahlin, die Vicomtesse de la Tour de Bussières, hat als Stickerin, ich habe als Sprachlehrer leben müssen. Ach, und der Sprachlehrer gab es in den Orten, wo wir Emigranten überhaupt nur Aufnahme fanden, so viele! Ein Paar ältere Freunde sind, der eine schon vor der Rückkehr, noch in Deutschland, der andere kurz nach der Heimkehr in Berry gestorben. Die Hauptquelle unserer Nachrichten von daheim sind die Briefe eines jungen Mädchens, der Freundin meiner Tochter, die mit einer Tante eine Zeit lang in derselben Stadt mit uns das Brod der Verbannung aß. Doch hoffe ich freilich, daß mein Name mir, wenn ich nach Frankreich zurückgekehrt bin, hinreichende Sympathien und Freunde zuführen wird …“
„Es würde mich freuen,“ sagte Graf Ulrich mit ungeheuchelter Theilnahme, „wenn ich irgend etwas thun könnte, um dort Ihnen Ihre Aufgaben zu erleichtern!“
Der Vicomte verbeugte sich.
„Sie sagen,“ fuhr der Graf fort, „daß eines Ihrer Güter nicht als National-Eigenthum verkauft ist; das ist freilich ein Glück; aber es hängt dennoch viel davon ab, in welche Hände es gerathen, denn gewiß hat man weder das Haus unbewohnt, noch das Areal unbebaut gelassen, und es werden Leute da sein, die sich da während Ihrer Abwesenheit mehr oder minder festgewurzelt haben. Haben Sie Ihr Recht dargethan, so wird freilich die Regierung des Kaisers, der Maire, der Friedensrichter – wir haben diese Leute jetzt auch hier – Ihnen behülflich sein, es durchzusetzen; aber immerhin wird viel auf den Charakter der Leute ankommen, denen Sie entgegen treten müssen …“
„Leider,“ fiel der Vicomte ein, „entwickeln die Leute, denen wir entgegentreten müssen, um ihnen einen Besitz zu nehmen, gewöhnlich einen und denselben Charakter!“
„In der That,“ sagte der Graf lachend, „den Charakter der Streitlust und Hartnäckigkeit! Aber es giebt dabei doch Unterschiede. Ich kann mir zum Beispiel recht gut denken, daß Sie, Herr Vicomte, wenn man auf ein wirkliches Recht hin Ihnen einen Besitz nehmen wollte, mit weiser Gelassenheit sich in die Thatsachen fügten, während ich mir doch dabei einige Anfälle von Berserkerwuth zutraute, falls man zum Beispiel kommen wollte, mich aus diesem Schlosse zu werfen – ich glaube, ich wäre ein unliebenswürdiger Gegner und im Stande, solch einen unglücklichen Berechtigten zu erdrosseln oder zum Fenster hinauszuwerfen oder todt zu …“
Der Graf, der diese Worte lachend wie eine ziemlich unbedachte Rodomontade zu sprechen begonnen hatte, hielt plötzlich inne; er fuhr mit der Hand über das Gesicht, und als er sie wegnahm, schien es ein wenig blasser geworden – wenigstens waren die Züge jetzt sehr ernst und das Auge schaute zerstreut oder nach innen gekehrt.
„Kommen Sie mit, Doctor! Es gilt nichts weniger als einen Ritt in das altromantische Land.“
„Bitte, lassen Sie die Hippogryphen anschirren, ich bin bereit!“
Ein Stündlein Romantik ist nach der ledernen ärztlichen Praxis und der Alltagspoesie der Giftmorde durch Opium, Strychnin oder Sublimat ein Genuß, wie ein Glas vollen Burgunders bei einer trockenen und zähen Hirschkeule. Aber wohin? Wo giebt es noch Romantik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts? Oberon und Titania sind nachweislich auf einen seligeren Planeten übergesiedelt und setzen ihr Geschäft der Heirathsvermittelung wahrscheinlich auch dort fort. Romantik der Liebe? Ja, sie ist längst begraben, wie die zahlreichen „reellen Heirathsgesuche“ in den Zeitungen beweisen. Und die Romantik des Glaubens? Ach, die lebt noch, aber es ist die gefährlichste Romantik, in die sich das schwärmerische Gemüth des Menschen verlieren konnte.
Nein, unser Ziel ist ein anderes, unser romantisches Land liegt anderwärts als in den Pontinischen Sümpfen, wo die letztgenannte Romantik ihr Lager aufgeschlagen hat; es liegt in einem lieblichem Thale unserer Harzberge, wo Recht und Gesetze walten, wo biedere, deutsche Gesinnung pfäffischer Sophisterei spottet, wo Liebe und Friede thront, wo sich die Vorzeit die Hand reicht mit unseren modernen Tagen in mittelalterlichen Formeln, in einer alterthümlichen Institution, wie eine zweite bei uns in Deutschland nicht mehr besteht, in dem sogenannten Klage- und Rügegericht zu Volkmanrode.
Nehmen Sie Platz in unserm Wagen, meine verehrten Leser! Das Wetter ist zwar nicht sehr einladend, aber Jupiter Pluvius wird hoffentlich nicht gar zu rücksichtslos sein, und gegen die Kälte giebt es eine vortrefflich wirkende, innerliche Arznei, die Sie gewiß Alle kennen. Von Harzgerode aus, der Marmorstadt des Herrn Bädeker, geht es auf dem südöstlichen Hochplateau des Unterharzes durch Eichen- und Buchenwaldung nach dem schöngelegenen Harzdörfchen Schielo. Fleißige Korbflechter wohnen dort, still für sich, zurückgezogen vom Gewoge und unbekannt mit den modernen Bedürfnissen der großen Welt. Wir fahren weiter. Grüne Saaten und wogende Getreidefelder zeigen uns, daß auch Ackerbau und Viehzucht hier im Schwunge sind. Schon nach einem halben Stündchen sind wir in Molmerswende. Wer hätte nicht schon von dem Dörfchen Molmerswende gehört? Da dicht am Wege steht die Kirche, rechts davon die alte, mit ihrem Giebel nach der Straße schauende Pfarrei, wo der Dichter der Lenore zuerst das Morgenroth eines lichteren Zeitalters erblickte. Aber weiter, vorbei an den Eisengruben von Tilkerode, weiter über Berg und Thal, über Bach und Bächlein. Bald tritt der prachtvolle Buchenwald zurück, es wird licht, die Bäume werden seltener und vor uns breitet sich ein liebliches Thal aus, rings von Bergen umschlossen, von Laubwald eingehegt, in dem das Eine-Flüßchen dahinmurmelt durch grüne Wiesenmatten, um seine Wasser in den Wipperfluß zu tragen.
Wir sind zur Stelle. Nur noch den Berg hinab in’s Thal und wieder hinauf zu einem auf der entgegengesetzten Seite etwas hervorspringenden Bergkegel, und da stehen die altehrwürdigen Linden, die schon Jahrhunderte diese Stätte beschatteten, die Ruinen einer verfallenen Kirche, die „wüste Kirche“ genannt, und das Jagdhäuschen, unter dessen überdachter, von der Seite aber offener Veranda sich die Göttin der Gerechtigkeit eine Gerichtsstätte gegründet. Das ist Volkmanrode, das Ziel unserer Walpurgisfahrt; denn heute, an Walpurgis, wird hier auf freiem Felde und vor allem Volke in der Weise Gericht „gehegt“, wie sie unsere Väter vor vielen hundert Jahren schon geübt haben und wie sie sich sonst nirgends in ganz Deutschland erhalten hat. Es ist ein altes Stück deutschen Rechtes, das hier seltsam genug in die Gegenwart hineinragt und das darum unsere vollste und aufmerksamste Beachtung verdient.
Nach den alten Chroniken hat auf der jetzigen Wüstung Volkmanrode ein Dorf gestanden, dessen nach der Angabe des [437] Dr. O. v. Heinemann schon in einer Urkunde, welche Kaiser Heinrich der dritte am 27. Juni 1043 zu Merseburg ausstellte und in der er das Dorf dem Hochstifte zu Naumburg überwies, Erwähnung gethan ist. Um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts kam Volkmanrode aus dem Besitz der Familie Marschalk an die Fürsten Heinrich und Otto von Anhalt. Wann das Dorf mit seiner Kirche wüst geworden ist, darüber sind keine beglaubigten Nachrichten beizubringen. Beckmann, der Anfang des vorigen Jahrhunderts schrieb, sagt: „Allwo vor langer Zeit war Nichts, als ein kalter verfallener Kirchthurm zu sehen gewesen … Auf dieser Dorfstätte nun werden jährlich auf Walpurgis und Michaelis jedesmal ein Land- und Rügegericht gehalten.“ Dies ist auch jetzt noch der Fall; auch jetzt noch wird das Gericht zwei Mal im Jahre, um Walpurgis und Michaelis, „gehegt“ und erstreckt sich auf alle Forst-, Jagd- und Waldfrevel in dem Bezirke. Außerdem werden Grundeigenthums-Streitigkeiten zur Entscheidung gebracht und Steuerbeträge erhoben. Ueber das Alter des Rügegerichts selbst ist nichts zu constatiren. Doch darf man annehmen, daß die Gründung der Institution mit der Erbauung des Dorfes zusammenfällt. Die Aecker der Wüstung sind zum größten Theile an die beiden preußischen Ortschaften Stangerode und Abberode gefallen, weshalb die Besitz[er] dieser Aecker eben diesem Gerichte dingpflichtig sind. Außer dem anhaltinischen Dorfe Tilkerode haben sich noch einzelne Bauern aus den Ortschaften Ritzgerode, Braunrode, Alterode, Ulzigerode, Welbsleben, Greifenhagen und Quenstedt zu stellen. Im Ganzen sind es gegen zweihundert Familien, die dem Gerichte unterworfen, von denen eine jede bei Vermeidung von fünf Silbergroschen Strafe mindestens einen erwachsenen Vertreter, sei er männlichen oder weiblichen Geschlechts, zu den Gerichtstagen zu senden hat. Nur zwei Familien jeder Ortschaft sind von dem Erscheinen entbunden, um für das hier Recht sprechende Personal die pflichtschuldigen Forellen zu fangen, die nach aufgehobenem Gerichte im Schatten des nahen Waldes bei heiterem Mahle verzehrt werden und für die, wenn sie ausbleiben, eine Strafe von zehn Silbergroschen eingezogen wird. Wie strenge in früherer Zeit die Gerichtsbarkeit gehandhabt wurde, geht aus einer naiven Bemerkung des anhaltischen Saal- und Lagerbuches Anno 1737 hervor, wo es heißt: „Wenn Strafen und Gefälle nicht auf gesetzte Zeit einkommen, so werden die Ländereien derer Ungehorsamen gekreutziget oder einige Stück Vieh von der Weyde genommen, wodurch sie mehrentheils zum Gehorsam gebracht werden.“
Doch die vorstehenden geschichtlichen Bemerkungen, welche wir unseren Lesern zum Verständniß der nun folgenden Scene schuldig waren, haben uns über Gebühr aufgehalten; eilen wir, in der nächsten Nähe der „wüsten Kirche“ Posto zu fassen, denn schon dröhnen vier Schüsse aus den Büchsen der vier Flurschützen, die als Schutz- und Sicherheits-Beamte walten, durch die Luft, und werden in hundertfachen Echos von den umliegenden Berggehängen wiederholt. Sie sind der Gruß und das Zeichen, daß der Gerichtshof sich nahe. Auf dem Bergplateau haben, herbeigeströmt von fern und nah, die Völker von den drei Feldfluren Abberode, Tilkerode und Stangerode sich in malerischem Kranze um die Gerichtsstätte gelagert. Wenigstens zwei Drittheile gehören dem schönen Geschlecht an, d. h. ich habe, die Wahrheit des bekannten lateinischen Sprüchworts zu erproben, trotz genauer Forschung auch nicht eine einzige auffallende Schönheit entdecken können. Schwere Arbeit raubt dem Körper die schöne Rundung und läßt die noch jugendlichen Gesichter runzlig und verwittert erscheinen.
[438] Ein lebhaftes Murmeln unterbricht die feierliche Stille des Orts, die Männer schicken schweigsam die blauen Dampfwolken aus ihren kurzen Pfeifen in die Luft; doch die Weiber, die sich vielleicht seit dem letzten Rügegerichtstage nicht gesehen und gesprochen, haben sich viel zu erzählen „von Dem und von Der und von Jener“. Unverkennbar ist aber die Stimmung eine ernste und gemessene. An einem einfachen hölzernen Tische unter dem Vorbau des Häuschens neben den majestätischen Lindenstämmen von fünf Fuß Durchmesser nehmen die Mitglieder des Rügegerichtshofes Platz. Der Richter, rechts von ihm der Protokollführer und links der Schöppe. Dem Ersten gegenüber der Forstanwalt, zugleich in der Function des Cassirers der fiscalischen Abgaben. Hinter dem Richtersitze faßt stehend der Landsknecht Posto. Drei Schläge mit dem Ebenholzstabe des Vorsitzenden geben um zehn Uhr Vormittags das Zeichen des Beginnens der Handlung. Alles erhebt sich und schaart sich in engem Kreise um die Stätte. Lautlose Stille, nur in den Wipfeln der heiligen Bäume rauscht es, als zöge der Geist der Vorzeit über dieses Stück altgeweihter Erde.
Der Richter: „Herr Schöppe, ich frage Euch, ob im Namen und von wegen des Durchlauchtigsten Herzogs, Herrn Leopold Friedrich, regierenden Herzogs zu Anhalt, Herzogs zu Sachsen, Engern und Westphalen, Grafen zu Ascanien, Herrn zu Zerbst, Bernburg und Gröbzig etc., unseres allerseits gnädigsten Herzogs und Herrn Hoheit, ich heutigen Tages ein freiöffentliches Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte hegen und halten möge?“
Der Schöppe: „Herr Richter, dieweil Ihr die Gnade von Gott und dem Durchlauchtigsten Herzoge und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, Herzoge zu Anhalt etc., Hoheit, habt und Euch die Gerichte befohlen und aufgetragen worden sind, so ist es wohl Tag und Zeit, daß Ihr ein freiöffentliches Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte hegen und halten möget.“
Der Richter: „Herr Schöppe, ich frage Euch, wie soll ich höchstgedachter unserer gnädigsten Landes- und Gerichtsherrschaft Klage- und Rügegericht einem Jedem zu seinem Rechte hegen und halten, und was soll ich darin erlauben und verbieten?“
Der Schöppe: „Ihr sollet zum ersten, zum anderen und zum dritten Male es hegen, Ihr sollt erlauben Recht und verbieten Unrecht, namentlich verbieten spöttische, höhnische Worte, spitze scharfe Gewehre, Entfernung aus dem Gerichte und Unaufmerksamkeit und befehlen, daß Niemand in oder außerhalb der Gerichtsbank vor Seiner Hoheit des Herzogs zu Anhalt Klage- und Rügegericht vortrete, sein selbst oder eines Andern Sache zu führen, er thue es denn mit Vorbewußt des Richters.“
Hegung des Gerichts durch den Richter (sich erhebend): „Nun thue ich, wie hier rechtlich erkannt ist, und hege hiermit im Namen und von wegen des Durchlauchtigsten Herzogs und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, Herzogs zu Anhalt etc. Hoheit, ein freiöffentliches Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte. Ich will erlauben Recht und verbieten Unrecht, namentlich verbieten spöttische, höhnische Worte, spitze scharfe Gewehre, Entfernung aus dem Gerichte und Unaufmerksamkeit und befehlen, daß Niemand vor Seiner Hoheit des Herzogs zu Anhalt Klage- und Rügegerichte vortrete, sein selbst oder eines Andern Sache zu führen. Mit des Richters Erlaubniß mag er getrost vortreten, sein selbst oder eines Andern Sache zu führen; dann soll er gehört, der Beklagte und Gerügte gefordert und nach dem Verhör beider Theile durch ein rechtmäßiges Urtheil der Sache von Rechtswegen entschieden werden.“
Der Richter: „Herr Schöppe, ich frage Euch, ob ich unserer gnädigsten Landes- und Gerichtsherrschaft Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte geheget habe?“
Der Schöppe: „Ihr habt an dieser Gerichtsstelle Seiner Hoheit des Herzogs zu Anhalt Klage- und Rügegericht also genugsam geheget, daß Jedermann Recht verstattet worden.“
Der Richter: „Wer da zu klagen und zu schaffen hat, mag nach ausgerufenem Gerichte vortreten und seine Nothdurft bestimmt und ordentlich vorbringen.“
Der Landsknecht: „Nachdem des Durchlauchtigsten Herzogs und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, regierenden Herzogs zu Anhalt Hoheit anjetze ein frei öffentlich Klage- und Rügegericht einem Jeden zu seinem Rechte genügend gehegt und gehalten wird, so rufe ich solches auf zum ersten Mal, zweiten und dritten Mal; wer davor etwas zu klagen hat, mag hervortreten, seine Sache bescheiden vorbringen. Ihm soll geholfen werden, wenn er Recht hat.“
Die Schultheißen übergeben zunächst die Liste der Dingpflichtigen. Nach deren Verlesung werden die Ausgebliebenen in die observanzmäßige Strafe von fünf Silbergroschen verurtheilt, dann die eingegangenen Forststrafanzeigen erledigt, Kaufcontracte zur gerichtlichen Verlautbarung vorgetragen, Streitigkeiten geschlichtet und dergleichen, was immerhin einige Stunden andauert, worauf die Absagung des Gerichtes in folgender ritueller Weise erfolgt:
Der Richter: „Herr Schöppe, dieweil Niemand übrig ist, der vor seiner Hoheit, des Herzogs Klage- und Rügegericht Etwas zu schaffen und zu klagen hat, so frage ich Euch, ob ich im Namen höchstgedachter unserer Durchlauchtigsten Landes- und Gerichtsherrschaft solches wiederum aufheben und aufgeben mag.“
Der Schöppe: „Demnach Euch die Gnade und Macht von unserer gnädigsten Landes- und Gerichtsherrschaft Höchstdero Klage- und Rügegericht zu hegen und zu halten gegeben ist, so habt Ihr dasselbe aufzugeben Macht, weil Niemand mehr davor zu klagen hat, bis Seine Hoheit unser gnädigster Herzog und Herr solches anderweit bedarf.“
Der Richter (sich wieder erhebend): „Demnach und weil vor des Durchlauchtigsten Herzogs und Herrn, Herrn Leopold Friedrich, Herzogs zu Anhalt etc. unseres allerseits gnädigsten Herzogs und Herrn Hoheit, Klage- und Rügegericht Niemand mehr übrig ist, welcher hier zu klagen oder zu schaffen hat, so will ich dasselbe im Namen Gottes und von wegen Seiner Hoheit, des Herzogs zu Anhalt, bis zum nächsten Gerichtstage aufheben und aufgeben. Gott der Herr behüte uns vor einem ewigen und erschrecklichen Gerichte.“
Damit ist die Handlung geschlossen. Ernst und schweigend, als laste der Alp des ewigen Gerichts auf ihrer Brust, trennen sich die Dingpflichtigen und eilen in dichten Schaaren den Berg hinunter ihrer Heimath zu.
Ein viermaliges Krachen; ein hundertfaches Echo, und still und einsam ist es wieder an den Trümmern der wüsten Kirche von Volkmanrode.
Zum Schlusse mag erwähnt werden, daß auch jetzt noch ein zweites Rügegericht in etwas verkümmerter Form in Harzgerode für die Einwohner der Feldflur Steinbrücken gehegt und den Tag vor dem Volkmanroder abgehalten wird. Seine Befugniß ist dieselbe, wie zu Volkmanrode.
Das Rügegericht für die Harzgeroder Bürger und die Insassen der nächsten umliegenden Dörfer hat erst vor wenigen Jahren den moderneren Institutionen weichen müssen. Ob das zu Volkmanrode, als letzter Rest altgermanischen Verfahrens, welches, wenn auch verschiedentlich schon durch moderne Form entstellt, im Wesentlichen noch fremdartig aus vergangenen Jahrhunderten in unsere nüchterne Gegenwart hineinreicht, vor den todesstraflichen Schrecken des neuen norddeutschen Strafgesetzbuches sein Leben wird erhalten können, will ich dahingestellt sein lassen. Es mag aber fallen oder stehen, die Stätte selbst werden wir stets mit pietätvollem Interesse und dem gerechtfertigten Wunsche betreten, daß nicht auch, wie bei der ehrwürdigsten der alten Linden, die noch vor zehn Jahren in saftigstem Grün und prächtigstem Blätterschmuck prangte, ein Frevler durch muthwillige Zerstörung der übrigen Zeugen der Vorzeit den Fluch eines zweite Herostratus auf sein Haupt lade.
Indessen begannen die Verwaltungsräthe der früher von ihm gegründeten „Hypothekenbank“ über die Verantwortlichkeit, die von Tag zu Tag größer wurde, doch etwas unruhig zu werden; denn für 21,000,000 Francs waren schon Pfandbriefe ausgegeben und die Zinsen und Dividenden bestanden nur in den gefälschten Bilanzen. Solche Kleinigkeiten störten jedoch Langrand nicht, mit einem Schlag verlegte er den Hauptsitz des „International“ nach London, ließ denselben als limited, d. h. mit beschränkter Haftbarkeit der Actionaire, registriren, und die Passiva der „Hypothekenbank“ gingen einfach auf die Passiva des „International“ über! Es [439] würde zu weit führen, diese Umwandlung im Einzelnen zu schildern, sie endete damit, daß Langrand und seine Spießgesellen die noch vorhandenen Activen einfach unter sich vertheilten; Alphonse Nothomb bekam 500,000 Francs; dem Herrn de Dekker, dessen Gerechtigkeitsgefühl sich denn doch etwas zu regen begann, wurde mit 460,000 Francs der Mund gestopft; Langrand selbst steckte eine ganze Million in seine Tasche, und Mercier, sein langjähriger Pylades, gab sich mit 960,000 Francs zufrieden, während der fromme Deschamps 630,000 und Duval de Beaulieu 960,000 Francs erhielt! Um aber diese eigenthümliche Fingerfertigkeit zu verheimlichen, hatte Langrand in dem Contract, durch welchen der „International“ die „Hypothekenbank“ in sich aufnahm, die pfiffige Bestimmung getroffen, daß der „International“ alle Pfandbriefe der „Hypothekenbank“ einziehen und seine eigenen dafür ausgeben solle, wodurch dem Princip der „Solidarität“ gemäß eine Vereinigung der beiden Gesellschaften bewerkstelligt wurde, die jede Untersuchung nach den früheren Activ- und Passivverhältnissen der „Hypothekenbank“ unmöglich machte.
Um sich nun der noch nicht abgesetzten Actien des „International“ zu entledigen und um zugleich den Cours derselben in die Höhe zu treiben, wurde in den Zeitungen bekannt gemacht, daß das ganze Capital des „International“ voll gezeichnet und auch voll einbezahlt sei. Das Mittel wirkte ausgezeichnet und jede Actie genoß auf diese Weise eine Prämie von fünfzig Francs, und mit einer Frechheit sonder Gleichen enthielten die Actien die ausdrückliche, von Langrand, Mercier und Nothomb unterzeichnete Bemerkung, daß das ganze Capital vollständig einbezahlt sei. Drei Jahre zuvor wurde in Brüssel ein Banquier Demoors, der das Publicum mit derselben Lüge getäuscht hatte, zu Zwangsarbeit verurtheilt! Ohne den Beistand der klerikalen Presse, deren Spalten in allen möglichen Variationen das Lob des „braven, katholischen Bürgers“ Langrand sangen, wären diese Betrügereien und ihre jahrelange Fortsetzung nicht möglich gewesen. Einzelne klerikale Journale erhielten in jener Zeit 80,000 Francs jährliche Subvention aus der Börse Langrand’s.
Allmählich jedoch begann die öffentliche Meinung zu erwachen.
In dem Journal „Echo du Parlament“ erschien aus der Feder eines gewissen Sir John Patrick O’Neil – die öffentliche Stimme bezeichnete Niemand anders als Frère-Orban selbst als den Verfasser – eine Reihe Briefe, in denen der ganze Betrug Langrand’s und der klerikalen Partei mit unerbittlicher Logik an’s Licht gezogen wurde. Damit war die Brandfackel geworfen, die nunmehr den Streit zwischen der liberalen und klerikalen Partei zu einem geradezu unversöhnlichen machte. Das klerikale Lager lag noch anbetend vor Langrand im Stande, und mit wahrer Berserkerwuth wies sie die ruhigen Angriffe auf die Unternehmungen Langrand’s zurück, alles dem Parteihaß, dem Neid und der Agiotage in die Schuhe schiebend. Es half aber nichts – die Augen des Publicums waren aufgegangen und von diesem Augenblick an verlor Langrand geradezu die Besinnung. Er entwickelte von jetzt an eine geradezu fieberhafte Thätigkeit in der Gründung neuer Unternehmungen, er kauft in Paris die Magasins réunis, in Toulouse erwirbt er, vom „Haußmannsfieber“ angesteckt, einen ganzen Theil der Stadt, tritt mit der italienischen Regierung wegen des Ankaufs der geistlichen Güter in Unterhandlung, kauft in Spanien ungeheure Ländereien, bewirbt sich bei der türkischen Regierung um die Erlaubniß, die rumänischen Eisenbahnen bauen zu dürfen, für die er ein Capital von 800,000,000 Francs nöthig hat, und deren in Aussicht stehende Gewinnste er sofort discontirt, bis die türkische Regierung den betrogenen Actionären einfach erklärt, daß sie eine Concession weder gegeben habe, noch auch jemals geben werde! Das einzige gute Geschäft, das ihm in jener Zeit gelang, war der Erwerb der Concession zum Bau der Linie Kaschau-Oderberg; aber in steter Geldverlegenheit muß er sie zu niedrigem Preis der „Englisch-österreichischen Bank“ überlassen, die im Handumdrehen dreizehn Millionen damit gewinnt, während Langrand von seinen Actionären Geld über Geld fordert, nachdem er sich doch mit seinem Ehrenwort verpflichtet hatte, keine weiteren Einzahlungen zu verlangen. Plötzlich liest man in den Journalen, daß Langrand mit Hülfe deutscher Prinzen und gekrönter Häupter eine neue Bank errichten wird, und in London sieht am 24. Juni 1865 die „Société générale pour favoriser le crédit foncier“ das Tageslicht. Das Actien-Capital beträgt hundertfünfundzwanzig Millionen; fünfundsiebenzig Millionen werden in der That gezeichnet, aber nur die Hälfte davon einbezahlt; die bedeutendsten Theilhaber dieser neuen Bank waren der „Industriel“, der „International“ und der Fürst von Thurn und Taxis; die beiden ersteren bezahlten die Actien der neuen Unternehmung mit ihren eigenen Actien, die sie natürlich ungeheuer hoch anrechneten und in Folge dessen sie einen fictiven Gewinn von vierzehn Millionen buchen konnten. Als diese neue Betrügerei an’s Tageslicht gezogen wurde, hielt es der Kaiser von Oesterreich, als der Vormund des Fürsten von Thurn und Taxis, für seine Pflicht, von Langrand die zwölf und eine halbe Millionen, die der Fürst einbezahlt hatte, zurückzuverlangen; Langrand weigerte sich im Anfange, unterzeichnete aber schließlich eine Urkunde, nach welcher die neue Gesellschaft sich verpflichtete, den vom Fürsten gezeichneten Betrag al pari zurückzunehmen. Die Geldsumme wurde durch Wechsel bezahlt, die durch das Haus Erlanger in Paris indossirt waren; Langrand war schließlich nicht im Stande, die Wechsel zu bezahlen, und der Proceß darüber schwebt noch heute.
Bald darauf trat ein anderes phantastisches Project, eine „banque internationale de crédit agricole“, zu Tage; das Actiencapital war auf hundert Millionen bestimmt; nur zwei wurden aber einbezahlt; diese sind jedoch geradezu spurlos verschwunden, wie man sagt, fanden sie ihren Weg in die Palais verschiedener Bischöfe und anderer hochgestellten Personen!
Im November 1865 wurde in Amsterdam die „Société neerlandaise de crédit foncier“ mit einem Capital von zehn Millionen gegründet; das Geld gab die „Gesellschaft deutscher Prinzen und gekrönter Häupter“ dazu her.
Das Ende dieser Schwindeleien ließ sich voraussehen. Als man schließlich nicht mehr bezahlen konnte, als man Langrand’sche Actien an der Börse für eine Cigarre kaufen konnte und man schließlich selbst für die Uebernahme der noch nicht voll einbezahlten Actien Geld bot, um sich los zu machen, als die Verwaltungsräthe einander in den General-Versammlungen Diebe und Betrüger nannten, als die liberale Presse beinahe jeden Tag neue Betrügereien an’s Licht zog, und als endlich sogar die klerikale Presse ihren Schützling fallen ließ, weil die Subventionen aufhörten und Langrand die unverzeihliche Unvorsichtigkeit begangen hatte, sogar mit dem „Banditen-König“ Victor Emanuel Geschäfte machen zu wollen: da hielt der „Napoleon der Finanzen“, wie er sich selbst mit Vorliebe nannte, die Zeit für gekommen, das Schlachtfeld zu räumen und – nach Amerika zu gehen. Würde er aber heute wieder den Fuß auf belgischen Boden setzen, das erbitterte Volk würde der Justiz alle weitere Mühe sparen und den Betrüger steinigen! –
Man wird versucht sein, zu fragen, wie es nur menschenmöglich war, daß solche notorische Betrügereien so lange fortgesetzt werden konnten, ohne die Dazwischenkunft der Gerichte hervorzurufen. Die einfache Antwort ist die, daß der Schutz der gesammten klerikalen Partei, der Eigennutz und die Geldgier ihrer Führer, die Langrand trefflich auszubeuten wußte, und endlich – oder vielmehr vor Allem – die Verderbtheit der belgischen Gerichte, in denen das klerikale Element noch lange die Oberhand behalten wird, wenn der Justizminister jetzt nicht die günstige Gelegenheit ergreift, um einen großartigen Säuberungsproceß vorzunehmen, diese in der That einzig dastehenden Ungeheuerlichkeiten möglich machte. Merkwürdigerweise ist erst jetzt, also nach Jahren, die ganze Verwerflichkeit an den Tag gekommen, und die schmutzige Wäsche der Klerikalen, die gerade jetzt vor den Augen des ernüchterten Publicums zur Schau gestellt wird, dient sicher nur dazu, um den Mißcredit, in den sich jene Partei gebracht hat, zu einem vollständigen zu machen.
Wie wir oben sahen, wurde der Angriff gegen die Schwindelgeschäfte Langrand’s durch das „Echo du Parlament“ eröffnet; und kaum war der Anfang gemacht, so wurde das Werk von Anderen mit Eifer fortgesetzt; so brachte auch der damalige Secretär der Handelskammer in Brüssel, Eugen de Molinari, der Bruder des Redacteurs des „Journal des Debats“, die Langrand’schen Finanzoperationen unter das zergliedernde Messer seiner Kritik. Alles dies hätte Langrand aber wenig geschadet, wenn er nicht, wie schon erwähnt, durch seine Unterhandlungen mit der italienischen Regierung wegen des Kirchengütergeschäftes die Gunst eines Theils der klerikalen Presse verscherzt hätte, die von diesem Augenblicke an seine erklärte Feindin wurde; freilich mußte er gerade in dieser Zeit die Bezahlung der enormen Summen, die bis jetzt diesen Journalen zugeflossen waren, des immer fühlbarer werdenden Geldmangels wegen einstellen. Die Opposition gegen ihn nahm allmählich Plan und Methode an, [440] besonders waren es zwei Advocaten in Brüssel, Verhulst und Dumonceau – der letztere war durch Langrand schon vor zwei Jahren total ruinirt worden – die ihm nun auf den Leib rückten. Mit einer unbarmherzigen Offenheit entlarvten sie seine Geschäfte als schwindelhafte Betrügereien und stellten seine klerikalen Bundesgenossen an den Pranger. Da Langrand der allgemeinen Erwartung, er werde gegen das „Echo du Parlament“ und gegen die Herren Verhulst und Dumonceau, die ihn ganz unumwunden einen Betrüger und Dieb, die Herren de Dekker, Mercier und Consorten aber Diebeshehler und Gauner nannten, eine Verleumdungsklage anhängig machen, aus guten Gründen nicht entsprach, so mußte das Publicum allmählich diese Beschuldigungen für gegründet halten und die einfache Folge davon war, daß man sich von dieser Zeit an hütete, noch mehr Geld in sein Danaidenfaß zu schütten. Erbittert darüber maß Langrand seinen Collegen die Schuld bei, und da diese auch keinen Spaß verstanden, so boten die Sitzungen des Verwaltungsrathes die komische Scene dar, daß Langrand und seine Genossen sich die gröbsten Schimpfwörter gegenseitig an den Kopf warfen.
Zu derselben Zeit wurde in Brüssel ein neues Blatt gegründet, „Côte libre“; als Redacteur stand ein junger Ungar, Mandel, an der Spitze. Dasselbe führte sich beim Publicum mit einer Heftigkeit seiner Angriffe gegen Langrand ein, daß man sich staunend fragen mußte, wie es möglich sei, daß die Gerichte hier nicht interveniren; denn entweder waren die Beschuldigungen gegründet, dann gehörte Langrand auf die Anklagebank, oder sie waren ungegründet, dann mußte Mandel wegen der schmählichsten Verleumdungen gestraft werden. Da zu gleicher Zeit die Anhänger Langrand’s das Gerücht verbreiteten, Mandel handle und schreibe im Auftrage einer auf Langrand neidischen und ihm deshalb feindlichen Börsenclique, so betrat Mandel den kürzesten und einfachsten Weg: er verklagte Langrand und seine Genossen wegen Betruges. Wohl oder übel mußte das Parket von Brüssel die Klage annehmen, aber sonderbar! nicht gegen Langrand selbst und die ihm vorgeworfenen Betrügereien erstreckte sich die Untersuchung – denn das konnten die klerikal gesinnten Instructionsrichter doch nicht über’s Herz bringen, selbst zur Vernichtung ihrer Partei beizutragen – sondern gegen die Journale, welche die Betrügereien Langrand’s an’s Licht gezogen hatten! Das Gericht erkannte schließlich, „daß auf Gottes weiter Welt kein ehrlicherer Mann zu finden wäre, als Langrand“. Aber das Ungeheuerlichste sollte noch kommen. Consequenterweise hätte der Generalprocurator, der an Langrand das schöne Sittenzeugniß ausgestellt hatte, Mandel wegen Verhöhnung und Verleumdung belangen und bestrafen sollen. Ja, Mandel selbst forderte den Generalprocurator zu wiederholten Malen in geradezu höhnischem Tone auf, ihn wegen seiner Lästerungen gegen Langrand zu verfolgen.
Der Procurator – de Bavay ist der Name dieses Trägers des „Hermelins der Gerechtigkeit“ – verhielt sich jedoch durchaus ruhig, so daß sich Mandel schließlich an den Gerichtshof mit der Bitte wandte, eine Untersuchung gegen ihn einzuleiten! Derselbe erklärte aber ganz ruhig, daß „kein Grund zu einer Verfolgung gegen den Redacteur Mandel vorliege.“ Da der Letztere aber in seinen Angriffen gegen den Gerichtshof immer maßloser wurde, ja denselben geradezu beschuldigte, mit Langrand unter einer Decke zu spielen, als ein ruinirter Actionär sich direct an den Justizminister Bara mit einer Betrugsklage gegen Langrand wandte, forderte der Minister den Gerichtshof von Brüssel auf, gegen Mandel vorzugehen; allein derselbe nahm von dem einen so wenig Notiz, als vom andern. Bara hielt die Sache für wichtig genug, um sie im Ministerrath zur Sprache zu bringen, wo denn auch beschlossen wurde, dem Generalprocurator den gemessenen Befehl zu ertheilen, den Redacteur Mandel wegen Schmähung und Verhöhnung des richterlichen Standes in Anklagestand zu versetzen.
Es war dies Anfangs Mai 1870. Man wird Mühe haben, in Europa ein ähnliches Beispiel dafür zu finden, daß der Richterstand eines Landes sich jahrelang auf die gröbste Weise insultiren läßt, diese Beschimpfungen ruhig hinnimmt und erst durch Zwang dazu veranlaßt wird, für seine befleckte und verletzte Ehre in die Schranken zu treten! Man kann daraus einen annähernden Schluß auf die Macht und den Einfluß der Jesuiten in Belgien machen.
Nach belgischem Gesetze hat jeder wegen Hohnes und Lästerung Beklagte das Recht, vor der Jury, die über den Fall zu urtheilen hat, den Beweis der Wahrheit anzutreten. Mandel wurde dieser Mühe überhoben, denn das ganze Beweismaterial für die Wahrheit seiner Behauptungen lag in der Art und Weise, wie der Richter den Proceß einleitete! Noch nie hat sich in einem Processe die Rolle zwischen Kläger und Beklagten so vertauscht wie hier; die beiden Vertheidiger des Angeklagten, der schon genannte Dumonceau und der Advocat Janson, ein bekannter Redner bei demokratischen Versammlungen und von den belgischen Klerikalen gehaßt wie gefürchtet, wußten mit bewunderungswürdiger Fertigkeit Kreuzverhöre zwischen den Zeugen anzustellen, durch welche eigentlich das Verdict der Jury über Schuldig oder Nichtschuldig von selbst entschieden war. Es kamen dabei Dinge an den Tag, die man in solchen Sphären der Gesellschaft allerdings nicht gesucht hätte; eine geradezu erbärmliche, ja bejammernswürdige Rolle spielte der Staatsminister de Dekker; denn als ihm der Präsident der Jury mit nackten Worten vorhielt, daß er sich eines criminell strafbaren Betruges schuldig gemacht habe, indem er Actien als volleinbezahlt ausgegeben habe, während doch noch beinahe nichts auf das Gesellschaftscapital einbezahlt worden war, da mußte der fromme Jesuitenzögling mit saurem Gesicht gestehen, daß er „verkehrt gehandelt habe, es aber gewiß nicht mehr thun wolle“!
Während die anderen Herren, wie Mercier und Deschamps, das Vermögen, das sie durch verwerfliche Ränke erbeutet, auf den Namen ihrer Frauen hatten einschreiben lassen, um nicht zur Herausgabe desselben gezwungen zu werden, war der Graf Duval so anständig, zu erklären, daß er sofort bereit sei, den Ersatz zu geben, welchen die Gerichte bestimmen würden. Wenn der Verwaltungsrath unter dem Vorsitze Langrand’s tagte, stand ein Sohn von Deschamps vor der Thür, und der würdige Vater verständigte sofort durch gewisse Zeichen seinen ebenbürtigen Sohn von den Beschlüssen, die der Verwaltungsrath über diese oder jene Unternehmung gefaßt, und Deschamps der Jüngere lief dann eiligst nach der Börse, um das Gehörte auszunützen und zum Nutzen der Familie zu discontiren! In dieser Hinsicht hatte Langrand freilich Recht, wenn er sich beschwerte, von lauter Dieben und Spitzbuben umgeben zu sein. Daß Langrand selbst mit betrügerischer Absicht gehandelt hatte, ging aus den einstimmigen Zeugenaussagen hervor; nach einer Generalversammlung des International sagte er stolz zu Cramer, dem Director des holländischen Geschäftes: „Nun haben Sie selbst sich überzeugen können, wie ich die Schafe zu scheeren verstehe!“
Wie nicht anders zu erwarten war, wurde Mandel beinahe einstimmig freigesprochen, und das anwesende Volk brachte dem Vertheidiger Janson im Gerichtssaale eine begeisterte Ovation dar. Noch während der Verhandlungen vor der Jury wurde der Bankerott des „International“ angemeldet; seine Passiven betrugen siebenundfünfzig Millionen Franken und die Activa nicht einmal volle hunderttausend! Die übrigem Langrand’schen Unternehmungen werden dasselbe Schicksal theilen, und die nächsten Monate können vielleicht noch Enthüllungen bringen, die die klerikale Partei nur noch mehr compromittiren dürften. Allgemein hatte man sich der Erwartung hingegeben, der pflichtvergessene Procurator de Bavay werde sein Amt niederlegen, das er, ohne den ganzen Richterstand Belgiens zu beschimpfen, mit Ehren nicht mehr weiter führen könnte. Verschiedene Journale brachten denn auch einen dahin lautenden Bericht; aber er scheute sich nicht, durch eine an das „Echo du Parlament“ gerichtete Zuschrift zu erklären, daß er von seinem Amte weder abgetreten sei, noch auch abtreten werde, und strafte auf diese Art die allgemeine Erwartung, die ihm noch so viel Ehrgefühl zugetraut hatte, vollständig Lügen.[1]
So endete der unter dem Schutze des heiligen Vaters begonnene Versuch, das Capital zu katholisiren, mit einem schmählichen Betruge; die klerikale Partei hat eine sittliche Niederlage dabei erlitten, wie sie deren in ihren Annalen nicht viele zu verzeichnen hat. Langrand ist verschwunden; verschwunden sind aber auch die Hunderte von Millionen, die man dem Schweiße des Bauern und Arbeiters abgestohlen hat und die nun sicher in den Taschen einiger großen Herren sitzen. Allein solche theure und empflindliche Lehren muß das Volk erhalten, wenn ihm die Augen aufgehen sollen; denn in Geldsachen hört auch den Jesuiten, der Geistlichkeit und der alleinseligmachenden Kirche gegenüber die Gemüthlichkeit auf.
Brüssel, Anfang Juni 1870.
Aus dem Asyl einer Königsmutter.
Im südlichen Theile der Steiermark, ungefähr eine Meile nordöstlich von der Eisenbahnstation Spielfeld, liegt das Schloß Brunnsee, wo Karoline Ferdinande Louise, Herzogin von Berry, geborene Prinzessin von Neapel, nach einer vielbewegten Jugend fast die Hälfte ihres Lebens in ländlicher Zurückgezogenheit verbrachte und vor Kurzem ihr Auge für immer schloß. Die Schicksale der Herzogin, so lange sie eine politische Persönlichkeit war und die Tagespresse beschäftigte, sind um so bekannter, als sie viel des Romantischen und Abenteuerlichen bieten. Man weiß, daß die nur wenige Jahre vermählte junge Frau durch die Ermordung ihres Gatten zur Wittwe wurde und die folgenden Jahre mit dem hinterlassenen Sohne, dem Herzog Heinrich von Bordeaux, Grafen von Chambord, an den Erlebnissen ihres Schwiegervaters, Karl des Zehnten, Theil nahm.
Als sich später in Frankreich eine ziemlich zahlreiche Partei für ihren Sohn, Heinrich den Fünften, regte, erschien sie auf dem politischen Kampfplatze, ging zuerst nach Italien und von dort mit den versammelten Anhängern ihres Hauses nach Marseille, wo jedoch der ausgebrochene Aufstand rasch unterdrückt und die Herzogin zur Flucht gezwungen wurde. Sie erregte hierauf in der Vendée eine vergebliche Empörung und irrte unter großen Gefahren in mannigfacher Verkleidung umher, bis sie durch ihr Abenteuer zu Nantes, wo sie hinter einem Kamin im Hause der Schwestern du Guigné verborgen war, in die Hände der Polizei fiel. Ihr Geständniß, daß sie mit dem neapolitanischen Marchese Lucchesi-Palli in zweiter Ehe vermählt und guter Hoffnung sei, machte damals der großen Verlegenheit der Regierung ein Ende, indem dadurch die Verfolgte ihre politische Bedeutung einbüßte und einfach freigelassen werden konnte.
Ueber das Leben, das die Herzogin seither führte, ist wenig Ausführlicheres in die Oeffentlichkeit gedrungen, und es ist der Zweck der nachfolgenden Aufzeichnungen, die vielen Leser der „Gartenlaube“ mit der zweiten stilleren Lebenshälfte der Herzogin, sowie mit ihrem schönen Landsitze näher bekannt zu machen.
Bald nach ihren mißglückten Anstrengungen und ihrer Freilassung kam die Herzogin nach Oesterreich. Zuerst nahm sie ihren Aufenthalt in Graz und hielt hier förmlich Hof; die üblichen Hofchargen durften in ihrem Dienste nicht fehlen, und um ihr vorgestellt zu werden, mußte man seine Ahnen nachweisen. Später erwarb sie mit ihrem Gemahl, der zum Herzog della Grazia erhoben wurde, vom Grafen Eduard Wimpffen Brunnsee, um nun hier ihren gewöhnlichen Wohnsitz aufzuschlagen. Die nächste Umgebung des ansehnlich großen, im Viereck erbauten, zwei Stock hohen Schlosses, das sich übrigens im Aeußeren nicht gerade durch architektonische Schönheit auszeichnet, ist ganz eben, und nur der ziemlich hohe Thurm, welcher sich über der nach Süden gelegenen Hauptfront des Schlosses erhebt, bleibt dem nahenden Besucher durch lange Zeit das einzige Wahrzeichen für das Ziel seiner Wanderung. Gleichwohl ist Brunnsee durch die von mannigfacher Cultur bedeckten, fruchtbaren Gelände und den zwanzig Joch großen, an herrlichen Baumgruppen reichen englischen Park auch nicht ohne landschaftlichen Reiz; zudem wird der Horizont nach allen Seiten von den anmuthigsten Gebirgspartien abgeschlossen.
Die Herzogin mochte auch an ihrem neuen Besitzthume viel Freude haben. Hatte der frühere Besitzer namentlich auf die Verbesserung der Grundstücke hingearbeitet und ihren Ertrag gehoben, so war es ihre Hauptsorge, das Schloß selbst nach außen, wie nach innen zu verschönern. An die Stelle der Einfahrt trat ein sehr schönes, mit Marmor ausgelegtes und mit werthvollen Gemälden geschmücktes Stiegenhaus, und über dem Hauptthore wurde eine ziemlich große Terrasse erbaut. Ihre Appartements hatte die Herzogin im zweiten Stockwerke der Hauptfront, und es ist hier gegenwärtig noch Alles unberührt. Die Wände des Corridors sind auf dieser Stelle durchaus getäfelt und von Kasten eingefaßt, in welchen sich eine große Menge von Werken der italienischen und französischen Literatur befindet.
Die Entrée, der großen Treppe gegenüber, enthält bedeutsame Erinnerungen aus dem Leben der Herzogin, worunter namentlich ein ziemlich großes metallenes Schiff unter einem Glassturze auffällt; es ist aus Silber, reich vergoldet, soll achtzigtausend Franken werth sein und wurde von der Stadt Paris der Herzogin bei der Geburt des Grafen von Chambord als Geschenk verehrt. Die Pracht und der Reichthum, welche in den an das Eintrittscabinet stoßenden Salons und Cabineten, im Billardzimmer und Speisesaal herrschen, sind wahrhaft fürstlich und befriedigen nicht etwa blos die gemeine Schaulust, sondern bieten namentlich auch dem Kunstfreunde und Archäologen eine reiche Ausbeute.
Die Stoffe des kleinen Familiensalons sind von der Herzogin selbst gestickt; auch einige Landschaften mit vorherrschender Architektur sind von ihrer Hand, jedoch unter Anleitung und Mithülfe eines Malers gemalt. Die ganz schwarzen Möbel und dunkeln Stoffe des Schlafgemaches verleihen ihm etwas düster Ernstes und die vielen Reliquien, welche in Rahmen und Kästchen das Bett umgeben, sowie der Betschemel mit dem Crucifix verstärken noch diesen Eindruck; in der Mitte der Wand hängt über dem Bette eine Copie der Madonna della sedia. – Ueberhaupt weht durch alle Räume etwas Ernstes und Feierliches, und man fühlt sich eigen berührt, wenn man aus den lachenden, sonnenbeschienenen Fluren, wo sich emsige Menschen regen, hereintritt unter all’ diese Erinnerungen verklungener Zeiten. Es ist ringsum zu viel Vergangenheit und die Stimmung, in welche man hier versetzt wird, verträgt sich, so rein und gehoben sie ist, doch nicht mit der rechten Freude an der Gegenwart. Aber freilich mag sich, wer hier dauernd wohnt, gegen einen solchen Eindruck abstumpfen. Der große Ahnherr der Familie, Heinrich der Vierte, wird hoch in Ehren gehalten; man findet mehrere Bilder von ihm und in der Bibliothek prangt in Goldrahmen ein Autograph von seiner Hand.
Die Herzogin enthielt sich seit ihrer Ansiedelung in Oesterreich wohl jeder ernsteren politischen Thätigkeit; zu ihren selbsterlebten Mißerfolgen und Enttäuschungen kamen ja jetzt noch die Zerwürfnisse mit ihren Anverwandten in Folge ihrer zweiten Heirath. [442] Dabei hielt sie freilich die Sache ihres Sohnes hoch und fühlte sich gerne als Königinmutter, wie sie denn auch in Brunnsee eine sehr große Dienerschaft hatte. Zudem fehlte es nicht an zahlreichen erbetenen und unerbetenen Gästen, welche die Sache des Grafen von Chambord als die ihre erklärten und aus der Ferne herbeikamen. Der Heinrichstag, das Namensfest des Prinzen, wurde stets mit einem Bankete glänzend gefeiert, und es fanden sich dabei neben vielen Anhängern der Bourbonen auch Geladene aus der nächsten Umgebung ein. Uebrigens charakteristisch für die Zurückhaltung, welche selbst in diesem intimeren Kreise herrschte, ist die Art, mit welcher der Herzog della Grazia bei solchem Anlasse den Toast auf seinen Stiefsohn ausbrachte: er erhob sich und verneigte sich nur, das Glas in der Hand, mit einer bedeutungsvollen Bewegung gegen den Grafen von Chambord, was alle Anderen schweigend nachahmten; das hieß dann selbstverständlich so viel als: Vive le roi!
Die getreuen Anhänger mochten allgemach doch etwas empfindlich auf Brunnsee gelastet haben; wenigstes irrt man wohl kaum, wenn man die Ursache des Derangements in den finanziellen Verhältnissen der Herzogin zum größten Theile auf diese häufigen Besuche zurückführt. Auch fand die Herzogin, welche ihren Gatten innig liebte und zuerst mit drei Töchtern, dann mit einem Sohne beschenkte, immer mehr ihre volle, einzige Beglückung im Familienleben. Eine Reihe von Jahren brachte sie den Winter in Venedig zu, im Sommer machte sie gewöhnlich kurze Ausflüge zu ihrem Sohne Heinrich nach Frohsdorf und in der letzten Zeit auch nach dem steierischen Bade Neuhaus. Mit dem gelungenen Staatsstreiche des dritten Napoleon gab sie wohl alle Hoffnungen für ihren Sohn auf. Als sich ihre herangewachsenen Töchter vermählten und in die Ferne zogen, kam ihr durch ihre Enkel, die Kinder ihres Sohnes Adanolf, viel Freude in’s Haus. Der junge Herzog, welcher sich sehr frühe mit einer italienischen Fürstin vermählte, blieb mit seiner Familie fortwährend bei seiner Mutter in Brunnsee. Auch die Töchter mit ihren Kindern fanden sich oft zum Besuche ein. Die alternde Frau vergnügte sich oft Stunden lang im Kinderzimmer, ja, sie führte nicht selten Besuche, welche aus der Umgebung kamen, voll Seelenfreude zu ihren Enkeln. Brunnsee war den in der Nähe ansässigen Familien stets offen, und man konnte des freundlichsten Empfanges gewiß sein. Die strenge Etiquette, welche sonst beobachtet worden war, hörte in der späteren Zeit immer mehr auf, hauptsächlich wohl durch den jungen Herzog, der, in Steiermark geboren und ganz Deutscher, ohne allen Stolz auf das Freundschaftlichste mit seinen Nachbarn verkehrte. Uebrigens war auch die Herzogin, bei allem Bewußtsein ihres Standes, im Benehmen immer von der ungezwungensten Natürlichkeit gewesen, und eine junge Comtesse, welche in Graz die Ehre hatte, zur herzoglichen Tafel gezogen zu werden, erschrak nicht wenig, als die königliche Hoheit, wie die Lazzaroni ihrer Heimath, die aufgetragenen Macaroni mit den Fingern zum Munde führte und ohne Umstände in eine ungeschälte Pfirsich biß. –
Kam man in Brunnsee zu Besuch, so verfügte man sich gewöhnlich zuerst zur liebenswürdigen „jungen Menage“, zum Herzog Adanolf. Vor dem Diner stieg man zur alten Herzogin empor, und sie hielt, wenn die Gesellschaft größer war, mit aller Liebenswürdigkeit und vollendeter Gewandtheit Cercle. Beim Diner herrschte die größte Ungezwungenheit, man unterhielt sich, lachte und rief über den Tisch hinüber und herüber. Nach dem Essen machte die Herzogin gerne eine Whistpartie, welche übrigens die Gäste, bei aller warmen Zuneigung für die hohe Frau, möglichst abzukürzen trachteten; den sie wußten, daß ihrer erst nachher bei der jungen Menage unten die fröhlichste und angeregteste Unterhaltung wartete. Auch machte in späteren Jahren die Schwerhörigkeit der Herzogin den Verkehr mit ihr sehr mühsam. Die Herzogin sprach nicht deutsch, sondern mit den Ihren meist italienisch und mit Fremden französisch. Unter den Besuchen fanden sich oft auch solche, welche weder italienisch noch französisch sprachen, zum Beispiel junge Husarenofficiere und Cadeten aus der nächsten Militärstation, und diesen kam dann die Taubheit der Herzogin zu Gute; wurden sie angesprochen (und die Herzogin unterließ es nie, an jeden der Anwesenden einige freundliche Worte zu richten), so verneigten sie sich nur mit einem Gemurmel, womit sich die alte Frau, die auch allmählich ihr Gesicht verlor, zufrieden gab. Gegen ältere Personen ließ sie nicht selten die Worte fallen: „Nicht wahr, unsere Zeiten waren ganz andere? Wir verstehen einander; aber die Jugend versteht uns nicht.“ –
Die zerrütteten Geldverhältnisse der Herzogin, welche sie selbst gar nicht im ganzen Umfange gekannt haben soll, führten endlich zu einer Krise. Einer der Gründe des Derangements wurde schon oben erwähnt. Die Herzogin war eben von fürstlicher Freigebigkeit, sie brauchte nicht nur viel für sich, sie schenkte auch Anderen. Dabei liebte sie viel zu verändern und zu bauen.
Ein Bauer, welcher zu mir mit großer Verehrung von der Hingeschiedenen sprach, schloß mit den Worten: „Und fast kein Kirchlein giebt’s im Kreis, das sie nicht erbaut hat“; ohne Zweifel in der Meinung, damit das Höchste zum Lobe der Herzogin zu sagen. Auch der Herzog della Grazia, welcher dem Hauswesen vorstand und neben seiner Gemahlin immer als eine Art Obersthofmeister erschien, war von großer Herzensgüte, und wie ofte schenkte er zum Beispiel gegen die Einsprache des Försters den bittenden Bauern Holz für den Bau ihrer Häuser. Diese Güte wurde häufig auf das Unverantwortlichste mißbraucht. Der bedeutende Grundcomplex der Herrschaft war lange Zeit viel zu niedrig verpachtet und spätere Pächter blieben den Pachtschilling oft ganz schuldig. So konnten die Ausgaben von den Einnahmen nicht gedeckt werden und die Schuldenlast wuchs immer drohender an, bis sich der Graf von Chambord in’s Mittel legen mußte. Er ordnete die Finanzen seiner Mutter und ward nach Deckung aller Passiva Eigenthümer von Brunnsee.
Die Opfer des Prinzen sollen dabei groß gewesen sein, man erzählt sogar, er habe sich nachher auf seinem eigenen Schlosse zu Frohsdorf sehr eingeschränkt, was bei seinem bekanntlich immensen Vermögen nicht wenig besagen würde, wenn es eine nothwendige Folge jener Opfer war. Ueber seinen Stiefvater, für welchen er dem Geschicke nie gedankt haben mochte, soll er in Folge des Geschehenen sehr erzürnt gewesen sein. – Als die Herzogin einen vollen Einblick in die Lage der Dinge erhielt, fiel sie in Ohnmacht. Noch mehr aber ergriff dieses finanzielle Mißgeschick ihren Gemahl; es ging ihm so zu Herzen, daß man es für die Ursache seines Todes hält, welcher bald darauf am 1. April 1864 erfolgte.
Seit dem Tode ihres Gemahls war auch die Herzogin innerlich gebrochen. Sie verließ Brunnsee immer seltener und, während sie sonst voll Leben im Freien umherstreifte und dem Gärtner im Parke jeden dürren Ast zur Amputation wies, kam sie jetzt lange kaum vor das Schloß. Den vergangenen Winter war sie besonders gedrückt, ohne daß sie an einer ausgesprochenen Krankheit litt, und am Charsamstag trat plötzlich ihr Tod ein, so daß die Bewohner der Umgebung auf das Schmerzlichste von der Trauerbotschaft überrascht wurden. – Das Begräbniß der Herzogin war einfach, doch hatten sich dabei alle ansässigen Familien aus der Umgebung und ein großer Theil der Landbevölkerung eingefunden. Der Graf von Chambord war sehr ernst und in sich gekehrt und hatte für keinen der Herbeigekommenen, an welchen er vorüberschritt, ein Dankeswort. Nach der Einsegnung der Leiche in der Schloßcapelle bewegte sich der Zug von Brunnsee nach dem zunächst gelegenen freundlichen Mureck. Auf dem verwilderten Gottesacker des kleinen Marktfleckens zwischen wucherndem Unkraut und zerbrochenen Grabkreuzen erhebt sich die kleine Capelle, wo die Herzogin neben ihrem zweiten Gatten in die Erde gesenkt wurde. Das Innere der Gruft ist mit Marmor ausgekleidet und auch der kleine Bau, welcher sich darüber wölbt, ist nicht ohne Geschmack; aber diese schlichte Grabstätte, wo in einem verborgenen Erdenwinkel, fern der Heimath, die Mutter des Kronprätendenten von Frankreich ruht, ist doch nicht fürstlich und mahnt den Beschauer gar schmerzlich an den Wandel alles Menschenglückes.
Wie man auch über die Fehler der Herzogin denken mag: ihr Leben in Brunnsee war reich an den edelsten weiblichen Tugenden; sie war voll Liebe und Hingebung für ihre Familie, voll Güte und Sorge für ihre Diener, voll Freundlichkeit gegen Alle, die ihr nahten. Sie begünstigte es, wenn ihre Dienstleute Familien gründeten, und nicht wenige von ihnen waren über zwanzig Jahre in ihrem Dienste. Für die Nachkommenschaft arrangirte sie gern Kinderbälle. In der letzten Zeit beschäftigte sie sich viel mit Stricken und vertheilte die vollendete Arbeit an Arme der Umgebung. Besonders gern aß sie Obst und sie ließ sich aus der Ferne die seltensten Früchte verschreiben, die jedoch meistens ungenießbar eintrafen. – Die Herzogin (das Bild, das wir bringen, stammt aus den letzte Zeiten ihres Lebens) war klein und voll, ihr Gesicht erschien durch die stark aufgeworfenen Lippen und das schielende eine Auge keineswegs schön, doch hatte es einen geistreichen, [443] lebendigen Ausdruck. Von besonderer Schönheit war ihr üppiges blondes Haar und der kleine, feingeschnittene Fuß, welcher als sie verkleidet umherirrte, öfter zu ihrem Verräther geworden sein soll.
Dem größten Theile der Dienerschaft ist bereits der Dienst gekündigt, auch der junge Herzog wurde verständigt, daß er innerhalb eines Jahres Brunnsee räumen müsse. Der treffliche junge Mann besitzt die wärmste Sympathie Aller, die ihn kennen; noch von dem Tode seiner Mutter erschüttert, muß er nun bald auch den Ort verlassen, wo er mit ihr fast sein ganzes Leben durch geweilt. Das ist ein gar jäher schmerzlicher Uebergang, und der Abschied von Brunnsee wird für ihn gewiß ein sehr schwerer sein.
Es ist wohl nur ein leeres, müßiges Gerücht, welches sagt, daß Brunnsee dem Jesuitenorden zum Geschenke gemacht werden soll.
Noch vor wenig Jahrzehnten gehörte es zum guten Ton, mitleidig oder sogar geringschätzend auf den Schauspielerstand herabzusehen. Jetzt thut dies wohl nur noch der Ungebildete. Das Theater greift mehr und mehr in unser sociales, zum Theil auch in unser politisches Leben so wirkungsvoll ein, daß wir es nicht mehr wie ein Aschenbrödel im staatlichen Haushalt betrachten dürfen; ja es bildet einen Staat im Staate, denn es hat seinen Regenten, seine Minister, seine Ober- und Unterbeamten, seine Bürger wie seine Schutzverwandten. Natürlich leben die Menschen hier gedrängter an-, beständiger miteinander, und so treten durch diese Reibungen, die demnach auch stätiger und entzündlicher sein müssen, die Leidenschaften schärfer hervor.
Die Schauspieler sind exaltirter als wir, aber nicht schlimmer und wer heute einen Tyrannen spielt und morgen einen Millionär und beides in Wirklichkeit niemals ist, muß nothwendig darüber ein Bischen verrückt werden. Künstler haben alle ihren Sparren, zumal die dramatischen, und wehe, wenn sie ihn nicht haben. Nicht allein beim Schauspieler, in allen Ständen ist genau derselbe collegialische Neid zu Hause, genau dieselbe Eitelkeit, Selbstüberhebung und Gereiztheit beim geringsten Tadel, genau dieselbe Sucht, sich um jeden Preis bemerkbar zu machen. Hierher gehört jene schändliche Aeußerung: lieber als Dieb in der Zeitung stehen, als gar nicht. Hingegen treffen wir beim Schauspieler auf eine Gutherzigkeit, wie sie schwer in den Häusern unserer Geldbarone und Parvenus zu finden sein dürfte. Niemand unterstützt den armen heruntergekommenen Collegen bereitwilliger und großmüthiger als er, wenige sorgen aufopfernder für eine oft überzählige Verwandtschaft, und ich erinnere mich hierbei jenes Schauspielers, der auf seinen vielen Reisen, bei oft kargen Mitteln, sein altes gebrechliches Elternpaar mit sich führte, weil es sich zu Hause zu vereinsamt fühlte; trotz aller Pietät, hier und da doch eine recht unbequeme Reisebegleitung.
Der Schauspieler von heute unterscheidet sich wesentlich von dem der sogenannten „guten alten Schule“, eine Kaste, die so ziemlich ausgestorben ist, da sie sich an die Periode eines Schröder und Iffland lehnt. Was die Brüdergemeinde dieser guten alten Schule vielleicht zu weit trieb in orientalischen Künsteleien, Kunstpausen, Mienen-, Geberden- und Dosenspiel etc., das treiben unsere heutigen Mimen zu wenig und verfallen in eine Nonchalance, daß wir es nächstens erleben können: der Marquis Posa steht vor König Philipp mit den Händen in den Taschen. Man pflegt dies die realistische Richtung zu nennen, und sie erinnert in der That stark an Wirthshausmanieren, die ganz geeignet sind, das letzte Restchen einer stylvollen Spielweise von der Bühne auszuschließen. Den in jener Zeit nicht wegzuleugnenden hohen Ernst für seine Kunst, der den Novizen wie den fertigen Schauspieler beseelte, suchen wir bei unserem modernen Kunstjünger vergebens. Es wird ihm schon von Haus aus zu leicht, zu bequem gemacht, als daß er für seinen Beruf den nöthigen Feuereifer, die nöthige Begeisterung mit sich bringen könnte. Er besucht in der Regel ein, zwei Jahre eine Theaterschule oder läßt sich von einem renommirten Schauspieler sechs Paraderollen einstudiren, richtiger einpauken, geht dann zum Theater-Agenten, dem er sich auf zehn Jahre verkauft, wofür ihm dieser für’s Erste ein Engagement von sechshundert bis tausend Thaler verschafft, und der Künstler ist fertig.
Vordem war es anders. Man kannte keine derartigen Eselsbrücken, man studirte langsam und mühselig, oft unter den bittersten Sorgen, den herbsten Schicksalsschlägen, reiste meilenweit, um diesen oder jenen großen Schauspieler zu sehen und zum Vorbild zu nehmen, und so bildete sich durch dieses anhaltende Ringen und Kämpfen neben dem Kunstmenschen auch der Charaktermensch vortheilhaft heraus, wovon schon die Portraits jener alten Schauspieler ein untrügliches Zeugniß geben. Die jetzige Generation erzeugt Dutzendmenschen mit Dutzendgesichtern, die, um auf der Bühne nur zu einiger Bedeutung zu gelangen, ihre Zuflucht zur Fettschminke nehmen müssen, die ja jede Schwäche deckt und selbst der nichtssagendsten Physiognomie ein genialisches Ansehen verleihen soll. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen sei es uns gestattet, zu den Detailstudien überzugehen; wobei die nebenstehenden Skizzen als Folie dienen mögen.
Nothwendig beginnen wir mit dem Chef der Anstalt, den wir im Bilde absichtlich übergangen haben, um nicht persönlich zu werden, was ja hätte so leicht kommen können. Der Leiter eines Stadttheaters wird schlechthin Director genannt, der einer Hofbühne Intendant oder General-Director. Dieser ist gewöhnlich ein Hofcavalier und seine Ernennung bestimmt allein der regierende Fürst, jener ein Bürgerlicher, und ihn ernennt der Stadtrath. Man ist in letzter Zeit den Hoftheater-Intendanten gegenüber den Privatunternehmern besonders scharf zu Leibe gegangen, und oft mit einer Animosität, die der Parteilose durchaus nicht billigen konnte. Die Wahrheit liegt auch hier in der Mitte: nicht jeder Hoftheater-Director gleicht dem Hofmarschall in „Cabale und Liebe“, eben so wenig wie jeder Stadttheater-Director ein Ausbund von Fähigkeit, ein Muster von Noblesse der Gesinnung ist. Die angeborenen feinen Umgangsformen des wahren Cavaliers regieren, man mag sagen was man will, das Völkchen der Schauspieler leichter und besser, als die Brutalität, die auf den Geldsack schlägt; und ist dazu noch der Cavalier ein wahrhaft gebildeter Mann, der über dem „Blenden der Erscheinung“ steht, so läßt sich kein wünschenswertherer Chef für ein derartiges Kunstinstitut denken. Wir kennen einen, vielleicht der Einzige, der diese schönen Eigenschaften glänzend in sich vereinigt, obschon er nicht ein Edelmann von Geburt ist – Eduard Devrient.
Dem Director zunächst spielt der Regisseur die erste Violine, denn er ist sowohl vortragender Rath beim Chef, als auch artistischer Leiter der Bühne. Er liest alle eingesandten Novitäten (eine wahre Herculesarbeit), schlägt die besten zur Aufführung vor, setzt alle Stücke in Scene und corrigirt und rectificirt die Schauspieler bei Auffassung ihrer Rollen, genug, er ist das Perpetuum mobile, ohne dessen Triebkraft die Maschine bald still stehen würde. Wie überall, so giebt es auch hier Ausnahmen, und wir haben allerdings auch Regisseure zu verzeichnen, die schon genug gethan zu haben glauben, wenn sie die aufgezogene Uhr auf den Tisch legen und hinter den Coulissen Witze reißen, während es auf der Bühne drüber und drunter geht, was sie dann „eine Probe abhalten“ nennen. Unser Regisseur mit Dose, Stock und stets bereitem Taschentuch gehört jener guten, pflichtgetreuen Classe an, die ihrem Berufe lebt und stirbt, sechs Stunden auf einem Flecke sitzen und ein und dasselbe Stück mit gleicher Andacht zum zwanzigsten Male insceniren kann, und über die Schauspieler wacht, wie ein Vater über seine Kinder. Er ist Wittwer, und eine betagte Haushälterin führt das Regiment und zwar, wie man wissen will, mit einem Holzpantoffel.
Der alte Herr trinkt täglich sein sehr gutes Glas Wein in der gesuchtesten Weinstube, wo er am Stammtisch präsidirt. Jener alten Schule angehörend, spricht er gern von Beck, Beil und Iffland, und hört es nicht ungern, so bescheiden er es auch ablehnt, wenn dabei seiner gedacht und an die Zeit erinnert wird, da er noch den Ferdinand in „Cabale und Liebe“ spielte und Alles entzückte. Den alten dicken Regisseur mit den verschwommenen Zügen [444] auch nur für den möglichen Schatten des idealen Ferdinand halten zu müssen, fällt uns schwer und giebt uns, bei allem Respect vor der guten alten Schule, einen sonderbaren Begriff von der Geschmacksrichtung unserer Väter. Wenn auch unser Freund keine Schulden hat, so hinterläßt er doch auch Nichts, wie er selbst eingesteht. Das Mobiliar bekommt die Haushälterin, und in einem
geheimen Fache seines Pultes, über dem eine unkenntliche Stickerei seiner ersten Liebe hängt, liegen dreihundert Thaler, um „anständig“ begraben zu werden. Seine Errungenschaft in staatsbürgerlicher Hinsicht ist ein kleiner Orden, daher er nur im Frack erscheint und sein Extra-Ruhm, daß er Mitglied einer Montagsgesellschaft ist und die Auszeichnung genießt, neben einem Gerichtsrath zu sitzen.
Seine rechte Hand ist der Inspicient, gewöhnlich ein verdorbener Schauspieler und somit ein nagendes Gift im Busen nährend, den man nie anders sieht, als mit der Contente und der Klingel; mit einem Bleistift hinter’m Ohr oder zwischen die Lippen geklemmt, will er recht wichtig thun. Er überwacht und leitet das pünktliche Auf- und Abtreten der Schauspieler, klingelt, wenn der Vorhang auf- und niedergehen soll, marquirt und excontirt die nöthigen Schüsse, Donnerschläge, Regengüsse und Hülferufe hinter der Scene, und notirt mit unnachsichtiger Strenge die säumigen Künstler, sobald sie nicht mit dem fallenden Stichwort auftreten. In seinem Wesen liegt etwas vom Militär und Polizisten; die Contenta, worin sich das Scenarium des aufzuführenden Stücks von ihm verzeichnet befindet, ist sein Hauptbuch, worauf er schwört, seine Pünktlichkeit unerhört, und seine Uhr die richtigste in der Stadt. Dem
Schall seiner Klingel gehorcht der Maschinist, der den Vorhang aufzieht oder die Scene verwandelt, wie die vergöttertste Künstlerin, die halbgeschminkt aus der Garderobe auf die Bühne stürzt; ja selbst der Herr Generaldirector muß auf ihre Mahnung mit einem Satze
die Bühne verlassen, was von einem schallenden Gelächter seitens des Publicums accompagnirt zu werden pflegt, wenn ein böser Dämon will, daß der Vorhang bereits aufgezogen, und so gerade noch Zeit gegeben ist, eines der abspringenden Beine nebst Frackschoß bewundern zu können.
Wer bei einer Probe oder Vorstellung zu spät kommt, wer sein Stichwort überhört, ja, wer selbst zu zeitig auftritt, was [445] namentlich jungen Schauspielern infolge heftigen Coulissenfiebers passirt, wird schonungslos notirt und am Gagetag gestraft durch Abzug gewisser Procente. Daher zittern selbst die Verwegensten vor dem Griffel des Inspicienten, wie vor seinen Pathenbriefen, indem er als umsichtiger Mann möglichstes Capital aus seiner starken Familie zu schlagen sucht.
Wir gehen nun zu den darstellenden Mitgliedern über. Die sentimentale Liebhaberin, der designirte Abgott aller Lieutenants, unbesoldeten Assessoren und Procuristen, muß auf der Bühne wie im Leben und auf der Photographie wehmüthig lächeln, sich in schwarze Spitzen hüllen und im Haar eine Camelie tragen, denn so verlangt es das Rollenfach, oder richtiger das Metier. Sie wird nie heiter scheinen oder laut lachen, selbst wenn sie es innerlich vor Vergnügen kaum aushalten kann, denn es würde unbedingt den Gesammteindruck des sentimentalen Gebäudes ruiniren. Ihr Schritt wird stets langsam und gemessen sein, selbst wenn es zwei Ellen hinter ihr brennte, ihr Blick stets seelenvoll, und wenn sie auf eine Kupfernatter träte. Um Shakespeare, schon um Goethe kümmert sie sich in der Regel nicht viel, hingegen hat sie die „Louisen-Charaktere“ dermaßen mit der Muttermilch eingesogen, daß sie in gewissen Rollen wirkliche Thränen vergießen kann. Ihr Studium ist mäßig, und nicht mit Unrecht betrachtet sie ein richtiges Gefühl und ein treues Gedächtniß als das Fundament der Schauspielkunst. Alles Uebrige bewerkstelligen dann Schminke, Hängelocken, Lampenlicht und das Costüm, welches selten richtig ist, weil es trotz der Anordnungen des Costümzeichners durch eine höchst abgeschmackte Zuthat von Schleifen, Puffen, Bändern und falschen Schmuckgegenständen gründlich verunstaltet wird. Das Privatleben der sentimentalen Liebhaberin ist immer sehr zurückgezogen und tadellos; auch erreicht sie nie das dreißigste Lebensjahr, indem sie laut Contract immer nur neunundzwanzig bleiben muß. Sie cultivirt im Publicum oder an einem sehr entfernten Hoftheater ein ganz geheimes Verhältniß mit einem Herrn in gesetzten Jahren, das endlich durch eine ebenfalls sehr geheime Vermählung in einer Dorfkirche seinen Abschluß findet und hauptsächlich dazu dient, die Zukunft der Dame sicher zu stellen.
Im entgegengesetzten Zustande befindet sich die Soubrette, oder auch muntere Liebhaberin geheißen, Hier ist Alles Feuer und Leben, ewiges Lächeln, Honig auf den Lippen und Perlen von Zähnen, die officiell gezeigt werden müssen, Das Gehen ist ein stetes Springen und Hüpfen, die Lustigkeit in Permanenz erklärt, Quecksilber in Händen und Füßen, ein wahres „Teufelsbölzchen“ auf der Bühne, wie im Leben. Ihre Toilette ist meist gewählt, oft verschwenderisch, daher Schulden wie ein Major, ihre Verehrer sind in der höheren Militär- und Beamtenwelt zu suchen, und nebenher schwärmt sie für eingemachte Früchte und süße Ungarweine. Tritt die Soubrette vom Schauplatze zurück, so finden wir sie als Vorsteherin eines eleganten Putz- und Modegeschäfts, als Gasthofsbesitzerin oder als Photographin wieder, und erfreuen uns immer noch des nie versiechenden Humors der kleinen runden Frau.
Die „zärtliche Mutter“, in früheren Jahren nicht selten eine Schönheit, hat sich dennoch ziemlich ergeben in das unvermeidliche Alter gefügt und symbolisirt es durch eine Spitzenhaube, die nur in den äußersten Fällen ihr Haupt verläßt. Sie vertritt Mutterstelle bei der jungen Theaterwelt, hat nie einen Zwist mit der Direction, nimmt vom Souffleur eine Prise, was sie ihrer Popularität schuldig zu sein glaubt, und kümmert sich wenig um eiteln Künstlerruhm, denn sie hat einen lebenslänglichen Contract in der Tasche. Bei ihrem so wohl conservirten Wesen und der stets rosigen Laune sollte man nicht glauben, daß sie einen kranken oder unnützen Mann zu Hause hat, der als ehemaliger Mime sich nicht entblödet, die Stellung der eigenen Frau zu beneiden, die ihn obendrein erhält und füttert.
Der „zärtliche Vater“ ist hier sogleich anzureihen. Die nothwendigen Requisiten eines solchen bestehen in einer Schnupftabaksdose, einem großblumigen Schlafrock, mehreren Taschentüchern und sehr bequemen Hausschuhen. Er lernt nie seine Rolle und schlägt sich mit Kunstpausen durch, die er mit Zitterstimme, Rührblicken, Taschentuchziehen, Umarmungen, Segenspenden, stummem Spiel und Kopfschütteln so trefflich auszustatten weiß, daß diese Kunstfreveleien bei dem Gründling im Parterre stets als baare Münze acceptirt werden. Die Schauspieler haben einen technischen Ausdruck für solches Manöver und nennen es „schwimmen“. Mit dem Souffleur steht er folgerecht auf dem besten Fuße, ja, hat selbst, trotz der Achtung, die er sich als ausübender dramatischer Künstler schuldet, unter vier Augen Brüderschaft mit ihm getrunken. Als Mensch und Bürger erfreut er sich eines ausgezeichneten Rufes, arbeitet in Pappe oder angelt, auch sieht man ihn an heißen Sommernachmittagen mit einer grünlackirten Botanisirtrommel durch die Haide streichen, ein Beweis, daß er Gemüth hat.
Schnallen wir nun den Kothurn an, werfen die Toga über und gürten die Lenden mit dem Schwerte, denn es gilt, die „tragische Liebhaberin und Heldin“ zu empfangen. Dieselbe hat nie ein leichtes Verhältniß, sondern ein sehr ernstes mit einem schwerreichen Banquier, welches vollkommen der Gediegenheit ihres Charakters, ihrer Spielweise, namentlich ihres Schmuckes entspricht. Sie stammt meist aus einer sehr achtbaren Handwerkerfamilie, welchem Ursprung sie wohl auch die Stärke ihrer Gliedmaßen verdanken mag, was Kunstenthusiasten und Kritik mit „classische Formen“ bezeichnen. Da uns Deutschen eine große Leidenschaftlichkeit nicht eigen, gehört auch die Wiedergabe großer, erhebender, furchtbarer Leidenschaften auf unserer Bühne zu den Seltenheiten, und wir nennen schon die eine große Tragödin, welche uns durchs ungewöhnliche Körperlänge imponirt, kühn einherschreitet, sich in den möglichsten Attituden präsentirt [446] und ihr Sprachorgan in allen Tonleitern spielen läßt. – Sophie Schröder war wohl die letzte große tragische Schauspielerin. Sie war es aber auch, die (nach den Memoiren von Caroline Bauer) noch als zweiundsechszigjährige Frau allen Ernstes und zornfunkelnden Auges erklärte: daß sie erst vor zwei Jahren der Liebe, „dieser niederträchtigsten aller Leidenschaften“, entsagt habe!
Von dem jugendlichen Liebhaber und Naturburschen ist wenig mehr zu sagen, als daß er sich jeden Abend die Haare wickelt und am Tage eine feuerfarbene Cravatte trägt. Lächelnde Selbstgefälligkeit ist über den ganzen Jüngling gegossen, der seinen Stammbaum aus einem Friseurladen oder einem Schnittwaarengeschäft leitet.
Der „erste Liebhaber und Held“ ist unbedingt der schönste Mann am Theater, selbst wenn er es nicht ist. Er ist nie verliebt, sondern läßt sich nur anbeten, und das meist auf Distance, woraus man schließt, daß er Fischblut in den Adern haben und in Folge dessen ein sehr hohes Alter erreichen soll. Er wohnt nur Bel-Etage, zeigt sich, selbst wenn er Gatte und Vater ist, nie mit Weib und Kind auf der Straße, um seinen Bühnencredit als „ewiger Jüngling“ nicht leichtsinnig auf’s Spiel zu setzen, und nimmt beim Grüßen den Hut sehr vorsichtig ab, aus Gründen, die später einleuchten werden. Sein Salon ist mit seinen Triumph- und Siegeszeichen geschmückt, wie der Wigwam des Indianers mit Schädeln und Skalps. Alte und neue Lorbeerkränze mit ellenlangen Atlasbändern, mehr als dreißig Exemplare von des Künstlers „eignem Bildniß“, Souvenirs in Wolle, Atlas, Perlen und Seide, Orden und Ehrendiploms unter Glaskästen füllen, bis an die Decke gespeichert, diese Ruhmeshalle. Er raucht niemals, außer bei einem Theateragenten oder Kritiker, wo er es aus höheren Rücksichten über sich gewinnen kann, mehrere Stunden im dichtesten Tabaksqualm auszuhalten. Er geht Punkt zehn Uhr zu Bett, nachdem er zuvor zwei Teller Hafergrützschleim zu sich genommen hat, ein Opfer, das er der Conservirung seines herrlichen Organs schuldig ist. Er bewegt sich stets im träumerischen Hamletschritt und trägt eine sehr feine Perrücke, die junge Damen der Pension und sonst starkgläubige Gemüther für echtes Haar halten.
Der „Intriguant und Charakterspieler“ ist gewöhnlich ein sehr guter Mensch, der sich aber a conto seines Rollenfaches ein heimtückisches Ansehen geben zu müssen glaubt. Hat er Talent, so ist er das interessanteste und amüsanteste Mitglied der Bühne; hat er keins, so schlägt er gern zum „denkenden Schauspieler“ um, eine bedenkliche Sorte, die hinter sogenanntem Maßhalten ihre ganze Armseligkeit versteckt, die immer will, aber niemals kann, und ihre Mittelmäßigkeit in Schriftstellervereine und gelehrte Gesellschaften einschmuggelt, um dort zu katzbuckeln oder, was zwar auf dasselbe hinausläuft, die Werke neuerer, vor Allem anwesender Dichter vorzutragen.
Sonderbar, daß der „Komiker“, der schon bei mäßigem Witz Aller Herzen erfreut und der gute Kerl der ganzen Menschheit ist, in seinem Hauswesen selten die Quelle findet, aus der er seine gute Laune schöpft. Sollte dies vielleicht folgende Stelle erklären helfen, die sich auch übertriebene Spaßmacher außer der Bühne hinter die Ohren schreiben können: „Da guckte Michal, die Tochter Saul’s, durch’s Fenster, und sahe den König David springen und tanzen vor dem Herrn, und verachtete ihn in ihrem Herzen.“
Mit wenig Worten: es sind hier nur in seltenen Ausnahmen glückliche Ehen zu finden, ein Merkmal, zu charakteristisch, als daß wir es hätten, trotz der Subtilität des Gegenstandes, übergehen können. Die komische Alte, die Heldenmutter und der Heldenvater bewegen sich fast immer in der Sphäre des Alltäglichen, nur ist dem Heldenvater nächst einer ausgezeichneten Bierkenntniß gern jene Gravität eigen, die sich der Mensch zuweilen anschnallt, um die Blößen des Geistes damit zu verdecken. Auch gilt er bei Denen, die wenig Menschenkenntniß besitzen, als Biedermann.
Der „amtliche“ Theaterkritiker und der Souffleur sind die geplagtesten Creaturen. Ersterer macht es weder den Schauspielern noch dem Publicum recht; letzterer muß alle Sünden eines schlechten Gedächtnisses oder einer mangelnden Memorie mit seinen Lungenflügeln ausbaden. Aber das Schrecklichste der Schrecken ist zweifelsohne eine Theatermutter, die geborene Beschützerin der Jugend und Unschuld, der Quälgeist der Directionen, dieses prädestinirte Freibillet und Einschiebsel in alle Privatcirkel, wo nur die Tochter gewünscht, aber für – Obst gedankt wird. Doch Du bist Mutter – und diese Narben vierzigjähriger Theaterschlachten stehen Dir schön!
„Aber Sie könnten den Herrn Pfarrer doch fragen,“ sagte Juli, „es ist gewiß, wie ich sage …“
„Fällt mir nicht ein!“ rief die Häuserin. „Könnt’ auch gar nicht sein … der Hochwürden Herr Bruder ist gar nicht zu Haus und kommt vor Nacht nicht heim!“
„Nicht zu Haus?“ rief Juli entgegen und ihre Wangen erglühten vor Scham über die kecke Lüge des Weibes, aber sie vermochte nicht, sie deren zu zeihen und zu überführen; auch wäre sie kaum dazu gekommen, denn die Häuserin hatte die Thür weit geöffnet und wußte sie so geschickt zu drängen, daß sie derselben sich nähern mußte, wenn sie das Weib nicht auf die Füße treten, noch von ihr getreten sein wollte. Dabei fuhr sie ununterbrochen im Reden fort, um die Andere nicht mehr zum Worte kommen zu lassen. „Wir brauchen den Hochwürden Herrn Bruder auch gar nicht dazu,“ sagte sie; „wenn ich es sage, ist es so gut, als wenn er es gesagt hätte. … Du lieber Gott, wozu sollt’ ich Jemand brauchen! Und gar Eine aus einem solchen Haus, wo man die Arbeit nicht gewöhnt ist, sondern den Ueberfluß und den Uebermuth! Mit Ihrer Arbeit, Jungfer, wird’s nicht weit her sein; Sie ist ja im Kloster erzogen worden, hab’ ich mir sagen lassen, wie eine Edelmännische. … Ja, so gut hab’ ich’s nicht gehabt! Mein Vater ist ein armer Bürgersmann gewesen, der hat keine solchen Sprünge gelitten; aber arbeiten haben wir gelernt, Jungfer, arbeiten – und ich dank’ es ihm heut’ noch nach in die Grube hinein, daß er mich nicht auch so verzärtelt hat! Geh’ die Jungfer nur in Gottesnamen wo andershin, mit der Arbeit kann sie mir nicht helfen, und das Fräulein im Hause spielen, das thu’ ich selbst, wenn sich’s einmal leidet …“
Juli hörte die letzten Worte nicht mehr, sie war hinweggestürzt, als würde sie von einer unsichtbaren Gewalt geschleudert, und hatte das Scheiden vom Vaterhause sie in’s Herz getroffen, so war die ungerechte Schmach, die sie nun erduldet, die schnöde Bosheit, mit der sie, die Schuldlose, sich behandeln lassen mußte, mit solcher Wucht auf sie hereingebrochen, daß sie nicht einmal Thränen fand und in stummer Bestürzung dahinrannte, als wäre das Weib hinter ihr, sie auf den Fersen zu verfolgen. Erst als sie an den Bergabhang kam, wo sich die Wege theilten, hielt sie inne, aufathmend und sich besinnend, wohin sie sich nun wenden solle. Nach kurzem Bedenken schritt sie dem nahen Marktflecken zu, denn der Abend war nicht mehr fern; zudem hatte der schöne Frühlingstag sich rasch und bedenklich umwölkt, die ungewöhnlich frühe Schwüle ließ den Ausbruch eines Gewitters erwarten, und sie mußte vor Allem darauf denken, ein Unterkommen für die Nacht zu finden. In einem der Brauhäuser des Fleckens war das zu erwarten, und bis zum andern Morgen hatte sie Zeit, zu einem neuen Entschlusse zu kommen.
Behutsam schritt sie durch die feuchte, zum Theil noch sumpfige Niederung hin; ein schmaler Pfad führte durch dieselbe, manchmal durch kleine Holzstücke und starke Aeste überlegt, um ihm mehr Festigkeit zu geben, denn nicht selten schwankte der Boden unter’m Fuß und Juli fuhr in ihrer Betrübniß der Gedanke durch den Kopf, der unsichere Grund sei ein Bild ihres eigenen Lebens, ihrer eigenen Zukunft, in der sie untergehen und versinken müsse, ungekannt und ungetröstet und unbeweint. Auch Todtenbretter waren hie und da auf den Weg gelegt, einfache, mit einem schwarzen Kreuz und ein paar Buchstaben bezeichnete Bretter von [447] der Form eines Sarges, auf denen Gestorbene aus der Umgegend bis zum Begräbniß gelegen waren, und die man an möglichst belebte Orte stellt, damit recht viele der Vorübergehenden ihrer im Gebete denken mögen. An einem kleinen Felsstück, das sich dahin verirrt, war ein solches Brett aufgestellt und sah, überhangen von den paar Sträuchern, die sich an den Stein geklammert hatten, wie ein kleines freundliches Denkmal.
Ein solches war es auch; es galt einer Unbekannten, die bei Nacht durch den Sumpf gewandert, vom Wege abgekommen und versunken war, Niemand würde sie gewahr worden sein, hätte nicht der stöbernde Hund eines Jägers den Scheitel aufgespürt, der noch aus dem Pfuhl hervorragte. Niemand wußte, wer sie war, von Niemand geschah eine Nachfrage nach ihr; es mußte Niemand gelebt haben, der sie vermißte. Auch Juli hatte das oft erzählen gehört, sie war oft des Weges gekommen und an dem Todtenbrett der Unbekannten stillgestanden; es war ihr so unendlich traurig vorgekommen, so ganz verlassen und verloren zu sein in der Welt, und heute stand sie wieder da und es wandelte sie an wie eine Ahnung, als gebe es doch noch ein größeres Elend und tieferes Leiden.
Es dämmerte stark, als sie die ersten Häuser des Marktes erreichte; ihr war es lieb, weil sie hoffen durfte, von Niemand, der sie etwa kenne, gesehen zu werden. Vor einem ansehnlichen Brauhause hielt sie an, es dünkte ihr ein gutes Zeichen, daß vor demselben ein paar hübsche Kinder saßen, einen Wust von frisch gepflückten Wiesenblumen neben sich, die sie verzupften und in kindisch unbedachter Weise zerstörten. Sie setzte sich wartend und unentschlossen auf die Steinbank neben die Kinder und war bald in deren Spiel gezogen. „Ihr müßt die Blumen nicht zernichten,“ sagte sie, „zu dem hat der liebe Gott sie nicht so schön wachsen lassen. Wenn er das gewollt hätte, hätt’ er Alles fein gleich und grün wachsen lassen, wie es das Thier hineinfrißt; damit die Kinder eine Freude haben und schön spielen sollen, hat er Blumen geschaffen und hat ihnen die schönen Farben gegeben und die Glocken gemacht und die Sterne und die Träubeln ... Schaut mir einmal zu, ich will Euch zeigen, wie Ihr einen schönen Strauß binden könnt …“ Die Kinder, von einer guten, aber ein bischen verwilderten Art, sahen der anmuthigen Belehrung, die ihnen wohl selten so zu Theil wurde, mit ruhiger Neugier zu, und auch Juli war es eine angenehme Unterbrechung ihrer Trübsal, einen Augenblick mit Blumen und Kindern zu sein.
Eine Frau mit gutmüthig gleichgültigen Zügen war unter den Thorbogen getreten, ohne daß sie deren gewahr geworden; sie sah eine Weile wohlgefällig zu und trat dann freundlich näher. „Guten Abend,“ sagte sie, „Du kannst gut mit den Kindern umgehn, Mädel; das weiß ich lange nicht, daß sie Jemand so zuhören und stillsitzen … ich wollte, ich hätte Jemand Solchen, der mir darauf Acht giebt; ich hab’ keine Zeit, und der zehnten Person kann man sie auch nicht anvertrauen … da werden sie denn wild und wachsen auf – verzeih’ mir’s Gott, bald hätt’ ich gesagt, wie das liebe Vieh! Wo kommst Du her, Mädel, und wo willst Du hin?“
„Ich bin da droben beim Westerberg daheim,“ erwiderte Juli ausweichend, „und bin unterwegs einen Dienst zu suchen …“
„Einen Dienst!“ rief die Frau erfreut. „Das trifft sich ja prächtig … Du gefällst mir, Mädel, und siehst auch sonst anstellig aus, ich behalt’ Dich, wenn es Dir recht ist, und das vom Fleck weg …“
„Mir ist es gleich,“ sagte Juli ergeben, „Ihr werdet finden, daß ich wohl zu brauchen bin; ich will wohl bei Euch bleiben, Ihr habt ein gutes Gesicht, Frau, und werdet es nicht Lügen strafen …“
„So komm’ herein in’s Haus, setz’ Dich in die Stube mit den Kindern; es wird ganz finster und das Wetter kann auch jeden Augenblick losbrechen … ich will Dir was zu essen geben, und dann können wir Alles gleich festmachen miteinander, wie’s Recht und Brauch ist. … Ich bin so froh, daß ich Dich gefunden hab’, als wenn ich ein G’schloß geschenkt bekommen hätt’ …“
Die Fräu nöthigte sie in die Stube; es war noch dunkel darin, noch hatten die kleinen Marktbürger sich zum Abendtrunke nicht eingefunden. Eben läutete es zum Ave Maria, in die ersten Töne des Glöckleins schmetterten auch die ersten Donner des furchtbar sich entladenden Gewitters und ein starker Regen platzte aufspritzend auf das Pflaster nieder.
Die Wirthin kam bald wieder mit Licht und Essen, die Kinder waren gleich nicht mehr von der neuen Magd gewichen und hingen ihr fragend und kletternd am Gewand. „Iß derweil,“ sagte sie, „und laß Dir’s schmecken; Hunger darf bei mir Niemand leiden! Ich muß nur noch in der Küche nachsehn, dann bin ich gleich wieder da! …“
Ein Mann, vom Regen in’s Haus gescheucht, trat in die Stube und schwang fluchend den nassen Hut aus; es war Einer von denen, die bei der Versteigerung im Bergwirthshause gewesen. Er ging der Wirthin nach und sprach ein paar Worte mit ihr, indem er auf Juli deutete. „Was?“ rief sie, plötzlich umgewandelt, stürzte in die Stube zurück und riß der nichts ahnenden Juli die Kinder von der Seite. „Du bist die Tochter von dem Bergwirth, der so viel Unglück über uns gebracht hat … von dem Mörder, dem Zuchthäusler? Und Du unterstehst Dich und willst Dich bei mir einschleichen in’s Haus und zu meinen Kindern …“
„Aber Ihr habt mich ja selbst …“ stammelte Juli, betroffen von dem neuen Unheil, das über sie hereinbrach.
„Weil ich Dich nit gekannt hab’, Du scheinheilige Heuchlerin!“ schrie das wüthende Weib. „Hätt’ ich gewußt, wer Du bist, ich hätt’ Dir die Thür vor der Nasen zugeschlagen … Nichts da, eine solche Person wäre just die Rechte, daß man ihr Kinder anvertrauen könnte … wer weiß, was sie ihnen anthät; der Apfel fallt nit weit vom Stamm!“
Juli begannen die Sinne sich zu verwirren; war sie es denn wirklich, der man so begegnen durfte? Sie, die mit Wissen noch kein Kind beleidigt; die, wenn sie konnte, den Wurm oder Käfer aus dem Wege trug, ihn nicht zu zertreten! Ihr ganzes Wesen bäumte sich auf vor innerer Entrüstung, und die Reinheit ihres Bewußtseins funkelte aus ihrem Auge; es war wirklich etwas von dem Sinne des Vaters in ihr, der trotzige Grimm des Wurmes, der sich unter dem Eisengriffe der Jägerfaust windet und ohnmächtig in den gepanzerten Handschuh beißt. „Frau,“ rief sie mit so drohender Geberde, daß die Erschrockene davor ein paar Schritte zurückprallte, „ich rath’ es Euch – redet nicht so mit mir … thut es nicht um Eurer Kinder willen, damit nicht an ihnen gestraft wird, was Ihr Euch an mir versündigt! Ich habe mich nicht in’s Haus geschlichen – ich wollte nur ein Nachtlager haben wie ein anderer Gast – Ihr selbst habt mich aufgenommen auf den Schein hin und schimpft und schmäht mich jetzt wieder auf den Schein … Und wenn Ihr mich mit aufgehobenen Händen bitten wolltet und wolltet mich in Gold fassen, ich – die Zuchthäuslerin, wie Ihr mich genannt habt, bliebe nicht bei Euch – eh’ will ich unter der nächsten Staude am Weg übernachten, als bei Euch! …“
Sie war aufgesprungen und rannte durch das offene Hausthor hinaus in die Nacht und den strömenden Regen – die Wirthin sah ihr verblüfft nach, die Energie des Mädchens hatte sie ein wenig verschüchtert; der Mann, der den Angeber gemacht, leerte seinen Krug und stand auf. „Ich will auch noch weiter um ein Haus,“ sagte er, „in dem da thät’ mir doch kein Tropfen mehr schmecken … Nehmt mir’s nicht übel, Mohrenwirthin, ich hab’ Euch gesagt, wer das Mädel ist, weil ich gedacht hab’, es wird Euch doch merkwürdig sein – aber wenn ich gewußt hätt’, daß Ihr einen solchen Lärm aufschlagt, hätt’ ich auch was Gescheiteres zu thun gewußt …“
Er ging, die Wirthin aber schob die verdutzten Kinder nebenan in die Küche. „Versteht sich,“ murrte sie vor sich hin, „der hat gut reden – seine Kinder sind es nicht … wer weiß, was das desperate Leut’ ihnen angethan hätt’, den armen Hascherln.“ …
Juli war indessen ziellos fortgelaufen, sie fühlte den Regen nicht und nicht den Sturm, der ihn peitschte und warf – erst außerhalb des Ortes unter dem Vorsprung einer kleinen Capelle hielt sie an, strich sich das triefende Haar aus der Stirn und fragte sich fröstelnd wohin. Sie wollte in dem Vorcapellchen niederducken, aber es ging nicht an, der Wind strich durch die Pfeiler und das Geländer, als wolle er versuchen, ob es denn nicht möglich sei, die Widerstrebenden zu beugen, wie die Häupter der Buchen und die Ahornkronen, die sich sausend vor ihm neigten. Sie entsann sich manches Bekannten und Befreundeten aus den guten Tagen, aber sie war so entmuthigt durch die Aufnahme, die ihr bis jetzt geworden, daß sie es nicht wagen wollte, zum dritten Male an eine fremde Thür zu pochen. Wenn nur die Nacht vorüber war, dann wollte sie sich auf die Eisenbahn setzen, [448] die ihr so verhängnißvoll geworden, und wollte sich fortfahren lassen, so weit es ging, fort und in die Welt hinein, in ein Land, wo gewiß Niemand sie kannte – nach langem Sinnen gedachte sie der Schwester einer alten ihr ergebenen Magd, die am Fuße des Westerbergs lebte und sich kümmerlich mit Nähen und Stricken fortbrachte. Dort war sie sicher gut aufgenommen und das kleine Häuschen war unschwer zu erreichen, denn es lag nur wenige Schritte vom Eingange der Niederung entfernt. … Frostgeschüttelt machte sie sich auf den lichtlosen Weg, ihr Umschlagetuch fest an sich ziehend, das ihr der Sturm vom Leibe zu winden suchte … sie hatte gedacht, die Strecke schnell zurücklegen zu können, allein schon die ersten Schritte überzeugte sie von der Schwere und Gefährlichkeit ihres Unternehmens. Es war beinahe unmöglich, in der Finsterniß und auf dem dunklen Grunde den schmalen Pfad zu erkennen und die darauf gelegten Holzbrücken nicht zu verfehlen, zudem hatte sie den Wind gerade gegen sich und die Regentropfen schlugen ihr heftig an Stirn und Augen. Nicht lange, so mußte die Unsicherheit des Bodens, auf den sie trat, sie überzeugen, daß sie bereits vom Wege abgekommen war – mit Schauder fühlte sie denselben unter ihren Tritten nachgeben, und in dem Bestreben, den einsinkenden Fuß wieder hervorzuziehen und festere Grundlage zu suchen, gerieth sie immer näher an die unheimlichen Stellen, wo unter der grünen trügerischen Decke der unergründliche Pfuhl gleich einem versteckten Raubthiere auf sein Opfer lauerte. Ein Schrei des Entsetzens gellte durch Nacht und Wind, als sie plötzlich bis an’s Knie einbrach, und als beim angstvollen Sprunge sie den Boden immer wieder unter sich weichen fühlte – Niemand hörte den Ruf der Angst – schon glaubte sie sich verloren, als sie im Dunkel einen noch dunkleren Gegenstand erkannte, der sie Rettung hoffen ließ, und mit der letzten Kraft der Verzweiflung sich daran festklammerte. Es war die kleine Erhöhung mit dem bebuschten Felsstück – mit vergehenden Sinnen, bis zum Tode erschöpft, sank sie darauf nieder, hart an dem Todtenbrett der Versunkenen … sie gewahrte es nicht; mit verdoppelter Wuth stürmte es auf die Unglückliche herab, die kalten Tropfen begannen sich zu Flocken zu gestalten … sie fühlte es nicht, der Engel des Todes senkte den dunkeln Fittig näher und näher auf sie herab; sie war seinem unspürbaren Kusse verfallen, wenn der Morgen sie noch an dieser Stelle fand.
Nach einiger Zeit kam es wie ein Irrlicht über den Moor daher … es war der Schein einer Laterne, deren Träger ärgerlich und doch lachend über das Unwetter dahinschritt. „Ist mir doch ein solches Gethu’ und Geblase noch gar nie vorgekommen!“ brummte er. „Ist es doch, als wenn alle Hexen und Druden ihren Tanz hielten auf dem garstigen Sumpf; wird wohl Eine von ihnen gewesen sein, was vorhin so kläglich geschrieen hat. … Wenn ich das gedacht hätte, wär’ ich auch heute nicht mehr hinein in den Markt. … Aber was liegt denn da?“ unterbrach er sich und hob die Laterne. „Heiliger Bartlmä, das ist ja ein Weibsbild … die hat sich offenbar verirrt und ist da liegen geblieben. … Da ist’s doch für was gut gewesen, daß ich noch so spät unterwegs bin. … Heda, steh’ auf; Du,“ fuhr er fort, indem er sie rüttelte, „Du hast Dir eine schlechte Liegerstatt ausgesucht.“ … Er leuchtete ihr in’s Gesicht und fuhr erschrocken zurück. „Ja, wie ist mir denn?“ rief er. „Ist denn das nicht die Juli, die schöne Juli vom Bergwirth? Wie kommt denn die daher in dem Unwetter, mitten in der Nacht und so ganz allein. … So steht doch auf, Jungfer, und kommt mit mir … hier müßt Ihr ja zu Grunde gehn …“
Juli schlug die Augen auf, sie sah ihn an, aber ihr Blick war starr und verwirrt.
„Heiliger Bartlmä,“ rief er, „ich glaub’ sie ist gar nicht bei sich selber. … Jungfer, besinnt Euch doch; kennt Ihr mich denn nicht? Ich bin’s ja, der Postbartl, der Postillon, dem Ihr so manche Halbe Bier geschenkt habt. … Sie hört und sieht nicht; ich muß sehen, daß ich sie in die Höhe bringe und in meine Klause; wenn sie wieder bei sich selber ist, werd’ ich ja hören, was es gegeben hat …“
Er zögerte nicht lange; mit kräftigem Arm hob er die Wankende empor und führte sie hinweg, halb sie stützend, halb tragend, bis er sie wohlbewahrt und sicher auf das Lager in seiner Behausung niedergleiten ließ.
In der Nacht vertobte der Sturm; draußen in der Natur wie in Geist und Körper des Mädchens, das bei voller Jugendkraft in einem tiefen Schlafe das beste Mittel fand, sich von den Anstrengungen und der Betrübniß des vergangenen Tages zu erholen.
Ein heller freundlicher Morgen schien durch’s helle Fenster, als sie erwachte und sich verwundert auf einem zwar sehr einfachen, aber sauberen Bette in einem ihr völlig unbekannten Stübchen fand. Fragend blickte sie um sich und wollte sich des Vergangenen erinnern; es war ihr verwischt; sie wußte nicht, ob Alles, was sie den Abend zuvor erlebt und ertragen, nur ein entsetzlicher Traum gewesen; sie war wunderbar gestärkt und erfrischt, und wie einen Gruß wiederkehrenden Glücks ließ sie, rasch ihren Anzug ordnend, die Morgenluft um ihre Schläfe spielen, die durch’s Fenster strich, als habe sie wirklich eine ihr aufgegebene Botschaft zu bestellen. Das Stübchen war außerordentlich klein, es hatte nichts darin Raum als das Bett, in dessen Gestell sich auch eine Kleiderlade befand, ein kleiner Tisch und ein paar hölzerne Stühle. Alles war von der größten Einfachheit, aber rein und zierlich gehalten und so blank, daß man auf dem Fußboden hätte „anrichten“ können. Die weißen Wände waren ohne allen Schmuck, nur auf den Fensterbrettern standen allerlei Blumen in Töpfen und sahen den Ranken der wilde Rebe zu, die draußen, an der Wand des Häuschen emporgezogen, wie scherzend hin und wider schwankten.
Sie eilte aus der Thür, um zu erkunden, wo sie war, und blieb auf der Schwelle stehen, überrascht von dem Bilde anmuthiger Friedseligkeit, das sich vor ihr ausbreitete. Sie befand sich, wie sie sogleich erkannte, am Fuße des Westerberges, in einem rings von stark ansteigendem Bergwalde umschlossenen Thälchen; sie hatte die Nacht in dem Bahnwärterhäuschen zugebracht, an dem sie Tags zuvor so unachtsam vorübergegangen; eine undurchdringliche Tannenhecke umzäunte dasselbe und das zierliche Gärtchen, in welchem ein reicher ländlicher Blumenflor eben seine Farben auszubreiten, seinen Duft zu verstreuen begann. Unfern des Zaunes zog der Bahndamm vorüber, und der Wärter in rother schwarzverbrämter Jacke stand eben an der Stange, des Zuges harrend, dessen Signale er bereits aufgezogen hatte … sie vermochte nicht, sich des Mannes zu entsinnen … sie sah weiter um sich und gewahrte wenige Schritte seitwärts am Berghange das altersbraune Bauernhäuschen, an dem oft, wenn sie des Weges gekommen, ihr Auge mit Wohlgefallen verweilt hatte; vor demselben saß ein uraltes Mütterchen und sonnte sich …
Jetzt sauste der Bahnzug daher und in seiner furchtbaren Wucht vorüber; der Boden dröhnte unter ihm und Juli fühlte ihr Herz aufpochen von der noch nie gesehenen gewaltigen Erscheinung, und eine Art Ehrfurcht überkam sie vor der Erhabenheit des Gedankens, der ein solches Werk in’s Dasein gerufen; sie begriff, wie dagegen kein Widerstand zu dauern vermochte und wie der Geist einer neuen Zeit mit ehernem Tritt über der Gegenwart dahinschritt.
P. Rect. in Katscher. Kleiner Schäker Sie! Senden ein oberfaules Gedicht und bestimmen das etwaige Honorar für den Benedix-Fond. Glauben Sie wirklich auf diesem nicht mehr ganz ungewöhnlichen Wege Ihre Eitelkeit befriedigt zu sehen?
Mh. in Berlin. Ihr Wunsch wird schon in nächster Nummer befriedigt werden. Eine Autorität auf dem Gebiete der Physiologie, Herr Professor Funke in Freiburg, erfreut die Leser unseres Blattes mit einem ausführlichen Artikel: „Die Diätetik der Vegetarianer“, die die neuerdings oft ventilirte Frage in sehr interessanter Weise beleuchtet.
Druckfehler-Berichtigung. In einem Theile der Auflage von Nr. 27
sind leider zwei Druckfehler uncorrigirt geblieben, Seite 421 (unter dem
Bilde) ist als Todestag von Moscheles der 10. Mai anstatt der 10. März,
Seite 426, Zeile 51 als Stiftungsjahr der 7. Hypothekenbank das Jahr
1866 anstatt 1860 angegeben.
gingen abermals ein: Für den Verfasser der „Relegirten Studenten“ von J. B. und G. W. aus Frankfurt a. M. 3 Thlr.; Schw. in K. 5 Thlr.; Gesellschaft Erholung in Essen 5 Thlr.; Theaterdirector Thieme in Neuschönefeld 3 Thlr.; B.-Club in Nordhausen, gelegentlich eines gemüthlichen Abends 1 Thlr. 15 Ngr.; dem trefflichen Schilderer „zärtlicher Verwandten“ aus Regensburg 1 Thlr.; A. Geipel in Asch 30 Thlr.; in einem Couvert angeblich 2 Thlr. von N. N. in Leipzig fehlte das Geld.
- ↑ Die belgische Regierung, ihrer Pflicht und ihrer Würde besser eingedenk, hat inzwischen dem Procurator de Bavay seine unverlangte Entlassung zugestellt und denselben, dem allgemeinen Verlangen nachgebend, seines Postens enthoben. Anm. der Red.