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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[627]

No. 40.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.




Jedem das Seine.
Von Ad. von Auer.


Die Table d’hôte war aufgehoben. Die Vertreter des bemittelten Junggesellenstandes, die sich den Luxus erlauben konnten, bei dem besten Restaurant täglich zu speisen, waren in der mittelgroßen Stadt L. nicht gerade sehr zahlreich, der Stammgäste also nur eine geringe Anzahl; die Haupteinnahme brachten die Gäste, die alljährlich zu verschiedenen Zeiten des Sommers, L. passirend, in die S.’schen Bäder gingen oder von daher zurückkamen.

Diesmal waren es einige beim dortigen Kreisgericht angestellte junge Beamte, unter ihnen ein eben dorthin versetzter Referendarius, Herr Clemens von Brücken, die in einem an den Speisesaal stoßenden, comfortable eingerichteten Cabinet behaglich auf den Lehnstühlen umherlagen und, den Dampf aus der Cigarre in leichten Ringeln oder dichten Wolken in die Luft blasend, die Chronik des Städtchens, mitunter auch die chronique scandaleuse zu gegenseitiger Erbauung durchblätterten.

Brücken kam aus der Residenz. Wäre er Militär gewesen, so hätte er wie ein bekannter humoristischer Dichter singen können:

„Von der Garde zur Linie vertrieben
Und der goldenen Litzen beraubt,
Ist mir nichts, ist mir gar nichts geblieben,
Als mehr Schulden wie Haar’ auf dem Haupt.“

Nun, mochte er auch den Text in Rücksicht auf seine Civilcarrière ändern, der Sinn blieb ungefähr derselbe.

Er hatte den vielfachen Verlockungen der Residenz nicht zu widerstehen vermocht. und als nun gar die Rede ging, er stehe im Begriff sich mit einem jungen Mädchen zu verloben, das zur Sängerin ausgebildet werde, conspirirte der Vater, ein von seiner Pension lebender verabschiedeter Artilleriemajor, gegen den Sohn und bewog den Chef desselben, den lebenslustigen jungen Mann, der im Geräusche der Welt des Vaters Lehren überhörte und dessen Beispiel zu altväterisch fand, um es nachzuahmen, an einen kleineren Ort zu versetzen.

Wenigstens vermuthete Clemens einen derartigen Fallstrick, als er, mit der Nachricht nach Hause stürmend, einen gewissen verrätherischen Zug um den Mund des alten Herrn gewahrte, der den innern Kampf zwischen der Ehrlichkeit des ehemaligen Soldaten und ungewohnter diplomatischer Schlauheit anzudeuten schien.

„Hm, nach L., nach L. wirst Du geschickt, das ist gut!“ sagte der Major. „Ich kenne den Ort. Ich stand in meiner Jugend dort in Garnison und es war damals ein einfaches, solides Leben an der Tagesordnung. Auch lebte die alte Fuchsin, die aus Gülzenow dort, Deine Tante, wie Du weißt, ein curioses Frauenzimmer, mit der ich mich in meinem Leben was Ehrliches herumgebissen habe, ihr aber doch gut bin wie sie mir.“

„Bah, was hilft mir die alte Dame!“ meinte Clemens mit verächtlichem Nasenrümpfen.

„Die alte Dame hat ein respectables angesehenes Hauswesen. Seit die Mädchen – ihres Bruders Kinder, meine Mündel, weißt Du – herangewachsen, macht sie ein großes Haus. Es ist immer angenehm solchen Anhalt zu haben. Auch ist Hasse alle Sonntage in der Stadt und Hasse ist ein Prachtjunge.“

Dem alten Herrn zuckte es wehmüthig um den Mund, ein Seitenblick traf den Sohn, und das bestochene Vaterherz blickte wieder freundlicher aus den Augen. Clemens war ein hübscher Mensch, auffallend hübsch sogar und einige affectirte Unverschämtheit abgerechnet, die Gewandtheit und Weltton bedeuten sollte und die ja auch ihre Bewunderer in der Welt findet, im Ganzen, wenn er sich natürlich gab, ein frischer liebenswürdiger Junge, mit einer gehörigen Portion Mutterwitz und einem hervorragenden musikalischen Talent, das vielleicht zur Künstlerschaft hätte ausgebildet werden können, wenn der Eifer, die Gottesgabe zu etwas Ernstem zu benutzen, dem damit Begnadigten nicht ganz und gar gefehlt hätte.

Das waren nun natürliche Vorzüge genug, und der Vater erwog sie in Gedanken, als er das künftige Schicksal seines Sohnes im Geiste überdachte, aber Eines erwog er nicht, vielleicht weil es ihm selber zu fern war: den kalten Egoismus der aus Allem ein Rechenexempel macht und der selbst angeborener Liebenswürdigkeit durch die bewußte überlegte Anwendung desselben Hohn spricht.

Dem alten Herrn war es nun hauptsächlich darum zu thun, den Sohn von allen pecuniären Verbindlichkeiten zu befreien. Er raffte zusammen, was er hatte, selbst das für die Tochter zur Ausstattung bestimmte Geld wurde geopfert. Clemens biß sich auf die Lippen als er dies hörte und als der Vater noch hinzusetzte: „Du beraubst sie einer großen Freude, der, sich nach und nach Alles, was zum eignen Herd gehört, in ihr Nestchen zusammenzutragen und es fertig zu haben, wenn Schönfeld zum Rittmeister avancirt.“

„Ach was!“ entgegnete er, mit einem warmen Blick der ihm freundlich zunickenden Schwester die Hand drückend und mit einem Ton, der mit absichtlichem Trotz die Bewegung niederzuhalten schien „Schwestern sind meist opferwillige Geschöpfe. Sie hilft mir gern, ich weiß es, und bis Schönfeld Rittmeister ist, hat sie es zehnmal mit Zinsen wieder.“

So wurde das Opfer gebracht und angenommen, ja es wurden viele kleine tägliche Entbehrungen hinzugefügt, die doch alle nicht verhinderten, daß Clemens nach L. mit einem Schuldenrest abging, von dem Keiner etwas ahnte und der groß genug war, die Hülfe des Vaters zu einem bloßen Palliativmittel zu machen. Im [628] Augenblicke allerdings war die Kette loser und drückte eben so wenig als des Vaters ihm mit auf den Weg gegebene Lebensregeln auf sehr williges Gehör trafen, obgleich sie kurz in zwei Worte zusammengefaßt wurden. „Halte Haus in moralischer wie physischer Beziehung!“ Und doch mußte er in der schönen kraftvollen Greisengestalt des Vaters, seinem freien offnen Gesicht den besten Beleg für die Trefflichkeit der Lehre vor sich sehen.

Dem Vater war das Haushalten sichtlich gut bekommen. Ueber dem frischen gebräunten Gesicht des Sechszigers schmiegte sich der volle Haarwuchs noch in dienstmäßigem Scheitel an die breite Stirn, seine Haltung war gerade, sein Schritt elastisch und die dunkeln Falten, die sich über die Stirn zur Nasenwurzel hinabzogen, hatten viel weniger seine verflossenen Lebensjahre als sorgenvolle Gedanken um die kommenden seines Sohnes so vertieft.

Vielleicht dachte Clemens an diese Falten, als er in dem eben erwähnten Cabinet am Fenster saß, tief hintenüber gelehnt, den unentbehrlichen Antimacassar als Unterlage des glänzend geölten Haupthaars, das eine Bein auf den gegenüberstehenden Stuhl, das andere auf das Fensterbrett gelegt, um den Kleinstädtern mit diesem Beispiel halsbrechenden Comforts zu imponiren.

Sein feines regelmäßiges Gesicht hatte er dem Fenster zugekehrt und seine Augen, hübsch von Farbe und Schnitt und in natürlichem Zustande sprühend von Lebenslust, blickten etwas unlustig über den Marktplatz, während die Unterhaltung der Andern an seinem Ohr vorüberbrauste.

Es war von einem Subscriptionsball die Rede, der an dem nächsten Abend in dem in demselben Hotel befindlichen Ressourcelocal stattfinden sollte und zu dem Brücken von einem seiner jungen Collegen eingeladen war, um so auf die bequemste Weise in die Gesellschaft eingeführt zu werden.

Sämmtliche Honoratioren der Stadt und Umgegend wurden dazu erwartet und man ließ sie schon vorher Revüe passiren.

"Verdammt viel hübsche junge Damen haben wir hier, Schönheiten ersten Ranges. Sie werden staunen, Brücken“ sagte einer der Herren.

Der Angeredete wandte langsam den Kopf nach ihm um.

„In der Hauptstadt giebt es keine hübschen jungen Mädchen, Alle vertanzt, sagt man.“

„Alle?“ fragte Brücken mit leichtem Spott.

„Alle. Eine Masse Bälle dort, aber hier nicht weniger, müssen Sie wissen.“

„Aber hier bekommt den Damen das Tanzen bester?“ fragte Brücken in derselben Weise.

„Bessere Luft, nicht die eingeengte der Hauptstadt, müssen Sie wissen. Freilich wenn’s mit dem Anbauen so fortgeht, werden wir sie auch bald haben. Haben sonst Alles schon. Intelligenz, Elegance, großstädtische Allüren, feinen Ton. Sie werden ja sehen, werden ja vergleichen.“

„Ich bin schon seit Jahren auf keinem Ball mehr gewesen, es giebt bessere Vergnügungen,“ sagte Clemens gelangweilt.

„Gewiß, für Junggesellen Wirthshausleben, Billard, Kegel, Diners, höchst fein und üppig, in Hamburg nicht besser,“ fuhr der enthusiastische Lobredner seines kleinen Heimathstädtchens fort.

Brücken wandte den Kopf wieder dem Fenster zu. Die Andern lachten laut auf.

„Wahrhaftig, Lindemann,“ sagte einer der Andern, „Sie sind doch der eingefleischteste Kleinstädter, den ich kenne. Ich glaube, wenn Einer die übelriechenden Gossen der Hauptstadt rühmte, Sie finden sie durch die hiesigen übertroffen oder sprechen wenigstens die Hoffnung aus, daß sie es bald sein werden.“

Lindemann vertheidigte sich. Der Strom der Unterhaltung brauste weiter, vielleicht war’s auch nur ein plätschernder Bach, ein seichtes Wasser, das hin und her durch einen hineingeworfenen Stein ein wenig höhere Bewegungen zu machen schien. Brücken war schon wieder in Gedanken versanken.

Noch einmal, dachte er an die tiefen Stirnfalten des Vaters, die doch noch viel tiefer würden, gelänge es ihm, dem Sohn, nicht, sich durch einen glücklichen Coup gründlich aus den drückenden Verhältnissen zu reißen. Oder dachte er an den Brautschatz der Schwester, der sich in so und so viel perlende Champagnertropfen aufgelöst hatte, die des Lächelns wahrlich nicht werth waren, das in dem freundlichen Gesicht Bertha’s einige aufquellende Thränen glücklich verschleiert? – Auch egoistische Menschen haben Regungen warmen, selbst enthusiastischen Gefühls, es ist nur nicht nachhaltig genug, zu einer Kraft der Seele zu werden, die ruhig über das eigene Ich hinwegschreitet, die Empfindung zur That zu machen.

Solche Regungen und Wallungen können recht unbequem werden, man muß sich von ihnen los zu machen suchen.

Brücken klopfte die Asche von der Cigarre. Bah, fast so leicht lassen sich die Sorgen abschütteln, wenn man genial genug ist, nicht über den nächsten Augenblick hinauszudenken. Eine frische Cigarre wurde angezündet, hellere Bilder stiegen hinter dem sich kräuselnden Rauch empor: ein Mädchenkopf von dunkelbraunen Locken umwallt, zum Küssen, zum Aufjauchzen lieblich in seiner anmuthigen Frische und seinem natürlichen Ausdruck unschuldiger Heiterkeit und reicher Seelengüte.

Er liebte das Mädchen. Er hatte Zugang überall, wo er ihn haben wollte, auch bei der ehemals berühmten Schauspielerin, deren Nichte sie war und die einer Bildungsschule für angehende dramatische Künstlerinnen vorstand. Es war nicht schwer, sich ihr zu nähern, aber unmöglich, sie mit der Freiheit des Tons zu behandeln, der dort heimisch war. Sie war so sittsam in der Form wie im Wesen, ihre kindliche Natürlichkeit nahm nie auch nur den Schein herausfordernder Koketterie an und der Keckste wurde ihr gegenüber bescheiden.

Clemens liebte sie, und so wenig er sich sonst in ähnlichen Fällen besonnen hatte, sich seinem Gefühl rücksichtslos hinzugeben, so wenig genau er es damit nahm, sogenannte Liaisons anzuknüpfen und abzubrechen, so wenig er sich auch hier sagte: dies Mädchen ist eines besseren Schicksals werth, hier handelt es sich um Glück und Verderben eines unschuldigen Herzens, so hatte er doch einen instinctmäßigen Respect vor der weltklugen und welterfahrenen Beschützerin des jungen Mädchens, hatte vor nichts mehr Angst, als einmal fest in der Schlinge zu sitzen, an der die rothe Beere verlockend winkte.

Er hatte sich also dem Mädchen gegenüber in Schranken gehalten, nicht ihret-, seinetwegen hatte er ihr nie gesagt, daß er sie liebe, aber es giebt eine Sprache ohne Worte, hatte er die auch nicht gesprochen?

Als er dorthin zum Abschiednehmen ging, wählte er absichtlich eine Unterrichtstunde. Ihm, dem Liebling der alten Dame, war die Freiheit gestattet. Er fand sämmtliche Elevinnen beisammen. Ein lauter Ausruf des Bedauerns beantwortete die Nachricht von seiner Versetzung. Der alte Vater wurde ob der gesponnenen Intrigue in leichtsinnigen Witzworten verhöhnt, er selbst stimmte ein. Sie stand von fern und sagte kein Wort.

„Mir bleibt nichts übrig als eine Kugel, Amerika oder eine reiche Heirath!“ sagte er absichtlich.

Sein Blick flog zu ihr hinüber, ihr Auge blieb stumm. Das pikirte ihn. Er nahm nun Abschied. Das war eine seltsame, wilde Scene. Lachen und Thränen, Schelt- und Liebesworte bunt durcheinander. Er schüttelte Allen die Hände, die alte Dame küßte ihn. Ihr machte er eine tiefe Verbeugung. Die Komödie war aus. Nach Keiner der Andern sich umsehend, ging er eilig fort. Eine unruhige Bewegung, als er die Thür hinter sich schloß, sie wurde unmittelbar hinter ihm wieder aufgerissen, wie der Wirbelwind stürmten einige der jungen Damen an ihm vorbei.

„Wasser, Wasser! Die Kleine ist ohnmächtig, das ist Ihre Schuld, Barbar, Ungeheuer!“ und Cécile Durando, das zehnjährige Töchterchen der Dame, ein schwarzäugiger Wildfang, drohte ihm mit der kleinen Faust.

„Du machst mir schöne Dinge, Du!“ sagte sie, „Du bist mein Bräutigam, weißt Du. Wenn ich groß bin, heirathe ich Dich, ich habe Dich am liebsten,“ und sie griff nach seiner Hand und küßte sie mit wildem kindischem Ungestüm und etwas von der neidischen Eifersucht des Hundes in ihren Gefühlen, die nicht leiden mag, daß ein Anderer von ihr gestreichelt werde. Es war doch Temperament in dem Kinde.

Schade, auch die kleine Cécile sollte er für’s Erste nicht wiedersehen. Ein Act aus der Komödie des Lebens war ausgespielt, Clemens bildete sich ein, nun den Vorhang fallen zu sehen aber es war der Rauch, den er in dichten Wolken aus seiner Cigarre blies. Er warf sie fort, und sein Gesicht langsam den Genossen zuwendend, schien er wenigstens passiven Antheil an dem Gespräch nehmen zu wollen.

„Die Gülzenower Dame,“ entgegnete Lindemann auf die Frage eines der Herren, der auch erst seit Kurzem im Ort anwesend war, „die Gülzenower Dame ist eine alte Frau von Fuchs, [629] Tochter des verstorbenen Rittergutsbesiters von Fuchs auf Gülzenow und glückliche Wittwe eines weitläuftigen Vetters, der sie um’s Geld geheirathet hat und ein Jahr nach der Verheirathung starb. Eine merkwürdige Person, ein Original. Unsere Stadt zeichnet sich durch Originale aus. Ihr drittes Wort ist: ‚nun gerade‘ oder ‚gerade nicht‘ und ihr Handeln eine Quintessenz dieses Wahlspruches.“

„Mit einem Wort, das Original ist eigensinnig, sollte das beim weiblichen Geschlecht so originell sein?“ fragte Brücken.

„In diesem großartigen Genre vielleicht doch,“ meinte Lindemann, „es hört auf ein Fehler zu sein und ist eine Charaktereigenthümlichkeit, sehr originell, wahrlich sehr! Uebrigens eine Kerndame. Sie hat die Kinder ihres verstorbenen Bruders zu sich genommen und erzieht sie wie ihre Kinder. Die Aelteste, Fräulein Ursula, ist Aschenbrödel; Hasse, ein solider prächtiger Mensch, wie Sie einen zweiten in ganz L. nicht finden würden, lernt in Lichtenfeld die Wirthschaft. Die Jüngsten, Fräulein Liddy und Elly, sind Zwillinge. Ich sage Ihnen, die Residenz hat solche Zwillinge nicht aufzuweisen. Sie sind eine Merkwürdigkeit von L., so gut wie der alte Rathsthurm, das Logengebäude, die Schiffbrücke und die romantischen Flußufer bei Mondscheinbeleuchtung.“

Alle lachten, der Verspottete lachte gutmüthig.

„Weiter, Lindemann, noch mehr von der alten Tante und ihren hübschen Nichten,“ sagte der Kreisrichter.

„Ja, fahren Sie fort, Sie Bädecker von L.!“ spottete Clemens wieder.

Lindemann warf ihm nur einen Blick zu, dann sich zum Kreisrichter wendend, fuhr er fort:

„Die Mädchen sind Engel, die Tante ist ein Original, voller Grillen und Launen, aufrichtig bis zur Grobheit, rücksichtslos, mißtrauisch, aber ein Original, das sich aus der ganzen Welt nichts macht.“

„Wenn sie reich ist, hat sie Recht,“ schaltete Brücken ein.

„Reich wie Crösus und Alles bekommen einmal ihres Bruders Kinder,“ meinte einer der Herren.

„Das weiß ich besser,“ berichtete Lindemann. „Die Zwillinge bekommen es. Gülzenow freilich wird sie dem Hasse nicht vorenthalten können, der arme Junge, das Gut ist verschuldet, das wird eine Erbschaft vom Teufel sein. Fräulein Ursula wird in ein Stift eingekauft, sie ist häßlich und das Fräulein liebt die Schönheit; bleibt Niemand zum Erben als Summa summarum die Zwillinge oder eine derselben, da Frau von Fuchs, wie man sagt, das Geld beisammen lassen will.“

„Aber welche, welche?“ fragte einer der Herren.

„Vielleicht die, die nach dem Willen der Tante heirathet,“ meinte Lindemann, „oder die am längsten ihre Stimme conservirt, die Dame ist eine Musikenthusiastin!“

„Bei allem dem aber,“ fuhr Lindemann in schwermüthigem Ton fort, „wie sollte man’s machen, eine der Zwillinge zu lieben und die andere nicht?“

„Nun, man müßte eben keine lieben und die heirathen, die das Geld kriegt,“ scherzte einer der Herren.

„Das Mißtrauen der alten Tante,“ fiel ein Anderer ein, „kann dabei nicht hinderlich sein, Mißtrauen ist immer blind, der Laune läßt sich jederzeit schmeicheln und Solchen, die uns durch Grobheit imponiren wollen, imponirt man selber, wenn man sich nicht verblüffen läßt.“

„Hört, hört, ein Recept zur Weltklugheit!“ rief der Kreisrichter.

„Ich werd’s zum Apotheker tragen,“ scherzte Brücken. „Schönsten Dank dafür. Ich habe die Ehre, der Dame Neffe zu sein.“

„Ihr Neffe, was, Sie? O Sie Schelm, Sie Verräther!“ riefen die jungen Herren durcheinander.

„Ihr Neffe? Und unser Bädeker hat das nicht gewußt?“

„Ihr Neffe!“ wiederholte dieser. „Wahrhaftig ja, Sie sind ein Brücken, und der Vormund der Kinder, ein Vetter der Dame, heißt auch Brücken, ein prächtiger alter Herr –“

„Mein Vater,“ sagte Clemens.

„O Kinder, dann schadet es nichts, dann haben wir’s mit einer ehrlichen Haut zu thun. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und er ist seines Vaters Sohn!“ rief Lindemann, sich vergnügt die Hände reibend.

„Ich habe auch eben nicht viel Neues erfahren, meine Herren, und hatte mir schon vorher vorgenommen, meiner unbekannten Tante zu imponiren, wenn auch nicht um der jungen Damen willen,“ sagte Clemens freundlich.




Die Kerzen brannten hell im Ballsaal. Noch war der Tanz nicht angegangen, obgleich schon jene leichte, durch einzelne Bogenstriche sich verrathende Unruhe im Orchester den baldigen Anfang verhieß.

Die alten Damen in ihren schweren seidnen Gewändern schwammen wie Segelschiffe durch den Saal, sich bei Zeiten den besten Platz zum Zusehen zu sichern; ältere Herren in schwarzem Frack oder bunter Uniform warfen sehnsüchtige Blicke nach den Spieltischen im Nebenzimmer, diesem Hafen der Ruhe nach den ausgestandenen Leiden der Polonaise. Die junge Welt wogte lustig plaudernd durcheinander.

Ein fröhlicher Anblick, ein buntes Blatt im Buche menschlichen Lebens, dem oberflächlichen Betrachter nur harmlose Schriftzüge zeigend und doch ein Feld, auf dem Nesseln wachsen wie Rosen.

„Da kommen sie!“ sagte Lindemann zu Brücken, der sich zwar den Vätern und Müttern der Stadt, den älteren Herrschaften vom Lande hatte vorstellen lassen, die jungen Damen aber noch musternd, an eine der Säulen der Gallerie gelehnt stand, auf der das Orchester placirt war.

„Wer?“

„Die Gülzenower, die Fuchsin mit den Schwesterelfen. Nähern Sie sich ihr jetzt. Sie liebt es nicht, während sie dem Tanz zusieht, incommodirt zu werden. Sonst kommen Sie hier weg, denn hier, just hier pflegt sie zu sitzen.“

Clemens lachte.

„Wozu die vielen Umstände, ich will sie nicht beerben,“ sagte er ziemlich laut, so daß die Dame wohl die Worte hätte hören können, denn sie, die mit kurzem Kopfnicken durch die begrüßende Menge gerade auf ihren gewohnten Platz zugeschritten war, stand dicht vor ihm, sah ihn mit ihren kleinen grauen Augen, die sich so scharf wie Dolche in den betrachteten Gegenstand einbohren konnten, forschend an, dann, da er nicht gesonnen zu sein schien, den hinter ihm stehenden Stuhl durch sein Fortgehen frei zu machen, schritt sie hart an ihm vorbei, ergriff den Stuhl, ihn so dicht an seine Füße stellend, als es nur möglich war, ohne diese empfindlich zu berühren und setzte sich behaglich hin, ihr rosin-farbenes Sammetkleid dicht zusammenraffend, damit es im Gedränge nicht mit unvermeidlichen Fußtritten regalirt würde.

Brücken fühlte eine Anwandlung in lautes Lachen auszubrechen, theils über das energische Verfahren der Dame, theils über der Umstehenden verblüffte Gesichter. Er unterdrückte es, und nachdem er ein paar Secunden in seiner unbequemen Stellung zwischen Säule und Stuhl verharrt hatte, zog er sich mit dem Bewußtsein in’s Spielzimmer zurück, jedenfalls auf die Dame einen Eindruck gemacht zu haben, gleichviel welchen.

Der Tanz begann und der Ballabend hatte seinen gewöhnlichen Verlauf. Alt und Jung schaute hinein in den bunten Zauberspiegel des Vergnügens, der zwar viel oberflächliche Bilder, aber doch auch Jedem etwas von der eignen Seele zurückstrahlt.

Vor den Augen der Frau von Fuchs, sie mochte nun hinsehen wohin sie wollte, schwebten zwei jugendliche Gestalten, einfach in Weiß gekleidet, die eine mit rosa, die andere mit blauen Schleifen und Kränzen, sonst eine wie die andere. Gestalt, Gesichtszüge, Farben, Ausdruck – Eins, über Beide derselbe Hauch der Unschuld, der harmlosesten Freude, des gänzlichen Fernseins hohler Eitelkeit, bewußten Triumphes, obgleich nicht nur die Schmeichelei ihre Künste an Liddy und Elly von Fuchs versuchte, sondern auch wirkliches respectvolles Wohlgefallen dem Zwillingsschwesternpaar vielfache Huldigungen darbrachte.

Was wußten die holden Kinder davon, für die der Tanz nichts als ein Ausdruck innerer Herzensfröhlichkeit war, die in der Huldigung, der sie begegneten, nichts Anderes sahen als zahlreiche Beweise der zur Güte geschaffenen Menschennatur!

Es hatte wohl Jeder seine Freude an den liebenswürdigen Mädchen. Nur Clemens Brücken schien unempfindlich dagegen oder affectirte wenigstens eine völlige Gleichgültigkeit gegen die unbekannten Verwandten.

[630] Er saß, mit dem Rücken dem Ballsaal zugekehrt, im Spielzimmer und beantwortete jede Frage, ob er schon seiner gestrengen Tante oder seinen schönen Cousinen vorgestellt sei oder ob er es nicht zu thun wünsche, mit einem gleichgültigen „Es hat Zeit, nachher“.

Inzwischen hatte auch Frau von Fuchs schon von der Anwesenheit des Neffen gehört, den sie selbst nie gesehen, mit dessen Vater sie aber in mancherlei Beziehungen stand. Halb ärgerte sie sich über die Ungezogenheit des Sohnes, halb freute sie sich, unter so Vielen, die ihren Verhältnissen, wenn auch nicht ihr selbst, Aufmerksamkeiten erwiesen, endlich Einen zu finden, der sich, um ihren eigenen Gedanken wiederzugeben, den Teufel um sie und ihr Geld scheerte. So waren ihre Empfindungen sehr getheilt, als plötzlich während des Cotillons Brücken, der seine Partie beendet, quer durch die Reihen der Tanzenden hindurch auf sie zugeschlendert kam, sich gerade vor sie hinstellend und ihr so die gesuchte Aussicht abschneidend, mit einer leichten aber graziösen Verbeugung freundlich sagte:

„Gnädigste Tante, ich gebe mir die Ehre mich Ihnen selbst vorzustellen, ich bin ein Brücken.“

„Gut,“ sagte die Dame, seinen verbindlichen Gruß mit steifem Kopfnicken erwidernd, „gut, mein Herr von Brücken. Es laufen viel bunte Hunde in der Welt herum und sind deshalb doch nicht alle mit einander verwandt.“

„Aber wir bunten Hunde sind es,“ entgegnete er lächelnd. „Ich bin der Sohn des Major von Brücken.“

„So hör’ ich; aber die Verwandtschaft ist auch nur von Adam und Eva her.“

„Verzeihung, gnädigste Tante – meine Mutter war eine geborne Fuchs, meine Großmutter –“

„Sie nehmen mir ganz und gar die Aussicht, Herr Neffe, ich sehe dem Cotillon gern zu,“ unterbrach ihn die Dame.

Brücken trat mit einer artigen Verbeugung zur Seite und da er zufällig in der Nähe einen leeren Stuhl sah, rückte er diesen neben die Tante.

„Wenn Sie erlauben?“ sagte er und nahm Platz.

„Der Stuhl wird sich sehr freuen,“ entgegnete sie kurz.

Ein kurzes fröhliches Auflachen folgte dieser Abweisung. Brücken hatte, ebenso wie einen hübschen sonoren Sprachton, so auch etwas Melodisches in seinem Lachen. Es klang frisch aus dem Herzen herauf und wirkte leicht ansteckend. Frau von Fuchs hatte wohl am wenigsten diese harmlose Erwiderung ihrer unhöflichen Bemerkung erwartet. Sie sah ihn ganz erstaunt an, fühlte sich aber unwillkürlich geneigter ihm zuzuhören, als er ganz ruhig wieder von seiner Großmutter anfing und die Bemerkung einfließen ließ, daß diese eine intime Freundin von Tante Rosinens Mutter gewesen sei.

„Ich wollte, sie wäre es nicht gewesen, ich habe den verwünschten Namen von ihr geerbt,“ brummte Frau von Fuchs. „Rosine! Wie kann man ein Kind Rosine nennen, es zu dem Zustand vertrockneter Süße prädestiniren! Ha, nichts gräulicher als süß sein! Das ist nicht ’mal an einem Courmacher angenehm. Rosine! In meiner Jugend wollten sie Rose daraus machen. Das habe ich mir verbeten. Ich habe nie etwas von einer Rose gehabt, es müßten denn die Dornen gewesen sein“ – sie blickte ihren Nachbar herausfordernd an, als wolle sie Widerspruch herauslocken, nur um das Recht zu haben, sich über die Schmeichelei zu ärgern, aber seine Aufmerksamkeit war nur eine halbe gewesen. Zum Theil unbewußt, wie er in den Kreis der Tanzenden schaute, war ihm auf einmal ein Blick aus zwei blauen Mädchenaugen begegnet, so allerliebst verwundert, so schelmisch neugierig und so ohne alle Koketterie unbefangen, daß sein für Frauenschönheit sehr empfänglicher Sinn sich wunderbar getroffen fühlte.

Die junge Dame schossirte vorüber auf einen in nächster Nähe der Frau von Fuchs sitzenden Herrn zu; zu gleicher Zeit kam von der entgegengesetzten Seite des Saales ein anderes junges Mädchen leichtfüßig einhergehüpft, denselben Herrn in die Tour zu wählen. Lachend blieben Beide stehen. Es waren die Zwillingsschwestern. Im Fluge wurden ein paar Worte ausgetauscht.

„Es ist wirklich Hexerei, daß wir immer dasselbe thun und denken,“ meinte Liddy.

„Hexerei? Sage doch lieber Zauberei,“ entgegnete Elly.

Sie nickten einander zu und wollten der Tour folgen, da sagte Letztere noch eilig:

„Liddy, weißt Du, wer der Herr ist, der neben der Tante sitzt?“

Jene schüttelte den Kopf.

„Bemerkt habe ich ihn auch, aber ich weiß es nicht,“ entgegnete sie schnell.

Dies flüchtige Zusammentreffen der Beiden, ihr kurzes Zwiegespräch fiel störend zwischen der Tante letzte Aeußerung und die in halber Zerstreuung gegebene Gegenbemerkung:

„Was thut der Name zur Sache?“

„Sehr viel; er bezeichnet sie und sollte es wenigstens thun,“ sagte Frau von Fuchs. „Was denken Sie sich z. B. unter Elly und Liddy?“ fragte sie, den Blick auffangend, der den Schwestern folgte.

„Zwei nette kleine Bologneser Hündchen,“ antwortete er.

„Unsinn!“ fuhr sie auf. „Bologneser Hündchen!“ und sie drehte ihm den Rücken zu.

Brücken lachte wieder still in sich hinein, aber diesmal unhörbar, und somit blieb ihr Antlitz abgewendet. Eine Weile saß er schweigend neben ihr.

„Wer sind die beiden blonden Mädchen, die einander so ähnlich sehen, gnädigste Tante?“ redete er sie dann wieder an, „Sie sind recht artig, in der That!“

„Recht artig, in der That!“ wiederholte sie. „Welch nichtssagendes Lob! Es sind meine Nichten, Liddy und Elly; vielleicht übertreffen sie ein wenig die Phantasie von den Bologneser Hündchen, hm?“

Brücken lehnte sich in den Stuhl zurück, schlug ein Bein über das andere und sagte in einem zwischen Unverschämtheit und Gleichgültigkeit schwankenden Tone:

„Recht artig in der That; was bekommen sie mit, Tante?“

„Drei Geschwister und mich, sowie die alte Dore, die noch weniger eine Rose ist und noch mehr Dornen hat als ich. Uebrigens werde ich sorgen, daß sie Keinen heirathen, der nach der Mitgift fragt,“ antwortete sie scharf.

„Da haben Sie auch Recht; denn wer erst nach der Mitgift fragt, hat das Mädchen gewiß nicht lieb,“ sagte Brücken so treuherzig, daß sie ganz irre wurde.

Hatte er denn nicht in seinem Interesse die unverschämte Frage gewagt? Was dachte er sich überhaupt dabei?

„Die Leute sagen, Vetter Hasse, Ihr Universalerbe, Tante, würde einmal ein verteufelt reicher Kerl als Besitzer von Gülzenow,“ fuhr Brücken mit unerschütterlicher Ruhe fort.

(Fortsetzung folgt.)




Die Geschichte eines Biberjägers.
Von Guido Hammer.

Meine diesmalige bildliche Darstellung einer auf dem Continent dem Aussterben nahen Wildgattung, die des Bibers, habe ich nicht auf meinen Jagdzügen, sondern mit Hülfe von Naturstudien entworfen, die sich mir bei besonderer Gelegenheit boten. Auch war ich nicht in der Lage selbst Beobachtungen über die Natur dieses wundersamen Thieres anzustellen und beschränke mich deshalb bezüglich des naturgeschichtlichen Theiles meines heutigen Artikels auch nur auf so viel, als zur Illustration beigegebenen Bildes unerläßlich ist; dies Wenige jedoch gestützt auf die Erfahrungen und mündlichen Mittheilungen eines alten Jägers, der selber noch auf deutschem Boden Biber zu jagen und sie in ihrer vollen Ursprünglichkeit zu beobachten so glücklich gewesen, wie eines ehemaligen Schulcameraden, den die Sehnsucht nach der einst verlassenen Heimath über den weiten Ocean zurückgeführt hatte, über welchen er, dem Drange seines ungestümen Herzens folgend, hingezogen war, dort in einem der biber- und überhaupt wildreichen Territorien als Trapper seinem unbegrenzten Hang zu ungebundener Freiheit Rechnung tragen zu können.

[631] Nach Beider übereinstürmender Erfahrung bestätigt es sich, daß der Biber, dieser für Culturländer leider so verderbliche Holzverwüster, Bäume, namentlich Aspen, Pappeln, Weiden und Birken, vom kleinsten Stämmchen an bis über einen Fuß Durchmesser mit seinen scharfen Zahnmeißeln „abhaue“; theils um dadurch zu der saftigen Rinde der Aeste und Zweige genannter Baumarten zu gelangen, die ihm die vorzüglichste Aeßung bietet, theils aber auch – dies freilich nur, wo diese Thiere noch genossenschaftlich zusammenleben und mit gemeinsamen Kräften arbeiten – zur Ausführung ihrer mächtigen Wohn- und Dammbauten.

Biber bei der Arbeit.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

In Gegenden jedoch, wo der geschickte Werk- und Schwimmmeister seiner Ausrottung entgegengeht und nur noch einzeln oder höchstens paarweise auftritt, fällt letztere Benutzung der von ihm gefällten Hölzer weg, da die durch unablässige Verfolgung Verschüchterten blos noch flüchtige Erdbaue in die Flußufer ihrer Aufenthaltsstätten auszuführen pflegen und diese nur nächtlicher Weile verlassen. Die Art und Weise ihrer Plänterarbeit aber – jedenfalls eine der auffallendsten Situationen, welche diese geschickten Waldarbeiter einnehmen können – glaube ich, weil nach besonderer Angabe meines Freund Trappers und dem mir von ihm in Natur vorgelegten kreiselartig abgenagten Stumpfe eines von einem amerikanischen Biber „abgehauenen“ Baumes entworfen, anschaulich auf meiner Zeichnung dargestellt zu haben.

Darum sei es mir gestattet, jetzt über das vorgeführte Thier selbst abzubrechen; zumal wissenschaftlich Ermitteltes und Festgestelltes über das Leben und Treiben dieses interessantesten aller Nager in unübertroffener Weise durch das prächtige Werk „Brehm’s Illustrirtes Thierleben“ geschildert und sich davon zu unterrichten einem Jeden leicht zugänglich gemacht worden ist. Aber die Geschichte eines letzten deutschen, speciell sächsischen Biberjägers will ich noch anfügen, wie ich sie aus dem Munde eines hochbetagten, aber noch heute rüstig in voller Thätigkeit stehenden [632] Büchsenmachers habe, zu dem mich vor Kurzem ein glücklicher Zufall geführt.

Gleich bei meinem Eintritt in die Werkstätte des rastlos schaffenden Alten fiel mir diese besonders dadurch angenehm auf, weil ihre rußgeschwärzten Wände außer Handwerks- und Schießzeug noch prächtige Hirsch- und Rehgeweihe trugen, so daß ich, durch diesen Schmuck gefesselt, gern länger in dem mir so anheimelnden Raum verweilte, als mein kleiner Auftrag es eigentlich nöthig machte. Dadurch entdeckte ich aber auch noch auf dem Gesimse des Kamins einen vergilbten Schädel, den ich, trotz näherer Betrachtung, doch nicht gleich zu bestimmen wußte, ihn vielmehr auf den ersten Augenblick für den eines Murmelthieres hielt. Ich ward bald vom Besitzer eines Besseren belehrt, indem dieser mir das fragliche Object als die sterblichen Ueberreste eines Bibers bezeichnete, der, als Letzter seines Geschlechts, in seinem, des Büchsenmachers, Heimathsorte, einem Dorfe an der Mulde bei Wurzen in Sachsen, in einem Tellereisen gefangen worden sei, und zwar von einem seiner Jugendfreunde, der infolge dessen, wenn auch nur mittelbar, ein tragisches Ende genommen, wie nachfolgende Geschichte, die mir nun der redselig gewordene Alle erzählte, bezeugen mag.

Leonhardt, so hieß der einstige Jugendgenosse meines Gewährsmannes, den aber das ganze Dorf nur den „tollen Karl“ genannt hatte, war schon als Knabe ein wilder, unbändiger und aufbrausender, wenn auch im Uebrigen entschieden gutherziger Bursche gewesen. Dazu hatte ihn ein unwiderstehlicher Hang zum Fischefangen und Vogelstellen jede irgend freie Zeit benutzen lassen, hinauszustreifen an die Gewässer und in die Büsche und Wälder seiner heimathlichen Umgebung, dort in voller Ungebundenheit seiner aufkeimenden Jagdlust zu fröhnen. So war er ohne irgend welche leitende Aufsicht seiner tagelöhnernden Eltern in regelloser Freiheit aufgewachsen, daß ihn schon frühzeitig besonders die zügelloseste Leidenschaft für Alles, was auf Jagd Bezug gehabt, beherrschte. Unter solchen Umständen hatte er denn auch bald, nachdem er die dürftige Schule verlassen, dann als Hirte, später als Waldarbeiter und zuletzt als anerkannt vorzüglicher Schäfer, für welchen Beruf er besonders unübertreffliche Hunde gezogen haben soll, den Pfad des Wilderers betreten, und war hierbei mit solchem Geschick und Umsicht verfahren, daß man ihn, so bestimmt Alle von seinem Treiben gewußt, doch niemals auf der That zu ertappen vermochte. Freilich hatte er von vornherein getreue Helfershelfer gehabt, die das von ihm zumeist in Schlingen und Fallen berückte Wild verwerthet und dann den Gewinn mit ihm getheilt hatten. Dieser entstand besonders durch den von ihm leidenschaftlich und mit bestem Glück betriebenen Biberfang, der zu jener Zeit – vor vor kaum vierzig Jahren – an den Ufern der Mulde noch immer, wenn auch in beschränkter Weise, stattfinden konnte.

So hatte unser wildernder Schäfer wieder einmal, nachdem sich bereits seit längerer Zeit kein Biber mehr gezeigt, gegen Ausgang eines Winters, wo heulende Thaustürme und niederströmender Regen mit vereinter Kraft die Eisdecke der Mulde gebrochen und mächtige Fluthen herangewälzt hatten, einen jedenfalls durch das gewaltige Hochwasser verschlagenen ungemein starken Biber gespürt, und der unermüdliche Waidkundige hatte nun nicht abgelassen, das willkommene köstliche Wild zu erbeuten. Tage und Nächte hatte er daran gesetzt, sich zunächst zu vergewissern, wo er das gut verwitterte Eisen am günstigsten zu legen habe, bis er den sicheren „Ausstieg“ des Fremdlings ausgegattert, und nun ihm der Erfolg ein sicherer sein mußte. Und richtig, in kürzester Frist darauf war das seltene Wild sein eigen gewesen! Bald genug aber war sein Fang auch ruchbar geworden; doch immerhin nicht eher, als bis das Wildpret bereits von dem Fallensteller und seinen Vertrauten verzehrt, das Fell aber und das Bibergeil längst gen Leipzig gewandert und dort von sicheren Hehlern zu ansehnlichem Preise verwerthet worden war; kurzum, als Forstbeamte und Gensd’armen mit dem dazu requirirten Dorfschulzen Haussuchung bei dem Verdächtigen gehalten, war durchaus keine Spur von dem Gesuchten zu finden gewesen, und der sich höchst harmlos stellende „Schäfer-Karl“, wie unser Wilderer später schlichtweg genannt worden war, hatte sein ihm dabei vorgehaltenes und nachgewiesenes auffallendes Umherlungern an der Mulde in der betreffenden Zeit einfach mit der Angabe beschönigt, daß er einen Eichenstamm, den das Geflüthe aus fremder Gegend heruntergebracht, mit seiner Frau mühsam herausgeschafft, an einen Biber aber dabei nicht gedacht, noch viel weniger einen solchen gefangen habe. In der That hatte er auch an beregten Tagen, wahrscheinlich zuvörderst nur um damit seine eigentliche Absicht zu verbergen, einen angeschwemmten Baum mit Hülfe seiner Frau, Beide dabei mitten im schneeigen Wasser arbeitend, zersägt und auf das Trockene gebracht, um es später nach seiner Wohnung zu schaffen.

Jedenfalls aus Unmuth, den pfiffigen Schäfer wiederum nicht überführen zu können, war nun auf Anordnung des betreffenden Försters der Dorfschulze beauftragt worden, besagtes Holz öffentlich versteigern zu lassen, wogegen jedoch der sich hierin in seinem vermeinten – und nach damaligen Gesetzen auch factischen – Rechte gekränkt fühlende „Schäferkarl“ auf’s Entschiedenste Einspruch erhoben. Man achtete indeß seiner nicht, vielmehr reizte man den durch die Haussuchung so schon genugsam Erzürnten noch durch brutale Behandlung und Drohungen auf’s Höchste. In solcher Stimmung betheuerte er denn: Jeden, welcher sich an seinem Eigenthum, dem noch am Ufer liegenden Holze, vergriffe, niederschießen zu wollen wie einen tollen Hund. Als aber am anderen Morgen vollends gute Freunde kamen und hetzend ihm hinterbrachten, daß soeben sein Holz von Dreien aus dem Dorfe, die ohnedem seine erbittertsten Feinde, wie auch jedenfalls seine Denuncianten waren, abgefahren werden solle, übergiebt er, bis sein Weib nach Hause kommen würde, den die Botschaft gebracht habenden Genossen sein kleines Anwesen, holt dann aus einem Versteck im Gehöft sein Doppelgewehr nebst Schießtasche hervor und eilt nun an das seiner Wohnung nahe, dem eigentlichen Dorfe aber ziemlich entfernt liegende Muldenufer, hier sein sauer errungenes Gut unter allen Umständen männiglich zu schützen, das man wirklich im Begriff stand, nach anmaßlichem hämischem Beamtenbefehl zu entführen.

Da gebietet der erregte Besitzer den widerrechtlich dabei Beschäftigten ein lautes Halt! mit dem Bedeuten: an Jedem, der mir ein Scheit weiter anzurühren sich unterfinge, seine früher ausgesprochene Drohung zu erfüllen. So warnt er, als man ihm nicht Folge leistet, noch mehrmals die Achtlosen; dann aber schießt der auf’s Höchste Gereizte rücksichtslos den Haupter, der ihn auch noch zu verhöhnen gewagt, nieder, den anderen Beiden nun nochmals befehlend: sein Holz sofort von ihren Schiebeböcken abzuladen oder gleichen Lohnes gewärtig zu sein. In bäuerischem Trotze aber, angesichts ihres erschossenen Cameraden, schicken die sich vielmehr zum Fortfahren an, und nun giebt der bis zur Tollheit Wüthende mit dem zweiten Rohre Feuer auf den ihm zunächst sich Befindenden, der denn auch die volle Ladung Schrot auf den Kopf bekommt und davon augenblicklich leblos zusammenbricht. Jetzt ergreift der dritte Bedrohte denn doch die Flucht, auf der ihn aber der noch immer in maßlosem Zorn befangene Mörder verfolgt, dabei im Laufen das Gewehr von Neuem ladend. Hierbei mag er es jedoch versehen haben, denn so vielmal er auf den Fliehenden abdrückt – der Schuß entladet sich nicht, und der Verfolgte entkommt.

Als dieser natürlich im Dorfe Lärm geschlagen, eilt nun Alles, möglichst bewaffnet, hinaus auf die Unglücksstätte, hier womöglich den Wüthenden, den man aber nun ruhig zwischen den Scheiten seines Holzes sitzend vorfindet, zu fassen. Dennoch wagt keiner der Bauern – Forstbediente und Gensd’armen waren nicht zur Hand gewesen – sich näher als außer Schußweite an den jetzt so Stillen hinan; vielmehr schreien sie ihn nun aus der Ferne bramarbasirend an: sich gutwillig ergeben zu sollen – doch ohne Erfolg. Da führt der Zufall den Geistlichen des Kirchspiels, der eine Taufe im eingepfarrten Nachbardorfe zu vollziehen beabsichtigte, des Weges daher, und diesem wird nun der schreckenerregende Vorfall mitgetheilt, mit der Bitte, den Verbrecher zu vermahnen, sich dem Gerichte zu stellen. Nicht einen Augenblick zaudert der mit vollem geistlichen Ornat angethane ehrwürdige Pfarrer auch in so schwieriger und außergewöhnlicher Lage seinen Berufspflichten nachzukommen, und furchtlos schreitet der silberhaarige Greis auf den noch immer in sich Versunkenen zu, das Wort Gottes in mahnender Weise schon von Weitem ihm zurufend. Doch kein reuiges Entgegenkommen ward dem getreuen Seelsorger, der inzwischen, an den blutigen Opfern vorübergeschritten, dicht vor den Mörder hingetreten ist, hier nochmals die ganze Kraft und Weihe seiner Beredsamkeit aufbietend, den Verstockten zu rühren, bis der auch jetzt noch vergeblich mahnende Priester zu seinem Schrecken gewahrt, daß er zu einem Todten [633] gesprochen – der zum Mörder gewordene Wilderer hatte sich selber erschossen, und seine Seele stand bereits vor einem höheren Richter! So endete der letzte Biberjäger an der Mulde; und mit ihm war und ist auch das seltene Wild verschwunden, wenigstens konnte sich nach dieser Zeit Keiner wieder rühmen, in dortiger Gegend je noch einen Biber erjagt zu haben.




Aus dem Schwanengesange eines deutschen Dichters.

Mehr als dreizehn Jahre sind vergangen, seit in dem geräuschvollen, fernen Paris ein deutscher Dichter die Augen schloß, der unter allen Schriftstellern des letzten halben Jahrhunderts den tiefsten und nachhaltigsten Einfluß auf seine Zeit geübt und, trotz vielfacher Verirrungen seines Talents und Charakters, für immer einen hervorragenden Platz in der Literaturgeschichte behaupten wird. Die Hoffmann und Campe’sche Verlagsbuchhandlung trug daher nur eine Ehrenschuld an die deutsche Nation ab, als sie nach dem Tode Heinrich Heine’s eine wohlgeordnete, möglichst vollständige Gesammtausgabe seiner Werke erscheinen ließ. Leider jedoch sah der Herausgeber der Heine’schen Werke, Herr Adolph Strodtmann, sich zu der Erklärung genöthigt, daß es ihm, trotz wiederholter Bemühungen, nicht gelungen sei, die Familie des Dichters zur gleichzeitigen Veröffentlichung der von Letzterem hinterlassenen Manuscripte zu bewegen. Die Wittwe H. Heine’s begann damit, für ein kleines Heft willkürlich ausgewählter, oftmals höchst fehlerhaft abgeschriebener Gedichte den enormen Preis von dreißigtausend Francs zu fordern, und der Bruder des Dichters, Herr Gustav Heine in Wien, welcher dessen „Memoiren“ in Händen hatte, wies jeden Gedanken an eine baldige Veröffentlichung derselben auf’s Entschiedenste zurück. Wenn man einer seither niemals widerrufenen Notiz Glauben schenken darf, welche im vorigen Jahre die Runde durch die Tagesblätter machte, so wären die „Memoiren“ H. Heine’s vor einiger Zeit, durch Vermittelung des Fürsten Richard Metternich, an die österreichische Regierung verkauft und in den Archiven der k. k. Hofbibliothek vielleicht auf immer der Kenntniß des Publicums entzogen worden. Um so erfreulicher ist die Nachricht, daß die obengenannte Buchhandlung unlängst von der Wittwe des Dichters sämmtliche in ihrem Besitz befindliche Originalmanuscripte H. Heine’s käuflich erworben und Herrn Strodtmann mit der Ordnung und Herausgabe derselben betraut hat. Herr Strodtmann hat unserem Wunsche nach Mittheilung einiger Details über den Inhalt des Heine’schen Nachlasses, der schon nächstens als Buch erscheinen wird, bereitwilligst entsprochen und mehrere charakteristische Proben der verschiedenen Bestandtheile desselben beigefügt.

Ich habe, schreibt er uns, mit unsäglicher Mühe aus dem Wust bunt durch einander geworfener Papiere, aus den oft mit zitternder Krankenhand in undeutlichen, halb verwischten Bleistiftzügen gekritzelten Originalbrouillons endlich das sämmtliche Material zu Tage geschürft und sehe mit freudigem Staunen, wie viel reines Gold der Poesie darunter befindlich ist. Selbst aus früherer Zeit ist vieles noch Ungedruckte vorhanden, und die Zeugnisse aus jeder Periode der dichterischen Laufbahn Heine’s werden durch die Veröffentlichung seines literarischen Nachlasses eine erhebliche Bereicherung erfahren. Die Gedichte, welche den Raum von eilf bis zwölf Druckbogen füllen, ordnen sich nach ihrem Inhalte und der Zeit ihrer Entstehung naturgemäß in vier Abtheilungen. Die erste derselben umfaßt Nachträge zum „Buche der Lieder“, Liebesklagen um die verlorene Jugendgeliebte, welche anfangs meist einen sentimental schwermüthigen Charakter tragen, später jedoch des bekannten satirischen Stachels nicht entbehren. Hier eine Probe der einen wie der anderen Art:

Wir wollen jetzt Frieden machen,
Ihr lieben Blümelein,
Wir wollen schwatzen und lachen,
Und wollen uns wieder freun.

5
Du weißes Maienglöckchen,

Du Rose mit rothem Gesicht,
Du Nelke mit bunten Fleckchen,
Du blaues Vergißmeinnicht!

Kommt her, ihr Blumen, jede

10
Soll mir willkommen sein –

Nur mit der schlimmen Resede
Lass ich mich nicht mehr ein.


„O, die Liebe macht uns selig,
O, die Liebe macht uns reich!“
Also singt man tausendkehlig
In dem heil’gen röm’schen Reich.

5
Du, Du fühlst den Sinn der Lieder,

Und sie klingen, theurer Freund,
Jubelnd Dir im Herzen wider,
Bis der große Tag erscheint:

Wo die Braut, mit rothen Bäckchen,

10
Ihre Hand in Deine legt,

Und der Vater, mit dem Säckchen,
Dir den Segen überträgt.

Säckchen, voll mit Geld, unzählig
Linnen, Betten, Silberzeug –

15
O, die Liebe macht uns selig,

O, die Liebe macht uns reich!

Den persönlichen Abschluß dieser unvergessenen Liebesepisode bildet folgendes originelle Gedicht, welches Heine bei seinem zweiten Besuche in Deutschland am 5. September 1844 dem fünfjährigen Töchterchen seiner Jugendgeliebten für deren Album auf einen hübsch verzierten Briefbogen schrieb:

Ich seh’ Dich an und glaub’ es kaum –
Es war ein schöner Rosenbaum –
Die Düfte stiegen mir lockend zu Häupten,
Daß sie mir zuweilen das Hirn betäubten –

5
Es blüht hervor die Erinnerung –

Ach! damals war ich närrisch und jung –
Jetzt bin ich alt und närrisch – Ein Stechen
Fühl’ ich im Aug’ – Nun muß ich sprechen
In Reimen sogar – es wird mir schwer,

10
Das Herz ist voll, der Kopf ist leer!


Du kleine Cousinenknospe! es zieht
Bei Deinem Anblick durch mein Gemüth
Gar seltsame Trauer, in seinen Tiefen
Erwachen Bilder, die lange schliefen –

15
Sirenenbilder, sie schlagen auf

Die lachenden Augen, sie schwimmen herauf
Lustplätschernd – die Schönste der ganzen Schaar
Die gleicht Dir selber auf ein Haar.

Das ist der Jugend Frühlingstraum –

20
Ich seh’ Dich an und glaub’ es kaum!

Das sind die Züge der theuren Sirene,
Das sind die Blicke, das sind die Töne –
Sie hat ein süßkrötiges Stimmelein,
Bezaubernd die Herzen groß und klein.

25
Die Schmeicheläuglein spielen in’s Grüne,

Meerwunderlich mahnend an Delphine.
Ein bischen spärlich die Augenbraun,
Doch hochgewölbt und anzuschaun
Wie anmuthstolze Siegesbogen –

30
Auch Grübchenringe, lieblich gezogen

Dicht unter das Aug’ in den rosigen Wänglein –
Doch leider weder Menschen noch Englein
Sind ganz vollkommen – das herrlichste Wesen
Hat seine Fehler, wie wir lesen

35
In alten Märchen. Herr Lusignan,

Der einst die schönste Meerfee gewann,
Hat doch an ihr, in manchen Stunden,
Den heimlichen Schlangenschwanz gefunden.

In der zweiten Abtheilung der Gedichte begegnen uns zum Theil Lieder, welche vorwiegend den sinnlichen Genuß in der Liebe verherrlichen und der Mehrzahl nach an die Kitty oder Katharina der „Neuen Gedichte“ gerichtet sind, während die reizende Einfachheit anderer an den „Neuen Frühling“ erinnert. So das folgende:

Es erklingt wie Liedestöne
Alles, was ich denk’ und fühl’.
Ach! da hat der kleine, schöne
Liebesgott die Hand im Spiel.

5
Der Maëstro im Theater

Meines Herzens ist er jetzt,
Was ich fühl’ und denke, hat er
Gleich schon in Musik gesetzt.

[634] Die dritte Abteilung umfaßt ausschließlich politische Satiren, darunter eine Anzahl Sonette und einen witzigen Prolog zum Wintermärchen „Deutschland“. Nachstehendes Gedicht scheint sich auf Herwegh zu beziehen, welcher auch in der letzten Abtheilung mit einem stark gepfefferten Spottergusse bedacht wird:


An einen politischen Dichter.

Du singst, wie einst Tyrtäus sang,
Von Heldenmuth beseelet,
Doch hast du schlecht dein Publicum
Und deine Zeit gewählet.

5
Beifällig horchen sie dir zwar,

Und loben, schier begeistert:
Wie edel dein Gedankenflug,
Wie du die Form bemeistert.

Sie pflegen auch beim Glase Wein

10
Ein Vivat dir zu bringen

Und manchen Schlachtgesang von dir
Lautbrüllend nachzusingen.

Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke:

15
Das fördert die Verdauungskraft

Und würzet die Getränke.

Die bei Weitem größte Zahl der hinterlassen Gedichte entstammt den letzten Krankheitsjahren und ist erst nach Veröffentlichung des „Romancero“ entstanden. Sie bilden die vierte Abtheilung und werden durch ein großes, mehrere Bogen umfassendes Gedicht im Tone und Versmaße des „Atta Troll“ eröffnet, das zu den herrlichsten, poetisch reinsten Erzeugnissen der Heine’schen Muse gehört. Es führt den Titel „Bimini“, und ist vollständig abgeschlossen, wenn gleich Heine, nach der umständlichen Breite des Prologs zu schließen, anfangs eine etwas detaillirtere Ausführung der seltsamen Entdeckungsfahrt nach der Wunderinsel, wo der Quell der Verjüngung fließt, beabsichtigt haben mag. In der zweiten Hälfte dieser Abtheilung ist die Satire auf politische, literarische und musikalische Zustände und Personen besonders reichhaltig vertreten, und jener furchtbare Nihilismus, der sich als das Endresultat von Heine’s Entwicklung herausstellte, spricht hier und in den Nachtragsliedern zum „Lazarus“ mit gellendem Verzweiflungsschrei sein letztes Wort. Auch die sociale Frage, deren Lösung Heine mit schaudernder Angst in dem ihm unvermeidlich dünkenden Siege des Communismus erblickte, beschäftigt ihn in diesen Sterbelager-Phantasien:


Die Wanderratten.

Es giebt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

5
Sie wandern viel’ tausend Meilen,

Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

Sie klimmen wohl über die Höhen,

10
Sie schwimmen wohl durch die Seen;

Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die lebenden lassen die todten zurück.

Es haben diese Käuze
Gar fürchterliche Schnäuze,

15
Sie tragen die Köpfe geschoren egal,

Ganz radical, ganz rattenkahl.

Die radicale Rotte
Weiß Nichts von einem Gotte.
Sie lassen nicht taufen ihre Brut,

20
Die Weiber sind Gemeindegut.


Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frißt,
Daß unsre Seele unsterblich ist.

25
So eine wilde Ratze,

Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld,
Und wünscht auf’s Neue zu theilen die Welt.

Die Wanderratten, o wehe!

30
Sie sind schon in der Nähe,

Sie rücken heran, ich höre schon
Ihr Pfeifen, die Zahl ist Legion.

O wehe! wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Thoren!

35
Der Bürgermeister und der Senat

Sie schütteln die Köpfe, und Keiner weiß Rath.

Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
Die Glocken läuten die Pfaffen.
Gefährdet ist das Palladium

40
Des sittlichen Staats, das Eigenthum.


Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,
Nicht hochwohlweise Senatsdecrete,
Auch nicht Kanonen, viel’ Hundertpfünder,
Die helfen euch heute, ihr lieben Kinder!

45
Heut’ helfen euch nicht die Wortgespinnste

Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen.

Im hungrigen Magen Eingang finden

50
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen

Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurst-Citaten.

Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
Behaget den radicalen Rotten

55
Viel besser, als ein Mirabeau

Und alle Redner seit Cicero.


Als die wunderbarste Perle dieser Krankheitsgedichte aber erscheint mir das folgende Lied, in welchem die rein poetische Bewältigung des grausamsten Stoffes, der einem Dichter beschieden sein kann, des Mark und Bein verzehrenden Uebermaßes eigener physischer Leiden, von einer titanischen Obmacht des Geistes über den gebrechlichen Körper zeugt, welche bei allem realistischen Anschein doch in sich selbst eine glänzende Verherrlichung der idealistischen Weltanschauung ist:

Mir lodert und wogt im Hirn eine Fluth
Von Wäldern, Bergen und Fluren;
Aus dem tollen Wust tritt endlich hervor
Ein Bild mit festen Contouren.

Das Städtchen, das mir im Sinne schwebt,
Ist Godesberg, ich denke.
Dort wieder unter dem Lindenbaum
Sitz’ ich vor der alten Schenke.

Der Hals ist mir trocken, als hätt’ ich verschluckt
Die untergehende Sonne.
Herr Wirth! Herr Wirth! Eine Flasche Wein
Aus Eurer besten Tonne!

Es fließt der holde Rebensaft
Hinunter in meine Seele
Und löscht bei dieser Gelegenheit
Den Sonnenbrand der Kehle.

Und noch eine Flasche, Herr Wirth! Ich trank
Die erste in schnöder Zerstreuung,
Ganz ohne Andacht! Mein edler Wein,
Ich bitte dich drob um Verzeihung.

Ich sah hinauf nach dem Drachenfels,
Der, hochromantisch beschienen
Vom Abendroth, sich spiegelt im Rhein
Mit seinen Burgruinen.

Ich horchte dem fernen Winzergesang
Und dem kecken Gezwitscher der Finken –
So trank ich zerstreut, und an den Wein
Dacht’ ich nicht während dem Trinken.

Jetzt aber steck’ ich die Nase in’s Glas,
Und ernsthaft zuvor beguck’ ich
Den Wein, den ich schlucke; manchmal auch
Ganz ohne zu gucken, schluck’ ich.

Doch sonderbar! Während dem Schlucken wird mir
Zu Sinnen, als ob ich verdoppelt,
Ein andrer armer Schlucker sei
Mit mir zusammengekoppelt.

Der sieht so krank und elend aus,
So bleich und abgemergelt.
Gar schmerzlich verhöhnend schaut’ er mich an,
Wodurch er mich seltsam nergelt.

Der Bursche behauptet, er sei ich selbst,
Wir wären nur Eins, wir Beide,
Wir wären ein einziger armer Mensch,
Der jetzt am Fieber leide.

Nicht in der Schenke von Godesberg,
In einer Krankenstube
Des fernen Paris befänden wir uns –
Du lügst, du bleicher Bube!

Du lügst, ich bin so gesund und roth
Wie eine blühende Rose,
Auch bin ich stark, nimm dich in Acht,
Daß ich mich nicht erbose!

[635]

Er zuckt die Achsel und seufzt: „O Narr!“
Das hat meinen Zorn entzügelt,
Und mit dem verdammten zweiten Ich
Hab’ ich mich endlich geprügelt.

Doch sonderbar! jedweden Puff,
Den ich dem Burschen ertheile,
Empfinde ich am eignen Leib,
Und schlage mir Beule auf Beule.

Bei dieser fatalen Balgerei
Ward wieder der Hals mir trocken,
Und will ich rufen nach Wein den Wirth,
Die Worte im Munde mir stocken.

Mir schwinden die Sinne, und traumhaft hör’ ich
Von Kataplasmen reden,
Auch von der Mixtur – ein Eßlöffel voll –
Zwei Tropfen stündlich in jedem.

Von den vermischtem Aufsätzen in Prosaform sind nur einzelne, wie z. B. mehrere ungedruckte Capitel der „Reisebilder“, von früherem Datum; die meisten stammen aus den fünfziger Jahren. Als besonders interessant hebe ich einen Nachtrag zu den „Göttern im Exil“, eine Lebensskizze des französischen Schriftstellers Loeve-Veimars, und eine Anzahl unterdrückter Blätter aus den „Geständnissen“ hervor, welche, anknüpfend an die Schlacht von Waterloo, einen ebenso geistvollen wie malitiösen Rückblick auf die politische Geschichte der letzten fünfzig Jahre werfen und dem Verfasser bei Lebzeiten sicherlich einen vom nationalen Gesichtspunkte aus wohlberechtigten Sturm von Angriffen zugezogen hätten. Eine biographisch wichtige und originelle Zugabe sind die Briefe, welche Heine bei seinem zweimaligen Besuche in Deutschland, 1843 und 1844, an seine Frau nach Paris schrieb. Die leidenschaftliche, oft bis zu drolligster Eifersucht gesteigerte Liebe, mit welcher der Dichter an seiner Mathilde hing, ihre kindliche Unerfahrenheit in allen Verhältnissen des Lebens, das ganze idyllisch zärtliche Schäferspiel des ehelichen Haushaltes erscheinen hier im Lichte einer reizenden Natürlichkeit.

Den werthvollsten Bestandtheil der Prosa-Manuscripte bildet eine Sammlung von mehreren Hundert aphoristischen Bemerkungen über Kunst und Literatur, Religion und Philosophie, Staat und Gesellschaft, Frauen, Liebe und Ehe. Diese Gedanken und Einfälle, welche auf einer Unzahl abgerissener Papierfetzen – oft auf der Rückseite von Brieffragmenten, Rechnungen und Einladungskarten – flüchtig und mit mancherlei Abbreviaturen aufgezeichnet sind, boten der Entzifferung nicht selten die größte Schwierigkeit. Sie geben in ihrer kurz gedrängten, witzigen Form ein äußerst pikantes Bild des Heine’schen Geistes, dem sich jeder Gedanke zum geistreichen Impromptu gestaltete,. Einige dieser Einfälle mögen hier folgen:

Das alte Märchen der drei Brüder realisirt sich. Der eine läuft hundert Meilen in der Stunde, der andre sieht hundert Meilen weit, der dritte schießt so weit, der vierte bläst Armeen fort – Eisenbahn, Fernrohr, Kanonen, Pulver oder Presse. –

Weise erdenken die neuen Gedanken, und Narren verbreiten sie. –

Die jüdische Geschichte ist schön; aber die jungen Juden schaden den alten, die man weit über die Griechen und Römer setzen würde. Ich glaube: gäbe es keine Juden mehr und man wüßte, es befände sich noch irgendwo ein Exemplar von diesem Volke, man würde hundert Stunden reisen, um es zu sehen und ihm die Hände zu drücken – und jetzt weicht man uns aus. –

Der Taufzettel ist das Entréebillet zur europäischen Cultur. –

Daß ich Christ ward, ist die Schuld jener Sachsen, die bei Leipzig plötzlich umsattelten, oder Napoleon’s, der doch nicht nöthig hatte, nach Rußland zu gehen, oder seines Lehrers, der ihm zu Brienne Unterricht in der Geographie gab und ihm nicht gesagt hat, daß es zu Moskau im Winter sehr kalt ist. –

Die Erde ist der große Felsen, woran die Menschheit, der eigentliche Prometheus, gefesselt ist und vom Geier des Zweifels zerfleischt wird. Sie hat das Licht gestohlen und leidet nun Martern dafür. –

Ich sehe die Wunder der Vergangenheit klar. Ein Schleier liegt auf der Zukunft, aber ein rosenfarbiger, und hindurch schimmern goldene Säulen und Geschmeide und klingt es süß. –

Die Thoren meinen, um das Capitol zu erobern, müsse man zuerst die Gänse angreifen. –

Ich ließ mich nicht naturalisiren, aus Furcht, daß ich alsdann Frankreich weniger lieben würde, wie man für seine Geliebte kühler wird, sobald man bei der Mairie ihr legal angetraut worden. Ich werde mit Frankreich in wilder Ehe fortleben. –

Die Gesellschaft ist immer Republik – die Einzelnen streben immer empor, und die Gesammtheit drangt sie zurück. –

Luther erschütterte Deutschland – aber Franz Drake beruhigte es wieder: er gab uns die Kartoffel. –

Das Oel, das auf die Köpfe der Könige gegossen wird, stillt es die Gedankenstürme? –

Der Deutsche gleicht dem Sclaven, der seinem Herrn gehorcht ohne Fessel, ohne Peitsche, durch das bloße Wort, ja durch einen Blick. Die Knechtschaft ist in ihm selbst, in seiner Seele; schlimmer als die materielle Sclaverei ist die spiritualisirte. Man muß die Deutschen von innen befreien, von außen hilft Nichts. –

Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, eine Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Thür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja, man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehängt werden. –




Der letzte Johanniterritter des Thüringer Waldes.
Eine Erinnerung, von Georg Sauer.

Wer weiß es nicht, daß Knaben vor Allem die Soldaten und das Soldatenleben lieben, und daß es für sie nichts Höheres giebt, als in einen Papppanzer geschnürt, den Papphelm auf dem Lockenkopf und das hölzerne Schwert an der Seite oder eine Stange als Lanze in der Hand einen Ritter zu spielen, wie er in den vielen Rittergeschichten so schön und schaurig, so kühn und herrlich geschildert ist? Ich zumal hatte als Kind so recht die Gelegenheit, mein kleines Gehirn mit den phantastischen Rittergestalten zu füllen, da ich in der Kirche zu Römhild, meiner Vaterstadt, oft die Grabmäler der Grafen von Henneberg betrachtete, die dort, Mann an Mann gereiht, der Auferstehung harren. Ihre steinernen und ehernen Bilder aber erweckten in mir eine stille Sehnsucht nach der verschwundenen Zeit, die so prächtig gewesen sein mußte, und oft stieg in mir der – wie ich mir freilich selber sagte – fruchtlose Wunsch auf, nur einmal einen solchen wirklichen Ritter sehen zu können.

Und doch, dieser Wunsch wurde mir gegen alles Hoffen und Erwarten bald schon erfüllt. Zu Michaelis 1803 kam ich auf das noch jetzt blühende Gymnasium zu Schleusingen. Die Hauptzierde der Stadt ist die Burg der Grafen von Henneberg, die bis jetzt alle Gefahren einer Zerstörung glücklich bestanden hat, im Jahre 1525 selbst den Bauernkrieg, der ganz in ihrer Nähe wüthete. Ein besonders günstiger Umstand für mich, den nunmehrigen Gymnasiasten, war es, daß ich dem Hause eines Freiherrm v. Trebra empfohlen wurde, welcher aus Sachsen als Oberforstmeister über die großen, weitläufigen Thüringerwald-Reviere königlich sächsischen Antheils nach Schleusingen ge- und versetzt worden war. Die Familie v. Trebra gehörte zu den gebildetsten in Schleusingen und in der ganzen Umgegend. So lange Trebras in Schleusingen lebten, hatten sie das mittlere Stockwerk der Burg inne, und es war daselbst fast ununterbrochen ein kleiner Hof. Einheimische und Fremde trafen, geladen und ungeladen, auf der Burg bei Trebras ein, Jeder, der in Beziehung auf Geist, Talent und Kunst auch nur einigermaßen sich auszeichnete, war allda willkommen.

[636] Hier war es, wo ich meinen Ritter sah. Zu den ersten Neuigkeiten, die ich in Schleusingen erfuhr, gehörte nämlich die, daß bei den festlichen Gelegenheiten dort bisweilen ein Comthur in seinem ritterlichen Ordensgewand erscheine und durch die Pracht desselben, sowie durch das Riesige seiner Gestalt stets Aller Berwunderung errege. Man kann sich denken, wie mächtig meine Neugierde angespannt war, als ich bei meiner ersten Einladung auf die Burg zu einem Trebra’schen Familienfest erfuhr, daß auch der Herr Comthur den Abend durch seine Gegenwart verherrlichen werde. Ich konnte die Zeit kaum erwarten bis zur bestimmten Stunde und verstieß dann, weil all’ meine Aufmerksamkeit nur der Thür zugewendet war, durch welche mein ersehntes mittelalterliches Bild leibhaftig hereintreten sollte, wohl nicht selten gegen die Regeln des Ceremoniels, bis endlich schon von ferne hörbar die Erfüllung meines Wunsches geschah. Meine jugendliche Phantasie hatte ein Uebriges gethan in der Ausmalung der Größe dieses Ritterriesen, aber die Erscheinung blieb wirklich nicht hinter ihr zurück. Da schritt er herein, mit centnerschweren klirrenden Schritten in seiner kolossalen Gestalt. Auf dem Haupte trug er einen glänzenden eisernen Helm, an der Seite ein schweres, breites Schwert, an den Stiefeln pfundschwere eiserne Sporen, und angethan war er mit einem schwarzen Mantel oder Talar, wie jeder andere Johanniter-Ritter, vorne aber auf der Brust war ein weißes Kreuz. In dieser Johanniter-Tracht, sagte man mir, erschien er stets hier und auch an anderen Orten bei festlichen Gelegenheiten, da er seinen Ritterornat für mögliche Fälle auch auf Reisen mitzunehmen pflegte. Selbst die weltliche Lust des Tanzes, mit welcher an jenem Abend die Festlichkeit schloß, behandelte der geistliche Ritter nicht feindselig. Der Comthur eröffnete sogar den Ball mit einer Polonaise. So oft er nun an der Seite seiner Dame nach dem Tact der Musik vorschritt, dröhnte und bog der Fußboden sich unter seinen Füßen und klirrten die Fenster. Auch während der Polonaise war er in Rittertracht, das breite, schwere Schwert an der Seite und die pfundschweren eisernen Sporen an den Stiefeln.

Dieser seltsame Gast war ein Freiherr von Andlau, Comthur des Ordens der Johanniterritter. Bekanntlich ging der Johanniter- oder frühere Malteser-Orden nach vielerlei Noth und Bedrängniß, die über ihn gekommen war, mit der Auflösung des deutschen Reiches im Jahre 1806 gleichfalls seiner Auflösung entgegen. Die meisten deutschen Fürsten ließen als Territorialherren diese Ritter nach und nach aussterben, die Commenden (Besitzthümer) wurden eingezogen und meistens zum Staatsvermögen geschlagen. Dies konnte um so füglicher geschehen, weil die Johanniter als geistliche Ritter unverheiratet bleiben mußten und sonach keine Wittwen und keine rechtmäßigen Nachkommen zu versorgen waren. Die meistens durch fromme Stiftungen entstandenen Besitzungen dieses Ordens lagen begreiflich überall hin zerstreut, ohne Ordnung und Zusammenhang. Die einzelnen Commenden, oft auch mehrere zusammen, je nach Zeit und Umständen, wurden wieder einzelnen Rittern gewöhnlich zur Nutznießung überlassen. Ein solcher nun war und hieß Comthur und schlug gewöhnlich auf seiner Commende selbst seine Wohnung auf.

Zur Zeit, wo unser Ritter dem Orden angehörte, war ein Prinz Ruspoli Großmeister desselben und der Sitz des Großpriorats in Deutschland war Heitersheim am Schwarzwald im Badischen. Der Freiherr von Andlau war einem altadeligen, stiftsmäßigen Geschlecht entsprossen (nur solche wurden in diesen Orden als Ritter ausgenommen) und, wie es scheint, aus dem Elsaß gebürtig; aber auch in Baden und Württemberg blühen noch mehrere Familien dieses Namens.

Ungefähr zwanzig Jahre alt, nahm der junge Freiherr Kriegsdienste in Frankreich bei Ludwig’s des Sechszehnten Schweizer-Gardisten, die bekanntlich bei der Erstürmung der Tuilerien den tapfersten Widerstand leisteten; die meisten blieben todt oder verwundet auf dem Platze liegen. Unser Baron v. Andlau lag nur leicht verwundet mitten in einem Haufen der Todten und Verwundeten, fand aber, wie durch ein Wunder, seine Rettung durch die List seines Bedienten (oder, wie Andere sagten, eines Mädchens). Verkleidet entwich er, da Alles für den Krieg verloren war, in der darauf folgenden Nacht aus Paris und erreichte glücklich die deutsche Grenze. Als der jüngere Sohn seiner Eltern wünschte er nun in den Orden der Johanniterritter aufgenommen zu werden. Dies geschah, ungewiß ob durch Einkauf oder sonst statutenmäßig.

So erhielt er die von einem Grafen Berthold v. Henneberg 1291 gegründete Commende zu Schleusingen.

Als der neue Comthur in Schleusingen ankam, sah er sich in Verlegenheit darüber, wo er in der Grafschaft Henneberg-Schleusingen seinen Wohnsitz aufschlagen solle. In dem Gebäude der Commende zu Schleusingen hatte seit der Einführung der Reformation der protestantische Superintendent seine Wohnung aufgeschlagen und wäre also sein allernächster Nachbar geworden; dazu lag dieses Gebäude hart an der Kirche, so daß er das protestantische Orgelspiel und den protestantischen Gesang jederzeit hätte mit anhören müssen. Dies Alles nöthigte ihn gewissermaßen zu einem anderen Entschluß. In der Nähe des ansehnlichen Fleckens Heinrichs bei Suhl liegt nun ein ziemlich hoher, waldiger Berg, der Schneeberg genannt; auf dieser Höhe lag schon seit alter Zeit ein cultivirtes Gütchen, von lauter Tannenwald umgeben. Der Johanniter-Orden war durch Ein- und Umtausch seit 1653 im Besitz dieses Gütchens, welches die lange Bahn hieß. Hier wohnte auch der Vorgänger des Herrn v. Andlau, wenigstens zeitweise, der Comthur v. Vorell, der im Dom zu Erfurt begraben liegt.

Der Comthur v. Andlau nun wählte gleichfalls die Lange Bahn zu seinem, wenn auch nicht gewöhnlichen, doch zeitweiligen längeren Aufenthalte. Hier wohnte er auf dem Eigenthum seines Ordens; hier störte ihn kein protestantischer Gottesdienst; hier blieb er ungestört in der Ausübung und in dem Genuß seiner Liebhabereien. Die große Einsamkeit kümmerte ihn wenig.

Wie ich bereits erzählt, lernte ich auf der Burg zu Schleusingen unsern Comthur v. Andlau zuerst kennen und sah ihn später noch oft daselbst. Aber stets auf’s Neue ergriff mich dasselbe Staunen, als wie ihn zum ersten Mal sah. Nicht ein gewöhnlicher Mensch oder Mann, nein! ein Koloß stand vor Einem, ein Riese. Das Längenmaß seines Körpers war über sechs Fuß, das Gewicht des ganzen Körpers, obgleich er erst ungefähr zweiunddreißig Jahre alt war, gegen vier Centner. Man kann sich nun denken, wie breitschulterig, wie knochen- und muskelreich dieser Koloß war und welch eine unglaubliche körperliche Stärke er besaß. Mehr als einmal hat er auf der Erde liegende schwere Bäume oder Blöcke, an denen mehrere keineswegs schwache Männer sich zerarbeiteten, um sie auf der Erde ein Stück weiter fortzuwälzen, mit dem bloßen Fuße weiter gestoßen oder gewälzt. Kurz zuvor, ehe er in die Grafschaft Henneberg-Schleusingen kam, hatte er sich wiegen lassen, das Gewicht betrug schon drei Center vierundsiebenzig Pfund. Ein so großer, schwerer, unbehülflicher Körper nun war zum Reisen wenig geeignet, besonders bei dem Zustande der Wege in jener Zeit.

Unser Comthur hatte erst seit Kurzem auf der Langen Bahn häuslich sich niedergelassen, als er von Trebras zu einer Festlichkeit nach Schleusingen eingeladen wurde. Da war nun guter Rath theuer. Er selbst besaß damals noch keine eigene Kutsche, wie späterhin, und in Suhl, der nächsten Stadt, war gerade auch keine aufzutreiben. Es blieb nichts Anderes übrig, als daß der Comthur seines eigenen, zwar stark gebauten, leider aber nicht breit, sondern nur schmal angelegten offenen Wägelchens (Droschke) sich bediente. Da man ihn auf das Beschwerliche und für ihn sogar Gefahrvolle einer Reise von der Langen Bahn nach Schleusingen und umgekehrt aufmerksam machte, ließ er sich einen langen, starken, unten mit einer eisernen Spitze versehenen Stock machen, der auf dieser Reise, die ein Fußgänger in drei Stunden zurücklegt, sein Tröster und Helfer wurde. Er ließ sein eigenes Pferd vorspannen. Kaum hatte er die Lange Bahn hinter sich, so nahmen auch schon die Reiseabenteuer ihren Anfang. So oft nun eine gefahrvolle Stelle kam, stach der Ritter seinen starken spitzen Stock schnell in die Erde (meistens eine Wand) derjenigen Seite, auf die der offene kleine Wagen umzustürzen drohte, stemmte sich dann durch seine große Körperkraft mit Hülfe des Stocks gegen diese Seite und stellte hierdurch das Gleichgewicht wieder her. Auf dieser kurzen Reise traten Gefahren dieser Art mehr als zwanzig Mal ein.

Das Gesicht des Comthurs, um noch einmal auf sein Aeußeres zurückzukommen, hatte keine frische Farbe, sondern war mehr blaß, aber ein Vollmondsgesicht, nur mit einer kleinen, etwas gestülpten Nase. Auch einen Schnurrbart trug er nicht, ebenso wenig einen Stutz- oder Zwickelbart, wohl aber einen Backenbart. Man sieht nicht leicht einen stärkeren und schöneren. Wenn man ein [637] einzelnes Haar heraus- und herabzog, so reichte es bis an die äußerste Spitze des Zeigefingers des ohnedies schon sehr langen Arms. Man hätte sehr gut weit hinabreichende starke Zöpfe aus den Haaren dieses Backenbartes flechten können. Die Haare dieses Backenbartes waren überdies schon von Natur wunderbar schön gekräuselt. Der Ton und die Stärke seiner Stimme waren seinem riesenhaften Körper ganz angemessen. Er sprach stark und tief, verständlich und gemessen. Sein Gang war ganz der eines Ritters, würdevoll, aristokratisch, der Schritt abgemessen, die ganze Bewegung männlich graziös. Sein Mund war voll der schönsten Zähne, und diese hatten eine solche Stärke und standen so fest, daß er einst aus der Langen Bahn einen stämmigen Mann blos mit den Zähnen am Hosenbund frei in die Höhe hob.

Durch seine Gemüthsart zeichnete sich unser Comthur vor vielen Andern bestens aus. Er war theilnehmend, mitleidig, wohlthätig. Die Armen strömten an gewissen sogenannten Gehtagen fast in Schaaren zur Langen Bahn; schuldlos Herabgekommene wurden im Stillen vom ihm unterstützt. Eine andere schöne Eigenschaft unseres Ritters war, daß, wenn er bisweilen allerdings in heftigen Unwillen gerieth, er in diesem Affect sich nie zu weit vergaß, um nicht seinen Zorn zur rechten Zeit zu bändigen. Einst benahm sich ein Knecht des Hofes gegen den Pachter äußerst roh und ungezogen. Der Ritter sah und hörte es, am Fenster stehend, eine Zeit lang ruhig mit an. Als aber der Knecht es allzu arg machte, trat er heraus, faßte den Sünder oben am Kragen, hob ihn wie einen leichten Flederwisch hoch in die Höhe, stellte ihn dann in einen ganz in der Nähe stehenden, bis oben mit Wasser angefüllten Braubottich, tauchte ihn drei- oder viermal in aller Ruhe bis über den Leib unter, hob ihn dann heraus, legte ihn auf Rasen und rief ihm nun eine derbe donnernde Ermahnung zu. Der arme Kerl regte sich vor Schrecken nicht mehr, der Ritter aber ging, still in sich lächelnd, wieder in’s Haus zurück. Noch in demselben Jahr heirathete dieser Knecht, und der Comthur gab der Braut eine schöne Aussteuer.

Das häusliche Leben unseres Comthur war sehr einförmig, ein Tag fast wie der andere. Von vielen Besuchen war nicht die Rede, da die Lange Bahn für Viele zu weit entfernt und der Comthur selbst ungemein eng, im Grunde sehr schlecht logirt war. Doch sah er es gerne, wenn Gymnasiasten, Studenten, reisende Schauspieler etc. auf kurze Zeit bei ihm sich einfanden, da er von lustigen Streichen, Schnurren, Anekdoten gerne hörte; auch mit Handelsleuten, Juden, Hökerinnen etc. unterhielt er sich gern, da sie ihm allerlei Neuigkeiten zutrugen; doch banden sie ihm auch manchen Bären auf.

Ein besonderes Geschäft machte er sich daraus, die Wolken zu beobachten, deren Lauf, Richtung, Bewegung, Farbe, Zertheilung etc. Vom gestirnten Himmel hatte er nicht zu verachtende Kenntnisse, denn da er die meisten Nächte außer dem Bett zubrachte – er ging erst drei oder vier Uhr Nachts zu Bett, um Vormittags zehn oder elf Uhr aufzustehen – so benutzte er gern die lange nächtliche Zeit zur Beobachtung der Bewegung der Sterne. Vom Schreiben, Briefschreiben und dergleichen war er kein Freund; Schreibmaterialien gehörten bei ihm zu den größten Seltenheiten.

Einst hatte er den Einfall, eine Anzahl Mädchen aus der Umgegend auf die Lange Bahn zu sich zu einem Kaffee einzuladen. Sie stellten sich alle ein. Es war ein Sonntag und unter freiem Himmel wurde getäfelt. Bald überreichte eines der Mädchen dem Comthur einen schönen mit Bändern geschmückten Kranz, wozu sie einige Worte des Dankes sprach. Die Unterhaltung wurde immer lebhafter, fast bis zur Ausgelassenheit. Die Mädchen neckten den Comthur besonders deshalb, weil er nicht heirathen dürfe, warum er denn in einen so wunderlichen Stand oder Orden eingetreten sei etc. In fröhlichem Uebermuth brachten sie ihm einen zweiten Kranz, der gerade das Gegentheil von dem ersten war, nämlich einen Trauerkranz, ohne alle Blumen und mit schwarzem Flor oder Crep umwickelt, damit er wegen seines ehelosen Lebens ja recht trauern möge. „Ihr seid halt lose, durchtriebene Dirnl,“ sagte unser Comthur, der im gewöhnlichen Leben in der süddeutschen, alemannischen Mundart sprach, als er den Trauerkranz sah. „Müsche denn alle Mannsen heirathe? Ja, wenn alle Weiber gut wären. Wasch thut mer denn mit so anem Brummeise? Bei mir zu Land spreche gar viele Ehemannen ein Sprüchwort, das lautet: ‚Meine Frau heißt Lisabeth, wenn ich nur eine andre hält’.‘ Es muß auch alte Junggeselle gebe, wie’s auch alte Jungfere giebt.“ Der kecke Scherz störte seinen Gleichmuch so wenig, daß er sogar zu guter Letzt jedem Mädchen noch eine Düte mit sogenanntem Gregoriuszucker mit auf den Weg gab.

Daß dieser stattliche Körper auch gehörig versorgt sein wollte und daß die Leibesnahrung und Nothdurft das wichtigste Departement der Verwaltung auf der Langen Bahn war, versteht sich wohl von selbst; uns interessirt nur die kluge Absonderlichkeit, daß der Comthur fleißig auf Anordnung seines Freundes Trebra durch die Förster und andere Personen auch, mit Fischottern versehen wurde, weil nach den Satzungen der katholischen Kirche die Fischotter in Bezug auf ihr Fleisch nur für Fisch gilt und auch an den Fasttagen genossen werden darf.

Weil der Comthur in einer stockprotestantischen Gegend lebte und daher weit und breit weder eine katholische Kirche noch einen katholischen Priester fand, so hielt er um so strenger die Fasttage, da dies ohne eine Kirche und ohne einen Priester geschehen kann; und deshalb war er auch mit Fischen immer reichlich versehen. An den höchsten Festtagen seiner Kirche erschien er in seinem ganzen Ritterornat, ebenso an seinem eigenen Namenstag sowie dem des Papstes. Dazu ließ er bisweilen einen Capuzinermönch von Königshofen (im Grabfeld) kommen, der sich dann mehrere Tage lang auf der Langen Bahn aufhielt. In seinem Wohnzimmer sah man übrigens kein Heiligenbild, in seiner Hand nie einen Rosenkranz oder ein Brevier.

Gegen alles Erwarten verbreitete sich wenige Jahre später in Schleusingen das Gerücht, der Comthur sei Willens, die Lange Bahn für immer zu verlassen. Und so geschah es auch. Er zog von da weg und ist noch nicht in der Mitte der vierziger Lebensjahre stehend im Elsaß, wie man erzählte, in Folge von Schlagflüssen gestorben. Um dieselbe Zeit wurde die Lange Bahn vom Staat eingezogen und zum Staatsgut geschlagen. Die Gebäude wurden sammt und sonders abgebrochen, Alles der Erde gleich gemacht, das ganze Ackerland hörte als solches auf, es wurde mit Tannensamen besäet und mit Tannenpflanzen bepflanzt. Von der ehemaligen Langen Bahn sind gegenwärtig kaum noch einige Spuren aufzufinden. Ein hochragender Tannenwald ist an die Stelle des letzten Johannitersitzes getreten.

Alle Poesie ist ursprünglich Volkspoesie. Das Volk lebt mit ganzer Seele in dem Kreise des Wunderbaren, nicht allein der Märchen, sondern auch des Ritterlichen. Es müßte nun wunderlich zugehen, wenn der Ritter von Andlau auf der Langen Bahn für immer verschollen wäre. Nein! das ist er nicht, er lebt im Munde des Volkes noch fort. Schon bald nach seinem Tode läßt das dichterische Volk des Ritters Geist auf der Langen Bahn umgehen, besonders zur Zeit der zwölf heiligen Nächte. Man hört ihn da reden und rufen, man hört das Wiehern und Stampfen seines Pferdes, die ganze Lange Bahn scheint wiedererstanden zu sein. Auch der Geist eines Waldfräuleins, einer früheren Geliebten des Ritters, erscheint von Zeit zu Zeit in einem weißen Schleier, weinend, rufend, die Arme ausstreckend. Ja, die Lange Bahn ist verödet, verschwunden, der Ritter aber lebt noch fort.




Der Peterspfennig sonst und jetzt.

Mit Abbildung.

Im Dominicanerkloster zu Leipzig starb vor nun gerade vierthalbhundert Jahren, also schon zwei Jahre nach dem großen Thesenanschlag von Wittenberg, der Mönch, welchem unter den Tausenden von päpstlichen Ablaßpredigern das Loos gefallen ist, einen Namen von der unbeneidetsten Unsterblichkeit davon zu tragen. Es ist bemerkenswerth, daß dieser Johann Tetzel in seiner Person das damalige Pfaffenwesen leider nur allzu vollständig repräsentirte. Wir dürfen dem freundlich gemischten Kreis unserer Leser gar nicht zumuthen, sich vor ein wahres, unverschleiertes Bild des Lebens und Treibens der Geistlichen und besonders der [638] Mönche und Nonnen in dem Jahrhundert vor der Reformation führen zu lassen; man wird selbst in der Einsamkeit an seinem Arbeitstisch schamrot, wenn man in den Geschichtsbüchern über jene Zeit die Schilderungen von Lasterausbrüchen lesen muß, deren Scheußlichkeit über alle unsere Begriffe geht. Daß die Nonnen zu Sonnenfeld bei Koburg ihre Priorin davon jagten, weil diese die nächtlichen Liederlichkeiten derselben nicht mehr leiden wollte, gehört nicht einmal zu den seltenen Nachrichten; aber auch daß die Würzburger Bürger während des Bauernkriegs sich weigerten in’s Feld zu ziehen, weil dann ihre Frauen und Töchter vor den Pfaffen ihrer Ehre nicht sicher wären, auch Das steht zwischen den zahllosen schlimmeren Berichten aus jenen Tagen noch ziemlich harmlos da.

Zu den schlimmsten Sündern dieser Sorte gehörte Tetzel. Sah sich doch Kaiser Maximilian sogar genöthigt, ihn zum Tode durch Ersäufen zu verurtheilen, weil er in Innsbruck sich so schwer gegen das sechste Gebot vergangen hatte. Nur die Fürbitte des sächsischen Kurfürsten, Friedrich’s des Weisen, rettete ihm das Leben. Zur ewigen Haft begnadigt, saß er in dem Thurm am Grimmaischen Thor zu Leipzig. Wahrscheinlich gelang es seinen hohen Gönnern, dem Bischof von Merseburg, dessen Ablaßprediger er wegen seiner bedeutenden Beredsamkeit geworden war, und dem Kurfürsten von Mainz, der ihn sogar zu seinem Inquisitor haereticae pravitatis (Ketzerei-Ankläger) ernannt hatte, ihn wieder auf freien Fuß zu setzen, denn er trieb plötzltch seinen Bettlerberuf als Ablaßkrämer in Meißen und der Lausitz noch unverschämter, als er zuvor gethan, und gab dadurch die Veranlassung zu Luther's weltgeschichtlicher That.

Wie das ruchlose Leben der meisten Pfaffen, so war auch der Ablaß längst eine Ursache tiefer Entrüstung im Volk, nur daß Niemand der allmächtigen Kirche gegenüber den Muth hatte, dem Kinde den rechten Namen laut und öffentlich zu geben. Die schlauen heiligen Väter in Rom betrauten mit diesem Seligkeitsschacher die Bettelmönche, weil diese am besten mit dem Volke zu verkehren wußten, und demgemäß verwandelte sich die Sache in pure Marktschreierei und in Possenspiel. Bald suchte ein Ablaßkrämer den andern an plumpem und gottlosem Witz zu übertreffen. So führte ein Mönch Iselin in Schwaben, wie W. Menzel in seiner „Geschichte der Deutschen“ erzählt, eine Feder mit sich, von der er vorgab, sie sei aus dem Flügel des Engels Michael. Als ihm diese Feder zu Aldingen zufällig verbrannte, ließ er sich von der Wirthin einen Büschel Heu aus dem Stalle holen und kündigte sogleich dem herbeigerufenen Landvolk an, dieses Heu sei aus der Krippe Jesu von Nazareth, und wer es nicht glaube, sei ein Ketzer. Da kniete die Wirthin selber nieder und küßte ihr eigenes Heu als eine heilige Reliquie. Ein anderer Ablaßkrämer, Samson, rief zu Baden in der Schweiz den Käufern: ecce volant („Seht, sie fliegen!“, nämlich die erlöseten Seelen) zu, während ein Schalk ein Kissen voll Bettfedern auf dem Kirchthurm ausschüttete. Da war freilich die Lust groß! Ein Söldnerführer erhielt für einen schönen Hengst Ablaß nicht nur für sich, sondern auch für seine fünfhundert Soldaten. – Tetzel führte ein Bild mit sich herum, auf welchem der Teufel dargestellt war, wie er die armen Seelen im Feuer quält, und auf seinen Geldkasten setzt der Volkswitz den Vers. „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt.“ Sein Treiben ging in’s Unfläthige und seine Frechheit in’s Entsetzliche: um einen Ducaten gab er Ablaß für Vater- und Muttermord! –

Wäre das Volk nicht viel besser gewesen, als die Pfaffen, wie hätte diese „römische Gnad“, wie es den Ablaß hieß, sittenverpestend wirken müssen! Die richtige Einsicht lebte schon im Volk, ehe Luther ihr das rechte Wort verlieh, indem er es aussprach, daß der sogenannte Stellvertreter Gottes auf Erden eben deshalb sein Amt nur auf Erden zu verwalten und Nichts im Himmel zu befehlen habe, wo der Herrgott allein herrsche. Gegen die große Beutelschneiderei des Ablaßkrams empörte sich zuerst der Patriotismus. Ein Reichsbeschluß von 1500 bestimmte, daß von den großen Summen, die für Ablaß bezahlt würden, nur ein Drittel dem Papst zufließen und zwei Drittel beim Reichsregiment bleiben sollten, um gegen die Türcken verwendet zu werden. Friedrich von Braunschweig wagte es sogar, dem Legaten Marinus die volle Casse abzunehmen; kurz, man sah im Ablaß einen schmählichen Tribut, welchen Deutschland den Italienern zahlen müsse.

Es gereicht jener Zeit vor der Reformation zur Ehre, daß man nur aus Scheu vor der Kirche sich nicht zur Wehr gegen den Ablaß setzte, sondern daß man ihn offenbar mehr aus Furcht vor der Pfaffenrache, als aus Dummheit kaufte.

Wie verhält sich in dieser Beziehung das heutige Deutschland zum Peterspfennig? Ablaß und Peterspfennig sind so nahe Verwandte, daß sogleich einer an den andern erinnert, namentlich wenn man so auffällig an beide gemahnt wird, wie dies durch das ultramontane Treiben in unserer Gegenwart geschieht. Diese Verwandtschaft hat offenbar auch unsern Künstler geleitet, als er sich daran machte, gerade jetzt vor den Augen der Zeitgenossen jenen Leipziger Dominicaner vorüberziehen zu lassen, hoch zu Roß über seinem Ablaßgeldkasten, mit Chorsängern und heiligen Fahnen voran, im Gefolge und um sich das Volk, das von dem der Gegenwart, trotz der vierthalbhundert Jahre voll großartiger Fortschrttte, geistig so wenig übertroffen, ja kaum erreicht wird. –

Auch die Tetzel sind wieder auferstanden, nur daß sie nicht in den Ländern umherstreifen, sondern, bequemer als jener betriebsame Mönch, den Opferkasten in den Kirchen aufstellen und die Bettelpredigten eindringlicher im Beichtstuhl halten.

„Ora et labora!“ - „Bete und arbeite!“ - Das ist der Spruch, welcher, zum Segen der Menschheit, niemals hätte getheilt werden sollen. Die Menschen lebten ihres Glaubens froher, als sie noch, wie das Arbeiten, auch das Beten selbst besorgten. Von dem Augenblick an, wo ein besonderer Stand die erste Hälfte des Spruches allein übernahm und dem Volke die andere Hälfte ebenfalls allein überließ, ist unsägliche Trübsal über die Welt gekommen. Und so lange es noch Kutten giebt, sterben auch die Tetzel nicht aus.

F. H.




Pariser Bilder und Geschichten.

Die „Leute vom Handwerk“.
Verbrecherkasten. - Diebesgenerationen. – Jüdische Diebesfamilien. – Zweihundertundneun Jahre Zuchthaus. – Hehlermatadore. – Diebesspecialitäten und Diebessprache. – Der Diebstahl „am Pfefferstrauch“. – Der Taschendieb „à la chicane“. – Ladendiebe. – Der Diebstahl mit dem „Mäuschen“. – Die anhängliche Nase. – Der Roulatier. – Die schwere Cavalerie des Diebesheeres. – Ein ritterlicher Einbrecher. – Diebeskunststück in der Polizeipräfectur. – Der „Sandmann“. – Der Diebeszüchter. – Der Dieb am Diebe. – Die Steinbrüche von Amerika. – Polizeirazzien. – Das „Brett zum Brode“.

Jemehr die Zahl unserer Großstädte und deren Wachsthum zunimmt, um so üppiger wuchert das Verbrechen und die Gefahr vor demselben. Wir haben doppelt und dreifach Ursache, diesem Uebel so scharf als möglich in’s Gesicht zu sehen, und da es längst einen internationalen Charakter angenommen hat, so sind wir gezwungen, ihm in diejenigen Stätten nachzugehen, an welchen es neben den strengsten Hochgerichten seine blühendsten Hochschulen hat. Unsere Leser wissen, daß wir derlei ihnen nicht zur puren Unterhaltung mittheilen, sondern daß wir uns für verpflichtet halten, es mitzutheilen, um durch die möglichst genaue Kenntniß, durch die möglichste Entschleierung des häßlichen Geheimnisses zu bewirken, daß der Einzelne sich gegen Schaden schützen lerne und die Gesammtheit mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut werde, daß es ihr nicht genügen dürfe, die Verbrecher von der Obrigkeit verfolgt zu wissen, sondern daß auch sie selbst mit Hand anlegen muß, um die Quellen dieses vom Willen des Menschen abhängigen Unglücks nach Möglichkeit zu verstopfen.

Wie in London, wie in Newyork, wie in Berlin und anderen Welt- und Großstädten ist die Diebesgesellschaft auch in Paris ein Volk für sich, durchschnittlich auf das Strengste geschieden von der redlich schaffenden Bewohnerschaft, in deren Mitte es lebt, ohne Heimath und Vaterland, mit seinen ganz besonderen Talenten und seinen besonderen Sitten und Gebräuchen, von denen es nicht läßt, obwohl gerade diese Eigenthümlichkeiten häufig die

[639]

Tetzel’s Ablaßzug. Originalbild von Professor Häberlin in Stuttgart.

[640] Ursache von Entdeckung und Bestrafung werden. Man erzählt wunderbare Geschichten von der Opulenz, dem Glanze, der Herrlichkeit und den Freuden, in denen gewisse Pariser Diebesmatadore schwelgen sollen; zum allergrößten Theil sind derlei Geschichten aber in’s Reich der Fabel zu verweisen, denn von hundert Dieben und was in ihre Kategorie fällt, führen womöglich mehr als neunundneunzig das elendeste Leben, das sich nur denken läßt: immer auf der Jagd und immer gejagt, stets auf der Hut und stets auf der Lauer, auf das kleinste Geräusch lauschend und nur mit einem Auge schlafend; ewig in Angst und ewig von Leidenschaft gequält, mit einem Wort, ein Höllenleben, eine Existenz, welche buchstäblich auch nicht einen Moment ruhigen Behagens in sich schließt. Gar Viele haben seit Jahren kein anderes Dach über dem Kopf gehabt, als Brückenbogen, im Bau begriffene Häuser, die Gypsöfen und Steinbrüche am Saume von Paris, und wissen nicht, was tägliches Brod heißt. So ist es denn auch keine Seltenheit, daß ein Dieb, wenn er fühlt, wie mit zunehmendem Alter die Kraft schwindet, dieser ewigen Hetze ohne eine Minute des Verschnaufens Trotz zu bieten, sich selbst der Polizeipräfectur ausliefert. „Da habt Ihr, den Ihr sucht,“ spricht er dann wohl, „ich kann nicht mehr!“ Nichtsdestoweniger muß dieses Leben seinen Reiz besitzen, weil Jahr aus, Jahr ein so viele Menschen es sich freiwillig erwählen, denn, was man auch behaupten mag, es ist constatirt: aus Noth und Hunger wird selten gestohlen.

Es giebt in Paris ganze Generationen von Dieben; der Großvater hat gestohlen, der Vater stahl, der Sohn stiehlt, der Enkel wird stehlen. Kaum kann das Kind laufen, so wird es schon zum Gewerbe angelernt; man lehrt es ohne Geräusch auftreten und gehen, sehen, ohne daß es sich umzublicken scheint, mit einem Nagel ein Thürschloß öffnen, den gestohlenen Gegenstand rasch verbergen, selbst mit „Haltet den Dieb!“ schreien, wenn es verfolgt wird, und andere unentbehrliche Kunstgriffe des Handwerks mehr. Die Familien Piednoir, Coeur-de-Roy, Nathan figuriren seit Jahrzehnten in den Annalen der Polizei und machen ihr noch heute zu schaffen. Die Verurtheilungen, welche die letzterwähnte Familie, Vater, Mutter, Brüder und Schwiegersöhne, zusammen vierzehn Personen, traf, beliefen sich auf die hübsche Zahl von zweihundertundneun Jahren Zuchthaus! Dergleichen Diebesgeschlechter sind gar nicht so selten jüdischen Stammes.

Auch in Paris hat der Diebesstaat seine feste Gliederung, jede Art desselben bezeichnet eine bestimmte Kaste, die von den anderen streng geschieden ist. Diebe, welche mehrere Zweige des Handwerks cultiviren, giebt es kaum, im Gegentheil ergreift von vornherein, je nach Neigung und Anlage, jeder seine bestimmte Specialität, in welcher er sich schließlich zur Meisterschaft ausbildet. Die Namen der verschiedenen Gewerbsabstufungen sind sämmtlich dem Argot, dem Gaunerrothwälsch, entlehnt, einer Sprache, die reich ist an energischen Ausdrücken und treffenden Bildern und Vergleichungen und ihrerseits zum Theil dem Kalo der Zigeuner entstammt.

Als Debüt in der Kunst der Annexion gilt der Diebstahl „am Pfefferstrauch“ (vol au poivrier). Unter „Poivrier“ versteht die Gaunersprache nämlich einen betrunkenen Menschen, der, seiner Füße und Sinne nicht mehr mächtig, in den Pariser Straßen umhertaumelt und nach einem Plätzchen trachtet, wo er seinen Rausch ausschlafen kann. Sowie der Dieb eines solchen Pfefferstrauches ansichtig wird, folgt er ihm, stellt sich, als wolle er ihm Hülfe leisten, und schafft ihn nach einer Ruhestatt, meist einer Bank auf den Boulevards. Während er ihn nun hier in bequeme Lage zu rücken sucht, plündert er den Bewußtlosen dabei gemüthlich aus und geht in aller Ruhe davon, sobald er sein Opfer schnarchen hört. Unter den Taschendieben, den Tireurs, sind die vornehmsten die tireurs à la chicane, d. h. jene außerordentlichen Meister ihrer Kunstbranche, welche dem Opfer, das sie ausbeuten, den Rücken zukehren. Einer der berühmtesten aus dieser höchsten Classe von Taschendieben war ein gewisser Mimi Lepreuil, welcher bei seinen Genossen nur „die goldene Hand“ hieß. Die Polizei kannte ihn recht wohl und würdigte ihn einer ganz besondern Ueberwachung, allein es glückte ihr niemals, den Gauner auf der That zu ertappen. Schließlich hatte er sich vom Geschäfte zurückgezogen und lebte mit der nicht zu verachtenden Jahresrente von fünfzehntausend Franken als „respectabler“ Particulier, soll indeß später wieder herabgekommen sein und jetzt den Mouchard, Spitzel, machen. Einst war vor der Börse ein Arbeiterkrawall entstanden, und unter der Menge befand sich auch die „goldne Hand“. Ein Polizeiagent erkennt den Mann und fordert ihn handgreiflich auf, sich zu entfernen. „Lassen Sie mich doch in Ruhe,“ anwortet ihm Lepreuil indignirt; „die Bummler da sind ja der Mühe des Stehlens gar nicht werth; ich habe schon fünfhundert Taschen untersucht und auch nicht einen Sou darin gefunden.“

Wirklich staunenerregend ist die Dreistigkeit, mit welcher der Dieb à l’étalage, d. h. an den Auslagen vor den Verkaufsläden, mitten in den belebtesten Straßen und am hellen lichten Tage seinem Geschäfte nachgeht, noch wunderbarer aber seine Geschicklichkeit. Manchmal räumt ein solcher Ladendieb die Magazine eines ganzen Stadtviertels ab. Ganz vor Kurzem erst kam ein junger Mann zur Haft, bei dem man eine Cigarrentasche, einen goldenen Ring, einen eleganten Spazierstock, eine Brieftasche und ein Paar Damenstiefeln fand, Alles funkelnagelneu, die Ernte eines einzigen Morgens von verschiedenen Ladenauslagen in den frequentesten Stadttheilen. Manchmal betheiligen sich auch zwei am Geschäft; der Eine stiehlt einen der ausgelegten oder aushängenden Gegenstände und eilt davon. Sobald er aus dem Gesicht ist, tritt sein Spießgesell in den Laden, macht den Inhaber auf den Diebstahl aufmerksam und weist auf einen beliebigen Vorübergehenden als auf den Dieb. Wüthend stürzt der Kaufmann dem vermeintlichen Spitzbuben nach, sein Personal, die Nachbarschaft schließt sich ihm an, und diesen Moment benützt der Helfershelfer, sich seinerseits in das Verkaufslocal zu verfügen, um sich daraus in aller Gemächlichkeit anzueignen, was ihm verwerthbar scheint.

Eine noch weit gefährlichere Diebesspecies sind die „à la vrille“ arbeitenden Langfinger, die oftmals ein ganzes Magazin von A bis Z ausplündern, so daß der arme Besitzer darin nichts mehr vorfindet als die nackten Wände. Unter dem Vorwand eines kleinen Einkaufs tritt bei Tage der Dieb in den Laden, prägt sich die Einrichtung desselben genau in’s Gedächtniß, erspäht, wo die Ladencasse verwahrt wird und ob die Klingel an der Thür etwa mit den Wohngemächern des Kaufmanns in Verbindung steht. In den ersten Morgenstunden, wenn auch das rastlose Paris endlich auf kurze Zeit eingeschlafen ist, erscheint er nun mit seinen Cumpanen auf dem recognoscirten Terrain. In die meist mit Eisen gefütterten Fensterläden wird mit Hülfe eines Metallbohrers dicht neben einander eine Reihe von kleinen Löchern gebohrt, bis sie sich nach und nach zu einer Oeffnung erweitern, welche groß genug ist, ein Kind durchschlüpfen zu lassen. Dieses, der sogenannte Raton, das Mäuschen, ein gewandter, schmächtiger, kleiner Junge, muß nun hinein, um die ihm bezeichneten Gegenstände zusammenzuraffen und sie den Dieben draußen zuzustecken. Sind die zu stehlenden Dinge umfänglicher Art, so sperrt das Mäuschen die verwahrte Ladenthür auf, die Diebe dringen in das Local und räumen in aller Bequemlichkeit darin auf, während natürlich auf der Straße ein Posten Wacht hält, um Alarm zu geben, sowie sich etwas Verdächtiges regt. Die Diebe à la vrille sind verwegene Bursche, welchen es gelegentlich auch auf einen Mord nicht ankommt.

Minder gewaltsam verfahren die Carreurs, fast ohne Ausnahme vom Stamme Juda’s, die alle äußersten Mittel thunlichst vermeiden. Der Carreur ist höflich, fein und elegant gekleidet und affectirt in seinem Französisch gewöhnlich einen ausländischen Accent. Seine Beute sind die Juweliere, von denen er sich nicht gefaßte Diamanten, sogenannte Steine in Papier, vorlegen läßt. Man beeifert sich dem vornehm aussehenden Käufer die kostbaren kleinen Couverts auseinander zu falten, welche oftmals Hunderte der werthvollsten Brillanten umschließen. Unser Carreur ist stets kurzsichtig, er muß die Steine ganz nahe an’s Auge halten, um sie prüfen zu können, so nahe, daß die Nase mit den Diarnanten in Berührung kommt. Die Nase aber ist mit Jungferwachs überzogen und ein paar kleine Brillanten bleiben zufällig daran kleben, um mit Blitzesschnelle im Aermel des Gauners zu verschwinden. Dann und wann macht er seine Annexionen wohl auch mittels einer schnellen Zungenbewegung oder durch seine hohle Hand, die mit Gummi Tragant bestrichen ist. Arbeitet der Carreur in einem offenen Bijouterieladen, so ist sein Verfahren ein etwas anderes. Während er sich die ihm vorgelegten Ringe und Nadeln besieht, erscheint ein Bettler an der Thür und bittet näselnd um ein Almosen. Der Carreur ist gutherzig und leicht [641] von fremder Noth zu rühren, mitleidig wirft er dem Armen einige Sous in den Hut, mit diesen zugleich aber auch einen werthvollen Bijouterieartikel, worauf der anprovisirte Bettler schleunigst abzieht. Wird der Diebstahl alsbald entdeckt, so geräth der Carreur in höchste Aufregung und besteht darauf, daß man ihn durchsucht. Natürlich wird nichts an ihm gefunden, der Kaufmann erschöpft sich in Entschuldigungen und mit dem Stolze der gekränkten Unschuld schreitet der Dieb aus dem Magazine. Ohne Zweifel ist unseren Lesern noch der große Juwelendiebstahl erinnerlich, der vor wenigen Jahren einen Bijouterieladen des Palais Royal um einen Werth von hunderttausend Franken ärmer machte und in und außer Paris das gewaltigste Aufsehen erregte. Er war das Werk zweier Carreurs, die sich bis heutigen Tages den Armen der Justiz zu entziehen gewußt haben.

Die „Roulatiers“ treiben ihre Kunst auf offener Straße; sie decimiren die Güterrollwagen der Spediteure und Eisenbahnen. Auf gut Glück durchstreifen sie die Geschäftsgegenden der Stadt, und sobald sie eines der erwähnten Transportvehikel erspähen, so ziehen sie ihm nach. Verläßt nun der Führer sein Gefährt nur einen Augenblick, so packen sie hastig eine Kiste, ein Faß, einen Koffer, werfen sich damit in die erste beste Seitengasse und gehen hier langsam weiter wie ehrliche Arbeiter, die erschöpft sind von der Last, welche sie tragen. Vor der Aera der Eisenbahnen waren es vorzugsweise die Postkarren, welchen die Roulatiers ihr Interesse zuwandten, und oft mit fabelhaftem Glücke. Noch sind es nicht zwei Monate her, daß drei auf Abenteuer ausziehende junge Roulatiers einen Schleifkarren entdeckten, der mit plombirten kleinen Kisten beladen aus der kaiserlichen Münze herausgefahren kam. Der Fuhrmann trat auf einige Minuten in eine auf seinem Wege liegende Weinschenke, und mit affenartiger Geschwindigkeit bemächtigten sich unsere jungen Galgencandidaten einer der Kisten und verschwanden damit in einer Nebenstraße. Natürlich ward die Polizei ungesäumt von dem Vorfall in Kenntniß gesetzt, und es gelang ihr, die Schuldigen in einer Diebesspelunke vor den Barrièren zu ergreifen. Man hielt Haussuchung in ihrer Wohnung und fand daselbst nicht blos die geraubte Kiste, welche für mehrere Tausend Franken für Rom geprägte Heiligenmedaillen enthielt, sondern auch ein völliges Waarenlager von auf ähnliche Weise gestohlenen Gütern. Dutzende von Stücken Tuch, Kaffeesäcke und einen ganzen Ballen mit Photographierahmen, der von einem Pariser Fabrikanten an einen Photographen in der Provinz verladen worden war.

Sämmtliche der bis jetzt aufgeführten Diebesgattungen gehören nebst einer Unzahl anderer Spitzbubenclassen zum niederen Gevögel, der basse pègre (pègre vom lateinischen piger, Faullenzer); sehen wir uns nun auch etwas unter der haute pègre um, unter jenen Verbrechern, die sich selbst mit Stolz die schwere Cavalerie ihres Heeres zu nennen pflegen. Zu ihren untersten Graden gehört der „Cambrioleur“, welcher am Tage in die Wohnung einbricht, wenn deren Inhaber nicht anwesend sind. Zu diesem Behufe steigt er unbefangen die Treppen der Häuser hinan und klingelt, unter irgend einem beliebigen Bewerbe, von Etage zu Etage, bis er an eine Thür kommt, wo auf sein wiederholtes Schellen Niemand erscheint. Hier bricht er ein und raubt aus den Zimmern, was er nur erwischen und ohne Aufsehen zu erregen fortschleppen kann. Ein origineller Kauz von Cambrioleur, ein Nachfolger der chevaleresken Straßenräuber des vorigen Jahrhunderts, war ein gewisser Jadin, der es im Oeffnen der Thürschlösser mittels des Monseigneur, eines kleinen Brecheisens, zu einer Fertigkeit sonder Gleichen gebracht hatte. Führte ihn der Zufall einmal in eine Wohnung, deren Einrichtung von der Mittellosigkeit ihres Inhabers zeugte, so steckte er nicht nur nichts zu sich, sondern ließ darin oft sehr erhebliche Spenden zurück.

Wiederum eine Staffel höher auf unserer traurigen Stufenleiter steht der „Caroubleur“, der Dieb mittels Dietrich und Nachschlüssel. Noch heute dürfte die Pariser Polizeipräfectur einen dieser Caroubleure in treuem Andenken halten, der sich den Namen Beaumout beigelegt hatte. In schwarzem Rock und weißer Cravatte, ein großes amtliches Portefeuille unter dem Arme, ganz mit dem Aussehen eines vielbeschäftigten und pressirten Beamten erscheint dieser Mensch eines Nachmittags auf der Präfectur, requirirt einen der dort postirten Soldaten, stellt ihn als Schildwache vor eine bestimmte Thür, befiehlt ihm, Niemand passiren zu lassen, und dringt in das Directorialzimmer ein, wo, wie er genau wußte, der Vorstand des Sicherheitsdienstes eben nicht anwesend war. Unverzüglich bemächtigt er sich der Casse, welche gerade ein recht rundes Sümmchen enthielt, führt den Soldaten selbst auf die Wachstube zurück, dankt dem Officier für seine Gefälligkeit und schreibt Abends dem bestohlenen Chef ein verbindliches Billet, in dem er um Verzeihung der verursachten Ungelegenheit bittet. Bis heutigen Tages hat die Polizei den kecken Caroubleur nicht aufspüren können, welcher sich den Spaß machte, an ihr selbst eine Probe seiner Kunst abzulegen.

Noch ein gut Stück weiter oben in der Rangordnung treffen wir den „Scionneur“, der Nachts dem Wanderer in den Umgebungen von Paris Börse oder Leben abfordert, sein Opfer mit einem Stockschlage oder einem Steinwurfe betäubt und dann bis auf’s Hemde ausplündert. Der Scionneur ist fast immer zugleich auch Mörder, das Menschenleben, das ihn genirt, wird ohne Reue und Bedenken vernichtet. Besonders schlimme Gesellen waren die Scionneurs, welche ehedem am Seine-Canale ihr Unwesen trieben, ihr Werkzeug war die bekannte Garotte. Mit Hülfe derselben ward das unglückliche Wild seiner Uhr, seines Geldes, seiner Brieftasche etc. beraubt und schließlich mit einem Stoße in den Canal hinabgeschleudert. Operirt der Scionneur allein oder scheint ihm eine offene Attake bedenklich, so betäubt er die ausersehene Beute durch „Sanden“. Er trägt nämlich eine mit Sand gefüllte Aalhaut bei sich, die, sehr biegsam und zugleich sehr schwer, eine furchtbare Waffe abgiebt und mit einem geschickt geführten Schlage auch einen Riesen zu Boden streckt. Nach vollbrachter Unthat macht er seine Aalhaut auf und schüttelt den Sand aus, und wenn er darauf ruhig, vielleicht trällernd seines Weges geht, wer möchte dann wohl in dem Wehrlosen den Urheber eines eben begangenen Mordes argwöhnen?

Das Haupt der Clans endlich, der General, zu welchem alle die aufgezählten Soldaten und Officiere des Heeres in ehrerbietiger Bewunderung aufblicken, ist der „Escarpe“, der Mörder, das heißt nicht der Dieb, welcher aus Rache oder um sich eines Zeugen zu entledigen tödtet, sondern der Mensch, der aus Grundsatz, aus Gewohnheit oder Berechnung erst mordet und dann stiehlt. Zum Glück sind solche Ungeheuer doch nur selten, die Mehrzahl derselben aber, welche vor den Assisen Rechenschaft geben mußten von der langen Reihe ihrer Verbrechen, haben eine Willenskraft, eine Energie, eine Intelligenz an den Tag gelegt, die, wenn schon mit Schmerz, so doch auch mit unwillkürlicher Bewunderung erfüllen. Der Escarpe ist keine Pariser Specialität, er gehört leider der gesammten menschlichen Gesellschaft an und deshalb im Grunde nicht in den Rahmen unserer Skizze. Wohl aber müssen wir noch ein Wort von den sogenannten „Nourrisseurs“, den „Diebeszüchtern“ sagen. Wie es Geschäftsleute giebt, welche zwischen Käufern und Verkäufern vermitteln, so giebt es ängstliche oder altgewordene Diebe, vom thätigen Leben zurückgezogene alte Praktiker, die ihre Erfahrung kühneren Geistern zur Verfügung stellen. Sie spioniren die Gelegenheit aus, bereiten die That vor, wägen gute und böse Chancen gegeneinander ab, und sobald das Unternehmen reif ist, treten sie die Ausführung desselben entweder gegen eine vorher stipulirte Provision oder gegen einen Antheil an dem zu machenden Gewinn ab. Meist sind es alte Hehler, welche sich auf diesen einträglichen Geschäftszweig verlegen.

Alle diese Hochstapler, Gauner, Spitzbuben, Räuber, Mörder beuten fast lediglich den rechtschaffenen Theil der Bevölkerung aus, allein das Handwerk zählt auch eine besondere Kategorie, welche ausschließlich die Diebe selbst angreift, die sogenannten Fileurs. Mitglieder der Zunft, wissen sie leicht die projectirten Unternehmungen auszukundschaften und die Verbrecher auf der That zu ertappen. „Halb Part,“ heißt es dann, „oder ich zeige Dich an.“ Und was der Dieb auch einwendet, ob er an das Ehrgefühl des Cameraden appellirt, von Rache spricht oder für das nächste gewinnbringende Unternehmen eine Compagnie verheißt, der Fileur läßt sich nicht abweisen, erhält seinen Antheil, erscheint bei einer andern Expedition mit der nämlichen Drohung und läßt sich für sein Stillschweigen mit einer ähnlichen Summe abfinden. Die geschicktesten Fileurs sind Juden, „filiren“ aber stets blos den christlichen Diebsgenossen, niemals den ihres eigenen Glaubens.

Ehemals lagen die Schlupfwinkel der Pariser Diebe mitten in der Stadt; in den winkligen Gassen der Cité, in den schmutzigen, einsamen Gäßchen um das Palais Royal und den Louvre herum, [642] in den unteren Quartieren des Temple fanden sie ihre finsteren Verstecke, die aus den Geheimnissen von Paris bekannten „Tapis-Francs“, ihre Schänken und Lustorte. Heute ist mit dem Abbruch der alten unheimlichen Häuser und Straßen auch die Mehrzahl der Diebesspelunken im Herzen der Stadt verschwanden und die Spitzbubenwelt in Masse in die Gegend der vormaligen Barrièren, in jene unlängst annectirten Bezirke übersiedelt, die mit dem eigentlichen Paris vorläufig blos in administrativer Hinsicht verbunden zu sein scheinen. Hier haben sie ihre Cafés, ihre Estaminets, ihre Weinhändler, ihre Bälle, allein auch in diesen Localen macht sich die strenge Kastenscheidung geltend, der Scionneur, der Caroubleur, der Cambrioleur, der Roulatier – jeder Zweig des Geschäfts hat seine eigene Localität, in welcher er verkehrt. Wirkliche Wohnstätten aber, ein eigenes und eigentliches Obdach besitzen nur die wenigsten, und diese Glücklichen hausen in der Regel mit ihren „Ouvrières“ zusammen, jenen tiefstgefallenen der gefallenen Geschöpfe, die mit ihrer „Arbeit“ – ja, sie arbeiten, die Beklagenswerthen! – den Dieb unterhalten müssen. Bei weitem die meisten wohnen gar nicht, sie campiren unter freiem Himmel trotz Regen und Polizeipatrouille. Lange waren die Kalköfen des Montmartre ein Lieblingsort aller Vagabunden und Spitzbuben, heute, wo diese Asyle nicht mehr existiren, hat sich die Bande nach Bagnolet und Pantin hinaus in die „Steinbrüche von Amerika“ – carrrières d’Amérique – geflüchtet, doch auch hier geht ihr Bleiben seinem Ende entgegen, und schon verstreicht keine Nacht, wo ihr leiser Schlummer nicht schon am frühen Morgen, oft schon vor zwei Uhr, durch Polizeirazzien gestört wird. Von einem Officier geführt, schleichen sich die Sicherheitswächter, in mehrere Sectionen getheilt, auf den Fußspitzen an die Schlupfwinkel heran, umzingeln dieselben und besetzen alle Ausgänge. Dann werden plötzlich die Fackeln demaskirt, und mit vereinter Macht geht es auf den improvisirten großen Schlafsaal los. Das Erwachen der Unglücklichen kann man sich denken. Nur die Neulinge suchen sich zu retten, die alten Praktiker erheben sich von ihrem Lager, recken sich die Glieder und ergeben sich ruhig ihren Häschern. Für den größten Theil ist ja das Gefängniß nur eine Erlösung von unbeschreiblichem Elend, und die Anklagebank in der That – „das Brett zum Brode“ (la planche au pain), wie sie das Diebesrothwälsch so ergreifend und so treffend bezeichnet.




Blätter und Blüthen.

Der "Freischütz" in Amerika. Die in Nr. 31 der Gartenlaube enthaltene Freischütz-Skizze rief in mir eine Erinnerung wach, die, als weiterer Beweis für das unauslöschliche Interesse im deutschen Volk für die genannte Oper, vielleicht einen Platz in diesen Blättern verdient.

Im Westen Nordamerika’s, im Staate Wisconsin, liegt am Michigansee die Stadt Milwaukie. Im Jahre 1836 gegründet, jetzt hunderttausend Einwohner zählend, genießt sie seit etwa zwei Jahrzehnten unter den Deutschen Amerika’s eines besonders guten Rufes, wegen des dort herrschenden angenehmen geselligen Lebens.

Es war im Jahre 1849, als die Revolution in Deutschland viele junge Bürger zur Flucht und Auswanderung zwang, daß das Zusammenwirken verschiedener Umstände eine nicht unbedeutende Zahl intelligenter gebildeter Familien nach jener Stadt führte, die, damals noch wenig im Auslande bekannt, kaum fünfundzwanzigtausend Einwohner hatte. – Im Gegensatz zu dem bisher üblich gewesenen, ausschließlich nach Gelderwerb haschenden Treiben, entwickelte die neue Einwanderung sofort ein reges Streben nach geistigem Genuß, nach ästhetischer Geselligkeit. In leisem Anfang bildete sich, als innerster Kern, ein Streichquartett für classische Musik, vier Herren, dem Gelehrtenstande angehörig, enthusiastische Kunstliebhaber, thaten sich zusammen und leisteten Vortreffliches. Auch ein Männerquartett fand sich bald. Einige musikalische Damen mit guten, wohlgeschulten Stimmen schlossen sich an, schüchtern wurde ein erstes Concert gewagt, und in rascher Folge, mit keckem Muthe ein Musikverein in’s Leben gerufen.

Ein Wiener Student, politischer Flüchtling, Johann Balatka (jetzt in allen musikalischen Kreisen Amerika’s rühmlichst bekannt), der sich sehr bald durch tüchtige Kenntnisse sowie durch Genialität auszeichnete, wurde zum Musikdirector gewählt, und in kurzer Zeit erstand unter seiner Hand ein wohlorganistrtes Ganzes. Die Pflege und Förderung unter, hauptsächlich deutscher Musik, war Zweck des Vereins, und mit würdigem Ernste strebte jeder Einzelne nach dem gemeinsamen Ziele. Mit großer Mühe wurde ein Orchester zusammengebracht, wo irgend ein böhmischer Musikant zu finden war, oder ein ehemaliges Mitglied einer Militärmusik, da wurde er herbeigelockt und in den Dienst gepreßt. Die Dilettanten brachten Opfer an Zeit und Geld, um die Beihülfe Derer zu erkaufen, die nicht unbezahlt sich anschließen konnten. So wurde es, nach kaum zweijährigem Bestehen, dem Vereine möglich, Haydn’s Meisterwerke, „die Schöpfung“ und „die Jahreszeiten“, in gelungener Weise zu. Ausführung zu bringen, und da zur Zeit in Amerika die deutsche Oper noch wenig oder gar nicht bekannt war, entschloß man sich, einen Versuch mit „Czaar und Zimmermann“ zu machen. Die Oper gelang über Erwarten; man nahm sofort den „Waffenschmied" in Angriff, und da die Lust zu dramatischen Vorstellungen zunahm, wagte man sich in kühnem Fluge an des deutschen Volkes Kleinod, an Weber’s „Freischütz“!

Kaum war der Plan im Publicum bekannt geworden, da strömten von allen Seiten Freiwillige herbei. Wer nur irgend eine Stimme in der Kehle, eine Instrument im Kasten hatte, wollte mitwirken. Die Seele des Orchesters war ein Sanitätsrath F. aus Berlin, der meisterhaft die Geige spielte. Das erste Cello strich ein Gelehrter D., jetzt, wenn ich nicht irre, Professor der Astronomie in Zürich. Die erste Flöte blies ein Arzt aus Rastatt. Auf dem Horn quälte sich ein ehemaliger Großhändler H. aus Berlin. Das Fagott blies der Besitzer einer Leimsiederei, der zu jeder Probe von seiner vier englische Meilen entfernten Farm herein wanderte, mit dem schweren Instrument unter dem Arme etc. Trotz allem Feuereifer blieb für den Musikdirector noch eine Riesenarbeit. Für gar manches Instrument fand sich kein Vertreter; da mußte durch andere Mittel der vom Componisten geforderte Effect erreicht werden.

Die Zusammensetzung eines gemischten Chors, aus theilweise ganz unmusikalischen Elementen, war unendlich schwierig. Selbst einzelne von den Solopartieen mußte Balatka aus seiner Schülerzahl heranbilden. Doch alle Hindernisse wurden überwunden; Liebe zur Sache, Thatkraft und Ausdauer trugen den Sieg davon. Chor und Orchester war zuverlässig eingeübt, die Solisten zeigten sich ihrer Aufgabe gewachsen, sie hatten meist treffliche Vorbilder aus Deutschland im Gedächtnis und besaßen selbst zum Theil ungewöhnliche musikalische Bildung und Begabung. Der Tag der Aufführung wurde festgesetzt im December 1854. – Den Landbewohnern war lange schon durch die Tagesblätter der bevorstehende Genuß verkündigt worden; ungeduldig harrten sie auf das große Ereigniß. Es war deshalb für sie kein Hinderniß, daß fußtiefer Schnee lag, sie strömten zu Hunderten auf schellenklingenden Schlitten mit Weib und Kind nach der Stadt. Von achtzig englischen Meilen Entfernung kamen sie her, um den Melodieen zu lauschen, die ihre Kindheit verschönt hatten. In früher Stunde schon füllte sich der Saal, in welchem die Bühne errichtet war. (Ein Theater besaß damals Milwaukie noch nicht.) Lange vor Beginn der Darstellung war kein Stehplatz mehr frei. Viele, die mit Opfern sich den Genuß hatten erkaufen müssen, fanden keinen Zutritt mehr und hielten Corridor und Treppe besetzt, um wenigstens einige Töne zu erhaschen.

Endloser Jubel begrüßte die Ouvertüre, obgleich bei den ersten Accorden in Andante dem unglücklichen Hornbläser, aus Angst und Aufregung, die hohen Töne überschlugen. Die Vorstellung nahm ihren geregelten Fortgang, und jede Nummer steigerte den Enthusiasmus. Mit rührender Theilnahme sah der Zuhörer am papiernen Fenster Agathe den reinen Glanz der goldnen Sterne preisen. kein Lächeln zeigte sich, als aus den Schuß mit der Freikugel statt des versprochenen Adlers ein unschuldig gemordeter Haushahn herabfiel. Mit andächtigem Grausen erblickte man die pappdeckelnen Schrecken der Wolfsschlucht. Und als, im letzten Act, Max das Feuerrohr versagte, der Schuß nicht fiel und Agathe dennoch in Ohnmacht, Caspar aber tödtlich getrofffen zu Boden stürzte, da hielt noch immer die Rührung alle Sinne des Hörers gefangen. Alles Aeußerliche verschwand vor dem Stück Vaterland, das hier in weiter Ferne dem deutschen Herzen vorgezaubert ward.

Der Freischütz erlebte noch viele Aufführungen, so lange das dramatische Corps zusammen blieb. Die Deutschen begrüßten ihn stets mit gleichem Jubel. Die Amerikaner jedoch, denen durch den Musikverein das Verständniß für classische Musik erst erschlossen worden war, konnten sich nicht hineinfinden in das Märchen vom wilden Jäger im deutschen Eichenwald. Opern, wie „Czaar und Zimmermanns“, „Stradella“ und andere fanden großen Beifall im amerikanischen Publicum; jedoch des deutschen Meisters deutsches Werk bleibt einzig Eigenthum des deutschen Herzens.

M.


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Kleiner Briefkasten.

A. G. P. in Dr. Vollkommen mit Ihnen darin übereinstimmend, daß Zeitangaben von geschichtlicher Bedeutung stets gewissenhaft genau gegeben werden müssen, berichtigen wir gern die in Nr. 38 S. 603 der Gartenlaube enthaltenen Todesnachrichten dahin, daß Zschokke am 27. Juni 1848 und Wessenberg am 9. August 1860 gestorben ist.

An F. S. in Bamberg. Friedrich Gerstäcker ist jetzt nach Braunschweig übergesiedelt, bittet aber inständig ihn mit Privatanfragen über Auswanderung zu verschonen – er ist nicht im Stande die einzelnen Briefe alle zu beantworten.

K. in W. Die „Thüringer Geschichten“ von E. Marlitt, die beiden in der Gartenlaube abgedeckten Erzählungen: „Die zwölf Apostel“ und „Blaubart“ enthaltend, erscheinen in circa 8–10 Tagen.




Für die Hinterbliebenen der verunglückten Bergleute des Plauenschen Grundes gingen bis zum 22. September wieder ein in Summa 1495 Thlr. 15. Ngr. 3 Pf., deren specielle Quittung in nächster Nummer folgt.

Die Redaktion.



Mit einer Probennummer der "Musikalischen Gartenlaube“, Verlag von G. H. Friedlein in Leipzig.