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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[305]

No. 20.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Einen Moment starrten die Anwesenden auf der Wiese schweigend Gisela nach, dann aber schwirrten die Stimmen aufgeregt durcheinander.

Der Fürst sandte zuvörderst einen der Herren nach mehreren Wagen in das weiße Schloß; er wollte, begleitet vom Minister und von den Herren seines Gefolges, in höchsteigener Person den Schauplatz des Brandunglücks besichtigen – der alte Herr entwickelte plötzlich sehr viel Hast und Lebendigkeit.

„Aber, mein lieber Baron Fleury, waren Sie nicht ein wenig zu hart und grausam gegen Ihre reizende Pflegebefohlene?“ sagte er vorwurfsvoll zu dem Minister, während er sich anschickte, die Wiese zu verlassen, um nach dem Greinsfelder Fahrweg zu gehen, wo er einsteigen wollte.

Ein kaltes Lächeln zuckte flüchtig über das fahle Gesicht Seiner Excellenz.

„Durchlaucht, in meiner öffentlichen Stellung bin ich gewohnt, im ehernen Panzer einherzuschreiten – ich wäre ja längst eine Leiche, wenn ich nicht die Pfeile der Berurtheilung an mir abprallen ließe,“ entgegnete er leichtscherzend. „Sehr viel anders organisirt bin ich dagegen als Privatmann,“ fügte er ernster hinzu. „Ein Vorwurf, noch dazu aus dem Munde Euer Durchlaucht, schmerzt mich – ich leugne es nicht. … Ich habe in diesem Augenblick die niederschlagende Bemerkung gemacht, daß ich lediglich aus Liebe und Verblendung ein sehr fahrlässiger Pflegevater gewesen bin –“

„Klage Dich nicht allein an, mein Freund,“ unterbrach ihn seine Gemahlin mit süß beschwichtigender Stimme; „auch ich trage viel Schuld. So lange wir Gisela mit ihren Extravaganzen hinter den Arnsberger und Greinsfelder Schloßgartenmauern wußten, waren wir schwach genug, die grenzenloseste Nachsicht zu üben – ich habe gerade deshalb manch harten Strauß mit der Herbeck gehabt, die mehr Strenge angewendet wissen wollte.“

„Aber ich kann mit dem besten Willen diese himmelschreiende Extravaganz nicht einsehen,“ meinte die Gräfin Schliersen sehr gleichmüthig. „Ein etwas tollkühner Ritt – weiter nichts. … Im Uebrigen hatte die reizende Kleine augenscheinlich keine Ahnung von unserer Anwesenheit auf der Wiese –“

„Wenn ich Dir aber sage, liebste Leontine, daß sie im Stande ist, sich, so wie wir sie eben gesehen, auf dem Marktplatz in A. vor allem Volk zu zeigen!“ fiel ihr die schöne Excellenz ziemlich aufgeregt in’s Wort. „Sie springt von einem Extrem in das andere, leider – ich muß es abermals aussprechen – sehr oft in der Absicht, kleine Bosheiten gegenüber der Herbeck auszuüben. … Sie besteht z. B. heute darauf, in die Gesellschaft eintreten zu wollen – mein Gott, bei ihrer Krankheit ist ja das geradezu eine Lächerlichkeit – und eine Stunde später –“

„Spricht sie womöglich den unerschütterlichen Entschluß aus, in’s – Kloster zu gehen,“ unterbrach und ergänzte der Minister die Schilderung. Das sollte scherzhaft klingen, und doch legte er, fast wie unwillkürlich, einen ganz eigenthümlichen Nachdruck auf diesen Ausspruch.

Alle Damen lachten – nur die Gräfin Schliersen verzog keine Miene. Sie hatte jenen starren Ausdruck von Consequenz und Hartnäckigkeit im Gesicht, den die geschmeidigen Hofleute entsetzlich fürchteten – er war oft der Vorläufer großer Verlegenheiten für sie.

„Du betontest eben wieder das Leiden Deiner Stieftochter, Jutta,“ sagte sie, den Gegenstand des Gesprächs beharrlich festhaltend. „Sage mir einmal aufrichtig, glaubst Du denn in der That, lediglich auf den vagen Ausspruch des Arztes hin, daß dieses schöne Geschöpf mit dem lebensfrischen Teint und den urgesunden, kräftigen Bewegungen in seinen früheren Zustand zurückfallen könne?“

Die dunklen Augen der schönen Excellenz richteten sich unverhohlen in wahrhaft verzehrendem Haß auf das kaltlächelnde Gesicht der unerbittlichen Fragerin.

„In den früheren Zustand zurückfallen?“ wiederholte sie. „Ei, meine gute Leontine, wenn es nur das wäre, da wollte ich mich gern beruhigen, aber leider war Gisela noch nie hergestellt.“

„Davon habe ich mich überzeugt,“ rief sehr eifrig die Hofdame. „Die Gräfin zuckt mit dem rechten Arm noch genau so krampfhaft, wie damals, wo ich mich so entsetzlich vor ihr fürchtete.“

„Die unheimliche Bewegung hat mich auch erschreckt!“ versicherte die blasse, ätherische Blondine, und sämmtliche junge Damen bestätigten wie aus Einem Munde die traurige Wahrnehmung.

„Meine Damen,“ sagte die Gräfin Schliersen und neigte das Haupt graciös, aber mit unbeschreiblicher Ironie nach den jungen Damen hin, „Sie mögen Recht haben. Dagegen werden Sie mir gewiß nicht bestreiten wollen, daß die junge Gräfin sehr elegant und sicher zu Pferde saß, während ihre armen, kleinen zuckenden Hände das feurige Thier vortrefflich zu beherrschen verstanden – das Handhaben des Ballfächers erfordert bei Weitem nicht diesen Kraftaufwand. … Ich bin sicher, die reizenden Füßchen, die unter dem weißen Kleid hervorsahen, können auch ganz allerliebst [306] tanzen. ….Meinen Sie nicht auch, daß die eben entdeckte Schönheit eine prachtvolle Requisition für unsere Hofbälle sein würde?“

Sie verzichtete auf eine Antwort der Damen, die unter ihrem klugen, satirischen Blick wie die Päonien erglühten, und wandte sich an den Fürsten, der ohne Aufenthalt weiter schritt.

„Darf ich mir eine Ehrenerklärung für mein künstlerisches Auge ausbitten, Durchlaucht?“ fragte sie scherzend. „Ich erhielt vor kaum einer Stunde einen sehr ungnädigen Blick, weil ich mich unterfing, in dem häßlichen Kinderkopf der kleinen Sturm die Grundlinien eines berühmt schönen Gesichts wiederzufinden. … Wie, war es nicht in jedem Zug, in jeder Bewegung die stolze Gräfin Völdern, die wir eben in den Wald zurücksprengen sahen?“

„Ich bekenne mich überwunden,“ entgegnete der Fürst. „Die schöne Amazone stellt meine Protégée sogar in den Schatten – sie hat zwei Reize mehr: die Jugend und den Zauber der Unschuld.“

Ein leiser Wehruf der Baronin Fleury unterbrach das Gespräch. Die schöne Excellenz hatte hastig und unvorsichtig in einen wilden Rosenbusch gegriffen – ein spitzer Dom war tief in die weiche, weiße Hand gedrungen, das Blut quoll durch das dünne Battisttaschentuch, und das war ein so bedauerlicher Unfall für alle die jungen, weichen Mädchenherzen, daß sie nicht begriffen, wie Seine Durchlaucht den Brand drüben hinter dem Walde wichtiger finden und sie gerade in diesem Augenblick verlassen konnte, noch dazu in Begleitung sämmtlicher Herren.


21.

Mittlerweile stürmte der Araber durch den Wald heimwärts. War es doch, als fühle das edle, kluge Thier, daß es auf der Waldwiese die Widersacher seiner jungen Herrin zurücklasse und den Raum zwischen Beiden nicht schnell genug erweitern könne. Die feinen Hufe berührten flüchtig den moosigen Boden, es flog fast lautlos dahin – nur dann und wann erklang ein funkensprühender Stein, oder das Schnauben der Nüstern durch die Waldesstille.

Gisela ließ das Thier laufen, wie es wollte. Noch saß sie mit der stolzen, festen Haltung und zurückgewandtem Gesicht auf seinem Rücken, als gelte es, die vernichtenden Blicke des Stiefvaters, seine abscheuliche Beschuldigung abzuwehren, und die strenggeschlossenen Lippen, die jedes Wort der Entrüstung consequent zurückgehalten, lagen noch fest aufeinander – der Zug der Verachtung aber, der den schweigenden Mund in so herben Linien umschrieb, hatte sich vertieft. Während ihre eigene Erscheinung für die auf der Wiese Stehenden längst im Waldesdämmern untergegangen war, erschien ihrem scharfen Auge die ferne, sonnenüberstrahlte Lichtung am Ende des Laubganges wie ein Miniaturbild auf Goldgrund … ein Miniaturbild – ja, das war’s! Zierliche Gestalten voll Eleganz und Geschmeidigkeit, aber um Alles keine Heroen, keine Rittergestalten mit dem unleugbaren Herrscherblick und dem unverwischbaren Adelsgepräge auf der Stirn, wie ihre kindliche Phantasie von den ersten Begriffen an bis noch vor wenigen Augenblicken die gefeite Tafelrunde der Fürsten sich ausgeschmückt.

Das war also der Hofkreis, die Quintessenz der hochgeborenen Menschen im Lande, und unter ihnen der Mächtige, der die höchste Weisheit hinter der Stirn, die größte Selbstbeherrschung in der Seele tragen mußte; er war ja von Gottes Finger bezeichnet, er regierte von Gottes Gnaden, und sein Ausspruch über Leben und Tod des Einzelnen, über das Wohl und Wehe des Landes war der letzte, endgültige. Die Natur hatte mit jenem höchsten Gesetz nicht Schritt gehalten – sie hatte die Herrschermacht mit einer unscheinbaren Hülle umkleidet; die Bilder in Frau von Herbeck’s Zimmer logen, sie hauchten den Glanz hoher Geisteswürde und Majestät um das schmale Gesicht, das nur Freundlichkeit in seinen matten Augen hatte. … Und um einen Schimmer dieser Augen zu erhaschen, würde Frau von Herbeck stundenweit gelaufen sein; jedes Wort, das einst „in der glücklichen Zeit ihres Erscheinens bei Hof“ jener Mund zu ihr gesprochen, wurde heilig aufbewahrt im Reliquienschrein ihres Herzens. … Und die Großmama hatte sich die Stirn wund drücken lassen von ihren schweren Diamanten, um standesgemäß und jenes Kreises würdig zu erscheinen – sie selbst aber hatte ihre junge, einsame Seele genährt an glänzenden Bildern des Hoflebens, sie war in der Idee aufgewachsen, dermaleinst eine Erhabene unter den Erhabenen sein zu müssen. … Welche Enttäuschung! … Jener Kreis dort war nur exclusiv durch die streng festgehaltenen Gesetze der Etikette, nicht aber durch irgend einen Stempel äußerer Bevorzugung eine Landpartie gewöhnlicher Sterblicher unterschied sich in nichts von jenem Miniaturbild auf der Wiese.

Nur Einer war der Erhabene gewesen – aber er hatte auch das kindisch schäferhafte Spiel mitgespielt, über seinem tiefernsten Bronzegesicht hatten Waldblumen genickt – Waldblumen, die sie so zärtlich liebte, denen sie aber jetzt fast zürnte, weil sie einem unbewußt gehegten Bild die Weihe hoher, ernster Männlichkeit nahmen. Er hatte in dem Augenblick, wo sie auf der Wiese erschienen, seinen Hut aus Damenhänden zurückempfangen – die Hände der schönen Stiefmutter waren es gewesen, die den Hut geschmückt. …

Und dicht neben dem Portugiesen hatte ein wunderschöner brauner Lockenkopf gestanden – sie kannte dieses Mädchen – es war noch derselbe Kinderkopf, den sie einst verabscheut hatte, weil stets in die braunen Locken schreiend bunte Bänder eingeflochten waren und weil dieser Kopf nichts Anderes denken konnte, als elegante Kleider, Kinderbälle und Puppenhochzeiten. Dabei hatten die kleinen, sorgfältig gepflegten weißen Finger den armen Puß heimtückischerweise gezwickt und sehr geschickt hinter Frau von Herbeck’s Rücken Kuchen und Früchte wegescamotirt. … Jetzt war sie Hofdame und die gefeiertste und geistreichste Schönheit am Hof, wie die Gouvernante oft versicherte. … Wie war die kleine, unermüdliche Plaudertasche mit der platten Geschwätzigkeit plötzlich, zu der Himmelsgabe gekommen, die Gisela „Geist“ nannte? … Schön, blendend schön war sie geworden und, mit Ausnahme der reizenden Stiefmutter, die Einzige, die sich neben den hohen, majestätischen Mann stellen durfte. … Ob es Zufall war, daß sie an seiner Seite stand? … Oder hatten die Zwei gefunden, daß sie zu einander gehörten? …

Das junge Mädchen, „das nie heftig werden wollte“, zog plötzlich so jäh und gewaltsam am Zügel, daß das Pferd hoch aufbäumte.

Und weiter ging es im rasenden Galopp. … Das sonnenbeleuchtete Miniaturbild da hinten im Walde erlosch, und selbst das brennende Dorf, dem die Reiterin zueilte, trat mit all’ seinen Schrecknissen momentan zurück vor den zwei Gestalten, die das junge Gemüth unter den bittersten Schmerzen in sich heraufbeschwor.

Das Sonnenlicht, das plötzlich grell und sengend auf ihren Scheitel fiel, riß sie aus ihrem qualvollen Sinnen und Brüten empor. Sie hatte ziemlich das Ende des Waldes erreicht; die undurchdringlich ineinander verschränkten Aeste hoch oben in den Lüften lösten sich und ließen den weiten Himmel durch das zerfließende Blättergewebe hereinscheinen, während unten von den letzten gewaltigen Stämmen hinweg halbversengtes, krüppelhaftes Gestrüpp in das Blachfeld hinein lief.

Gisela hielt ihr Pferd an und ließ es einen Moment verschnaufen, ehe sie sich hinauswagte in die Gluth, die funkelnd und zitternd über der unbeschützten Fläche brütete.

Dort gegenüber lagen die großen Steinbrüche, die sie passiren mußte, wenn sie nicht den weiten Umweg nach der Fahrstraße machen wollte. Ein schmaler, für Reiter ziemlich gefahrvoller Fußweg lief an den Abgründen vorüber. Der Gedanke an Gefahr kam der Reiterin nicht, sie war unerschrocken und konnte sich auf Miß Sarah’s sichere Füße und klugen Kopf verlassen.

Hinter den Steinbrüchen, begann wieder der Wald – jene Linie, die sich so erquickend dunkel lang hindehnte; über ihr kräuselten durchsichtige Wolkengebilde, die hoch in der Lust schleierartig zerflossen – bei weniger heller Beleuchtung würden sie wohl schwarzgrau ausgesehen haben – es waren die Rauchwolken des brennenden Dorfes.

Eine leichte Berührung mit der Reitgerte scheuchte Miß Sarah hinaus auf das Feld – mit Gisela zugleich erschien aber auch ein zweiter Reiter am Saum des Waldes – der Mann, der nach Frau von Herbeck’s Ausspruch „wie ein Gott“ zu Pferde saß.

Der Portugiese kam vom Waldhause her, und wenn auch jetzt wieder sein plötzliches Erscheinen an die scherzhafte Bemerkung des Fürsten, daß Herr von Oliveira fliegen könne, erinnerte, so war diese zauberhafte Geschwindigkeit erklärt durch das prächtige, schnellfüßige Thier, welches er ritt – es war ein Gegenstand der Bewunderung und des Staunens für die ganze Umgegend.

[307] Miß Sarah scheute zurück vor der gewaltigen Erscheinung, die linker Hand so unerwartet aus dem Dickicht hervorbrach – die Reiterin aber erstarrte in jener Art von lähmendem Schrecken, der das Herz erfaßt beim Ertapptwerden auf unrechtem Wege. … War doch eben noch ihre ganze Seele erfüllt gewesen von ihm, der dort hervorstürmte. … Noch in diesem Augenblick hatte sie mit leidenschaftlicher Angst jeden Zug seines Gesichts, jede seiner Bewegungen sich vergegenwärtigt und jenen schönen, braunen Lockenkopf dicht daneben gehalten, um unter qualvollen Leiden nach der Beziehung zwischen Beiden zu forschen. … Das Gefühl der Abneigung gegen die reizende Hofdame war bei dieser Untersuchung zur heftigsten Erbitterung geworden, während sie es muthlos aufgeben mußte, auch ihm zu zürnen, oder gar sein Bild aus ihrer Seele zu verscheuchen. … Stand das nicht Alles auf ihrer Stirn zu lesen? …

Die Empfindung vernichtender Scham kam mit aller Wucht über sie. Die Blutwellen ergossen sich verrätherisch und unaufhaltsam über ihre Wangen – sie war verloren den dunklen, durchdringenden Augen gegenüber, wenn sie nicht floh. …

Nie hatte wohl Miß Sarah die Reitgerte so energisch empfinden müssen, wie in diesem Augenblick – sie stieg in die Höhe, dann flogen Roß und Reiterin wie toll über das Blachfeld.

Oliveira verharrte, wie es schien, unbeweglich auf der Stelle, wo er aus dem Walde hervorgekommen – außer den Hufschlägen ihres Pferdes hörte Gisela keinen Laut; das hielt sie jedoch nicht ab, ihre Flucht in unverminderter Sturmeseile fortzusetzen. … Schon tauchte ihr schwindelnder Blick in die Steinbrüche hinab, die, urplötzlich nahe gerückt, ihre Klüfte und Abgründe vor ihr aufthaten – da stampfte und schnaubte es hinter ihr – der Reiter war ihr auf den Fersen.

Mit jenem Renner, der wie ein Blitz über den Boden hinfuhr, konnten sich freilich die Füße der kleinen, zierlichen Miß Sarah nicht messen – ein Augenblick noch, und der Portugiese erschien an der Seite der jungen Dame, während er mit rascher Hand in die Zügel ihres Pferdes griff.

„Ihre Furcht macht Sie blind, Gräfin!“ zürnte er.

Sie war keines Lautes fähig. Ihre Hände, die sich widerstandslos den Zügel hatten entwinden lassen, sanken langsam in den Schooß. Das Mädchen im weißen Kleide mit dem erschreckten Gesicht, aus welchem alles Blut entwichen, saß dort wie eine Taube, die, vom Entsetzen gelähmt, dem über ihr kreisenden Todfeind nicht mehr zu entfliehen vermag.

Vielleicht drängte sich auch dem Mann, der mittels einer einzigen Bewegung die Herrschaft über Roß und Reiterin erlangt hatte, dieser Vergleich auf – ein schmerzlicher Zug bebte um seine Lippen.

„War ich zu ungestüm?“ fragte er sanfter, zog aber den Zügel noch mehr gegen sich, so daß die Pferde Seite an Seite hielten. Seltsam – Miß Sarah, die leicht ungeberdig unter fremder Hand wurde, mußte ihren Herrn und Meister erkennen; sie stand mit zitternden Beinen, sonst aber wie eine Mauer, und senkte fügsam den Kopf.

Gisela antwortete nicht – sie sah auch nicht auf. Oliveira’s braunes Gesicht war ihr so nahe, daß sie meinte, seinen Athem über ihre Stirn hinwehen zu fühlen.

„Sie haben mir bereits gesagt, daß Sie mich fürchten,“ hob er wieder an. „Ich will diese Empfindung, welche Sie vor mir, als Ihrem Widersacher, instinctmäßig warnt, durchaus nicht bekämpfen – ich darf nicht einmal, ja, so oft ich in Ihr schuldloses Gesicht sehe, möchte ich Ihnen sagen: ,Fliehen Sie mich, so weit Sie können!’ … Wir sind eben zwei jener Gottesgeschöpfe, denen vom Uranfang an auf die Stirn geschrieben ward: ,Ihr sollt Euch bekämpfen mit allen Waffen’ –“

Er hielt inne. Gisela hatte die braunen Augen groß und erschreckt zu ihm aufgeschlagen. Sein Mund, den die Linien schneidender Ironie, aber auch die eines verhaltenen Schmerzes umzuckten, sprach das Wort ewiger Feindseligkeit ungescheut aus – und doch, wie leuchteten seine gefürchteten Augen auf, als sie die ihren in einem Blick berührten!

Sie konnte diesen Blick nicht ertragen. Er zog Alles, was sie gewaltsam in sich Niederkämpfen wollte, unwiderstehlich an’s Tageslicht. Ihr war es sicher nicht auf die Stirn geschrieben worden, gegen ihn zu kämpfen – sie liebte ihn bis in alle Ewigkeit – das wußte sie. Alles, was ihr Herz in der liebeleeren Einsamkeit an reiner Gluth, an zärtlicher Innigkeit in sich aufgespeichert, gab sie ihm hin, und er stieß sie zurück – das aber sollte er nun und nimmer wissen. …

Mit namenloser Angst entriß sie ihm die Zügel. Ihr Oberkörper bog sich mit einer fast krampfhaften Bewegung nach der entgegengesetzten Seite, während ihre Augen scheu den Abgrund suchten.

Bei dieser Geberde erblaßte Oliveira.

„Gräfin, Sie mißverstehen mich –“ sagte er mit bebender Stimme, aber er brach sogleich ab, und jetzt glitt ein schönes, sarkastisches Lächeln Über sein Antlitz hin.

„Sehe ich aus wie ein Wegelagerer?“ fragte er. … „wie Einer, der ein wehrloses Geschöpf – sei es wer immer – dort hinabstoßen könnte?“

Er deutete nach dem Steinbruch.

Daran hatte ihre Seele nicht gedacht. Wie war ein solches Mißverständniß möglich, und wie sollte sie es anfangen, ihre heftige Bewegung anders zu motiviren?

Er ließ ihr keine Zeit.

„Wir müssen weiter,“ sagte er, während sein Auge am Horizont hing – die Rauchwolken verdichteten sich augenblicklich, zwei dunkle Säulen fuhren gen Himmel; das Feuer gewann sichtbar an Ausdehnung.

Oliveira sah wieder auf die junge Dame nieder – seine Züge hatten jenen entschiedenen Ernst angenommen, der ihr so mächtig imponirte.

„Ich bin eine feige Natur, Gräfin,“ sagte er weiter. „Ich kann es nicht sehen, wenn ein Pferd auf schmalem Wege an einem Abgrund hinschreitet. … Hinüber müssen wir – aber ich bitte Sie, zuvor das Pferd zu verlassen.“

„O, Sarah geht sicher! Sie scheut nicht!“ versicherte Gisela mit einem leisen Anflug ihres kindlichen Lächelns. „Ich habe ja vorhin erst die Stelle passirt – sie ist ganz und gar ungefährlich.“

„Ich bitte Sie!“ wiederholte er statt aller Antwort.

Sie glitt, gehorsam wie ein Kind, von Miß Sarah’s Rücken – in demselben Augenblick sprang auch er auf den Boden, und während sie, ohne sich umzusehen, nach dem Fußweg hinschritt, band er die Thiere fest.

Gisela schrak zusammen – er stand an ihrer Seite, als sie den schmalen Weg betrat. Ihr zur Rechten stieg die Felswand in jäher Steilheit empor, und links schritt er dicht an der Tiefe hin.

Schüchtern glitt ihr Blick seitwärts an der mächtigen Gestalt empor – es lagen in Wirklichkeit nur wenige Linien Raum zwischen ihnen, und doch sollte sie für ewig eine geheimnißvolle Kluft trennen, die nur er kannte. … Ihr einst so kalt erwägender Verstand, der die Schranken der sogenannten weltlichen Ordnung streng respectirt und sich in all’ seinen Schlüssen an sie angelehnt hatte, was war er jetzt dem überwältigenden Ausspruch ihres Herzens gegenüber? … Und wenn der Mann neben ihr seine Rechte gehoben und gesagt hätte: ,Gehe weiter mit mir, so wie Du da neben mir herschreitest – lasse Alles zurück, was sie Dein nennen und was Du doch nie geliebt hast, gehe mit mir in unbekannte Ferne und in eine dunkle Zukunft’ – sie wäre gegangen – dem Arm, der das hülflose Weib getragen, vertraute sie blindlings. … Aber jener Hochgeborne drüben auf der Waldwiese, der Diplomat mit dem eiskalten Gesicht und den schlaffen Lidern, der sie „meine Tochter“ nannte, er hatte den letzten Rest ihres Vertrauens verwirkt. … Er wußte auch, daß sie den Steinbruch passiren mußte, und doch hatte er sie förmlich dahin zurückgejagt er war keine „feige Natur“, wenn es sich um Leben und Tod handelte, ihn verließ nur die Fassung und Selbstbeherrschung dem Verbrechen der Etikettenverletzung gegenüber.

Nicht ein Wort fiel zwischen den Dahinwandernden – Oliveira’s Gesicht sah aus wie von Erz – kein Blick fiel auf das Mädchen; er hob auch die Rechte nicht, die bewegungslos niederhängend das weiße Kleid streifte, aber er schritt beharrlich als Schutz und Wehr neben ihr, und sie sah, wie ihm das Blut in die braunen Wangen schoß, wenn ihr Fuß an einem Stein abglitt und ihre Gestalt erschüttern machte.

So kamen sie an die Stelle, wo sich der Weg auf wenige Fuß breit verengte. Gisela fühlte ihre Pulse stocken – um sie [308] nicht zu berühren, hielt Oliveira consequent die Linie fest, auf der er bisher geschritten. … Die junge Dame sah, wie sich die wenigen Nesseln, die den Wegrand besäumten, unter seinem Fuß in die Tiefe hinunterbogen – sie hörte, wie die Steine und Erdbrocken sich ablösten und polternd hinabstürzten – das scheue Mädchen, das ängstlich vor jeder Berührung zurückwich, es ergriff plötzlich mit beiden Händen den Arm des Mannes.

„Ich habe Angst um Sie!“ stammelte sie mit flehendem Blick – es waren Laute der tiefsten Zärtlichkeit, in denen diese liebliche, aber keusch kalte Stimme urplötzlich ausbrach.

Er stand wie festgewurzelt, ja, wie versteinert unter der Berührung der schmalen kleinen Hände, unter der Wirkung dieser Töne. … Vielleicht lief jener grellrothe Streifen wieder über die geheimnißvoll gezeichnete Stirn, von dem man meinen konnte, er concentrire den ganzen fluthenden Lebensstrom in sich und mache momentan Herz- und Pulsschlag ersterben. … Bis da hinauf wagte sich Gisela’s Blick nicht – so hoch aufgebaut auch ihre geschmeidige Gestalt erschien, der blonde Scheitel reichte doch nicht viel über die Brust des gewaltigen Mannes, und jetzt sah sie in nächster Nähe, wie diese breite Brust mühsam nach Athem rang. Welcher Art der Kampf war, der sie hob und senkte – Gisela wußte es nicht, es blieb ihr auch keine Zeit, darüber zu denken. … Oliveira ergriff mit der Linken sanft ihre Hände, löste sie von seinem Arm und ließ sie langsam niedergleiten – die schöne, kräftige Hand zitterte heftig, aber sie übte nicht den leisesten Druck.

„Ihre Besorgniß ist grundlos, Gräfin Sturm,“ sagte er mit fester, aber vollständig klangloser Stimme. „Gehen wir weiter. … Es ist meine Aufgabe, Sie so hinüber zu geleiten, daß Sie an diesen Weg niemals mit Schrecken zurückdenken sollen.“

Davor konnte er sie nicht mehr schützen, sie mußte, so lange sie lebte, mit Schrecken an diesen Weg zurückdenken. Sie hatte sich verrathen gegen Den, der am wenigsten in ihrer Seele lesen durfte. … Und wenn auch aus jenen verschleierten Tönen unverkennbar Trauer und Resignation geklungen hatten, wenn er auch vor ihr stand, als wolle er in der That seine Hände behütend über jeden ihrer Schritte halten – das versöhnte sie nicht wieder mit sich selbst.

Sie schritt ohne Zögern weiter mit tiefgesenkter Stirn und dem dumpfen Gefühl in Kopf und Herzen, als sei plötzlich Alles zertreten, was sie Gutes und Edles in sich gehabt – die Liebe, eine himmlisch schöne Hoffnung und die eigene Würde.

Die kleine Strecke Weges, die noch vor ihnen lag, war bald zurückgelegt, und nun eilte der Portugiese wieder hinüber, um die Pferde zu holen. Während er die Thiere losband, entfiel ihm der Hut, er nahm ihn auf – gleich darauf taumelte die azurblaue Campanula, begleitet von all’ ihren farbenbunten Schwestern, in den Abgrund; Oliveira schleuderte sie mit einer unzweideutigen Geberde des Abscheues weit von sich.

Er schwang sich auf sein Pferd und nahm Miß Sarah am Zügel, die ihm wie ein Lamm folgte. … Das war freilich ein halsbrechender Ritt! … Gisela legte die Hände über die Augen – sie begriff, daß ein Mann eine Dame, und wenn sie ihm noch so gleichgültig war, nicht ohne Angst diesen Weg passiren sehen konnte.

Sie athmete tief auf, als nach wenigen Minuten Miß Sarah freudig wiehernd neben ihr stand. Sie sprang auf einen Felsblock und von da auf den Rücken des Thieres, und fort flogen die zwei Reiter, dem Walde zu.

Die Felsenwand, auf der eben eine junge stolze Menschenseele eine tiefe Wunde empfangen, badete nach wie vor ihre narbenvolle Brust in dem Gluthstrom der Julisonne – die Nesseln, auf die der Fuß des Mannes getreten, richteten sich wieder gerade und elastisch in die Höhe, und um die Steinritzen flatterten kreischend und lärmend die brütenden Vögel, welche die Menschentritte für einen Moment von ihren Nestern verscheucht hatten – lauter fröhlich aufsprudelndes, sonnendurchglühtes Leben. … Nur unten auf dem erhitzten Gestein lag verscheidend die arme, kleine, blaue Glockenblume und büßte für die verrätherische Hand, welche so wundervoll „Chopin“ spielte und einst mit so viel Grazie und Willenskraft den drückenden Verlobungsring abzustreifen verstanden hatte. …

(Fortsetzung folgt.)




Pfingstparadies im Herzen Deutschlands.

Das schönste Frühlingsfest schließt abermals „die Herzen und die Fenster auf“, lockt die Menschen aus den Mauern der Städte heraus in’s Freie und erweckt im Freien die Sehnsucht nach dem lieblichsten Schmuck der Erde, dem lenzgrünen Wald der Berge und der Thäler. Kein deutsches Gebirg aber bietet des Anmuthigen, Erquickenden und Erhabenen so viel auf engstem Raume, als unser Thüringerwald, und recht wie zum gemeinsamen Genuß für alle Deutsche ist er, in Deutschlands Herzen, nach allen Himmelsrichtungen der zugänglichste und durch des Dampfes Gewalt dem Mann der nordischen Ebenen, wie dem im Stromgebiete der Donau, dem an der Oder, wie dem am Rhein gleich nahe gerückt. Dadurch ist es auch dem Zeitbedrängten möglich gemacht, selbst in der kurzen Frist der beiden Pfingstfeiertage mit ihrem Sonnabendvorspiel den Theil von Thüringen zu durchschwärmen, in welchem zwischen den beiden berühmtesten Perlen des Gebirgs, der Wartburg und Reinhardsbrunn, der Inselsberg als Beherrscher der Wälder thront.

Je nachdem der Pfingstwanderer auf der Thüringer Bahn zuerst Eisenach oder Gotha begrüßt, trifft er die Wahl der Richtung seiner Tour. Wer schon am Sonnabend mit einem Mittagszug in Eisenach anlangt, hat vollauf Zeit, nicht nur die in unserer großen Abbildung hervorgehobene Umgebung dieser alten denkwürdigen Stadt, sondern auch das Innere der Wartburg, dem wir im Jahrgang 1867 ein eben so großes Blatt gewidmet haben, ohne Hast, ja, mit dem aus dem Altane des neuen Wirthshauses an der Wartburg gebotenen walderfrischten Wohlbehagen zu genießen. Wer den Sonnenuntergang auf der reizenden Höhe erlebt hat, freut sich, nach einer guten Nacht in Eisenach, erst recht der Herrlichkeiten der nächsten Tage. Der erste Tag führt ihn über die Hohe Sonne, Schloß Wilhelmsthal nach dem weltbekannten Waldflecken Ruhla und von da über Altenstein nach dem lieblichsten Badeort Thüringens, Liebenstein. Die Umgebungen desselben verdienen es, den Rest des Tages in Anspruch zu nehmen. Wer aber noch nie die Aussicht von einer bedeutenderen Höhe genossen und zur Abkürzung der Wegzeit einen Wagen benutzen kann, thut wohl daran, am Nachmittag noch durch das Drusenthal und Brotterode den Inselsberg zu gewinnen, weil am Abend für die Fernsicht der klarste Himmel bereit ist. Vom Inselsberg schwärmt dann der glückliche Wanderer in einem großen Naturpark bis gen Reinhardsbrunn, das ihm für den Schluß des zweiten Tages des Bewundernswerthen die Fülle und dazu die Gelegenheit bietet, am nächsten Morgen in kurzer Zeit die Eisenbahn zur Heimfahrt zu erreichen.

Wer von Gotha oder Fröttstedt her Reinhardsbrunn den ersten Besuch abstattet, widmet den Rest des Sonnabend-Nachmittags, wenn ihn nicht Gotha und seine Sehenswürdigkeiten (die Sammlungen im Schloß Friedenstein) fesseln, dem Genuß der Natur- und Kunstpracht dieses „kostbarsten Edelsteins im Diadem des Thüringerwaldes“. Er wird weder die unterirdische Pracht der Marienglashöhle, noch die waldumrauschte der Tanzbuche unbesucht lassen und vom Abtberge das freundlichste Bild von Schloß und Thal und Land in sich aufnehmen. Der Anblick der duftenden Waldberge wirkt allein schon entzückend genug, um eine wahre Gebirgssehnsucht zu wecken für die Wanderfahrt des kommenden Tages, auf welcher wir nun den rüstigen Fußreisenden bis zur Wartburg begleiten wollen.

Die Entfernung von Reinhardsbrunn bis zum Inselsberg beträgt drei Wegstunden. Wer früh aufbricht, um Auge und Herz zu erlaben, wird sie gern mehr als verdoppeln. Der Wanderer kommt aus dem idyllischen Wiesenthal in den Tabarzer Grund. Sobald er die Straße von Klein-Tabarz nach Waltershausen erreicht hat, liegt eine völlige Schweizerlandschaft vor ihm: über einem vom Lauchabach durchblitzten Wiesenteppich ragt aus einem Kranz von grünen, felsgeschmückten Höhen das Riesenhaupt des Inselsbergs empor. Von da gelangen wir in das „Felsenthal“ des Lauchagrundes, und eine Reihe von wildherabdrohenden Felskolossen

[309]

Der Drusenfall im Drusenthale, zwischen Inselsberg und Liebenstein.
Nach der Natur aufgenommen von R. Bauer.

[310] lehnt an der grünen Waldwand, von rieselnden Bächen umrauscht. Endlich öffnet das wunderbare Felsengebilde des Thorsteins uns die Pforte zum steilen Weg durch das Walddickicht, der uns zum Gasthaus und Luginsland des Inselsbergs hinaufführt.

Das Panorama des Inselsbergs gehört zu den unverwischbaren Augenweiden im Leben.

Vom Berge schlagen wir den Weg nach Brotterode über den Dreiherrenstein und durch das Thüringerthal ein, wo nach der wilden Romantik uns wieder der liebliche Frieden lauschiger Waldgründe umgiebt. In Brotterode verdienen, wie in Ruhla und Steinbach, die Bewohner ein besonderes Augen- und Ohrenmerk. Eine stattliche Hochstraße führt über das Stahlberg-Dorf Herges uns in das an wildromantischer Schönheit unübertroffene und originellste aller Thüringer Thäler: das Drusenthal. Hier sieht’s aus wie nach einer Schlacht zwischen Berg und Thal: über zweihundert Fuß steigen die dunklen Granitmassen empor und in der Schlucht liegen die zerborstenen Trümmer derselben. Hier steht der Wanderer plötzlich vor dem Original unseres zweiten Bildes: dem Drusenfall. Es verursacht der überraschenden Schönheit desselben nicht den geringsten Eintrag, daß der Drusenbach nicht eigenwillig den kühnen Sprung wagte, sondern daß er von der Hand des sinnigen Menschen an den Abgrund hingeleitet wurde. Jedermann wird den Männern danken, welche diesen Drusenfluß gerade hierhin dirigirt haben. Trotz der donnernden Großartigkeit desselben thut es uns doch wohl, wenn sich endlich die Schlucht wieder zum Thal ausdehnt und uns in dem hellen, stattlichen Liebenstein das elegante Badeleben der modernen Welt in sein buntes Wogen aufnimmt.

Liebenstein bietet genügende Gelegenheit, dem ersten Feiertage bis tief in die Nacht seine volle Ehre zu erweisen. – Der Morgen des zweiten findet uns auf dem Wege nach Schloß und Burg Altenstein mit einem zweiten Thüringer Naturpark, der mit dem von Reinhardsbrunn wetteifert. Zu seinen Sehenswürdigkeiten gehört auch die berühmte Höhle. Unter und über der Erde lockt die Natur uns hier zu poetischem Schwärmen, und es ist uns deshalb sehr gesund, daraus nach tapferem Steigen in dem großen Marktflecken Ruhla durch industriellen Hämmerlärm geweckt zu werden. Aber noch einmal werden wir, in Wilhelmsthal, in die schönen Tage dichterfürstlicher und fürstendichterischer Beschaulichkeit eines Karl August und Goethe zurückgeführt, bis wir endlich, auf der Hohen Sonne zum Rückblick auf das Bewunderte und zum Vorblick in das Verheißene erhoben, mit beflügeltem Schritt zur Wartburg eilen, deren fernaufragende Thürme uns schon in die „Wartburgstimmung“ versetzen, in der es uns so leicht wird, die Blumen der ältesten Sagen mit harterrungenen Eichenzweigen ernster Vergangenheit und Gegenwart zu einem Kranze zu verbinden. – Der Wanderer wird nicht versäumen, nach der Wartburg auch Eisenach und seine vielbesungenen Berge, Thäler und Schluchten, wie Anna- und Marienthal, Drachen- und Landgrafenschlucht, mit Andacht zu begehen. Unsere Abbildung derselben möge ihm daheim die Erinnerung auffrischen, wenn er einst im Kreise seiner Lieben seine Thüringer Pfingsten noch einmal im Geiste durchlebt.
F. Hfm.


Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.

IV.

In Ihrem überraschend erwachten Eifer für die Vorkommnisse auf dem Gebiet der deutschen Literatur, verehrte Frau, fordern Sie mich, flammend vor Leidenschaft, wie eine zweite Jungfrau von Orleans, auf, das Schwert zu ergreifen und auch meinerseits gegen Richard Wagner’s „Verunglimpfung der Juden“ zu kämpfen! „Dieser Mensch“ (Ihr Zorn läßt Sie diesen sonst in der Literatur nicht üblichen Ausdruck brauchen), „dieser Mensch will den Juden besondere Ohren und besondere Kehlen andichten, als wenn ganz Paris aus nichts als Juden bestanden hätte, als wir im Saal der großen Oper über seinen langweiligen Tannhäuser lachten und immer wie aus Einem Munde das volle Auditorium sieben, wenn nicht acht Mal an jenem unglücklichen, für die Deutschen so beschämenden Abend ausrief: Schon wieder die Pilger?! Diese Brochüre, die mir mein Mann zu lesen brachte, ist, ich versichere Sie, von Niemand anders, als vom Abbate Francesco Liszt im Auftrag Seiner Heiligkeit bei Richard Wagner bestellt, um die concordatsfeindliche österreichische Journalistik, die sogenannte ‚Judenpresse‘, noch von einer anderen Seite her in Attake zu nehmen. Der Vatican wird dem Verfasser für seine neueröffnete Judenhetze den Orden vom goldenen Sporn überreichen lassen!“

Gemach, gemach, meine theuerste Gönnerin! Nur nicht gleich so im Sturm! Vorläufig fehlt es ja an Widerspruch gegen die kleine Schrift „Das Judenthum in der Musik“ (Leipzig, Weber) innerhalb des gesammten weiland römisch-deutschen Reiches gar nicht. Wo man hinsieht, genießt der neue Hundt-Radowsky (so hieß vor fünfzig Jahren ein principieller Gegner des Judenthums) vollständig die Wonne seines von ihm gesuchten Märtyrerthums. Kreuzigt ihn! steht in allen Blättern zu lesen und „die Meistersinger von Nürnberg“ werden bei ihrem Rundgang über die deutschen Bühnen gut thun, jüdische Plätze, z. B. Frankfurt am Main, zu vermeiden, sonst würde der Schuster Hans Sachs viel Pech zu besehen haben.

An und für sich, Sie vorurtheilslose, unbefangene Frau, könnte man ja geneigt sein, manches, was Richard Wagner von einem Standpunkt aus, den er selbst als den blonden bezeichnet, gegen „Judenthum in der Musik“ vorgebracht hat, leidlich anzuerkennen. Z. B. Gesangsmanier?! Stimme?! Auch Ihnen, verehrte Frau, traue ich den Geschmack zu, sich die Ohren zuzuhalten beim Gesang jenes in Wien an einem Abend zwanzig Mal herausgerufenen Edgardo oder Severo, der früher ein Synagogenvorsänger gewesen und die Mauern Jericho’s einreißen könnte mit seiner Stimme, die einem Rennpferde gleicht, das nur für den einzigen abendlichen Wettlauf bei so und so viel Spielhonorar oder so und so viel Einnahme-Tantième seine Kräfte sammelt, einsetzt und zuletzt wieder in den Stall zurückgeführt wird, um bis zum nächsten Wettrennen in vollständigster Apathie auszuruhen. Und Compositionsweise?! Wahrlich, Meyerbeer kann doch nur relativ Ihre Wonne sein! Die „Gnaden-Arie“ ist gewiß reizend; aber was hat man nicht für Quincaillerieen bei unserem alten Freund Giacomo mit in Kauf zu nehmen! In „Dinorah“ – da sollte seine Musik um jeden Preis nun klassisch und einfach geworden sein. Sie wurde aber, ob durch die mitspielende Ziege oder die Rivalität mit Offenbach, ein reines Gemecker! Und Offenbach selbst?! Diese Schamlosigkeit, diese Cancannerie, diese Travestie und Parodie von – Schiller’s Glocke, Taucher, Bürgschaft etc. durch Itzig Veitel Stern —! O gewiß, Judenthum haben wir in der Literatur, in der Politik, warum sollten wir nicht auch „Judenthum in der Musik“ haben? Man könnte die Eigenart des semitischen Stammes auf dem Gebiet der Töne nachweisen bis in eine Fülle von Einzelheiten. Von der Eitelkeit gar nicht zu reden. In Wiens prachtvoller neuer Synagoge stand ich vor Jahren bewunderungsvoll, und der verstorbene Vorsänger der reichen Gemeinde, ein bekannter Componist, schilderte mir die Schönheit eines von ihm zur Einweihung componirten Psalms. Er intonirte einige Passagen und fragte mich mit dem ganzen seinem Stamm eignen Wohlgefallen an sich selbst: „Nicht wahr — doch reizend?!“ Ich war starr. Er meinte seine eigne Composition.

Bei alledem scheint mir Wagner’s Beweisführung grundfalsch. Der sächsische Maestro will seine Gegner vorzugsweise in den Juden finden, im schlechten Geschmack derselben, in ihrem Zusammenhalten sowohl in der Presse wie innerhalb der Gesellschaft, in ihrer Rache für – einen Artikel, den er vor Jahren in eine Leipziger Zeitschrift geschrieben hätte! Das ist in der That die Selbsttäuschung einer Befangenheit, die etwa mit dem logischen [311] Calcül eines Shakespearischen Narren sagen wollte. Die Sonne geht im Westen unter, weil der Löwe ein reißendes Thier ist! Nichts paßt von den Eingebungen seines Zorns auf seine Lage. Nichts paßt von seinen Malicen über „Judenschönheit“, „Judennasen“ etc. auf die Erklärung des Schicksals seiner Muse. Warum opponiren ihm denn, wenn dies wirklich der Fall sein sollte, so consequent die Juden? Er hätte sich sagen sollen: Weil die Juden mehr als wir Christen einen bei ihnen tiefeingewurzelten religiösen Zug haben, genannt die Pietät. Das jeweilige Negiren der Juden hebt bei ihnen ihr tiefes Bedürfniß der Anerkennung nicht auf. Wenn sich die Verehrung vor den großen Namen der Tradition, in underm Fall vor Mozart, Beethoven, Schubert, in irgend einem Theil der gebildeten Gesellschaft zu einer Leidenschaft hat steigern können, so ist es bei gebildeten Juden. Oder hat Wagner nie diese musikalischen Puristen, diese Rabbinen classischer Musik kennen lernen, die z. B. in Berlin in Quartett- oder Symphoniesoireen den Ton angeben und die dann gewöhnlich – wer wohl sind? Der erste Buchhalter eines jüdischen Bankierhauses (zufällig spielt er die Bratsche), ein jüdischer Makler mit einem schwarzen Sammetkäppchen auf dem weißen Lockenhaupte (ein regelmäßiger Habitué jeder Vorstellung des „Fidelio“), ein jüdischer Privatgelehrter (zugleich ausgezeichneter Schachspieler), ein docirender Professor (sein Fach ist Mathematik, nicht ganz das Gegentheil classischer Musik), kurz hervorragende Erscheinungen aus allen Stämmen des auserwählten Volks! Hat ihm nicht B. A. Marx die Ueberschwänglichkeit in den Stimmungen dieser conservativen Gemeinde vergegenwärtigt, dieser Gemeinde, die sich in Dresden, Prag, Wien, Frankfurt am Main, Hamburg in jedem Concertsaal, auf allen vordern Parketreihen wiederholt? Nimmt man noch das besondere Talent der Juden hinzu, schon auf drei Schritt weit jeden Schwindel zu erkennen, und die jüdische Vorsicht, sich immer erst die Faiseurs von oben bis unten anzusehen, die einen neuen Humbug in die Mode bringen wollen (in unserm Fall die Jünglinge mit den langen Zukunftsmusikhaaren), so erscheint es geradezu an Wagner wie Blindheit, daß er das Motiv der ihn verfolgenden Gegnerschaft im mangelnden Sinn – für germanisches Leben, Volkslied, in Rachen- und Gutturaltönen, in einer steten zappelnden Furcht vor Langerweile (nach Wagner gehört die Langeweile zum Eindruck eines richtigen Kunstwerks) und in allen möglichen Ausmalungen des jüdischen Wesens sucht und nicht da, wo sie allein zu finden ist, in dem treuen Sinn der Juden für alles Anerkannte und Bewährte. Wenn man Samstags eine classische Theatervorstellung zumeist von Juden besucht sieht, wenn man die rege Parteinahme der Juden beobachtet für Alles, was dem menschlichen Geist Opfer und Huldigung entgegenbringt, so ist es einfach die beim Juden viel stärker noch, als beim Christen empfundene Indignation, daß durch Wagner und seine Schule eine Tonmuse hätte aufkommen sollen, die Mozart für Zopf erklärte.

Und vollends in Nacht und Nebel geräth Wagner, wenn er auch Felix Mendelssohn-Bartholdy, diesen ihm wahrscheinlich widerwärtigsten Stein des Anstoßes, seinem Popanzbegriff von „Judenschönheit mit Knoblauchsduft“ unterordnen will! Wo ist bei diesem Zögling christlich-germanischer oder sagen wir geradezu christelnder Bildung nur ein Rest von Zusammenhang mit der Synagoge geblieben? Mendelssohn’s Großvater schon war ein Humanitätsphilosoph wie Nathan der Weise. Die zweitnächste, Mendelssohn vorangegangene Generation gehörte vollständig der Romantik an. Consul Bartholdy ließ in Rom seine Villa mit Fresken von der Hand unserer Cornelius und Overbeck schmücken. Durch Verheirathungen seiner Angehörigen kam Felix in katholisirende Verbindungen. In Düsseldorf machte er die Richtung des Convertiten Schadow mit, schloß sich den lyrisch-träumerischen, theilweise strengkatholischen Malern an. Wenn ihm der Ausdruck des Dramatischen nicht gelingen wollte, so trug eben die lyrische Richtung seiner ganzen Zeit, der Heine-, Lenau-, Anastasius Grün- Zeit, die Schuld, und allerdings dann auch die mangelnde freimüthige politische und an den großen Fragen der Zeit wenig interessirte Richtung Mendelssohns. Ist Mendelssohn’s wunderbare Kunst der Reproduction, der Vertiefung in einen gegebenen Inhalt, ob nun classisch, wie in der Antigone, oder romantisch, wie im Sommernachtstraum, oder kirchlich, wie im Paulus, irgend etwas Anderes, als die Virtuosität eines feinen, hochgebildeten, poetisch nachfühlenden Kopfes, dem, eben in Folge seiner seltenen Bildung, alles verständlich, erfaßbar und zugänglich war? Es ist geradezu sträflicher Leichtsinn, der Nation eine so edle Gestalt verzerren und ihr Schandnamen andichten zu wollen, die sie nicht verdient.

Richtiger wäre gewesen, wenn sich Wagner durch den Unmuth über den ihm, wie er glaubt, systematisch gehaltenen Widerpart hätte bestimmen lassen zu schreiben über „Die Vornehmthuerei in der Musik“. Er würde dann diesen seinen Gegenstand in zwei Theile haben zerlegen können, in die Vornehmthuerei der Capella vulgaris, der gewöhnlichen Musikmacher, die Capellmeister und Musikvereinsdirectoren an der Spitze, und in die Vornehmthuerei, die vornehm zu thun wirkliche Ansprüche hat. Hätte Wagner gegen die musikalischen Gothaner geschrieben, so würde ihm der allgemeinste Beifall zu Theil geworden sein. Denn im Grunde hat er kaum etwas Anderes sagen wollen. Die Leipziger Musikrichtung, die Wagner seine specielle Gegnerin nennt, ist die Richtung des Gotha in der Musik, des dortigen Conservatoriums, und Mendelssohn’s Stellung zur Zeit und neueren Kulturgeschichte ist überhaupt, Mit-Repräsentant einer gewissen geheimräthlich-exclusiven Stimmung gewesen zu sein, die auch in Wagner und seinen Anhängern durchaus nur das sehen will, was etwa ein Professor der Philologie und nun gar erst der neuen altdeutschen Philologie, ein Nibelungen- und Walther von der Vogelweide-Forscher, in neueren Schriftstellern sieht, die er kurzweg als „Literaten“ abfertigt.

Wir können an dieser Stelle wieder auf unser Literaturgebiet einlenken … Keine neue Literatur ist so wie die deutsche in der erschwerenden Lage, sich unmittelbar an eine für classisch erklärte anschließen zu sollen. Der Franzose hat Racine und Molière fast schon zweihundert Jahre hinter sich. Der Engländer denkt nicht daran, jetzt noch seinen Poeten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts Concurrenz machen zu wollen. Dem Italiener liegen seine classischen Vorbilder noch weiter zurück, als dem Franzosen. Nur der deutsche Autor von heute hat sich sein bescheidenes Hüttchen unmittelbar im Schatten jener Tempel anzulegen, die unsern Unsterblichen, Lessing, Goethe, Schiller, errichtet wurden. Und der Cultus dieser großen Heroen nahm seither nicht ab. Im Gegentheil, er befestigte sich erst recht, er organisirte sich, er ging in die Schulen und auf die Katheder über. Die Regeln dessen, was in der Literatur unserer Nation geboten werden soll, werden von den Schöpfungen jener Meister abgeleitet. Man kann sagen, daß noch in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts mittlere Talente, wie Körner, Houwald, Contessa, Fouqué, Hoffmann, Zschokke, für weit dem Vollkommenen ebenbürtiger galten, für berechtigter, die Aufgaben nennen wir es des Weimar’schen Zeitalters fortzusetzen, als diesen mehr oder weniger Vergessenen gegenwärtig noch eingeräumt wird.

Ewiger Ruhm sei unsern großen Geistesbefreiern und Geistesbildnern dargebracht! Nicht nur in todtem Marmor aufgefangen erstarre unsre Bewunderung vor ihnen und verwandle sich in einen kalten Tribut des Herkömmlichen oder des nur Sichgeziemenden. Nein, ein lebendiger Cultus bleibe unsre Verehrung, ein Opferdienst mit langhinwallenden Wolken voll süßen Wohlgeruchs! Was wären wir ohne euch, ihr erhabenen Schatten, die ihr walten möget als die Schutzgeister über den Geschicken eures Volks, so lange der deutsche Eichwald braust, so lange freie deutsche Ströme niederwallen vom schmelzenden Alpenschnee bis zur mövenumflatterten Bucht der deutschen Meere! Erhalte sich in ewiger Jugend, was ihr geschaffen! Die jetzt vom Privilegienzwang befreite Verbreitung eurer Werke hat diesen die Möglichkeit gegeben, bis in die ärmste Hütte zu dringen und Goethe’s Faust und Schiller’s Gedichte nicht allzuweit abgelegen von der Bibel finden zu lassen. Aber – preisen wollen wir darum dennoch einen andern Fortschritt unsrer Zeit, der in einem Abschließenwollen der unbedingten Hingegebenheit unsrer Nation an ihre classische Literaturperiode zu liegen scheint. Die nicht ermüdende Beschäftigung mit dem Vergangenen verwandelt sich nachgerade in eine Art Orthodoxie.

Alle Textkritik, alles Herausgeben von Briefwechseln, alle Commentare und was nur gründliche Forschung oder bloße Industrie zur Anhäufung von Material für die Ergründung jener classischen Zeit beibringt, es kann nicht mehr die Ueberzeugung feststellen, daß die Leistungen jener Zeit allen Bedürfnissen des menschlichen Geistes und zumal allen Sehnsuchtsgedanken der [312] deutschen Nation selbst schon vollkommene Genüge gewährt haben. Gleichgültig schon wurde vor einigen Jahren Karl August’s und Goethe’s Briefwechsel aufgenommen. Es werden täglich immer wieder Versuche gemacht, uns durch Bild und Wort mitten in die alten literarischen Zustände zurückzuführen, die großen Persönlichkeiten uns in Situationen zu zeigen, die annähernd einige Wahrscheinlichkeit für sich haben. Es bedürfte aber nur eines gelegentlichen Einfalls einer befähigten Feder, um diese Arbeiten als reine Phantasiestücke hinzustellen, die, wenn sie bedeutend sind, eben so auch schon wieder aus einem neuen Geist, einem fortzeugenden und der Nation neue Errungenschaften zuführenden Trieb entstanden sind und entstehen. So ist ja auch die Wagner’sche Wiederbelebung der Romantik eine andere als die Romantik selbst, leider, wie uns scheint, eine zu doctrinäre und in den „Meistersingern“ geradezu schulbuchmäßige.

Geheimerathsliteratur, Schulcompendienpoesie, Philologenwonne - auf diese steuerte so recht die Zeit hin, als Mendelssohn componirte. Tieck lebte damals noch und an Kritikern auf hohen Rossen war kein Mangel. Man hatte akademische Träume, selbst für unsre schöne Literatur. Man dachte sich Poeten möglich, die gleichsam, wie von den Töchtern der Frau Crelinger gesagt wurde, als diese zur Bühne gingen, schon mit Glacéhandschuhen auf die Welt gekommen sind. Man vergaß, daß Frankreichs Akademie eine ganz andere Erfahrung lehrt. Bei jeder neuen Besetzung eines erledigten Stuhls derselben kämpfen jetzt zwei Parteien, eine, die eine Literatur der überlieferten Regelmäßigkeit schützen und befördern will, eine andere, die dem wildwachsenen, durch die praktischen Zwecke der Literatur geleiteten, individuell entwickelten Talent die akademische Auszeichnung gönnt. Und siehe da! die letzte Partei siegt. Die Akademie bequemt sich, sich in Autoren zu finden, die ihren eignen Weg gegangen sind. Bei uns hoffte man noch bis in die neueste Zeit auf die Resultate künstlich-classischer Fischzucht. Die Bühne sollte das „beste“ der gelieferten Dramen krönen, und wenn es nur so im deutschen Dichterwald gegangen wäre, einige junge Poeten waren bereit, sich um den vacanten Goethe-Thron zu bewerben. Einen Talentvollen gab es, von dem man gesagt hat, seine Eltern hätten ihn eigens zu einem künftigen Goethe erzogen. Aber mit Bildung und Vornehmthun allein läßt sich nichts erreichen. Man setzt da wohl einen Schritt hinaus auf das glatte Parquet der Erfolge und der Fuß tritt fest und sicher auf, zumal wenn fürstliche Huld mit Titeln und Orden zu Hülfe kommt, und schon beim zweiten kommt der Zukunfts-Goethe wie jeder Andre zu Fall. Manche fingen da an recht menschlich zu reden. Sie schrieben Dramen mit dem Programm: Erst gewinn’ ich mir mein Publicum durch etwas Zuthat Birchpfeiffer! Hab’ ich’s, dann soll man den neuen Shakespeare sehen! Man wartet seither auf diese letzte Enthüllung vergebens, und ein „gekrönter“ Dramatiker, Namens Lindner, hat es inzwischen schon umgekehrt gemacht. Er fing mit dem „neuen Shakespeare“ an und arbeitet jetzt für die Berliner Wallnerbühne. Während einige deutsche Fürsten das Theater auf den Hund bringen, hat er den guten Gedanken gehabt, Karl August von Weimar zu schildern, der einen Hund auf’s Theater brachte. Der letzte ästhetische Gothaner, der etwas vorstellt, möchte vielleicht Emanuel Geibel sein. Dieser versuchte in München eine Fortsetzung der alten Weimarzeit und wäre ganz ein Mann nach dem Herzen Ihres kürzlich verstorbenen alten Akademikers Nisard gewesen, der nur Fabeln und Eklogen gedichtet haben wollte – vor einigen zwanzig Jahren rief er einen Sturm in der Pariser Presse hervor durch seine Bezeichnung der neuen französischen Literatur als la littérature facile. Nun, auch Geibel, dieser in so wunderbarem Farbenglanz prangende Vogel, ein Sänger des gewähltesten Ausdrucks, immer sinnig und bedeutend in seinen Zwecken. klug und weise in den Zuspitzungen seines Effects und besonders den Frauen ein Name süßesten Klanges, recht ein Felix Mendelssohn in der Literatnr – dieser nun flattert im Drama von Stoff zu Stoff, ohne es darin zu jener welt- und herzbezwingenden Wirkung bringen zu können, die dem Drama zu Theil werden muß. wenn es sich lohnen soll, an dieser Stelle mit den Bevorzugten der Tagesgunst zu wetteifern …

Vielleicht gewinnt Richard Wagner einen neuen Standpunkt für die Aufklärung und Ergründung der Quellen seiner von ihm vorausgesetzten Unpopularität, einen Standpunkt, der dann zu gleicher Zeit auch der Literatur und all’ unserer sonstigen Culturgeschichte zu Gute käme und auf welchem man vollkommen seiner Richtung einen leidlich siegreichen Durchbruch und manchen Triumph wünschen könnte wenigstes über die vulgäre Traditionsmusik und – die Vornehmthuerei. Möge ihm dann seine diesmal falsch gewählte Spur, die Abirrung in’s Ghetto, vergeben und vergessen sein!




Ein parlamentarischer Abend bei Bismarck.

Die Ueberraschungen, die Bundesrath und Abgeordneter des norddeutschen Bundes, Regierungscommissar und Preßmensch zu Hause finden, wenn sie nach heißem Tagewerk und spätem Abendessen zu ihren Berliner Penaten pilgern, sind nicht übermäßig trostreich. Sie beschränken sich in der Regel auf ein umfangreiches Paket von Drucksachen, welches die nächste Tagesordnung des Reichstags und eine Ueberproduction von neuen „Verbesserungsanträgen“ zur Gewerbeordnung etc. enthält, – nicht selten auch Verschlechterungsanträge, zu denen sich ein Hochtory oder ein Socialdemokrat des Hauses ermuthigt fühlt und an denen das Beste ist, daß sie nur die Zeit des Lesens verschlingen und mit „sehr großer Majorität“ abgelehnt zu werden pflegen, wie der Präsident Simson jeweilig zu erhärten liebt. Auch Briefe, und namentlich Briefe von zu Hause, bilden nicht selten einen integrirenden Theil der geistigen Nachtmahlzeit.

Man mag sich daher unsere Ueberraschung denken, als jüngst aus einem der Nachts vorgefundenen Couverts sich folgende Einladung herausschälte: „Graf Bismarck-Schönhausen wird dankbar erkennen, wenn der Bundesrath, Abgeordnete, Geheime Regierungsrath so und so ihn vom 24. April d. J. ab Abends neun Uhr jeden Sonnabend während der Dauer der Reichstagssession besuchen wird.“ Die Einladung liegt uns im Urtext augenblicklich nicht vor, aber wir können beim Styx beschwören, daß dies der gastfreie und sinngetreue Inhalt ist.

„Was thun? spricht Zeus,“ fragte in diesem Falle nur der reine Socialismus. Alle anderen Parteien des Reichstags, auch der kleinste Bundesrath aus dem kleinsten Bundesstaate, waren sofort mit sich einig, der Einladung zu folgen. Das Verhältniß des Reichstags und Bundesraths zum Bundeskanzler ist ja dieses Jahr ein so überaus vortreffliches, so viel besser als die letzten Tage des April 1868 durch den bekannten Reichstagsbeschluß vom 22. April 1868 sich gestalteten. Damals die Bundesanleihe verclausulirt durch das Verlangen parlamentarischer Verwaltung und Controle, damals Flottentrüstungsterrorismus, und heute eine durch die vereinigten liberalen Parteien des Hauses so gründlich verbesserte Gewerbeordnung, daß dem Bundeskanzler im Stillen das Herz im Leibe lacht, eine Reihe von Antragen, auf Redefreiheit der Einzelkammern, auf verantwortliche Bundesministerien, auf Uebertragung des ganzen bürgerlichen Rechts an den Bund, die sammt und sonders trotz der widerstreitenden Auslegung der feudalen Zeitungen Preußens sich gezeigt haben als große und theilweise entschiedene Vertrauensvoten der norddeutschen Volksvertretung für die Politik der Bundesregierung. Giebt es einen natürlicheren Gedanken als den, daß der Kanzler die Vertreter der Nation, die ihn zum allergrößten Theil freudig begleiten und stützen auf dem steinigen Pfade deutscher Politik, den er einhergeht, bei sich am häuslichen Heerde versammelt, um einmal auch die Stunden fröhlicher Muße mit ihnen zu verleben, wie die der schweren täglichen parlamentarischen Arbeit; einmal in munteren Scherzen sich zu messen, statt in dem schweren Geschütz der stenographirten europäischen Reden im norddeutschen Parlament? Dasselbe Bedürfniß empfand fast jeder Abgeordnete und Bundesrath und sonstige Mitarbeiter an der Bundesgesetzgebung wohl in gleichem Maße.

In Allem, was den Bund angeht, pflegen die Stunden mit militärischer Genauigkeit eingehalten zu werden. Von dieser bundestreuen Voraussetzung ausgehend, verfügte ich mich alsbald nach neun Uhr Abends nach dem bekannten unscheinbaren einstöckigen [313] Hause in der Wilhelmsstraße, das der preußische Staat seinem Minister des Auswärtigen als Amtswohnung anweist und das auch den Grafen Bismarck in seiner dreifachen Eigenschaft als Minister für Lauenburg, preußischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler beherbergt. Wenn einmal die Bundesverhältnisse auch äußerlich ausgebaut sind durch den projectirten prächtigen Bundespalast in der Wilhelmsstraße, wird wohl auch dem Kanzler des norddeutschen Bundes als solchem ebenso eine besondere Amtswohnung eingeräumt werden, wie dem Reichstag ein anderes Sitzungslocal als die Räume des preußischen Herrenhauses. Uebrigens befindet sich die Kanzlei des Bundeskanzleramtes schon jetzt nicht in Bismarck’s Hôtel. Hier ziehen sich im Erdgeschoß des langgedehnten schmucklosen Gebäudes die Arbeitsgemächer der preußischen Ministerialbeamten hin. In der ersten und einzigen Etage dagegen befinden sich die Arbeits- und Empfangsräume Bismarck’s und die Privatgemächer der Familie. Hinter dem Hause prangt einer jener wundervollen alten, tiefen und schattenreichen Parks, zu denen nie der betäubende Lärm der gewaltigen Stadt dringt, wie sie die Krone Preußen zwischen der Wilhelms- und Königgrätzer Straße und wieder zwischen dieser und der Leipziger Straße zusammen über hundert Morgen groß besitzt.

Am Eingangsthor standen die unvermeidlichen zwei Schutzleute, die Eintretenden ehrfurchtsvoll grüßend. Es war kaum ein Viertel auf zehn vorüber, als ich eintrat. Mir fiel ein, wie sehr das Wartenlassen in Berlin bei Einladungen zum guten Ton gehört, und mich befiel die Besorgniß, ich möchte dem Kanzler oder seiner Gemahlin als der erste Gast gegenübertreten. „Sind schon Herren da?“ fragte ich den Schutzmann. „Ja woll, viele,“ war die Antwort. Meine Garderobenummer war einhundertvierundsechszig! An zahlreichen Dienern in schwarz-weißer Livree vorüber führt die stattliche Freitreppe zum ersten Stockwerk. Man tritt in ein behagliches, fein meublirtes Empfangszimmer. Wer da der Audienz harrt, mag sich in Muße der schönen Harmonie der modernen rothseidenen Tapeten, Teppiche und Pfühle erfreuen und darüber nachdenken, in welchen merkwürdigen Beziehungen der ausgestopfte springende Hase auf dem Büffet mit der Familie Bismarck steht. Uns fesselte ein freundlicherer Anblick: die Gemahlin des Kanzlers. Eine hohe vornehme Gestalt, mit energischen, aber gefälligen Zügen, in modischer Toilette von gewählter Einfachheit stand sie, jeden Ankömmling mit tiefer Verbeugung bewillkommnend. Sie befand sich dicht vor der Draperie, an welcher vorüber der Blick in die Gemächer der Familie schweifte – äußerlich durch ihre Stellung an diesem Platze, an der Verbindungsthür der Familien- mit der Staatswohnung, schon die hohe Würde der deutschen Frau bekundend, der kein anderes Volk eine gleiche an die Seite zu stellen hat. Denn nur die deutsche Frau waltet so frei und schön im Hause, in der Familie, als deren Seele sie sich darstellt jedem Gaste gegenüber, nur die deutsche Frau nimmt zugleich hervorragenden geistigen Antheil an den Arbeiten, an dem Ringen und Streben des Mannes; nur sie vermag ihm die Stirn zu glätten, die des Lebens Widerwärtigkeiten ihm furchen; zumeist trachtet sie das alte homerische Wort zu erfüllen von der Bestimmung der Mutter, der Nachwelt ein Geschlecht von Kindern zu überliefern, das an edler Menschensitte und Arbeit womöglich noch Tüchtigeres leisten soll als die Eltern. Und wie treulich hat diese deutsche Frau ihrem Gatten zur Seite gestanden vom Anbeginn seiner politischen Laufbahn! Ich weiß nicht, auf welche Mittheilungen sich die Nachricht gründet, die eine mir eben zugehende Chicagoer Zeitung bringt, daß die Gräfin Bismarck der Geheimsecretair ihres Gatten sei. Aber das ist mir als oft wiederholte Erzählung einer bejahrten Schaffnerin des Hauses berichtet worden, wie die Gräfin ihren Gemahl immer mit neuem Muth und Trost zu erfüllen wußte, als dieser auf dem kleinen Gute Schönhausen in der trübseligsten Zeit, die Deutschland seit fünfzig Jahren gesehen, seine Tage mißmuthig dahinlebte, als verborgener preußischer Landjunker sich an seinen großen politischen Gedanken selbstverzehrend.

Doch eine Anzahl älterer Bekannten sammelte sich um die Gräfin. Jetzt war keine Zeit zur Vorstellung. Nach rechts strömte der Zug der Einwanderer in das Billard-Zimmer, dessen Fenster nach der Straße gehen. Nach links ist ein flüchtiger Blick in Bismarck’s Arbeitscabinet gestattet. Das Fell eines vom Grafen selbst erlegten Bären liegt vor dem Sopha des Billard-Zimmers. An einer der Wände steht die wundervolle Porcellanvase mit des Königs Bild und Schloß, die König Wilhelm dem Kanzler nach den Kämpfen des Jahres 1866 verehrte.

Die Versammlung und die Hitze wuchsen mit jeder Minute. Der Graf, sagt man, ist im großen Saal. Wir eilen dorthin. Hart am Eingang steht unser Wirth, in lebhaftem Gespräche mit seinen Gästen, doch aufmerksam jeden neuen Ankömmling freundlich grüßend; oft reicht er die beiden Hände zugleich nach rechts und links. Er sieht so wohl, so munter aus! Das ist immer der erste Gedanke, wenn man den Mann wieder erblickt, dem auch die Demokratie bedeutende Arbeitskraft und Thätigkeit niemals absprechen wird. Sein Gesicht hat mit seiner langen Villeggiatur in Varzin wieder Farbe gewonnen, die Augen sind nicht mehr so tief beschattet durch die Wolken der gefurchten Stirn und zugleich durch die außerordentlich langen Brauen wie voriges Jahr. Die historischen drei Haare sind freilich längst in’s Meer der Zeit gesunken, die Stirn ist fast ganz kahl, und namentlich das Hinterhaupt würde keinem mehr die volle Locke zeigen, an der Braun im constituirenden Reichstag gemahnte, das wandelnde Glück Deutschlands zu fassen.

Aber dafür ist sein Haar von jenem germanischen Aschblond, dem Niemand die Jahre des Trägers ansehen kann. Und seine Haltung ist stramm und fest bei seinen vierundfünfzig Jahren trotz des Jüngsten in der Versammlung. Er trägt auch an diesem Abend sein bequemstes Kleid, die Uniform, aber wohl schwerlich ganz vorschriftsmäßig. Moltke lächelt mit den feinen schmalen Lippen, als er des Grafen militairischer Decolletirung ansichtig wird. Denn der kurze Waffenrock steht offen, von Degengurt und Degen ist nirgends die Rede, und eine einfach schwarze Tuchweste bekleidet die Brust des Grafen. Auch nur gerade die unentbehrlichsten Orden sind aufgesteckt, darunter kokett einige kleinstaatliche. Sind die Herzen der eingeladenen kleinen Bundesräthe einzufangen? Wer Bismarck sich nach den Bildern denkt, die von ihm cursiren, oder selbst wer ihn im Reichstag hatte reden hören, wer ihm auf seinen Spaziergängen begegnet ist, kennt ihn nur von der officiellen Seite, als Staatssorgen- und Würdenträger. Aber hier, innerhalb seiner vier Wände, inmitten der behaglichen Muße, in einem Kreise berühmter und patriotischer Männer, die mehr oder weniger sein Werk berathen, bekämpfen oder fördern halfen, da lernt man den Menschen, den vortrefflichen Gesellschafter im Grafen kennen. Mir haben oft Besucher der Tribünen des Reichstags und Zollparlaments, wenn sie Bismarck sprechen gehört, erklärt, sie seien durch nichts so enttäuscht worden, wie durch die Klangfarbe seiner Stimme. Seine Höhe, seine Brauen, seine Stirn, seine Brustweite, Alles sei viel gewaltiger, als sie gedacht, aber diese Stimme habe auch bei der trockensten Darlegung und beim größten Affect etwas so ungewöhnlich Weiches und Einschmeichelndes. Die Bemerkung ist richtig. Man hört aus den Worten des Grafen, trotz der großen Mäßigung seiner Reden, immer am Klang der Stimme seine augenblicklichen Empfindungen heraus. Und niemals directer und unmittelbarer als an solche Abende! Jetzt tritt er an unsern Kreis heran.

„Ich habe die Herren gern einmal bei mir sehen wollen. Man kann sich da so viel leichter sprechen und verstehen, als im Reichstag.“ Dabei gab er reihum die Hand. „Und außerdem, wenn Sie das Bedürfniß empfinden, mich oder einen Bundesrath oder Regierungscommissar zu interpelliren, so macht sich das hier meist in fünf Minuten in einer Ecke ab.“

Der Graf hatte Recht. Niemals noch in dem Maße wie in dieser Reichstagssession hatte sich die Nothwendigkat vertraulicher Verständigung herausgestellt. Den aus Anlaß des Twesten-Münster’schen Antrags auf verantwortliche Bundesminister waren die schreiendsten Dissonanzen zwischen Bundesregierung und Reichstag im Anzug gewesen, lediglich aus dem Grunde, weil jede Partei die Absicht der anderen nicht verstand. Bismarck war ärgerlich, weil er annahm, man wolle ihn durch die Zugabe des Herrn von der Heydt und seiner Collegen „abmeiern“, der Bundesrath, weil man durch das Verlangen nach einem Bundesministerium den Particularismus wider die Wolle streichelte, der Reichstag, weil er „auch gar nichts mehr kriegen“ sollte. Und schließlich, nach fünfstündiger heißer Redeschlacht, erklärte Bismarck unter anhaltender Heiterkeit des Hauses, er und Lasker seien ganz einer Meinung; sie hätten das leider nur bis dahin nicht gewußt.

[314] Der Graf wurde heute sofort beim Wort genommen. Durch die Reihen der Räthe und Abgeordneten drängte sich mühsam die umfangreiche Gestalt des tapferen „rothen Becker“, so roth an Haar wie an Gesinnung, aber ein lebendiger Beweis dafür, daß auch der geborene Demokrat und Agitator es zu einem höchst anständigen Leibesumfang bringen kann. Becker hatte sich heute im Reichstag selbst übertroffen. Er, der ständige Referent des Abgeordneten-Hauses und des Reichstags über Post-, Telegraphen- und Eisenbahnsachen, hatte den unglaublichen Mißbrauch drastisch geschildert, der Seiten der deutschen Fürstenhäuser mit der Paketporto- und Telegraphengebührenfreiheit getrieben wird. Er hatte geschildert, wie der ganze fürstliche Küchenzettel vom Koch telegraphisch gebührenfrei requirirt wird; wie endlose telegraphische Kleiderbestellungen zwischen den deutschen Höfen und Paris kostenfrei hin- und hergehen; wie der Bürgersmann, von dessen Depesche vielleicht Gut und Leben abhängt, warten muß, bis der fürstliche Koch für einen Thaler Petersilie durch den Telegraphen bestellt hat; wie dann all’ die umfangreichen bestellten Pakete portofrei an den Ort ihrer Bestimmung versandt werden müssen. Und schließlich hatte er zur großen Erheiterung des Hauses aus dem genealogischen Kalender nachgewiesen, daß in Lippe allein sechszig Prinzen und Prinzessinnen mit angeborener Portofreiheit existiren.

Jetzt pflanzte er sich vor dem Bundeskanzler auf, wie gewöhnlich die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und sah ihn mit einem Gesicht an, auf dem geschrieben stand: Nun, haben Sie von all’ diesem fürstlichen Unfug mit der Telegraphen- und Portofreiheit schon eine Ahnung gehabt?

Aber Bismarck lachte herzlich und sprach: „Glauben Sie mir, ich weiß noch viel tollere Dinge.“

„Nun, so erzählen Sie doch, Excellenz,“ sagte der ‚rothe Becker‘ mit großer Behaglichkeit.

„Ja, das kann ich nicht,“ erwiderte Bismarck, „ich habe die Mittheilungen vom Generalpostdirector von Philippsborn – der weiß noch viel tollere Dinge als ich.“

Eine Gruppe Gäste drängte sich zwischen uns und die Sprechenden. Ein Diener reichte Thee, sonderbarer Weise ohne Rum; so wenig hatte Bismarck während seines langjährigen Aufenthaltes in Petersburg russische Sitte angenommen. Beim Zurücktreten nach der Wand wäre ich beinahe gestürzt. Ein ungewöhnlich großer Gegenstand lag am Boden: der Kopf und das Fell eines Elenthieres, das Bismarck gleichfalls selbst erlegt und als Teppich vor dem Sopha seines Salons ausgebreitet hatte. Die Wände zeigten gelbe Gobelins mit chinesischem Muster und entsprechendes Meublement.

Die Versammlung hatte sich nach und nach fast ausschließlich in dieses Gemach gezogen. Abgeordnete, vortragende Räthe, Minister, Admiräle, Bundesräthe, Alles wogte durcheinander. Nichts von der Reserve und Etikette, mit der sonst die Excellenzen dem Volksvertreter gegenüber sich zu umgeben lieben, nichts von der Absonderung nach Landsmannschaften und Parteien, die sonst im Reichstag überall zu Tage tritt. Nur wenige Uniformen sind in der Versammlung sichtbar. Alle die Ecken, in denen nach Bismarcks Wort die großen Staatsactionen in fünf Minuten abgethan zu werden pflegen, waren mit eifrig flüsternden Gruppen von Abgeordneten und Bundesräthen oder den Führern verschiedener Parteien besetzt. Die Gespräche in unserer Nähe wurden laut und ohne Rückhalt geführt. Denn hier lauert nicht wie hinter jeder Thür und in jedem Erholungszimmer des Reichstags und Bundesraths meuchlings das Ohr des gedungenen Preßknechts, dessen schwierige Aufgabe es ist, die Entenzucht künstlich zu betreiben und die Saure-Gurkenzeit der Welt womöglich zu vertuschen. Hier hätte er sich auf Jahre mit Stoff versorgen können! Mit einem Male wäre hier von seiner sündigen Seele der Fluch wahrheitswidriger Anekdotenbildung genommen worden.

„Wer ist der dicke Herr hier mit der blühenden Wäsche, dem blauen Frack mit den goldenen Knöpfen, dem pfundgroßen nagelneuen Adlerorden dritter Classe und dem mühsam verhüllten morgenländischen Typus?“

„Den kennen Sie nicht? Diesen Mann, den der Sohn Bismarck’s in seiner jüngsten Stilübung als den größten seines Jahrhunderts feierte, diesen Vater von Millionen – Eisenbahn-Actien, den kennen Sie nicht? Wohlan, Sie sehen vor sich den Dr. Strousberg, geborenen Baruch Hirsch Strausberg, in Firma Dr. Ujest, Herzog von Strousberg und Comp. Soll ich Sie vorstellen?“

Aber der Geschilderte hatte sich dem argen Spötter v. Unruh-Magdeburg, dem Präsidenten der constitutionellen preußischen Nationalversammlung von 1848, schon genähert.

„Ich weiß ein hübsches Geschäft für Sie, College,“ sagte Unruh. „Kaufen Sie sich den Abgeordneten für die große Seestadt X. zu dem, was er werth ist, und verkaufen Sie ihn zu dem, für was er sich hält.“

„Werd’ ich verdienen neunundneunzig Prozent,“ lachte Strousberg.

Das finanzielle Alterego des großen Eisenbahnbarons, der Herzog von Ujest, war jetzt auch in die Nähe getreten; er ist Vicepräsident des Reichstags, fünf Stimmen waren bei seiner Wahl aus Versehen auf den Dr. Strousberg gefallen.

Jetzt tauchte neben ihm auch das ehrwürdige Haupt Simson’s auf, des ewigen Präsidenten aller deutschen Parlamente.

„Kennen Sie das beste Mittel, den Franzosen Respect einzujagen?“ fragte mein Nachbar. Ich dachte an die Million unserer Krieger. Er aber fuhr fort: „Sie brauchen den Franzosen nur das Eine zu sagen, daß unsere drei Präsidenten Simson, Ujest und Bennigsen zusammen siebenundzwanzig Kinder haben, jeder neun.“

Inzwischen war zur Erfrischung der Gäste Maitrank und aus prachtvollen silbernen Humpen schäumendes Bier geschenkt worden. Aber die Hitze wurde immer empfindlicher. Freund Lasker brachte zuerst das Amendement ein, die weißen Handschuhe auszuziehen, und wie die meisten Lasker’schen Anträge fand der Vorschlag zahlreiche Unterstützung unter den Abgeordneten, diesmal sogar unter den Bundesräthen. Nun luden auch die näheren Freunde und Verwandten des Kanzlers zum Eintritt in das letzte der Reihe von Gemächern, die man bis dahin durchschritten hatte, in den Speisesaal des auswärtigen preußischen Ministeriums. Dieser Saal, ein längliches Rechteck, stößt im rechten Winkel auf den zuletzt geschilderten Salon; nur seine Schmalseite geht nach der Straße. Die äußere Ausstattung dieses Speisesaals weicht von derjenigen aller übrigen Wohnräume des Grafen erheblich ab. Dieser Saal nämlich ist unverändert so gelassen, wie Bismarck ihn von seinem Vorgänger überkommen hat; und wohl seit fünfzig Jahren ist dieser Raum unverändert geblieben. Da hängt noch derselbe schwerfällige Kronleuchter mit achtundvierzig Kerzen, da ziert ringsum an den Wänden noch dasselbe weiße Getäfel mit Goldleisten, dieselben muschelförmigen Lichtspiegel, dieselben gelben Marmorwände, wie unter Hardenberg und Manteuffel und Schleinitz. „Das letzte Mal war ich unter Manteuffel hier,“ sagte der ehrliche alte Graf Schwerin, der Minister der „liberalen Aera“, zu mir, wie immer die Hände in den Hosentaschen.

Die erste Scheu vor dem Zulangen nach den lieblichen Rehrücken und Filets, Mayonnaisen und italienischen Salaten, die auf der Mitteltafel prangten, war bald überwunden. Auch der ehrliche sächsische Geheimerath, der noch vor drei Minuten die Einladung mit den Worten: „nee, ich danke scheene,“ und einer gemütlichen verneinenden Rückwärtsbewegung vom Buffet abgelehnt hatte, war jetzt dem Kriegspfad der Pioniere des Essens gefolgt. An ein Sitzen während der Mahlzeit war nicht zu denken. Man ergriff einen der Teller, die auf der Tafel über einander geschichtet waren, und das nöthige Handwerkszeug und machte sich stehend mit den verschiedenen Herrlichkeiten vertraut. Nur einer Anzahl sächsischer und rheinischer Particularisten war es gelungen, sich an einem Tische seßhaft zu machen und sich hier gegen die annexionistischen Tendenzen des norddeutschen Bundesappetits zu verschanzen. Sie ließen sich ihren Mundvorrath nur durch den bundesstaatlich-constitutionellen Apparat der Bismarck’schen Dienerschaft reichen.

Indessen, ich habe immer gesagt, der Rehrücken ist der größte Verführer zu Jagdgeschichten; und das bestätigte sich auch diesmal. Mein verehrter Freund, Apotheker Neubronner aus dem vormaligen Herzogthum Nassau, den gewiß Niemand für einen mordsüchtigen Jäger von Profession halten wird, hatte, als er Bismarck vorgestellt wurde, daran erinnert, wie sie weiland, als Bismarck Bundestagsgesandter in Frankfurt gewesen, zusammen in der Nähe Frankfurts gejagt hatten.

„Ach, ja wohl,“ erwiderte Bismarck und schilderte nun den umstehenden, meist der annectirten Provinz Nassau angehörigen Abgeordneten die ihnen bekanntesten Persönlichkeiten Nassau’s und [315] Frankfurts jener Tage mit einer Lebendigkeit und Lustigkeit, daß die Heiterkeit dieser süddeutschen Gruppe die allgemeinste Aufmerksamkeit erregte. Namentlich war es die Schilderung des „dicken Daumer“ mit seiner kolossalen Todesfurcht, welche die Söhne des jetzigen preußischen Regierungsbezirks Wiesbaden entzückte. Dann fuhr Bismark fort:

„Mit diesem ‚dicken Daumer‘ war ich eines schönen Herbstmorgens in der Nähe von Frankfurt auch auf der Jagd gewesen. Als wir uns am Rande des Waldes hoch im Gebirge zur Rast niedersetzten, entdeckte ich zu meinem Schrecken, daß ich kein Frühstück mit hatte. Der ‚dicke Daumer‘ dagegen zog eine mächtige ‚Wurscht‘ hervor, die für mich allein gerade ausgereicht hätte und von der er mir edelmüthig die Hälfte offerirte. Das Mahl begann; ich sah das Ende meines Wursttheils herannahen. Ich hätte vor Wehmuth frankfurterisch reden mögen. Da frage ich den ‚dicken Daumer‘ von ungefähr: ‚Ach sage Sie mir, Herr Daumer, was is doch das Weiße da unne, was aus de Zwetschebaim herausschaut?‘

‚Gott, Exellenz, da möchte Eim ja der Appetit vergehn – das is der Kirchhof.‘

‚Aber, lieber Herr Daumer, da wollen wir uns doch bei Zeiten ein Plätzchen suchen, da muß sich’s wunderbar friedlich ruhen.‘

‚Nu, Exellenz, nu leg i awer die Wurscht weg.‘

Der dicke Daumer blieb bei diesem Entschlusse, und ich hatte mein ordentliches Frühstück.“ Ringsum anhaltende Heiterkeit.

„Warum sieht man Sie niemals mehr im Hause?“ frage ich einen der Thüringer, der als Staatsanwalt und Schöngeist einen gleich bedeutenden Ruf hat.

„Ich bin jetzt täglich im europäischen Charpie-Congreß.“

„Was ist das?“

„Ja, wissen Sie noch nicht, daß der Berliner Witz die internationale Vereinigung über die Behandlung und Verpflegung verwundeter Krieger also bezeichnet?“

Neben mir stehen zwei der größte Juristen der Welt im tief durchdachten Gespräch. Alle Viertelstunden wird ein Wort eines Paragraphen des zukünftigen norddeutschen Strafgesetzbuches fertig. Da tritt Braun-Wiesbaden dazu und hört das Problem der Aufhebung der Todesstrafe erörtern. „Heben Sie die Todesstrafe ruhig auf, meine Herren,“ sagt er.

„Ja, haben Sie ein Surrogat?“

„Ja, gewiß.“

„Nun?“ – – ruft die zünftige Jurisprudenz mit ungläubiger Spannung.

„Gott, lassen Sie den Delinquenten in die norddeutsche Gewerbeordnungscommission wählen.“

„Apropos,“ sagt der schlimme Hennig zum schlimmen Ziegler, der außer dem rothen Becker und dem trefflichen Löwe heute allein hier die Fortschrittspartei vertritt, „wissen Sie denn, warum unser Garten-Telegraph, der die Abgeordneten aus dem Reichstagspark zum Abstimmen ruft, heute eine Viertelstunde lang fortwährend klingelte, als gälte es dem Umsturz der Bundesverfassung oder einem Extrazug nach Bremen?“

„Nein.“

„Ja, der alte Patow war während seiner Rede von der Tribüne auf dem Drücker des Telegraphen eingeschlafen.“ Die beiden Bösewichte nahmen ruhig eine Prise.

Ihr nichtsnutzigen Collegen, die ihr Eure Mitmenschen so herabsetzt und Eure arge Freude nicht verhehlt an den boshaften Reichstagscaricaturen des Abgeordneten Blum, wenn er Blankenburg auf dem Veloeipede zeichnet, wie er ausruft: „Ich sehe keinen Stillstand – ich galoppire nach rechts!“ oder auf einem andern Blatte „Die Naturwunder der Gewerbeordnung!“ nämlich Grumbrecht und Wagener (Neustettin) als siamesische Zwillinge, verbunden durch das Band des Zunftzwangs, und von Blankenburg in der Wiege, auf dessen Rücken Miquel als „Schievel’sche Geburt“ sich entwickelte; oder „Ziegler’s Stellung zur Frage der Sonntagsarbeit,“ d. h. in tiefen Schlaf auf feinem Parlamentssitze versunken, oder noch einmal Grumbrecht „auf den Trümmern seiner durch die Aufhebung der Bürgerrechtsgelder zerstörten Vaterstadt.“

Seht Euch diesen Deutschen und Abgeordneten hier als Muster an! Seinen Namen werdet ihr freilich auf das erste Mal nicht aussprechen können, den er heißt Jan ten Doornkat-Koolmann, ist aus Norden in Ostfriesland und so bedeutender Genever-(Wachholder-)Branntweinfabrikant, daß sein Fabrikat unter dem Namen „Doornkat“ in die ganze Welt geht. Aber gleichwohl plaidirt er eben lebhaft für die Branntweinsteuer gegen den Zuckersieder und Melassenbrenner Sombart und einige schnarrende pommersche Branntweinjunker. Jetzt greift er nach seiner Fracktasche und die Gruppe zieht sich nach einer der Ecken, in denen in fünf Minuten Weltgeschichte gemacht wird. Doornkat, Doornkat, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, daß Sie die Ginflasche, die Sie unsern blauen Montagskatern so freundlich im Hotel Schmelzer reichen, auch hierher mitnehmen, um sie gelegentlich als Bundesgenossen der Bismarck’schen Steuerpolitik aufmarschiren zu lassen. Bismarck kann zwar nach seiner eigenen Erklärung im Reichstag die Angemessenheit der Branntweinsteuer auch als Praktiker beurtheilen, denn er treibt neben seinen amtlichen Functionen auch die Branntweinbrennerei schon über zwanzig Jahre.

Da höre ich des Kanzlers Stimme wieder hinter mir. „Stoßen wir auf die alten Farben Blau-Roth-Gold der Hannovera in Göttingen an, Herr Corpsbruder!“ ruft er seinem alten Verbindungsbruder, dem Oberbürgermeister Fromme aus Lüneburg, zu. Und die beiden „alten Herren“ gedenken in einem vollen mit einem Zuge geleerten Glase Maiwein der schönen Jugendstunden. Schon damals antwortete Bismarck auf die Frage, was er studire: „Diplomatie.“ Er war damals ein äußerst schmächtiger, hoch aufgeschossener feiner Studio, mit keimendem Schnurrbart, berühmt durch seinen prachtvollen Neufundländer, weithin gefürchtet durch seine Klinge, mit der er schon als Fuchs sämmtliche Mitglieder eines feindlichen Corps abgeführt hatte. Freilich auch seine linke Wange giebt vernarbte Kunde von dem treulosen Wechsel des Waffenglücks. Der böse Feind, der ihm diese Quart „hineingebracht“, genießt sogar das Vertrauen eines Bruchteils der norddeutschen Bevölkerung in dem Maße, daß er in den constituirenden Reichstag gewählt ward. Als er hier Bismarck sich vorstellen ließ, rief dieser mit bezeichnendem Hinweis auf seinen „Schmiß“:

„Sind Sie der?“

„Ja wohl, Excellenz.“

„Aber das war doch ein Sauhieb.“

„Ja, Excellenz, das haben Sie schon damals gesagt, aber das Paukbuch beweist das Gegentheil.“

Die diplomatischen Studien von Göttingen haben sichtbarlich Früchte getragen. Schade, daß die vielfachen Geschäfte in seinem Amte als dreifacher Minister, Kanzler und Branntweinbrenner dem Grafen nicht verstatten, als Privatdocent der praktischen Diplomatie aufzutreten. Ich vermuthe, manch' ein Lehrstuhl der „praktischen“ und „theoretischen“ Politik in Deutschland würde eingehen. Die diplomatische Vorlesung, die der Graf an diesem Abend zum Besten gab, behandelte das Thema der „Blaubücher“, das er Tags zuvor, durch Lasker veranlaßt, schon im Reichstag besprochen hatte. „Wenn Sie absolut ein Blaubuch bei mir bestellen, werde ich versuchen im nächsten Jahre etwas Unschädliches zusammenzustellen,“ hatte er dort unter großer Heiterkeit des Hauses erklärt. Hier erläuterte er an einem schlagenden Beispiel den trügerischen Werth dieser Depeschensammlungen:

„Da kommt z. B. Lord Loftus (der englische Botschafter in Berlin) zu mir und fragt mich, ob ich geneigt sei, einen Privatbrief seines Ministers, Lord Clarendon, anzuhören. Er liest mir nun ein kleines eigenhändiges Manuscript des edlen Lords vor, wir unterhalten uns ungefähr eine Stunde darüber, und – nach fünf Tagen läßt er sich wieder melden. Diesmal hat er ein großes amtliches Schreiben des großbritannischen auswärtigen Amtes bei sich. Er fängt an zu lesen.

‚Bitte um Vergebung, Excellenz,‘ sage ich, ‚das haben Sie mir ja schon am Montag einmal vorgelesen.‘

‚Ja, aber jetzt soll die Depesche ins Blaubuch.‘

‚Da soll ich Ihnen nun wohl auch noch einmal dieselbe Antwort für Ihr Blaubuch geben?‘

‚Gewiß, wenn Ew. Excellenz nichts dagegen haben, wird dies gar nicht zu umgehen sein.‘

‚Na, da haben Sie die Antwort noch einmal.‘

Und nun brauche ich noch einmal eine Stunde, nur um des Blaubuchs willen, und dabei muß ich sehr oft dem Engländer noch sagen: ‚aber diese Stelle meiner Erklärung bringen Sie nicht in Ihr Blaubuch‘ – zum Beispiel die, daß ich das Blaubuch

[316]

Eisenach und Umgegend. 0 Nach der Natur aufgenommen von C. Heyn.

[317] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [318] überhaupt für ein sehr zeitraubendes und überflüssiges Institut ansehe.“

Doch bereits war es elf Uhr geworden, und in immer größerer Anzahl verabschiedeten sich die Gäste beim Kanzler. Auch ich reichte ihm die Hand zur Empfehlung. Er sagte Allen „auf Wiedersehen“. Der Saal hatte sich erheblich gelichtet. Die letzten Dialoge, denen ich auf meinen Etappen zum Rückzuge begegnete, waren der des Hamburger Hinrichsen, des hochgebildeten Vertreters seines heimathlichen Freihandels, mit dem Präsidenten des Bundeskanzleramts Delbrück, diesem, wie wenige, freisinnigen, klaren, liebenswürdigen preußischen Bureaukraten, wobei Hinrichsen die Segnungen des Entrepôtsystems mit großer Beredsamkeit enthüllte, während Delbrück seiner Miene nach den dereinstigen Zollanschluß Hamburgs nicht gerade als ein Unglück zu betrachten schien; – und dieser Gruppe gegenüber eine neugewählte Landratte im Zwiegespräch mit dem stets lächelnden Admiral Jachmann, diesem Seehelden an einem Glase Maitrank die Bewegungen der See und die Kriegstüchtigkeit der Minitors erläuternd. Der Waldmeister spielte die Rolle des Monitors mit Erfolg.

Vor den Gemächern der Gräfin Bismarck, wo unsere freundliche Wirthin mit ihrer Tochter und Verwandten im häuslichen Kreise saß, traten wir, uns verbeugend, vorüber und saßen eine Viertelstunde später im Hôtel Petersburg bei einem echten Schwechater in der „Exkneipe“.




Ein würtembergisches Dorf an der Ostsee.

Als Lehrer an einem deutschen Gymnasium in Petersburg, wohin ich im Herbst 1864 gekommen war, hatte ich mich, des lieben Broderwerbs willen, so angestrengter Thätigkeit ausgesetzt, daß ich beim Beginn des nächsten Sommers mit seinem unleidlichen Temperaturwechsel das dringende Bedürfniß fühlte, einmal wieder eine reinere, gesundere Luft einzuathmen. Wohin aber mit einer Casse, welche eine weite Reise ebenso wenig gestattete wie den Aufenthalt in einem der vornehmen russischen Villeggiaturorte? Ich klagte einem mir bekannten deutschen Kaufmann, der bereits seit zwanzig Jahren in Rußland lebte, meine Noth. – „Gehen Sie doch nach der Kronstädter Colonie!“ meinte er.

Was er mir auf meine Fragen über diesen Ort Näheres mittheilte, sprach mich derart an, daß ich schon am nächsten Morgen, einem Sonntag, mich nach dem Peterhofer Bahnhof begab und mir ein Billet nach Oranienbaum löste. Dort angekommen, ward ich mit einem der vor dem stattlichen Bahnhofsgebände haltenden schmierigen „Ismóschtschiks“ (russische Droschenkutscher) mit ihren noch schmierigeren kleinen Droschken handelseins über den Preis, für den er mich nach Kronschtádtskaja Kolónia bringen sollte, und ließ mich rasch durch die schlecht gepflasterten Straßen Oranienbaums, eines hübschen, freundlichen Städtchens, rasseln. Dann ging es noch eine kurze Strecke – bis an das Ende des das gleichnamige, der Großfürstin Helene Páwlowna gehörige Schloß umgebenden Parks – auf einer erträglichen Chaussee im munteren Trabe weiter. Von da ab stolperten wir etwa eine halbe Stunde lang auf einem niederträchtigen Lehmweg, dessen tiefe Löcher man vergebens mit alten Kohlstrünken, Holzabfällen, Reisig etc. einigermaßen auszufüllen versucht hatte, derart hin und her, daß ich mich nur mit großer Mühe auf meiner lehnenlosen Droschke festzuhalten vermochte. Endlich bogen wir rechts ab, und im Galopp – bergauf fährt der russische Wagenlenker nie Schritt – ging’s einen mäßig steilen Hügel hinan, auf dessen Rücken ich das Ziel meiner Reise erblickte.

Kronschtádtskaja Kolónia liegt auf dem unteren Absatz einer vielleicht zweihundert Fuß hohen Anhöhe, der sich anfangs steil, dann in sanfterem Fall auf das ziemlich breite, ganz flache Wiesenufer des finnischen Busens niedersenkt, während die Anhöhe selbst hinter der Colonie zuerst eine Art von kleinem Plateau bildet, hierauf aber zum eigentlichen Kamm der Hügelkette sachte ansteigt. Es wird von nur sieben in einer Linie neben einander liegenden Gehöften gebildet. Zu jedem derselben gehört ein Streifen Landes, der von dem am Fuß des Hügels hinlaufenden Fahrweg an sich über das Dörfchen selbst hinaus durch das ganze Plateau hin in beträchtlicher Länge ausdehnt. Die Wiesenpartie zwischen Fahrweg und Meer ist Krongut. Die Gehöfte der Colonie bestehen aus dem eigentlichen Wohnhaus, den Ställen, Scheunen und anderen zum Zweck der Ackerwirthschaft bestimmten Nebengebäuden und endlich aus freundlichen, mit Balcons und Galerien versehenen, villenartigen Bauwerken, den Miethwohnungen für Sommergäste. Alle diese Gebäude sind aus Holz aufgeführt, die Hauptwände aus mächtigen Tannenholzblöcken ineinander gefügt, die Dächer mit Schindeln gedeckt. Die Wohnhäuser und jene Villen sind mit hellen, lebhaften Farben angestrichen. Um so freundlicher schauen sie aus den sie umgebenden Linden- und Obstbäumen heraus.

Mein Ismóschtschik brachte mich aus eigenem Antriebe vor das Haus des Vorstehers der kleinen Colonie. Dieser selbst, welcher, vor seinem Hofthor stehend, mein Gefährt und mich schon aus der Ferne beobachtet hatte, trat, als die Droschke hielt, heran und fragte mich, als ich ausgestiegen war, in gutem Russisch nach meinem Begehr. Ich antwortete ihm in deutscher Sprache, ich beabsichtige mir hier eine Sommerwohnung zu miethen. Ueber des Mannes Antlitz flog ein freudiger Ausdruck. „Ah, Se sinn ach ä Deitscher!“ rief er und schüttelte mir nun zum Willkommen derb die Hand. – Ich fand in seiner eigenen „Villa“, was ich suchte, ein freundliches, großes, nach Norden, d. h. dem Meere, gelegenes, mit einem Balcon versehenes Zimmer und zwei daran stoßende luftige Kammern. Sie waren, wie fast alle Miethwohnungen in der Colonie, unmöblirt. Mit Hülfe eines Kronstädter Möbelhändlers – ich fuhr noch am selben Tage auf leichtem Kahn nach der der Colonie gerade gegenüber liegenden Festung in nicht ganz einer Stunde hinüber – und meines Hauswirthes hatte ich jedoch bald ein genügendes Ameublement zusammen, richtete mich häuslich ein und verlebte dann drei Monate in Kronschtádtskaja Kolónia in der angenehmsten Weise.

Von meinem Balcon aus hatte ich eine wirklich sehr schöne Aussicht; sie beherrschte mehrere prächtige Parks russischer Großen, weite Acker-, Gehölz- und Wiesengebiete und in der Ferne das Meer mit der Inselfestung Kronstadt und deren vielen Festungs-Inselchen und wurde, wenn die aufgehende und mehr noch die untergehende Sonne ihren prächtigen Farbenreiz auf diese Bilder legte, zu einer wahrhaft großartigen.

Völlig Nacht wurde es Ende Juni und Anfang Juli in diesen Gegenden nicht. Denn, während in der genannten Zeit die Sonne erst etwa um halb elf Uhr Abends unterging, erhob sie sich schon bald nach zwei Uhr Morgens wieder, und auch in der Zwischenzeit blieb es so hell, daß man, ohne sich die Augen besonders anzustrengen, zu jeder Zeit draußen oder am Fenster sehr gut lesen konnte. Den Augenblick, wo die Sonne am Horizont verschwand, wie denjenigen, in welchem ihr goldener Saum wieder aus dem Meer empor zu steigen begann, verkündeten stets zwei von den Wällen Kronstadts dröhnende Kanonenschüsse.

Allerliebste Spaziergänge ließen sich von der Colonie aus in deren Umgebung machen. Außer den genannten Parks ladet dazu besonders der aus Rothtannen und Birken bestehende, hinter der Colonie liegende Gemeindewald ein, welchem viele hie und da darin versteckte erratische Granitblöcke und mächtige Farrenkrautbüsche etwas Urwaldartiges geben. Auch am Meeresstrand hinzuschlendern, an welchem noch hie und da zur Zeit des Krimkrieges aufgeworfene Schanzen zu finden sind, verlohnte schon der Mühe, obwohl der hier sehr schmale und flachuferige finnische Busen nichts von der Großartigkeit der Nordsee hat. Sein Wasser erscheint bei ruhigem Wetter meist dunkelblau, selten grünlich schillernd, bei starkem Wind dunkelbraun. Am auffallendsten war mir der Reichthum und die Ueppigkeit der Vegetation in diesen Gegenden. Die Flora war dieselbe wie die Mitteldeutschlands, aber die einzelnen Pflanzen und Blumen zeigten sich weit größer, kräftiger, als sie dort zu sein pflegen.

Kein Wunder daher, daß die Colonie als Sommeraufenthalt für nicht allzu reiche Bewohner Petersburg’s und Kronstadt’s sehr beliebt ist. Alle Villen der Colonisten waren Ende Juni mit Miethern überfüllt, unter denen sich besonders kleine Beamte, Kaufleute und Handwerker befanden. Die meisten waren deutschen Ursprungs.

[319] Mich interessirten jedoch die Colonisten selbst weit mehr. Schon bei meiner ersten Ankunft in Kronschtádtskaja Kolónia glaubte ich anfangs zu träumen. Wußte ich doch bestimmt, daß ich in Rußland am äußersten Ende der Ostsee sei, und doch – war ich wie durch Zauberei in ein schwäbisches Dorf versetzt. Daran war kein Zweifel möglich. Wie ließ sich sonst die Tracht, die Sprache, das Wesen der Colonisten erklären? Die Männer trugen die langen Tuchröcke mit blanken Knöpfen, die bis an den Hals zugeknöpften, meist bunten Westen, die etwas bauschigen dunklen Beinkleider, welche in den hohen, engschäftigen Stiefeln steckten, gerade so, wie ich es so oft im Schwabenlande bei den dortigen Bauern gesehen hatte. Die Colonistinnen hatten das in lange Zöpfe geflochtene Haar auf dem Hinterkopf brezelförmig aufgesteckt; sie trugen die kleinen, spitzig auslaufenden, aus bunter, mit silbernen Blumen bestickter Seide angefertigten Schwabenhäubchen, die mit breiten bunten Bindebändern unter dem Kinn festgehalten wurden, eine hoch hinauf gehende dunkelfarbige Jacke mit langen, enganschließenden, nur an der Achsel aufgebauschten Aermeln, kurze bunte Faltenröcke und weiße kokette Schürzen. Alles wie die „Schwobenmaidli“. Und nun die Sprache! Frauen wie Männer, Greise wie Kinder plauderten in einem so unverkennbar schwäbischen Dialect mit einander, wie ich ihn in Würtembergs Dörfern nirgends reiner gehört hatte. Bei näheren Nachfragen löste sich mir das Räthsel leicht und einfach.

Auf Veranlassung der damaligen russischen Regierung war in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts die Kronstädter Colonie von würtembergischen Auswanderern gegründet worden. Unter dem mächtigen und gütigen Schutz der Großfürstin Helene Páwlowna hatten jene rasch im fremden Lande feste Wurzel gefaßt, das ihnen angewiesene Terrain cultivirt, aus ihm reiche Ernten gewonnen, diese gut verwerthet, waren zu Wohlstand gekommen und hatten endlich in der weiteren Umgegend die Nebencolonien Strélena, Snámensky, Oranienbaum und Peterhof (die Russen, welche in ihrer Sprache das „h“ überhaupt nicht haben, sagen Petergof) gegründet. Mit größter Strenge hatten die Colonisten dabei vor Allem darauf gehalten, daß Niemand unter ihnen ein russisches Element in seine Familie aufnahm; nur untereinander schlossen sie ihre Ehebündnisse. Gerade hierin waren sie auch von der Großfürstin Helene Páwlowna bestärkt worden. So haben sie sich ihren lutherischen Glauben,[1] ihre deutschen Sitten und Eigenschaften, ihre schwäbische Tracht und Sprache bewahrt.

Auch bei der Betreibung ihrer Landwirthschaft verfahren sie im Wesentlichen, soweit es das dortige Klima mit seinem kaum vier Monate dauernden Frühling und Sommer irgend erlaubt, ganz so, wie es ihre Ahnen in der deutschen Heimath gehalten hatten und ihre dortigen Stammesgenossen noch jetzt halten. Ja sogar die Beinamen der ersten Gründer der Colonie, welche diese in Würtemberg gehabt hatten, sind auf ihre Nachkommen übergegangen, obwohl sie in keiner Weise mehr passen. Da giebt es noch einen „Schmalz im Dunkeln“, einen „Jörg an der Eck“, einen „Krischan in der Dell“, wenngleich der jetzige Schmalz nicht im Dunkeln, der Jörg nicht an der Ecke und der Krischan nicht in einer Dell (Thal, Vertiefung) wohnt. Aber auch die Fehler der Vorfahren hatten sich auf die Colonisten vererbt: Bauernstolz und Bauernneid, Bauernmißtrauen und Bauerngeiz, und ebenso die oft etwas zweifelhafte Reinlichkeit der schwäbischen Bauern, welche hier freilich neben dem unzweifelhaften Schmutz ihrer russischen Nachbarn relativ immerhin einen recht guten Eindruck machte. Männer wie Frauen waren übrigens ohne Ausnahme stattliche Erscheinungen, letztere zum Theil sogar sehr hübsch. Specielle Erinnerungen, wie es im Heimathsdorf, Würtemberg, Deutschland aussehe, hatten sich nur wenige bei ihnen erhalten. Was aus beiden – Würtemberg und Deutschland – geworden, oder noch werden könne, war ihnen ziemlich gleichgültig. Wenn ich den Einen oder Anderen fragte: „Ob er denn gar keine Lust habe, nach der Heimath zurückzukehren,“ bekam ich stets die Antwort: „Worum? Hie hent mer’s zehn moal besser, als mer’s dahoim je g’hätt hättet.“ Dagegen erkundigten sie sich in echt germanischem Sinne mit Eifer nach den Wein- und Bier-Preisen in Deutschland, und was ich ihnen in dieser Beziehung mittheilte, erregte ihr Mißvergnügen, weil bis auf den Schnaps, den sie zum Glück nicht sehr liebten, in Rußland alle Spirituosen so „verdeixelt“ theuer seien.

Auf ihre russischen Nachbarn sahen sie mit großer Verachtung herab; von den Finnen sprachen sie gut. Dank verschiedenen ihnen bei ihrer Einwanderung zugesicherten und bis hierzu von der Regierung nicht zurückgenommenen Privilegien und der Protection der Großfürstinnen Helene Páwlowna und Katharine Michaílowna (Tochter der Ersteren, Gemahlin des Prinzen von Würtemberg) lassen sie sich von den russischen Behörden nichts Ungehöriges gefallen. Als während meines Aufenthalts in Kronschtádtskaja Kolónia einmal auf Anordnung eines höheren russischen Wegebaubeamten vier Männer aus der Snámensky’schen Colonie, weil sie sich geweigert hatten, für die Ausbesserung der Staatschaussee bei Peterhof Frohndienste zu leisten, in den dortigen Thurm gesteckt worden waren, schlugen die übrigen Colonisten energisch Lärm und erwirkten rasch die Freilassung der Verhafteten. Den Schulz von Snámensky aber setzten sie ab, weil er in der Sache „net Courasch g’nug g’hätt hoat“.

Ihre Kirche liegt im Park der Großfürstin Katharine Michaílowna auf einer Anhöhe über dem Städtchen Oranienbaum. Dort wohnt im Sommer ein eigener Prediger, und während dieser Zeit findet jeden Sonntag Gottesdienst statt. Im Winter wird solcher nur alle vier Wochen gefeiert, der Prediger kommt dann immer eigens hierzu von Petersburg nach Oranienbaum. Auch ein Schulhaus hat die Colonie, das aber, weil die an und in ihm nöthigen Ausbesserungen nach einem bestimmten Turnus von den einzelnen Gemeindemitgliedern beschafft werden sollen, nicht gerade im besten Stande war. Der Gehalt des Lehrers besteht in zweihundert Rubeln baaren Geldes und in Naturalleistungen, welche von den Colonisten nach dem Verhältniß der Größe ihrer Höfe zu liefern sind. Damals war der Schullehrer ein ganz gescheidter und unterrichteter Mann, und ich fand die Schulbildung bei den Kindern, wie bei den Erwachsenen im Ganzen nicht auf niedrigerer Stufe stehend, als sie in den meisten Dörfern Süddeutschlands durchschnittlich zu sein pflegt.

Der angesehenste und vornehmste Mann in der Colonie war mein Hauswirth, der Schulz Conrad Daniel Craubner in der Dell (von den Russen Daniel Iwánowitsch genannt). Er war ein stattlicher Mann, etwas corpulent, reichlich vierzig Jahre alt, seinen Untergebenen und seines Gleichen gegenüber trat er mit ungeheurer Würde, Höhergestellten gegenüber mit mißtrauischer Vorsicht auf. Galt es einen Profit zu machen, so zeigte er sich als geriebener Patron. Ging er Sonntags im Festanzug, im langen Rock aus feinem dunkelblauen Tuch, in der hohen schwarzen Weste, dem bunten Halstuch, den schwarzen Beinkleidern, den blanken, vorn mit Troddeln verzierten Stulpenstiefeln, den spanischen Rohrstock mit silbernem Knopf in der Hand, seiner Familie zwei Schritte voraus zur Kirche, so erinnerte er mich immer an Auerbachs berühmten Dorfschulzen, den Buchmeier. In seinem eigenen Hause spielte er übriges keineswegs die erste Flöte. Vielmehr wurde dieses Instrument einzig und allein von seiner etwa siebenzigjährigen Mutter geblasen, welche bei einer fast unnatürlichen Corpulenz von ungewöhnlicher Behendigkeit und Rüstigkeit war, das ganze Hauswesen dirigirte und Sohn, Schwiegertochter (ein dickes, gutmüthiges, dunkeläugiges Weibchen) und die ganze Reihe ihrer Enkel als absolute Regentin tyrannisirte. Conrad Daniel Craubner stammte direct von dem eigentlichen Gründer der Colonie ab und hatte wie das größte, so das bestcultivirte Gehöft. Auf Beides war er nicht wenig stolz. Als wir näher mit einander bekannt geworden waren, weihte er mich in die Geschichte seiner Familie und der ganzen Colonie ein, übergab mir auch eines schönen Tages, als einen Beweis seines besonderen Vertrauens zu mir, die Familienpapiere derer von Craubner. Sie waren in der That mindestens eben so interessant wie die mancher Herren von -witz oder -ow.

Ein Vorfahr meines Hauswirths Christian Ulrich Craubner hatte, laut Zeugniß des dortigen Bergmeisters vom Jahre 1770, in Freudenstadt in Würtemberg das Bergwerkshandwerk erlernt, war dann in Reutlingen Grobschmied geworden und hatte es schließlich in Tuttlingen gar bis zum Schulmeister gebracht. Seine rege Wanderlust ließ ihn aber hier nicht Ruhe finden; mit seiner Familie – er hatte elf Kinder – siedelte er erst nach Oesterreich, dann nach Preußisch-Polen über und wanderte schließlich nach Rußland aus. Was von dieser Zeit an ihm begegnet ist, hat [320] Craubner eigenhändig in eine Art von Haushaltungsbuch tagebuchartig in säuberlichster Weise eingetragen. Seine Ankunft in Oranienbaum und an der Stelle, wo jetzt die Colonie sich befindet, meldet er mit den Worten: „Am 30. December 1799 sind wir allhier angekommen im fremden Lande. Es ist überall eine große Wildniß. Alles ist voll Bäume, Birken und Tannen, und voll arger, böser Steine, und darunter liegt der große See. Schnee und Eis ist aber überall, auch auf dem See. Der Herre Gott, allgütiger Vater, wolle meinem Arm Stärke geben und Kraft, auf daß mir Frau und Kindlein nicht verkommen in dem fremden, wüsten Lande.“

Uebel genug muß es damals ausgesehen haben. Denn wo jetzt fruchtbares Ackerland und Wiesen, war damals Alles Sumpf oder Waldwildniß, deren Urbarmachung durch ungeheure, in reicher Anzahl hier und da verstreute erratische Blöcke noch besonders erschwert wurde. Aber Christian Ulrich Craubner und die Seinen verzagten doch nicht. Eifrig schwangen sie die Axt; dröhnend fiel der Hammer auf den Granit; was ihm widerstand, wich der sprengenden Gewalt des Pulvers. Bald lichtete sich der Wald; die Felsblöcke verschwanden. Tiefe Gräben leiteten aus den Morästen und Sümpfen das faulige Wasser zur Ostsee hinab, und bald lagen jene ausgetrocknet da. Jetzt furchte zum ersten Male der Pflug den urbar gemachten Boden; das erste Saatkorn vertraute der ehemalige Schullehrer mit frommem Gebet der fruchtbaren Erde an. Mit heißem Dank gegen Gott registrirte er dann in der Familienchronik die erste Ernte; sie war über alles Erwarten reich und gut ausgefallen. Mit rastlosem, echt deutschem Fleiße wird von den Ansiedlern unverdrossen weiter gearbeitet. Die provisorischen kleinen Hütten, die man zum ersten Obdach hergerichtet hatte, verwandeln sich bald in behagliche Blockhäuser. Feld reiht sich an Feld, Wiese an Wiese. Nach Oranienbaum hin bauen die Colonisten mit Hülfe der russischen Regierung einen Weg. Die Großfürstin Helene Páwlowna besuchte die Colonie zum ersten Male. Ihre Anerkennung für das, was bereits geleistet ist, ihre Rathschläge, ihre thätige Hülfe fachen zu neuem Eifer an.

Den Christian Ulrich Craubner aber traf im Jahre 1807 ein harter Schlag. Sein liebes Eheweib, Anna Charlotte geb. Roth aus Tuttlingen, starb am Fieber und bald nach ihr zwei ihrer Kinder. Er senkte sie „als eine Aussaat für die Auferstehung köstlicher denn Gerst und Waitzen“ in die fremde Erde hinab, die ihm, wie er schreibt, erst dadurch ganz heimisch wurde. Der Alte sah noch manchen Enkel geboren werden; er erlebte es noch, daß von Kronschtádtskaja aus neue Colonien gegründet wurden; daß in die Villen des eigenen Dörfchens die ersten Sommergäste zogen. Unter dem 3. Februar 1833 hat sein ältester Sohn, der Vater des jetzigen Schulzen, in die Familienchronik eingetragen: „In dieser Nacht ist mein Herr Vater Christian Ulrich Craubner, 81 Jahre alt, sanft verstorben. Er hat zuletzt noch zu uns gesagt: ‚Halt euch von den Russen, so werdet ihr bestehen‘. Sit ei terra levis!“ Es war offenbar ein tüchtiger, achtungswerther Mann. Seine Söhne und Enkel haben in seinem Sinne weiter gewirkt. Mit Neid blickt der Russe, mit Freude jeder Deutsche, mit gerechtfertigtem Stolze der Colonist selbst auf die blühende Colonie, auf ihre behäbigen Gehöfte, ihre fruchtbaren Aecker, ihre saftigen Wiesen. Ein vornehmer Russe, dessen talentvollen Söhnen ich in Petersburg Privatstunden gegeben hatte, besuchte mich mit meinen Schülern während meiner Villeggiatur in Kronschtádtskaja Kolónia. Wir trafen bei einem Spaziergang den Schulzen Conrad Daniel Craubner mit seinen Söhnen und Knechten beim Roggenmähen. Unter ihren Sensenhieben sanken die goldgelben Halme mit ihren schweren Aehren in dichten Lagen nieder. Graf Sch. bewunderte den Reichthum der Ernte, wie überhaupt die vorzügliche Cultur aller Felder und fragte (er wußte, wie es früher hier ausgesehen hatte und wie es in den benachbarten russischen Dörfern noch aussah):

„Wie haben Sie das Alles nur so weit gebracht? Da haben Sie gewiß erst viel Geld hineinstecken müssen, guter Freund?“

„Geld, Herr? Nein! Wo hätte mein Großvater das her haben sollen? Aber Schweiß, Herr, viel Schweiß!“ antwortete der Schulz, die mächtige Gestalt hochaufrichtend und mit der schwieligen Hand über die gefurchte, braungebrannte Stirn streichend, auf der von der emsigen Arbeit die hellen Schweißtropfen standen.

Als ich im September nach Petersburg zurückkehren mußte, wurde es mir recht schwer, mich von der Colonie zu trennen, und ich versprach meinem Hauswirth, seiner dicken Mutter, der ganzen Familie, im folgenden Sommer wieder zu ihnen zu kommen. Verhältnisse zwangen mich im Frühjahr 1866 eilig nach Deutschland heimzukehren. Ich hatte nicht einmal Zeit, meinen Bekannten in Kronschtádtskaja Kolónia Lebewohl zu sagen. Seitdem habe ich von ihnen und der Colonie nichts mehr gehört. Möge es ihnen auch ferner gut gehen! Möge es ihnen vor Allem gelingen, ihr deutsches Wesen zu bewahren! Daß es ihnen in dieser Hinsicht bei der jetzt in Rußland und zwar auch in den Regierungskreisen herrschenden hyperslavistischen Richtung an mancherlei Anfechtungen nicht fehlen wird, ist leider nicht zu bezweifeln.

M. Sturmhaupt.     




Kleiner Briefkasten.

G. B. in W…r. Gewiß wird die Gartenlaube auch Illustrationen aus dem großartigen Berliner Aquarium bringen, doch nicht vor Vollendung desselben, weil selbstverständlich erst nach dieser ein anschauliches Bild des Ganzen gewonnen werden kann.

B. in M. Sie kommen unserer Berichtigung zuvor; allerdings war es nur ein Druckfehler, wenn in unserem kleinen Artikel über das Wilhelmsthaler Schloss in Hessen (Nr. 16) gesagt wurde, die daselbst befindliche Schönheitsgalerie habe die Portraits der Damen von König Jerome’s Hof enthalten; es sollte vielmehr heißen: Damen am Hof und aus der Zeit des Landgrafen Wilhelm, des Erbauers des hübschen Rococoschlosses.

R. in S. Eine Einschaltung der Redaction, welcher die localen Verhältnisse so genau nicht bekannt sind, hat die Meinung erweckt, das in dem Artikel: „Aus der Welt jugendlicher Verbrecher“ (Nr. 10) angeführte Rettungshaus befinde sich in Rummelsburg. Das ist nicht der Fall. Der Verfasser fungirte früher an einem Berliner Rettungshause, ist aber gegenwärtig am großen Friedrichs-Waisenhause der Stadt Berlin zu Rummelsburg angestellt.


Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Pfingstparadies im Herzen Deutschlands. Mit Abbildungen. – Literarische Briefe. An eine deutsche Frai in Paris. Von Karl Gutzkow. IV. – Ein parlamentarischer Abend bei Bismarck. – Ein würtembergisches Dorf an der Ostsee. – Kleiner Briefkasten.




Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig ist soeben erschienen:

Ludwig Steub,
Altbairische Culturbilder.
Elegant brosch. 0 Preis 1 Thlr.

Das Buch hat bekanntlich großes Aufsehen erregt und ist von der Presse allgemein mit Enthusiasmus aufgenommen worden. Der Titel läßt nur Localschilderungen vermuthen, aber der Inhalt greift sehr weit und tief über den Boden hinaus, mit dem seine Darstellungen sich beschäftigen. Es ist unstreitig ein interessantes und gewichtvolles Buch. An dem Beispiele des fröhlichen und von der Natur so reich gesegneten Altbaiern, wo sich aber Pfaffenthum und finsterer Ultramontanismus noch einer möglichst unerschütterten und ungestörten Herrschaft über das schöne und kraftvolle, doch roh und rauh, wüst und unwissend gebliebene Landvolk erfreuen, an diesem bemerkenswerthen Producte kirchlicher Volkserziehung zeigt uns der Verfasser die Nothwendigkeit zu energischem Ankämpfen gegen jenes culturwidrige Element in einer Weise, daß sie mit Händen zu greifen ist. Es geschieht dies nicht auf dem Wege des Raisonnements und der tendenziösen Betrachtung, sondern mit Hülfe der scharfen Beweise, die sich Ludwig Steub als gründlicher Specialforscher aus der älteren und neueren Geschichte zu holen und für das Verständniß unserer Zeitbewegung und ihrer Fragen nutzbar zu machen weiß.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Nach russischen Gesetzen müssen, wenn in einer Ehe auch nur einer der Ehegatten sich zur orthodox-griechischen Religion bekennt, sämmtliche Kinder unter allen Umständen in der griechischen Religion getauft und erzogen werden.