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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[593]

No. 38.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Süden und Norden.
Eine bairische Dorfgeschichte von 1866.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Lachend lief Tonerl hinweg; der Bursche sprang hochvergnügt mit einem Satze aus der Thür, daß er beinahe einen Mann zu Boden rannte, der, im Begriffe einzutreten, durch dieselbe grüßend herein sah. Die Bäuerin erwiderte den Gruß und eilte ihm freundlich entgegen. Es war ein älterer, kräftig gebauter Mann, mit mächtigem rothen Vollbart, der aber schon stark in’s Aschengrau spielte, wie auch das unter einem weichen Filzhute von abenteuerlicher Form ungeordnet herabhängende Haar. Ein Kittel von ungebleichtem Leinen, durch eine Gürtelschnur mit Quasten zusammengehalten, Beinkleider von gleichem Stoff und derselben Farbe und ein paar schwerbenagelte Bergschuhe bildeten den ganzen Anzug des Fremden; ein niedriger breiter Holzkasten, der an einem Riemen über der Schulter hing und auf welchem ein großer Schirm und ein Feldstuhl aufgeschnallt waren, ließen den Maler nicht lange verkennen.

„Guten Tag, Bäuerin,“ rief er in munterem Tone, „ist es erlaubt, einen Augenblick Rast zu machen und um ein Glas gute Milch zu bitten?“

„Freilich, Herr, das können Sie haben,“ sagte die Bäuerin, indem sie Bank und Tisch vor dem Hause mit der Schürze abwischte und einer aus der Stube kommenden Magd auftrug, ein Glas Milch und ein Stück Brod herbeizubringen. „Habt Euch schon früh auf den Weg gemacht, Herr? Ihr seid wohl ein Maler, weil Ihr solch’ einen Werkzeug bei Euch habt?“

„Auf’s erste Mal errathen, Frau,“ rief der Mann lachend, „ich gehöre zu der lustigen Compagnie, die unserem lieben Herrgott den Tag abstiehlt und seine schöne Welt dazu!“

„Und das Geschäft muß net schlecht gehen, weil Sie so wohlauf sind!“ entgegnete die Bäuerin. „Sie kommen mir auch so bekannt vor … sind Sie nicht schon einmal bei uns eingekehrt?“

„Nein, gute Frau,“ rief der Maler, „aber daß ich Euch bekannt vorkomme, ist deshalb doch möglich … wir Gesellen, die wir mit dem Werkzeug da wandern, sehen einander alle ein bischen ähnlich, nur daß eben bei dem Einen das Geschäft etwas besser geht, als bei dem Andern. Ich habe diese Gegend schon oft durchstreift, aber bis hier herauf bin ich nie gekommen; wenn man unten im Thale dahin geht, sieht man Euren Hof kaum und glaubt nicht, daß er so frei und herrlich da liegt und eine so wundervolle Aussicht gewährt!“

„Ja, ja, die Aussicht läßt sich nicht spotten,“ erwiderte die Bäuerin, indem sie der herankommenden Magd das Glas mit der fetten, rahmbedeckten Milch abnahm und vor den Maler hinstellte. „Und der Luft ist auch so besonders gut!“

Der Maler trank mit Behagen und ließ während des Schlürfens den Blick über die Gegend streifen. „Ihr seid zu beneiden, Frau,“ sagte er dann, „Ihr wißt gar nicht, wie schön Ihr wohnt! Wie in einem versteckten Paradies, einem heimlichen Zaubergarten oder einer unentdeckten seligen Insel! Es kommen wohl selten Fremde zu Euch?“

„Diemalen geschieht’s doch, daß sich Einer herauf versteigt; aber im Sommer logirt jedes Jahr eine fremde Familj bei mir …“

„Ah, es giebt also doch noch Leute, die Geschmack haben! Wer sind die Glücklichen?“

„Das weiß ich selbst nit so recht; sie sind aus dem Preußischen daheim, aber Heuer sind sie noch nicht da!“

„Preußen also? Die werden in diesem Jahre wohl auch schwerlich kommen!“

„Warum? Wissen Sie vielleicht ’was davon?“

„So könnt Ihr fragen!“ rief der Maler und warf den Hut in’s Gras, daß der Ostwind ungehindert in den grauen Locken spielen konnte. „Ihr wißt also gar nicht, was draußen geschieht, und was die ganze Welt bewegt, wie ein stürmendes Meer, bricht sich wie eine Fluth am Fuße Eurer Berge und die Brandung reicht nicht herauf zu Euch. Erfahrt Ihr denn gar nicht, was sich im Lande zuträgt?“

„Herrgott,“ sagte die Bäuerin ängstlich, „es wird ja doch nicht sein! Neulich, wie ich am Sonntag im Dorf d’runten war im Gottesdienst, da hat’s geheißen, es soll der Befehl vom König ’raus kommen, daß die Buben einrücken müssen und daß es Krieg geben soll …“

„Leider ist das sehr zu befürchten!“ entgegnete der Maler ernst, „der Zwiespalt zwischen Preußen und den anderen Fürsten Deutschlands wird mit jeder Stunde bedrohlicher; sie wollen, daß die Schleswig-Holsteiner, von denen Ihr doch wohl auch schon gehört haben werdet, ein eigenes Volk für sich sein und ihren eigenen Landesherrn haben sollen; Preußen will das nicht, es will das schöne Land für sich behalten. In diesen Tagen sitzen die Gesandten alle am Bundestag in Frankfurt beisammen, und von dem Beschluß, den sie da fassen, wird es abhängen, ob wir Frieden behalten oder ob es zu einem Kriege kommen soll, in dem Deutsche wider Deutsche stehen … Doch nichts mehr von diesen Dingen, liebe Frau. Ihr bekommt da noch einen anderen Besuch …“

[594] Er zeigte den Bergabhang hinunter, welchen eine schwarze düstere Gestalt langsam heranschritt, wie ein dunkler Schatten, der in die weite sonnenlichte Landschaft fiel.

„Jetzt weiß ich nicht,“ sagte die Bäuerin, „ob mir träumt, oder ob das wirklich unser Cooperator ist …“

„Etwas Geistliches ist es. Ihr werdet doch die Herren aus Eurer Pfarrei kennen.“

„Das wohl … aber unser alter Herr Pfarrer, der in die dreißig Jahr’ bei uns gewesen ist, hat sich in die Ruh’ gegeben und ist Beneficiat ’worden; den neuen kenn’ ich noch nicht genau, und der junge Herr da ist erst im Auswärts zu uns gekommen; kann mir auch gar nicht einbilden, was den herauf treibt auf den Funkenhauser-Hof.“

Der junge Geistliche war indessen näher gekommen; eine wohlgebaute Gestalt, welche aber der enganliegende Gürtel und der lange Talar aus schwarzem, matt glänzendem Stoffe fast überschlank erscheinen ließ; ein schwarzer niedriger Hut mit sehr breiter Krämpe beschattete ein längliches, etwas hart geschnittenes Antlitz, in welchem ein paar feurige Augen glühten, jetzt eifrig in das Brevierbuch gesenkt, das der junge Mann in den festgeschlossenen Händen trug und so, eifrig lesend, ohne aufzuschauen vorwärts schritt. So kam er hart an das Haus heran; erst auf den Gruß der Frau schlug er langsam das Buch zu, richtete den Blick der großen durchforschenden Augen fest auf das Gesicht der Bäuerin und erwiderte das „Gelobt sei Jesus Christus“ derselben in wohlklingendem, feierlichem Tone mit dem landesüblichen Gegengruße.

„In Ewigkeit, Amen!“ sagte er. „Ihr seid wohl die Funkenhauser-Bäuerin? Ich habe mit Euch zu sprechen!“

„Mit mir?“ rief die Bänerin verwundert. „Ja, was könnt’ denn das sein … Reden S’ nur Hochwürden, Herr Cooperator, mit was ich dienen kann! Wollen S’ denn nicht in’s Haus hereinkommen …“ Der Geistliche machte eine ablehnende Bewegung und sah forschend nach dem Maler hinüber, der eben sein Glas geleert hatte und dasselbe noch einmal gefüllt haben wollte. „Dann nehmen S’ halt hier vorlieb, Hochwürden,“ sagte sie eifrig, „es ist auch angenehmer hier … in der Stuben sind gar so viele Fliegen! Ich will nur dem Herrn Maler da noch ein Glas Milch holen und bin gleich wieder da!“

Sie ging; die beiden Männer blieben eine Weile allein, sich und dem weit vor ihnen aufgeschlagenen Buche der Weltoffenbarung gegenüber. Es war ein eigenthümlicher Gegensatz, den sie bildeten – Haupt und Züge des viel älteren Künstlers zeigten, daß die Welt mit vielen stürmischen Stunden darüber hingezogen, wohl auch mit manchen andern, die er, wäre es vergönnt, sie noch einmal zu leben, gewiß besser benutzen würde; dennoch war in seinem Antlitz das Gepräge der errungenen Ruhe nicht zu verkennen und aus dem an der herrlichen Landschaft hangenden Auge schimmerte ein Strahl von Glück – die strenge geschlossene Haltung des weit jüngeren Priesters zeigte, wie fern ihm die Welt lag, von welcher Erziehung und Beruf ihn von den ersten Knabenjahren an sorgfältig zu trennen und zu bewahren gewußt, aber wie keine Kampfesspur zu erkennen war, fehlte auch das Zeichen des Sieges. Hinter der anscheinend leblosen Stirn rangen ruhelose weitstrebende Entwürfe und in dem Auge, das auf den Worten des Gebetes ruhte, war der Friede noch nicht aufgegangen.

Die entzückte Umschau des Malers hatte auch ihren guten Grund.

Wäre einem Künstler oder Dichter aufgegeben worden, einen Platz zu einem Hause auszusuchen, wo es für das Auge lieblich, für den Sinn gefällig und für das Herz wohlthuend sei, sie hätten nicht vermocht, einen schönern Erdenwinkel aufzufinden. Die stattliche Vorderseite des schönen Gehöfts, nach Morgen und Mittag gewendet, beherrschte eine angenehm ansteigende breite Berghalde, auf welcher Licht und Wärme beinahe den ganzen Tag über heimisch waren und ein kleines fruchtbares Eden schufen, um so lieblicher und fruchtbarer, als nach allen Seiten hin breite Waldsäume mit mächtigen Buchenkronen oder Ahornwipfeln und hundertjährigen Riesentannen dazwischen sich wie Mauern dahinzogen, die rauhen Weststürme abhielten und die Gebäude gegen den erkältenden Nordwind schützten. Im Rücken davon und darüber hinaus, wie in einem Halbrund, stieg der eigentliche höhere Gebirgsstock hinan, ein ewiger undurchdringlicher Wall und Schutz. Nach vorn zu aber öffnete sich dem Auge ein nicht breites, doch um so lieblicheres Thal, rings von Felsen und waldigen Bergen umrahmt, während im Grunde Wiesen in bunter Blumenpracht leuchteten, grüne Matten schimmerten, Waldschatten dunkelte, Bäche und Wässer blitzten und über Allem der Sonnenschein lag, der Duft der noch von keiner Sense berührten Blumenhänge schwebte und das Summen der Käfer und der Gesang der Vögel darein klang, als wäre es ein Theil des zu Tönen gewordenen Duftens, Wallens und Wehens.

Die Bäuerin mußte durch ein Geschäft aufgehalten worden sein, denn es verging geraume Zeit, bis sie wieder kam. Der Maler gewahrte es aber nicht; die Hände unter Kinn und Bart stützend sah er unbeweglich in die Landschaft hinaus, als wolle er Linien, Töne und Farben, die blitzenden Lichter und die wallenden Schatten in sich einfangen, sie zum inneren kunstvollen Bilde zu gestalten. Er hatte darüber die Anwesenheit des Geistlichen ganz vergessen, der, noch immer in sein Brevier vertieft, die Gegend nicht eines Blickes würdigte.

„Wie, mein Herr,“ rief der Maler verwundert, als er, sich einmal abwendend, dies gewahrte, „Sie vermögen es, an einem solchen Orte zu lesen? O, nur einen Augenblick gönnen Sie diesem lebendigen Buche, und der Blick Ihrer Augen wird nicht mehr zu den todten Lettern zurückkehren!“

„Was von außen kommt, ist vergänglich,“ erwiderte der Priester ernst; „wer klug ist, lernt bei Zeiten, den Blick nach innen zu richten!“

„So?“ sagte der Maler sich erhebend im gedehnten Tone der Verwunderung. „Dann verzeihen Sie, wenn ein Mensch, der so ganz am Aeußern hängen muß, wie der Maler, Sie in Ihrem innerlichen Schauen unterbrochen hat … Jedenfalls aber sind Sie in der Gegend wohl bekannt und sind vielleicht so freundlich mir eine Frage zu beantworten … Wie heißt wohl jener Berg mit dem gewaltigen Doppelhorn, dort über der Waldbreite, unmittelbar neben dem kahlen langgestreckten Felsgrat?“

„Das weiß ich nicht,“ sagte der Caplan wie zuvor, „wir kümmern uns nicht um die Berge!“

„Nicht?“ rief der Maler, unangenehm berührt, beinahe wie zürnend entgegen. „Um was kümmern Sie sich denn – wenn es erlaubt ist, zu fragen?“

„Um das, was erhabener ist, als die Berge, und unvergänglicher, als sie!“

Dem Künstler stieg es heiß in’s Gesicht; er wollte gereizt erwidern, wie ihn die Gluth antrieb, die er in seiner Brust nährte, wie die Opferflamme in einem Heiligthum – er begegnete dem fest und erwartend auf ihn gerichteten Auge des Priesters und in ihm dem Leuchten eines ähnlichen Strahles, das einer anderen, aber gleich heilig gehaltenen Ueberzeugung entstammte – und er schwieg. Hastig packte er seinen Kasten und die anderen Geräthschaften zusammen und rief der eben herankommenden Bäuerin zu: „Ich will dort hinüber, auf den Abhang, wo die zwei Buchen stehen – es scheint ein hübscher Punkt zu sein, ich will eine Studie malen … die Beleuchtung hat gerade noch etwas von dem letzten verschwindenden Dufte des Morgens in sich! – Meine Milch nehme ich mit,“ fügte er, ihr das Glas abnehmend, leiser hinzu, „in der Gesellschaft könnte sie mir sauer werden!“

Der Geistliche wartete ab, bis er weit genug entfernt war, und lud dann die Bäuerin mit feierlicher Geberde ein, neben ihm auf der Hausbank Platz zu nehmen.

„Aber was giebt’s denn nur, Hochwürden?“ rief sie staunend. „Sie machen mir ja völlig Angst – das muß ja ’was Schreckliches sein, was Sie mir sagen wollen!“

„So ist es auch,“ erwiderte er ernst, „etwas, was das Heil Eurer Seele, das Wohl der ganzen Gemeinde und der Kirche selber betrifft …“

„So reden S’ doch – was soll ich denn thun?“

„Antworten – und mir vertrauen; die Macht, die den Sturm erregt, vermag ihn auch wieder zu besänftigen … Ihr habt, wie ich höre, schon seit mehreren Jahren zur Sommerszeit, Gäste in Eurem Hause. Es sind Fremde – aus dem Norden Deutschlands … aus Preußen – nicht wahr?“

„Ich weiß net, Hochwürden – ich kenn’ die Gegend net so genau: sie sind halt noch viele Stund’ hinter Berlin daheim – in der Mark, glaub’ ich, oder wie man’s heißt … sie sind Gutsherrnleut’ und haben auch eine große Oekonomie, wie wir …“

[595] „Und werden sie auch in diesem Jahre kommen?“

„Das weiß ich selber net – ich denk’ wohl, aber ich hab’ noch keine Nachricht …“

„Dann erkennet eine gütige Fügung deö Himmels darin, der mich zu Euch führt, da es noch Zeit ist, Euer Haus vor einem großen Unglück zu bewahren! Wisset, daß ich deswegen zu Euch gekommen – ich will Euch warnen, will Euch beschwören, jene Menschen nicht mehr aufzunehmen in Euer reines, altchristliches Haus …“

„Sie erschrecken mich, Hochwürden! Sie werden doch nichts Unrechtes wissen von denen Leuten? Ich hab’ sie für ordentlich und rechtschaffen gehalten …“

„Das zu untersuchen, würde zu weit führen und ist auch unnöthig! … Wißt Ihr nicht, daß sie Protestanten sind … das ist genug, ein solcher Umgang kann und wird Euch niemals Segen bringen …“

Die Bäuerin hatte die Hände im Schooße gefaltet und sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. „Das weiß ich wohl,“ sagte sie dann, „und es mag wohl ein arges Volk sein um die Luttrischen … aber mit denen, die bei mir logiren, muß es doch net gar so weit gefehlt sein! Das sind recht stille, ordentliche Leut’, – ein Jedes davon … ich hab’ wohl drauf Acht gegeben … hat sein Gebetbuch, und ich hab’s auch gesehen und gehört, wie sie Alle Morgens und Abends das Vaterunser gebet’ haben, gerad’ wie wir auch, und recht andächtig, Hochwürden, Sie können mir’s glauben!“

„Und dünkt Ihr Euch so klug,“ rief der Priester in strengem Tone, „daß Ihr das zu beurtheilen im Stande seid? Wie es nur Eine Sonne am Himmel giebt, kann es auch nur Einen wahren Glauben geben, nur Eine rechte Art, zu beten! Ich sehe leider, daß das Gift solcher Umgebung Euch schon ergriffen und verblendet hat! Das ist eben die entsetzliche Gefahr, daß ein solcher Verkehr den eigenen Glaubenseifer abstumpft, daß er jene sträfliche Lauigkeit hervorbringt, welche die Welt so gern mit schönen Worten aufputzen möchte und die doch nichts ist, als Gleichgültigkeit, von der nur noch ein Schritt ist zu dem entsetzlichsten Unheil, zum Unglauben! Ich will doch nimmermehr glauben, daß es der schnöde Geldgewinn ist, der eine so reiche Frau bewogen hat …“

„Mit Verlaub, Hochwürden,“ unterbrach ihn die Bäuerin, „das sind harte Reden, die Sie mir da geben … ich sehe wohl, ich muß Ihnen schon erzählen, wie’s zugegangen ist, daß die Preußischen auf den Funkenhauserhof ’kommen sind! … Es werden so um Jacobi herum gerad’ volle drei Jahr’ sein, da ist die Frau von Schulze zum ersten Mal mit ihrem Sohn und ihrer Tochter zu mir herauf gekommen, sie haben einen Spaziergang gemacht und haben dabei über Macht gethan, denn die Tochter, die krank ist und an der Schwindsucht leidet, die war so müd’ und matt, daß sie vor Elend nicht mehr weiter gekonnt hat und da, wo wir jetzt sitzen, in einer völligen Ohnmacht auf der Bank gelegen ist. Wie sie nachher wieder zu sich ’kommen ist, da hat sie die Mutter zu sich hingewinkt und hat ihr zugewispert: ‚O Mutter, wie ist es hier oben so schön – welch’ balsamische Luft! Wie thut sie meiner kranken Brust so wohl … O, hier möchte ich bleiben! Hier würde ich gewiß bald gesund werden.‘ – ,Nun, hat die Mutter darauf gesagt, ‚das kann ja vielleicht geschehen, wir ziehen aus dem Dorfe und aus dem Gasthause herauf und die Bäuerin hier wird uns gegen gute Vergütung wohl behalten.‘ Ich hab’ es wohl gemerkt und verstanden, wie sie so untereinander gered’t haben und um die Sach’ herumgegangen sind, aber ich hab’s net hören und verstehen wollen, denn ich hab’ mir’s wohl gedenkt, wie’s mit der Religion bei denen Fremden stehen mag, und ich hab’s net für möglich gehalten, daß ich einmal Ja sagen sollt’ und sollt’ Luttrische in meinen Hof lassen. Wie sie dann mit der Sprach’ herausgerückt sind, hab’ ich Nein gesagt und hab’ zuerst allerlei Ausreden ’braucht, daß ich keinen Platz hätt’ in meinem Haus, daß da oben in der Einöd’ nichts zu haben sei, daß meine Leut’ auf die Bedienung von solchen Herrschaften net eingeschossen sind … wie’s aber Alles net hat helfen wollen, da hab’ ich auch net mehr hinter’m Berg gehalten und hab’s der Frau gerad’ heraus gesagt, ich könnt’ mir wohl einbilden, daß sie luttrische Leut’ wären – ich aber und mein Haus, wir wären gut und alt katholisch, und das könnt’ sich net gut vertragen miteinander und ich könnt’s vor mein’ Gewissen net verantworten, wenn ich ihnen ihren Willen thät’ … Ich hab’ mir eingebild’t, sie würden mir noch viel vormachen und mir’s auszureden suchen oder mich wohl gar auslachen – aber das haben s’ Alles net gethan … ‚Wenn das ist,‘ hat die Frau gesagt, ‚so reden wir nicht mehr davon, um unsertwillen soll Euer Gewissen nicht beunruhigt werden.‘ Die kranke Fräul’n aber hat gar nichts gesagt und hat mich nur mit ihren großmächtigen Augen aus dem blassen eingefallenen Gesicht angeschaut, ich kann gar net sagen, wie … Sie sind nachher fortgegangen; der Bruder und die Mutter haben die Kranke fortgeführt, bis da vorne zu dem Wegkreuz, da sind sie nochmal stehen geblieben und haben zurück geschaut – ich aber bin in’s Haus hinein, damit ich sie nimmer gesehen hab’ … Und wie ich in die Stuben hineintret’, da bin ich vor dem geschnitzten Bild gestanden, das auf dem Hausaltarl’ steht … es ist unser Herr in der Rast mit der Dornenkron’ auf dem Kopf und mit dem rothen Königsmantel… Da ist’s mir gewesen, als wenn er mich anschauen thät mit sein’ schmerzhaften traurigen Blick und als wenn er mit denen gebundenen Händen hindeuten thät auf die Schrift unten am Postament und als wenn er sagen wollt’ … ‚Kommt her zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid und ich will Euch erquicken‘ … da hab’ ich mich vor mir selber geschamt bis in’s tieffste Herz hinein, und die bittern Zäher sind mir ’runtergelaufen und ich bin denen Fremden nach und hab’ ihnen schon von Weitem zugerufen, sie sollten bleiben, ich wollt’ sie aufnehmen – und wenn das eine Sünd’ gewesen ist, dann wird’s unser lieber Herrgott mit mir gnädig machen, denn ich hab’ net anders gekonnt … Und so – so ist es halt zugegangen, so sind die Luttrischen Leut’ auf den Funkenhauserhof gekommen …“

Der Geistliche hatte zugehört, ohne sie mit einer Miene oder einem Laute zu unterbrechen. „Ihr habt Euch von einem menschlichen Gefühle leiten lassen,“ sagte er dann, „das an sich ganz lobenswerth ist, zu weit getrieben aber zum großen Unrecht, zu sträflicher Schwäche wird. Ihr habt Eurem weichen Frauenherzen Genüge gethan, mögen die Fremden nun einen andern Platz zu Vergnügen oder Heilung suchen – an Euch ist es jetzt, den Umgang abzubrechen und das Aergerniß wieder gut zu machen, das Ihr gegeben habt!“

Die Bäuerin wendete sich rasch und blickte den Geistlichen scharf an, indeß es ihr roth bis unter die grauen Scheitelhaare aufstieg. „Ein Aergerniß auf dem Funkenhauserhof?“ rief sie. „Das wär’ das erste Mal, seitdem ich und mein sel’ger Mann da heroben hausen! Und Ihr Wort in Ehren, Hochwürden, aber das kann ich auch nicht glauben! Ich bin selbiges Mal am andern Tag in aller Früh hinunter zum Herrn Pfarrer und hab’ ihn um Rath gefragt, und der hat mir die Hand gegeben und hat gesagt, ich hätt’ recht gethan … und das ist für meinen Bauernkopf zu rund, wie das, was dazumal nicht unrecht gewesen ist, jetzt auf einmal eine Sünd’ sein soll!“

„Darüber, meine gute Frau,“ sagte der Caplan mit Nachdruck, „möget Ihr das Urtheil am besten Andern überlassen, deren Beruf und Amt es ist – gläubiger Gehorsam ist Euer Verdienst und Eure Aufgabe … Ueberleget daher wohl, wozu Ihr Euch entschließet; nützet die Augenblicke, die Euch noch gegeben sind, denn sie sind wie gezählte Tropfen in der Hand des Herrn und ein jeglicher bringt Euch dem des Todes näher, da die Seele von dem Körper geschieden wird, um Rechenschaft abzugeben …“

Er hatte sich während dieser Worte erhoben, die Bäuerin that das Gleiche; sie rückte ungeduldig an der schwarzgestrickten Hausmütze, die ihren grauen Kopf bedeckte, und schien zu kämpfen, ob sie ihren Gedanken und Empfindungen Worte geben solle … „Ich bin keine solche Unchristin, Hochwürden,“ unterbrach sie ihn jetzt losplatzend, „daß ich net an meine Sterbstund’ denken sollt’, ich thu’s alle Tag’, und ich denk’, wie ich grau geworden bin in Ehren, will ich mein graues Haar auch in Ehren in die Grube bringen … Aber weil wir doch so schön bei einander sind und weil wir doch so jung nimmer zusammen kommen, so muß ich Ihnen schon sagen … Es kann Alles recht schön sein, was Sie mir gesagt haben, aber ich gehöre noch zu der alten Welt und halt’s noch mit der alten Frömmigkeit! Ich hab’ es schon gehört, daß sie jetzt eine neue Frömmigkeit aufbringen wollen, und Sie werden Wohl auch Einer von denen sein! Ich hab’ mir sagen lassen, Sie wollen den jungen Leuten das Tanzen verbieten und selber das Singen, es soll Alles still sein und unterthänig, [596] wie in einem Kloster … zu meiner Zeit, wie ich jung gewesen bin, da hat man gesagt: je reiner das Gemüth ist, je heller klingt’s, wenn man singt – da hat man aus der Welt kein Kloster machen wollen, und unser alter Herr Pfarrer hat gesagt, die Engel im Himmel haben ihre Freud’ daran, wann s’ irgendwo vergnügte und fröhliche Menschen sehen … Sehn’s, Hochwürden, das ist halt mei’ Glauben und bei dem will ich bleiben und glaub’, wenn’s zum Sterben kommt, wird unser Herrgott auch ein Einseh’n haben und wird’s mit einem geringen Bauernweib net so haarscharf nehmen, denn der schaut in’s Herz und net in den Kopf!“

Ein Bauernjunge, der rufend die Halde hergelaufen kam, unterbrach sie im Redefluß. Athemlos kam er heran und brachte die Botschaft vom Postmeister im nahen Marktflecken, die jährlichen Gäste des Funkenhauserhofes seien eingetroffen und einstweilen bei ihm eingekehrt, weil sie von der Reise sehr angegriffen seien, morgen aber würden sie kommen und ihren feierlichen Einzug halten.

„Also doch!“ rief die Bäuerin und beachtete in ihrer Freude gar nicht, daß der Geistliche ohne Abschied sich entfernt hatte und mit ernstem Schritt, wie er gekommen, langsam und lesend den Berg hinabwandelte. „He, Tonerl, geh’ hinauf in die gute Stuben, mach’ die Fenster auf und thu’ die Spinnweben herunter – uns’re Sommergäst’ kommen!“

Eilend schritt sie dem Hause zu, ohne Antwort abzuwarten; sie war aber wohl gehört worden, denn aus dem Innern des Hofes ertönte aus einer Mädchenkehle ein frischer langgezogener Juhschrei, wie wenn die Sennerin auf hoher Alm der aufgehenden Morgensonne entgegenjauchzt.




2. Schwarz oder Blau.

Die Junisonne stand schon hoch und brannte mit vollster Gluth auf der steilen Felswand, welche über dem Bergwalde so schroff und riesig hinanstieg, daß ein paar der höchsten Kirchthürme, über einander gestellt, kaum genügt hätten, an die oberste Kante zu reichen. Wer unten vom Fuße derselben aus der hügeligen Halde zwischen den verstreuten Heuhütten emporsah, mußte scharfe Augen haben, wenn er in den kleinen dunklen Punkten, die an dem höchsten Schrofen hingen, wie im Vorüberfluge sich rasch anklammernde Vögel, Menschen zu erkennen vermochte. Es waren zwei Jäger, welche die Felswand hinankletterten, Rucksack und Büchse über die Schulter gehängt, um im Steigen nicht gehindert zu sein, während sie mit den Füßen vorsichtig nach einer Spalte oder einem Vorsprung als Stützpunkt tasteten und zugleich mit den Händen nach einer herabhängenden Ranke oder dem Geäste einer Zwergtanne griffen, die ihre zähen Wurzeln in das Gestein einzukeilen gewußt. Es galt dabei immer noch, sich mit den Knieen fest an das Gestein zu stemmen und jeden Blick in die Tiefe zu vermeiden. Der Eine, Geübtere schien mit der Oertlichkeit vollkommen vertraut und rief voranschreitend dem Gefährten aufmunternde Worte und Weisungen zu, wie er auf die Stellen, welche er selbst eben verlassen hatte, vorsichtig den Fuß setzen und sich an den Felsen anhalten solle, um nicht in die grausige Tiefe zu stürzen.

Es war Ambros. Sein braunes Gesicht war von der Anstrengung geröthet; sonst schien er nichts von derselben zu empfinden. Seine Kniee waren stramm, und nichts zuckte an der ganzen, gedrungenen Gestalt, als er eben auf einer steil vorspringenden Platte ankam, von welcher aus jede Möglichkeit, weiter vorzudringen. durch eine tiefe Kluft abgeschnitten war. Die Wildwasser, welche im Frühling und Frühsommer aus den schmelzenden Schneemassen herniederstürzen, hatten sich mehrere Klafter tief und breit eine schauerliche Bahn eingerissen, über welche es keinen anderen Weg gab, als sich mit eingesetztem Bergstock auf die andere Seite zu schwingen, wo einige Schuh tiefer ein breiter, mit Gras bewachsener Block eine bequeme Stelle zum Ansprung bot.

„Da heißt’s jetzt, ein kleines bissel springen,“ rief Ambros seinem Nachmanne zu. „Es hat aber nichts zu sagen, Herr; der Bergstock tragt Einen schon hinüber, und zudem geht’s ein bissel abwärts. Ich will’s Ihnen gleich vormachen.“

Vorsichtig trieb er die Eisenspitze seines Stockes in einen Felsenspalt und prüfte wohl, daß er weder abgleiten, noch das Gestein absprengen konnte. Dann setzte er mit gleichen Beinen zum Sprunge an und schnellte sich in kräftigem Schwunge über die Kluft. Er kam glücklich auf dem Blocke an, und wenn auch im ersten Augenblicke von der Erschütterung die Kniee knickten, stand er doch bereits im nächsten wieder so kerzengerade da, wie die Tannen, welche unfern davon ihre Gipfel emporstreben, als wären sie nach der Schnur in die Höhe gezogen.

Der zweite Jäger hatte wohl den Ruf vernommen, aber er vermochte den Sprung nicht genau zu sehen, weil derselbe nach abwärts ging. Vorsichtig tastete er sich auf den Felsstücken, auf welchen Ambros zuletzt gestanden, vorwärts, und stand nun an der Schlucht über dem Abgrund, durch denselben von seinem Führer getrennt, der es sich gegenüber schon bequem gemacht und wie zur Erleichterung Rucksack und Stutzen abgeworfen hatte. Auf den Bergstock mit übereinandergelegten Armen sich stützend, stand Ambros erwartend da und schien dem Sprunge seines Gefährten mit gespannter Neugier entgegenzusehen.

Dieser trug ebenfalls die Tracht der Jäger im Gebirge: die graue Joppe mit grünem Saum und Kragen und den gleichfarbigen Hut, auf welchem weder der zierliche Federschmuck noch der krause Gemsbart fehlte. Die bloßen Kniee, welche zwischen der kurzgeschnittenen Lederhose und den Wadenstrümpfen hervorsahen, verriethen durch ihre Weiße ebenso wie der bessere Stoff, aus welchem die Kleider gefertigt waren, daß der junge Mann die Jägerei in diesen Bergen wohl nur zum Vergnügen betreibe und darin weder gehörig geübt, noch völlig abgehärtet war. Man sah dem feinen, schlanken jungen Manne die Mühe und Anstrengung an; der Schweiß rann in schweren Tropfen von der Stirn, und es kostete ihn sichtbar Mühe, sich aufrecht zu halten. Dennoch wußte er die gute Haltung, welche ihm angewöhnt schien, zu bewahren; der Wille in ihm war stärker und ersetzte, was der weniger geübten Kraft gebrach. Mit einem Befremden, das ziemlich das Ansehen des Schreckens trug, sah er von der Platte bald in die Schlucht hinunter bald zu Ambros hinüber, und in seinen Blicken lag die Frage, ob es nicht etwa einen andern Weg gebe und ob er wirklich da hinüber müsse.

„Kommen Sie nur, Herr Günther!“ rief Ambros. „Müssen sich nicht lang besinnen; es giebt keinen andern Weg! Setzen Sie nur den Bergstock fest ein! Sie sehen ja, wo ich den meinigen eingesetzt habe. Sie haben mir ja oft gesagt, daß Sie beim Turnen, oder wie das Ding heißt, so gut springen gelernt haben – da können Sie’s gleich einmal probiren! Müssen nur nicht hinunterschauen, damit Sie nicht etwa schwindlig werden.“

(Fortsetzung folgt.)




Die Altmeister der deutschen Imker.

Der Spätsommer ist gekommen, und mit ihm die Zeit der sogenannten Wanderversammlungen deutscher Berufsgenossen. In Hamburg hat unlängst der Juristentag seine Sitzungen beendet, in Wien tagen Künstler und Land- und Forstwirthe zugleich, im schönen Elbflorenz sind die deutschen Aerzte und Naturforscher vereint und in Darmstadt sitzen die deutschen Bienenväter, die Imker, wie sie sich lieber nennen hören, im Austausch ihrer Ansichten über Theorie und Praxis der Bienenzucht zusammen. Dieser letztern gebührt in der That mehr als manchem andern Zweig der edlen Landwirthschaft ein nicht unbedeutender Platz unter den Beschäftigungen der Menschen. Wie klein auch immerhin, dem großen Ganzen gegenüber, ihr Antheil an der Volksbildung, an der Entwickelung des geistigen wie körperlichen Wohles der Menschheit sein mag, immer bleibt doch der Segen, welchen sie seit dem grauen Alterthume den Menschen gespendet hat, noch spendet und in Zukunft erst recht noch spenden wird, ein nicht unbeträchtlicher. Abgesehen von dem außerordentlichen Vergnügen, welches sie gewährt – die Beschäftigung mit den Bienen ist gleich dem Lesen eines hochpoetischen, anregenden, im höchsten Grade spannenden Gedichtes – bildet vor allen Dingen der materielle Gewinn, den sie durchschnittlich ihren zahlreichen Jüngern aus allen Classen der menschlichen Gesellschaft gewährt, den Anziehungspunkt.

[597]

Dzierzon.
Rudolph Leuckart.  August Freiherr v. Berlepsch.  Ernst v. Siebold.
Georg Kleine.
Die Koryphäen der deutschen Bienenzüchter.

Viele Millionen Thaler werden in Deutschland allein durch die Bienenzucht gewonnen, wovon der größte Theil gerade den weniger Bemittelten zufließt, und doch sind diese Millionen nur ein kleiner Bruchtheil von dem, was gewonnen werden könnte, von den ungeheueren Schätzen, die ungehoben, unbenutzt jährlich in den Blüthenkelchen der Kinder deutscher Flora verkommen, obgleich gar Mancher, bei einiger Lust und im Besitze eines Plätzchens für ein paar Bienenstöcke, sich leicht einen Theil jener Schätze sichern könnte. Viele Tausende klingender Münze gehen noch jährlich für Honig und Wachs in’s Ausland, weil wir noch nicht einmal unsern eigenen Bedarf decken. Aber hoffen wir, daß es auch in dieser Beziehung endlich besser wird; die Anzeichen und Bedingungen hierzu fehlen nicht. Mit Eifer befördern die deutschen Regierungen, oft mit außergewöhnlichen Mitteln, die Bienenzucht, und um so weniger werden diese Mittel nutzlos angewendet sein, als eben eine neue Bienenwirthschafts-Betriebsweise, wesentlich von der Jahrtausende alten verschieden, sich immer mehr Bahn bricht; sie werden es um so weniger sein, als endlich in das bis jetzt dunkle und verborgene Leben und Weben der Bienen die hellsten Lichtstrahlen – Dank deutschem Fleiße, deutscher Ausdauer und deutscher Gründlichkeit – gefallen sind, in Folge dessen eine richtige Theorie hat aufgestellt werden können. Diese neue Betriebsweise sichert den Jüngern der edlen Bienenzucht mehr als den doppelten Ertrag der alten, macht die Biene im wahren Sinne des Wortes erst [598] Hausthiere, ermöglicht es selbst dem vielfach in Anspruch genommenen Geschäftsmanne, mit Erfolg in seinen Mußestunden Bienenzucht treiben zu können, und erhöht schließlich das Vergnügen, welches die Imkerei dem Bienenvater in so reichem Maße zu gewähren im Stande ist. Die Aufsteller, Begründer und Ausbauer dieser neuen hochwichtigen Bienenwirthschafts-Betriebslehre sind die dem Leser im Bilde vorgeführten Altmeister der deutschen Imker nebst ihren gelehrten Gehülfen.

Als der erste aller deutschen Bienenväter, als das „von Gott besonders begnadigte Bienengenie“, wie man ihn genannt hat, muß der bekannte Johann Dzierzon bezeichnet werden, der, ein Schlesier von Geburt, seit mehr als dreißig Jahren als katholischer Hülfspfarrer zu Karlsmarkt in seinem Heimathlande wirkt. Wohl wäre es ihm ein Geringes gewesen, in höhere Stellen aufzurücken, wenn er dies aber verschmähte, so geschah das nur, weil seine Stelle ihm zur Beobachtung und Pflege der schon in früher Jugend liebgewonnenen Bienen hinreichende Muße gewährte und weil er sich durch Einrichtung von Bienenständen in und um Karlsmarkt gefesselt hielt. Seine ersten Artikel über Bienenzucht erschienen bereits vor mehr als zwanzig Jahren in den Frauendorfer Blättern, wurden aber nicht sehr beachtet, da sie nur wenigen Imkern zu Gesicht kamen. Erst mit dem Eintritte unter die Zahl der Mitarbeiter der Eichstädter Bienenzeitung, des Organs deutscher Bienenzüchter, 1846, beginnt der Zeitpunkt seiner bedeutungsvollen Einwirkung auf deutsche und außerdeutsche Bienenzüchter. Gleich in dem ersten Aufsatz, mit welchem er in der Bienenzeitung auftrat, gab er die Grundlage seiner später vollkommen entwickelten Theorie und Praxis: Es giebt drei Bienengattungen im Stocke: Drohnen (Männchen), die Königin (vollkommenes Weibchen) und Arbeitsbienen (unentwickelte Weibchen). Unter besonderen Verhältnissen können Arbeitsbienen zum Legen von Eiern ohne Befruchtung befähigt werden, aus welchen sich aber nur Drohnen entwickeln. Die Königin ist in der Regel die einzige Eierlegerin in einem Stocke und legt die Eier zu allen Bienenindividuen. Dazu wird sie durch die Begattung mit der Drohne tüchtig gemacht. Ohne Begattung kann sie wohl Eier legen, es entstehen aus denselben aber nur Drohnen.

Damit war die Lehre von der Parthenogenesis (der jungfräulichen Zeugung) aufgestellt, die von allen Seiten, von Bienenzüchtern und Physiologen angefochten und verspottet wurde, bis sie endlich durch kraftvolle Unterstützung von Seiten v. Berlepsch’s, Kleine’s, v. Siebold’s und Lenckart’s zur vollsten Anerkennung gelangte. Ebenso gab Dzierzon in diesem seinem ersten Artikel bereits die Andeutung zu seiner neuen Bienenwohnung, dem Stocke mit beweglichem Bau, der einen so wesentlichen Umschwung in der praktischen Bienenzucht veranlaßte. Außer in der Bienenzeitung und auf den Wanderversammlungen deutscher Bienenzüchter, suchte er für seine Lehren auch in einer Reihe von selbstständigen Schriften zu wirken, die sämmtlich für die Bienenwirthschaft von höchster Bedeutung sind.

Ein anderes wesentliches Verdienst hat sich Dzierzon durch die 1853 erfolgte Einführung der italienischen Biene in Deutschland erworben. Dieselbe trug wesentlich mit zur Entscheidung der bitteren Kämpfe bei. „Im Begriff,“ so schreibt er uns im März d. J., „binnen Kurzem von meinem Amte zurückzutreten und mich nur der Bienenpflege zu widmen, werde ich vorzugsweise die Reinerhaltung, Vermehrung und Verbreitung der schönen gelben, fleißigen und sanften italienischen Biene, dieser jedenfalls edelsten unter allen Bienenracen, mir zum Zweck setzen, um mir das Zeugniß geben zu können, eine neue Theorie begründet, eine neue Behandlungsart herbeigeführt, so wie auch eine neue Bienenart heimisch gemacht zu haben.“

Der Zweite in unserer Reihe ist ein Thüringer, August Freiherr von Berlepsch, der, nach juristischen Studien, auf dem Stammgute seiner Familie zu Seebach unweit Mühlhausen, in neuester Zeit theils in Gotha, theils in Coburg lebte. Wenngleich weniger erfinderisch als Dzierzon und diesem an Beobachtungs- und Zusammenstellungsgabe nicht ganz gleich, ist er doch kaum weniger scharfsinnig, als dieser. Er ist der Mann, der gegebene Anfänge äußerst geschickt weiterzuführen versteht, und hierin beruht eines seiner wesentlichsten Verdienste um die Bienenzucht. Obwohl Anfangs ein Gegner Dzierzon’s, überzeugte er sich doch gar bald von der Nichtigkeit der von diesem aufgestellten Grundsätze und wurde nun dessen eifrigster Paulus. 1853 veröffentlichte er eine Reihe bienenwirthschaftlicher Briefe, welche in der gesammten Imkerwelt ungeheueres Aufsehen erregten. In diesen setzte er die neue Dzierzon’sche Theorie klar und systematisch auseinander und belegte das Behauptete mit experimentellen Beweisen. Was Dzierzon in einem siebenjährigen Kampfe nicht gelungen war, sich vollkommene Anerkennung zu erringen, das erreichte Berlepsch in Verbindung mit einem alsbald zu erwähnenden dritten Bienenmatadore fast mit einem Schlage. Dzierzon’s Sieg war jetzt entschieden, die Gegner schwiegen. In der Theorie der Bienenzucht konnte er weiter nichts thun, als die Dzierzon’sche wissenschaftlich und experimentell weiter begründen, als Praktiker aber hat er die von Dzierzon gegebenen Anfänge zu hoher Vollendung geführt, und es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn wir behaupten, daß sich die Mehrzahl deutscher und außerdeutscher Imker, welche nach dem neuen Betriebe wirthschaften, zu seiner Schule bekennt. Unter den bienenwirthschaftlichen Schriftstellern glänzt er als ein Stern erster Größe; er weiß den Leser zu überzeugen, obwohl oder weil sein Ausdruck derb, oft selbst massiv genannt werden muß. Sein Urtheil ist in den meisten Fällen maßgebend, wenn gleich ihm bei Fällung eines solchen mitunter schon eine Menschlichkeit passirt ist. Sein umfangreiches, gründliches und berühmt gewordenes Werk: „Die Biene und ihre Zucht in honigarmen Gegenden“, erscheint jetzt in zweiter Auflage, von der die ersten Hefte bereits vorliegen. Wer für die Bienenzucht nur einiges Interesse hegt, der wird, wenn er nur die ersten Paragraphen des Buches durchgelesen hat, dieses nicht wieder aus der Hand legen können; er wird unbedingt für die Imkerei gewonnen werden und kann sich dann ohne Schwierigkeit zu einem ebenso geschickten, theoretisch-praktischen wie eifrigen Bienenwirth heranbilden, wenn er seinem Meisterführer nur vertrauensvoll folgt. Seit vorigem Jahre veröffentlicht Berlepsch auch einen Bienenkalender.

Sein Bundesgenosse, dessen wir oben erwähnten, ist ein protestantischer Landgeistlicher zu Lünthorst im Hannoverschen, Georg Kleine. In der Muße ferner Dorfpfarrei erwählte er sich die Bienenzucht, bei der vorzugsweise die wissenschaftliche Seite ihn in Anspruch nahm, zu seinem Steckenpferde. Da die Zeit günstig war, es auch an Anregung nicht fehlte, so brachte er es auf diesem Felde rasch zu einer vollendeten Meisterschaft, so daß sein Ruf als Imkermeister bald weit über die Grenzen Deutschlands hinausdrang. Er war der Erste, der offen auf Dzierzon’s Seite trat und dessen Ansichten verfechten half, und hat namentlich als Physiologe die neue Theorie durch scharfsinnige Beweise in Rede und Schrift begründen helfen und nicht wenig zur Entscheidung des Streites beigetragen. Als fleißiger Mitarbeiter der Bienenzeitung verwaltete er lange Zeit das Recensentenamt, welches ihm Gelegenheit gab, mancher Verkehrtheit den Hals zu brechen, und kaum ist in dem Blatte wohl eine Frage von Wichtigkeit verhandelt worden, an deren Austrage er nicht Theil genommen hat. Bei der seltenen Eleganz seines Styles, der Klarheit und Schärfe seines Ausdrucks, seiner Unübertrefflichkeit in der Darstellung des Vorhandenen, sind seine Schriften von hohem Werthe für Jünger wie für Laien der Bienenzucht. Welches hohe Interesse seine Werke gewähren, beweist am besten das Urtheil einer alten Stiftsdame, die den Ausspruch that: es sei kein Roman für sie so anziehend gewesen wie Kleine’s Buch.

War es unter diesen Umständen wohl ein Wunder, wenn der große Kleine im Aus- wie im Inlande die höchste Anerkennung seiner Verdienste fand? Viele Vereine ernannten ihn zu ihrem Ehrenmitgliede, der Würtemberger Verein übersandte ihm seine goldene Biene, die Pariser Societé de l’Apiculture übermachte ihm eine Nadel in Email etc. Seit einigen Jahren ist Kleine Redacteur des bienenwirthschaftlichen Centralblattes für Hannover, welches seine Gediegenheit und Verbreitung meistens dem allgemein beliebten und hochgeschätzten Manne verdankt.

Als die gelehrten Gehülfen unserer Bienenzüchter endlich verdienen vor allen andern die beiden berühmten Zoologen Karl Theodor Ernst von Siebold, jetzt in München, und Rudolph Leuckart in Gießen, hier mit namhaft gemacht zu werden. Ersterer stellte die oben gedachte „jungfräuliche Zeugung“ wissenschaftlich fest und bewies andere Punkte der Bienenzucht gleich Letzterem, welcher sich besonders noch dadurch ein Verdienst erwarb, daß er einige der schwierigsten Fragen in dem berühmten Berlepsch’schen Bienenbuche bearbeitete. Ohne diese beiden Männer hätte die Bienenzucht die jetzige Höhe wohl schwerlich so leicht erreichen können. Sie haben gleichsam die wissenschaftliche Taufe an der neuen Bienenwirthschaftslehre vollzogen.
H. Gr.
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Das Schellengeläute der Thüringer Heerden.

„Wie lieblich klingt im Walde das läutende Getön,
Wenn auf der Bergeshalde die Heerden weidend geh’n!“

Wenn auch das Voß’sche Lob „in Thüringen weiß jeder Bauer Musik“ eine starke dichterische Uebertreibung enthält, so läßt sich doch mit Recht behaupten, daß im Thüringer Volke ein reger Sinn für Musik herrscht und daß namentlich die Gebirgsbewohner eine nicht unbedeutende musikalische Begabung äußern.

Zwar schwindet mit der fortschreitenden Cultur und dem gesteigerten Fremdenverkehr auch in Thüringen die eigentliche Volksmusik, wie die Volkssitte und altväterische Tracht überhaupt. Die Schalmeientöne, welche die Bursche dem Birnbaumblatte, der Birkenrinde und der Weidenflöte abzugewinnen wußten, die lieblich summenden Klänge der Maultrommel und der süßrauschenden Bergmannscither, die als gemüthliche Hausmusik Gesang und Tanz der Waldbewohner belebten: alle diese ursprünglichen Instrumente hört man fast nirgends mehr, sie sind durch die schreiende Ziehharmonika und das moderne „Blech“ allmählich verdrängt. Selbst der frische Volksgesang, der in seiner naturwüchsigen, oft zwei- und mehrstinmig ausgeführteen Weise recht eigentlich das instinctartige Gefühl für Harmonie bekundet und den Glanzpunkt Thüringer Musik bildet, auch dieser verbleicht mehr und mehr.

Aber noch ein Zweig Thüringer Volksmusik hat sich „unbeleckt“ in uralter Weise erhalten und kann in der Art seiner Entstehung und Bezeichnungsweise mit Recht als einender bemerkenswerthesten Eigenthümlichkeiten Thüringer Volksthums, als eine der anmutigsten Erscheinungen unseres Gebirges bezeichnet werden. Es ist das Schellengeläute der Heerden, das uns zur Sommerszeit fast, aus jedem Thale so lieblich entgegentönt und vorzugsweise geeignet ist, den idyllischen Charakter der Thüringer Bergnatur zu erhöhen und den Wanderer wahrhaft zu entzücken.

Unseres Wissens theilt nur das benachbarte Harzgebirge diese Eigenthümlichkeit, denn die vielgepriesenen Kuhgeläute der Schweiz, wenn sie sich auch durch ihre kolossalen Glocken und deren wuchtige Träger auszeichnen, entbehren doch des wesentlichsten Vorzuges, der reinen, harmonischen Stimmung.

Kaum ein anderer Zug thüringischen Natur- und Volkslebens vermag einen freundlicheren Eindruck hervorzurufen, als das „läutende Getön“ der Gebirgsheerden, mögen diese am frühen Morgen den blaubedufteten, grasreichen Bergen zueilen, oder wohlgenährt und in friedlich geordneten langen Reihen am Abend nach den „gewohnten Ställen“ ziehen. Und welch’ ein unbeschreiblicher Zauber ergießt sich über die reizende Bergnatur, wenn aus tiefem Waldesdunkel oder von einsamer, waldumsäumter Bergeshalde jene wunderlieblichen Klänge erst fern und halbverschleiert, dann näher und näher kommend zu uns herüberschallen! – Außer dieser Eigenthümlichkeit, die Bergnatur gleichsam zu illustriren, hat indessen die, Thüringer Waldmusik noch eine echt volksthümliche, ja man könnte sagen, wissenschaftliche Seite, die der fremde Wanderer wohl kaum ahnt, die aber bei näherer Betrachtung unser Interesse ungleich erhöhen muß.

Schon die urkräftige wettergebräunte Gestalt des Heerdenführers, der sich selbstgefällig lieber „Hutmann“ als Hirte nennt, fesselt unsere Aufmerksamkeit. Anzug und Ausstaffirung, wenn sie die altväterische Sitte noch treu bewahrten, stimmen prächtig zu den markirten, eine gewisse Intelligenz verrathenden Gesichtszügen: ein breitkrämpiger, schwarzer Filzhut, stets mit Federn oder Blumen geschmückt, kurze Kniehosen, über den Hüften von einem breiten Leibgurt mit zahlreichen Messingschnallen gehalten, lange Gamaschen – Alles, selbst die Weste, von dauerhaftem Leder; schwere Gebirgsschuhe mit dicht „bekrapften“ Sohlen, ein grober, zu den kräftigen Waden herabreichender Tuchrock, der im Sommer mit einem weißleinenen, schmucken Kittel vertauscht wird, ein hainbuchener, „braungebebter“ Hirtenstock und eine kurzstielige Peitsche („Güschel“) mit lassoähnlichem Schlage und einer Schmitze von Kuhschwanzhaaren – kurz, Alles in Form und Stoff eigenthümlich.

Treibt der Hirte in’s Gebirge, so trägt er in einem ledernen Quersack („Ranzel) der mit Messingringen, „Otterköpfchen“ (Kauri, Cypraea Moneta) und dergleichen verziert ist, seinen Mundvorrath für den ganzen Tag. Auch eine kleine Holzaxt und ein kräftiger „Schnitzer“ dürfen nicht fehlen, denn er füllt gar manche müßige Stünde mit Schnitzereien, Besenbinden, Rechenmachen, Holzsammeln etc. aus, ja er versteht sich selbst auf die Kunst des Instrumentenmachens und weiß das Hirtenhorn, auf dem er als praktischer Musikus eine besondere Zungenfertigkeit entwickelt, wenn er am Morgen das Signal zum Austreiben der Heerde giebt, recht sinnreich aus starken Fichtenwurzeln herzustellen. Nebenbei ist er wohl auch Schneider, Schuster und Sattler, so weit es seine Bedürfnisse erheischen, vor Allem aber Thierarzt und Operateur seines Dorfes. Als solcher kennt er die hauptsächlichsten Heilkräuter und deren Zubereitung und quacksalbert zuweilen selbst mit Geheimmitteln und Wundercuren an Menschen. Einzelne, wie u. A. der durch Ludwig Storch verherrlichte „Vorwärts Hens“ in Thal bei Ruhla, hatten seiner Zeit bei Hoch und Niedrig eine Berühmtheit, wie sie wohl kaum ein moderner Wunderdoctor trotz aller Reclamen zu erschwindeln vermag. Kurz, ein Thüringer Hutmann von echtem, altem Schlage ist eine gar wichtige, hochangesehene Person.

In seinem Schellengeläute lernen wir ihn aber auch als theoretischen Musiker kennen. Er ist dies allerdings mehr unbewußt und instinctmäßig, denn die Gesetze der wissenschaftlichen Harmonielehre, nach denen er sein Geläute einrichtet und stimmt, bezeichnet er eben auf seine eigene Weise. Aber diese ist nicht nur höchst originell und volksthümlich, sondern beweist auch andrerseits, wie tief das musikalisch Gesetzliche („die Natur der Harmonik“) selbst in dem einfachen Natursohne begründet, und wie der musikalisch-richtige Ausdruck eben nur ein natürlicher, ein vernünftiger und darum allgemein verständlicher ist.

Lassen wir uns indeß von ihm selbst in seine Hirtentheorie einführen. Der Beifall, den wir seiner Heerdenmusik zollen, wird den freundlichen Volksmann bald zutraulich und redselig machen; ein schönes Geläute ist ja seine ganze Freude und sein oft sauer erworbenes oder von den Vorfahren ererbtes Eigenthum. Gern und mit einem gewissen Stolze wird er uns erzählen, wie viel dasselbe „Schock und Mandel“ Schellen hat, wie viel „General und Contrabässe“, „Stumpfe und Octävchen“, „Mengel und Auwschellen“, „Beller und Gitzerchen“, wie es weit und breit keines giebt, das so an den Bergwänden „wummert“ und in den Thälern wie „völlige Musik“, wie die „ganze Orgel“ klingt! Er wird uns ferner mit gewichtiger Miene auseinanderzusetzen versuchen – und es kann niemals fehlen, daß er bei der Unterhaltung sich mit gekreuzten Armen und vorgebeugter Stellung auf den Hirtenstecken stützt und sein Stummelpfeifchen behaglich schmaucht – ob das Geläute nach der „Bergmannscither“, oder nach der „Clarnetten“, oder nach der „Drompedden“ (Signalhorn) gestimmt („gerichtet“) ist. Kurz, wir stehen verwundert vor einem Stück ungeahnten Volksthums, das uns um so mehr fesselt, je weniger wir Sinn und Bedeutung dieser originellen Bezeichungsweise verstehen und begreifen.

Noch höher muß aber unsere Achtung vor dem schlichten Manne steigen, wenn wir gewahren, daß das Geläute selbst in inniger Beziehung zu seinem tieferen, religiösen Gefühlsleben steht, wenn er uns gleichsam in gehobener Stimmung anvertraut, daß es ihm die heimathlichen Sonntagsglocken, die feierlichen Orgelklänge seiner Kirche, die er ja den ganzen Sommer missen muß, ersetzt. „Sehen Sie,“ so äußerte sich einst ein solcher Mann, „wenn ich an einem schönen Sonntagsmorgen so allein in dem stillen Walde mit meiner Heerde weide, dann klingt mir mein Geläute so feierlich wie eine Orgel, und ich muß immer an den Choral denken:

„Je-ru-sa-lem, Je-ru-sa-lem!“

Erinnert uns dieser Ausspruch nicht an Uhland’s „Schäfers Sonntagslied“? –

„Nein, welch’ ein prächtiger und doch so wenig gekannter Zug echt thüringischen Volksthums!“ rief begeistert unser unvergeßlicher, leider zu früh verschiedener Freund, Berthold Sigismund, der feinfühlende Beobachter und liebevolle Maler thüringischen [600] Volkslebens,[1] als wir auf unserer gemeinschaftlichen Wanderung durch das heimathliche Gebirg – es war jene verhängnißvolle letzte, die so plötzlich und so zu sagen unter unseren Augen den frühen Tod des theuren Freundes herbeiführen sollte – in Waldesschatten gelagert dem lieblichen Getön der Waldglocken mit ganzer Hingebung lauschten.

„Ach, laß uns doch der in der Nähe weidenden Heerde einen Besuch abstatten,“ versetzte Sigismund weiter; „ich möchte mich so gern von dem biedern Hirten selbst in die Mysterien seiner Theorie einführen lassen. Es gehört, wie Du weißt, zu meinen angenehmsten Genüssen, die mannigfaltigen Berufstätigkeiten, Lebensformen und Anschauungen der Menschen, namentlich der Gebirgsbewohner, die ja ihre Kindheit am treuesten bewahrten, zu beobachten.“

„Herzlich gern; und das wird Dir hier jedenfalls am leichtesten gelingen, da wir zufällig das Glück haben, in diesem Hutmanne zugleich einen ,Schellenrichter’ zu finden, das heißt, einen musikalisch gebildeten Hirten, der zur Winterszeit als ,Adjuvant’, bei Kirchen- und Tanzmusiken die Trompete oder das Horn bläst, vor Allem aber die wichtige Kunst versteht, die Schellen zu ,richten’ (harmonisch zu stimmen), und der sonach mit den Tonverhältnissen und Stimmung der Geläute genau bekannt ist.“

Die schlichte, liebenswürdige Weise, in der es Sigismund so herzgewinnend verstand, mit dem Volke, selbst mit den niedrigsten Leuten zu verkehren und sich in die Lage und Weltanschauung armer Menschen, wie er selbst sagt, zu träumen, verfehlte auch in diesem Falle ihre Wirkung nicht. Der freundliche Hirte, durch die dargebotene Cigarre noch geneigter und gesprächiger gemacht, entwickelte, wenn auch in etwas weitschweifiger und verworrener Rede, sofort seine Harmonielehre, und wir verfehlten natürlich nicht, ihm mit geeigneten Fragen zu Hülfe zu kommen.

Als Resultat unserer Hirtenstudien, die noch durch anderweitige Erkundigungen und Erfahrungen ergänzt und erweitert wurden, dürfte sich etwa folgende geordnete Darstellung ergeben: Jedes Geläute bildet einen reingestimmten, vollständigen Accord (Dreiklang), der stets einer dur-Tonart angehört. Geläute in moll, die offenbar einen elegischen Charakter annehmen würden, giebt es nicht; das heitere Gemüth des Gebirgssohnes, liebt keine krankhaft-modernen Stimmungen. Dieses beweisen auch die thüringischen Volkslieder, die sich sämmtlich in dur bewegen.

Die Einzeltöne (Intervalle), aus denen der Accord des Geläutes besteht, werden durch die an Größe verschiedenen Glocken („Schellen“) zwei bis drei Octaven hindurch verdoppelt angeschlagen, und zwar so, daß ein und dasselbe Intervall durch Glocken von gleicher Stimmung mehr oder weniger verstärkt ertönt. Je zahlreicher also die gesammte Heerde ist, desto mehr „wummert“ das Geläute und klingt wie „völlige Musik mit der ganzen Orgel“.

Die Tonhöhe oder die Tonart des zu Grunde liegenden Accordes und die durch dieselbe bedingte charakteristische Klangfarbe bezeichnet der Hirt auf seine Weise. Hohe Geläute, die in C-, Des-, D- oder Es-dur stehen, nennt er „kingsche“ (kindische, kleine); hingegen solche, die tiefer als C, also in H-, B-, A- oder As-dur erklingen, „grobsche“ (grobe, tiefe).

Das Grundgesetz der Harmonielehre, nach welchem jeder Dreiklang in drei Formen (Versetzungen, Umkehrungen) auftreten kann, ist auch der Hirtentheorie bekannt, und sie gründet sogar auf dieses Gesetz ihre dreierlei Formen accordlicher Stimmung mit volkstümlicher Bezeichnung.

Der Dreiklang erscheint bekanntlich entweder als reiner Dreiklang, wenn er aus Grundton (Tonica), Terz (Obermediante) und Quinte (Dominante) (5 3 1), für C dur also aus (g e c) besteht (Fig. 1. A. B. 1.); oder er, wird durch Versetzung (Umkehrung) zum Sextenaccord, wenn man die ursprüngliche Terz (Obermediante) zum untersten Tone annimmt und dadurch die in ursprüngliche Quint (Dominante) zur Terz, die in die Octave gesetzte Tonica aber zur Sexte macht (6 3 1) , in C dur also (c g e) (Fig. A, 2; B, 3.). Durch eine abermalige Versetzung entsteht endlich der Quartsextenaccord (6 4 1), indem die ursprüngliche Quinte (Dominante) als Grundion, die Tonica als Quarte und die Terz (Obermediante) als Sexte erscheint, in C dur also (e c g) (Fig. A, 3; B, 2.).

Hat nun 1) ein Geläute den reinen Dreiklang (5 3 1), natürlich mit Verdoppelung der Intervalle durch mehrere Octaven, und ist also die tiefste Glocke, der „Baß“, zugleich auch der Hauptton (Tonica) desselben, so sagt der Hirte es ist nach der „Drompedden“ oder dem „Signalhorn“ gestimmt, weil nämlich diese Instrumente die Tonics als tiefsten natürlichen Ton haben.

2) Steht hingegen ein Geläute im Quartsextenaccord (6 4 1), erscheint also die tiefste Glocke, der „Conderbaß“, als Dominante (Quinte oder Unterquarte), so ist dasselbe nach der „Bergmannscither“ gestimmt, denn die leeren Metallsaiten dieses Volksinstrumentes haben ebenfalls die Quartsextenstimmung.

3) Endlich kann auch ein Geläute. einen Sextenaccord (6 3 1) bilden, wenn die tiefste Glocke als „Generalbaß“ die Stelle der Mediante (Terz oder Untersexte) einnimmt, und es entsteht dann eine Stimmung nach der „Clarnetten“ (Clarinette), deren tiefster, natürlicher Ton ja auch mit der Mediante anhebt.

Geläute im Quartsext- und Sexten-Accord, die übrigens außerordentlich anmuthig klingen und darum auch die beliebtesten sind, haben also außer dem eigentlichen „Baß“ (Tonica) noch tiefer liegende „Conder- und Generalbässe“, und der Hirt sagt von denselben wohlgefällig: „sie gehen contra“. Sein musikalischer Instinct findet ganz richtig einen gewissen Widerspruch darin, daß zwar die „General- und Conderbässe“, von denen er stets höchst respectvoll spricht, die tiefsten („gröbsten“) Töne, aber nicht die eigentlichen Haupttöne sind, auf die der Accord des gesammten Geläutes gegründet ist. Einen „General- oder Conderbaß“ zu tragen, gilt als hohe Ehre für eine Kuh und deren Besitzer!

Aber nicht nur für die Tonhöhe und die accordliche Stimmung der Geläute hat man eigenthümliche Benennungen, sondern selbst für die einzelnen Intervalle, respective Glocken, die den Accord bilden, und zwar, in jeder Octavenlage verschieden und theilweis sogar das akustische Verhältniß andeutend.

So heißt also:

1) der Hauptton oder die Tonica jederzeit „Baß“ oder „Ganz-Stumpf“ (von der abgestumpften Form der Glocken);

2) die Terz (Obermediante) „Mittelstumps“, die Mitte zwischen Tonica und Dominante bildend;

3) die Quinte (Dominante) „Mengel“, d. i. der sich mit der Tonica und deren Octave mengende, mischende Ton, der Mitklinger (Aliquot- oder Ober-Ton);

4) die Octave „Halbstumpf“, auch zuweilen „Octävchen“, das akustische Verhältnis 1:2 bezeichnend;

5) die Terz der Octave „Auwschellen“, d. h. Schafschelle. In dieser interessanten Zusammensetzung hat sich mundartlich noch das althochdeutsche ouwî (mittelhochdeutsch ouwe, aue; lateinisch ovis, englisch ewe) = Mutterschaf erhalten, sowie auch im westphälischen und Schweizer Dialect au noch eine gleiche Bedeutung hat;

6) die Quint der Octave „Beischlag“, mit ähnlicher Bedeutung wie „Mengel“;

7) die zweite Octave „Lammschellen“;

8) die Terz der zweiten Octave „grober Beller“ oder „Biller“;

9) die Quint der zweiten Octave „klorer (klarer, kleiner) Beller“ oder „Biller“ darunter versteht man größere und kleinere Glöckchen [601] (Klingeln). Auch diese mundartliche Benennung deutet auf einen gemeinsamen Urstamm mit dem englischen und holländischen bell (Glocke) hin;

10) die dritte Octave und was noch darüber „Gitzer und Gitzerchen“ d. i. Ziegenschellchen (von Gitzi, Gais, Zickelchen).

Alle die hier aufgefährten Intervalle behalten übrigens stets dieselbe Benennung, wenn auch das Geläute durch Hinzufügung eines tieferen „General- oder Conderbasses“ einen Sexten- oder Quartsexten-Accord bildet.

Folgende Notenbeispiele mögen die dargestellten Verhältnisse noch mehr veranschaulichen:

Die Namen „Gitzer“, „Auw- und Laminschellen“ rühren jedenfalls davon her, daß auch die Ziegen- und Schafheerden im Thüringer Wald harmonische Geläute tragen. Diese sind gleichsam verjüngte Kuhgeläute und bestehen, bei sonst gleicher Bezeichnungsweise, nur aus den kleineren Schellen der oberen Oetavenlagen vom Halbstumqf an, klingen aber nicht minder lieblich.

Einem Hirten von altem Schrot und Korn ist es Ehrensache, sein Geläut in reiner Stimmung und überhaupt in bestem Stande zu erhalten, und er sieht darauf umsomehr, als dasselbe nicht der Gemeinde oder einzelnen Viehbesitzern gehört, sondern sein Privateigenthum und gewissermaßen eine Bedingung zur Uebernahme seines Amtes ist. Denn aus forstwirthschaftlichen Rücksichten einestheils, anderntheils aber auch, um dem Verirren oder Zerstreuen der Heerde vorzubeugen, darf kein Hirte ohne Geläute in den Wald treiben, und ein solches zu erwerben, erfordert immerhin ein für die Verhältnisse des Mannes nicht unbedeutendes Capital. Im Herbste werden die Schellen den Kühen abgenommen, sorgfältig gereinigt und ausgebessert, vor Allem sorgt aber ein gewissenhafter Hutmann dafür, das Geläute alljährlich im Frühjahr von Neuem „richten“, harmonisch rein stimmen zu lassen, ehe er es wieder unter seine Heerde vertheilt, denn ein „zergehendes Gelüt“ ist ihm ein wahrer Gräuel.

Das Stimmen erfordert wiederum eine besondere Kunst und Geschicklichkeit, die eben nur der in die Hirtenharmonielehre tiefer eingeweihte „Schellenrichter“ besitzt. Dieser zieht im ersten Frühjahr von Ort zu Ort zu seinen Collegen, um das wichtige Amt zu verrichten, wird überall respectvoll aufgenommen, reich bewirthet und nach Verhältniß gut honorirt. Zum Stimmen braucht er einen eigens zugerichteten Hammer („Stimmhammer“), eine Eisenfeile und einen zwei Zoll starken, oben abgerundeten Holzstock. Auf diesen steckt er die Glocke und schlägt, wenn dieselbe zu tief ist, mit dem Hammer eine leichte Telle hinein; ist sie zu hoch, so ebnet er entweder schon vorhandene Vertiefungen, oder feilt die Wandung dünner. Versteht der Schellenrichter, wie unsere kunstgerichten Clavierstimmer, nach fortschreitenden Octaven und Quinten zu stimmen, so rechnet er sich diesen Vorzug als besondern Ruhm an.

Auch das Anfertigen der Glocken aus gut geschmiedetem (nicht gewalztem) „Harzer“ Eisenblech erheischt eine eigenthümliche Geschicklichkeit, ja das Zusammenlöthen soll sogar als ein Geheimniß gelten, das wenige Schellenmacher gründlich verstehen. Gegenwärtig wird die Schellenmacherkunst nur noch in Kleinschmalkalden (früher auch in Ohrdruf) von einzelnen Eingeweihten betrieben. Die übrigen Bestandteile der Schellen, den hölzernen, mit Schnitzereien und bunten Farben verzierten Bügel („Kanfe“) und die ledernen Riemen („Strippen“), mit denen die Glocken befestigt sind, wissen die meisten Hirten selbst herzustellen.

Ein vollständiges Geläute muß wenigstens ein Schock und einige Mandel Schellen enthalten und ist nach Verhältniß seiner Stimmen etwa in folgender Weise zusammengesetzt: sechs Gitzer, sechs kleine Beller, sechs grobe Beller, vierzehn Laminschellen, vierzehn Beischläge, zwölf Auwschellen, zehn Halbstumpfe, acht Mengel, sechs Mittelstumpfe, vier Ganzstumpfe (Bässe), zwei Conderbässe, zwei Generalbässe, in Summa neunzig Stück (ein Schock zwei Mandel). Neu und mit allein Zubehör kommt ein solches auf sechszig bis siebenzig Thaler zu stehen. Je nach Anzahl und Beschaffenheit der Glocken stellt sich der Preis natürlich billiger; zuweilen kann man auch wohl alte, aber noch brauchbare Geläute von abgegangenen Hirten erhalten.

Schon öfters sind Thüringer Heerdengeläute in weite Ferne versendet worden, und es gereichte dem Verfasser dieser Zeilen stets zum Vergnügen, derartige Ankäufe durch sachverständige und zuverlässige Hirten zu vermitteln, theils um diese schöne, volkstümliche Sitte weiter zu verbreiten, theils aber auch, um unsern kunstsinnigen Hirten einen kleinen Verdienst zuzuwenden.
R.




Fidelio.
Nach persönlichen Mittheilungen des Herrn Professor Joseph Röckel von Rudolph Bunge.

Es war ein grauer nebeliger Wintertag, der 20. November des Jahres 1805. Aengstlich rannte das Volk durch die Straßen der alten unglücklichen Kaiserstadt, in die vor sieben Tagen das siegreiche Heer der Franzosen eingezogen war. Die Nachrichten von neuausgeschriebenen Contributionen, welche Kaiser Napoleon im ganzen Erzherzogthume eintreiben ließ, zogen wie Gespenster von einem Hause zum ändern und erregten Schrecken in den Palästen wie in den Hütten. An den Straßenecken war ein dichtes Gedränge: Alles wollte die großen Placate lesen, durch welche der neuernannte Gouverneur von Wien, General Clarke, das Volk zur Ruhe und Ordnung mahnte, während in Folge der unglücklichen Ereignisse die Kriegsvorräthe der Kaiserstadt von den französischen Truppen ausgeräumt und geplündert wurden. Jeder las die hochtönenden Proclamationen an den Straßenecken, die damals so wichtig waren und jetzt doch längst wieder vergessen sind – und nur Wenige widmeten wohl dem kleinen, unmittelbar darunter befindlichen Theaterzettel einen Blick, der auch heute an seinem alltäglichen Platze klebte und mit den Worten begann:

K. K. Theater an der Wien.

Heute, am 20. November 1805,
Zum ersten Male:
Leonore.
Oper in 3 Acten nach dem Französischen des Bonilly von Sonnleithner.

Musik von L. van Beethoven.

„Wer ist dieser Beethoven, dem die schöne Oper unseres Meisters Paer nicht gut genug war, daß er denselben Text noch einmal componiren mußte?“ Niemand wußte es und Niemand frug danach, außer wenigen eingeweihten Musikfreunden, welche vielleicht hie und da in einem der vielen Concerte eine Sonate dieses Tonkünstlers gehört hatten. Aber auch diese kümmerten [602] sich heute wenig um den Theaterzettel und hatten die Anzeige der Novität schon längst wieder vergessen, als der Abend die Pforten Polyhymnia’s öffnete.

Die arme, unglückliche Oper! Das k. k. Theater an der Wien, in welchem dieselbe zum ersten Male gegeben werden sollte, lag in der Vorstadt Wieden und existirt daselbst jetzt noch, wenn auch unter andern Verhältnissen. Dorthin zu gelangen war für die guten Stadt-Wiener heute geradezu eine Unmöglichkeit; wenigstens glaubte man dies Unternehmen mit der Gefahr verbunden, daheim inzwischen ausgeplündert zu werden, und nur wenige der intimsten und zugleich verwegensten Freunde des Componisten wagten sich aus dem städtischen Dachsbau, während die guten Vorstädtler und zumal die „an der Wieden“ dergestalt mit Einquartierung überschwemmt waren, daß sie in ihren Häusern genug mit der Verpflegung der fremden Truppen zu thun hatten. Kein Wunder, daß das ganze Parterre des Theaters ebenso wie die Sperrsitze und die obersten Logenreihen französische Soldaten „occupirt“ hatten, die – lange genug von Paris abwesend – die Gelegenheit ergriffen, um endlich einmal wieder einer „kaiserlichen“ Opernvorstellung beizuwohnen – wenn auch gerade keiner französischen. Nur wenige Logen des ersten Ranges waren mit Wiener Notabilitäten besetzt – darunter die fürstlich von Lichnowsky’sche, die Lichtenstein’sche und die gräflich Browne’sche Familie, die Grafen Brunswick, Thun, Erdödy und Beethoven’s intimste Freunde; auch sein Bruder, der Apotheker, der ihn immer durch die Unterschrift „Gutsbesitzer“ ärgerte und dem er regelmäßig mit dem Briefschluß „Gehirnbesitzer“ diente, saß in einer halbdunkeln Loge, als der damals fünfunddreißig Jahre alte Componist an das Pult trat und das Zeichen zum Stimmen der Instrumente gab. Alle Augen richteten sich jetzt auf ihn allein, den starken breitschulterigen Mann, mit dem bedeutenden von wild durcheinanderfallenden Locken umwallten Haupte, das sich bald nach dieser, bald nach jener Seite wandte, während er einzelnen Musikern noch besondere Sorgfalt für gewisse Stellen einschärfte. Da tönte die Glocke zum ersten Male seinem einzigen, seinem unerreichten Bühnenwerke – es war dieselbe, deren Geläut er noch sterbend in seinen letzten Fieberträumen zu vernehmen glaubte. Die Ouverture begann, die wir noch heute mit dem Namen „die große“ bezeichnen, um sie dadurch von den drei andern zu unterscheiden, welche Beethoven früher und später zu seinem Riesenwerke geschaffen – das große Publicum aber und zumal die Soldaten der Occupation, diese Crême aller nichtmusikalischen Europäer, welche damals über dem größten Componisten der Welt zu Gericht saßen, ließ sie kalt; keine Hand rührte sich – der arme Beethoven mit seinem Meisterwerke war gerichtet – und halb wehmüthig, halb das Urtheil seines gletscherhaft kalt hinter ihm ansteigenden Publicums verachtend, klopfte er mit dem Stabe auf den blechernen Souffleurkasten. Wieder tönte die Glocke und – der Vorhang hob sich.

Die Bühne stellte die Häuslichkeit des Kerkermeisters Rocco dar, ganz dieselbe Scenerie und darin entwickelte sich ganz dieselbe Handlung, jene Gefängnißgeschichte mit Rettung durch Frauentreue, wie in der damals allgemein bekannten und beliebten Paer’schen Oper; nur an Stelle der von allen Stammgästen des Theaters adoptirten und sanctionirten Musik war eine durchaus unbekannte und für die Meisten sogar unverständliche getreten. Das war gefährlich – wenn sich auch in den ersten Scenen der Componist alle Mühe gegeben hatte, dem durch Mozart einmal gang und gebe gewordenen Zeitgeschmacke der gemüthreichen, anmuthig-heitern Opernmusik zu huldigen. Aber der Stammgast des Theaters, der gute Bürger und Hausvater, auf dessen Stimmung Beethoven durch die in den Eingangsnummern verhandelten Heirathsangelegenheiten wirken wollte, war heute nicht vorhanden, und die Soldaten des Kaiserreichs, die obendrein den Text nicht einmal verstanden, fanden an der hausbackenen Liebesgeschichte keinen Geschmack. Die ganze fünf Nummern umfassende Exposition war vollständig in’s Wasser gefallen und der Componist der Verzweiflung nahe, – da endlich hob der Rettungsengel die tönenden Schwingen seines Genius und versöhnte den Meister wieder mit seiner Muse.

Fidelio war es, in dem die jugendliche Milder (die später weltberühmte Hauptmann-Milder) die höchste, ja die deutsche Gattenliebe auf dem Hintergründe eines spanischen Sujets verherrlichte, und diese Liebe, die Spitze der ganzen Oper, welche die bisher noch unerreichte Sängerin zum vollendeten Ausdruck brachte, drang versöhnend, beseligend und beglückend in das Herz des Meisters. Bei der wunderbaren Steigerung des Allegro „Ich folg’ dem innern Triebe“ riß er endlich das kalte Publicum zur ersten Beifallsspende hin – aber was konnte ihm diese jetzt noch gelten? Ein dankbarer Blick, den er der jugendlichen Sängerin zuwarf, sagte Alles was seine Seele bewegte – und der Chor der Gefangenen, der halblaut und dumpfig wie Kerkerluft aus den Verließen heraufstieg, setzte ein, mit seinem schwermüthigen Hymnus an die Freiheit, jenem Act-Finale, das sich mit den Schauern der Bässe in stufenartigen, ungleichen Intervallen aus dem Grunde des Orchesters losrang.

Der Vorhang war gefallen, und ein Zwischenact ging vorüber, kalt und ohne freundliche Glückwünsche für den Componisten, der in sich gekehrt in der Nähe seines Pultes auf einer Bank im Orchester saß und dem Publicum den Rücken zuwandte. Welche Gefühle der Verachtung mochten gegen dasselbe in seinem Herzen wach geworden sein! – Da – horch! die Glocke; – die Gardine geht wieder in die Höhe – die Decoration hat gewechselt. Ah! – hörte man bewundernd und zufriedengestellt im Hause flüstern, als alle Augen auf Florestan, dem Manne im Kerker, ruhen, „der kaum mehr lebt und wie ein Schatten schwebt“. Die Gesängnißdecoration mit Ketten an den Strebepfeilern – der Haupttheaterapparat des Schauerschauspiels, wo man in der verfallenen Cisterne ein Grab schaufelt – das war etwas für das zartfühlende Parterre; solche Äußerlichkeiten waren im Stande ein Interesse zu erregen, das sich dem edleren Theile eines Kunstwerkes verschloß, welches einer der größten Meister der Welt unter Thränen des Leides und Entzückens geschrieben hatte.

Florestan begann seine große Arie: „In des Lebens Frühlingstagen ist das Glück von mir entfloh’n,“ – dieses unerreichte Kunstwerk, das eine Oper für sich ist und das der Meister mit seinem Herzbluts geschrieben, weil er im Florestan sich selbst componirt hatte. – Aber weh! der karge Beifall, den er bei den Freunden Beethoven’s fand, fiel auf unfruchtbaren Boden. Der Meister schüttete seinen ganzen Unmuth über den armen Tenoristen aus, dessen Vortrag ihm nicht innig und seelenvoll genug für diese schmerzensreiche Musik erschien; – besonders in der Höhe gefiel er ihm nicht – da kam er dem verstimmten Genius heute mit verstimmt und viel matter als in den Proben vor. Von diesem Augenblicke an war keine Rettung mehr für Beethoven – er gab den Erfolg seines Werkes verloren und brummte Verwünschungen, bald gegen das Publicum, bald gegen den Tenoristen.

Beethoven schien außer sich und gewann kaum noch so viel Fassung, das Finale, diese Hymne an die Freude, unter den Qualen ganz entgegengesetzter Gefühle zu leiten; – dann stürzte er hinaus – hinaus in die Nacht und seufzte tief und rannte nach seiner Gewohnheit noch stundenlang durch die finsteren Straßen, bis er sein stilles Asyl aufsuchte. Seine Oper war durchgefallen – und warum? – weil sie nicht verstanden wurde. Er war in Wien gerichtet, und die öffentliche Kritik – wenn wir gehässige Anfeindungen, Unwissenheit und Mangel an Verständniß so nennen dürfen – hörte nicht eher auf, die Pfeile des Spottes und des Undankes auf den unglücklichen Componisten zu richten, als bis dieser, auf’s Höchste gereizt, sich entschloß, sein Werk schon nach der dritten, fast ebenso erfolglosen Aufführung zurückzuziehen. Wie beispiellos absprechend und gehässig aber sich damals die gesammte Wiener Kritik über das neue Werk äußerte, zeige hier eine Probe aus dem sogenannten „Freimüthigen“ vom Jahre 1806, dem weitverbreitetsten belletristischen Blatte, welches als Zeichen seines ehrenfesten Charakters das Brustbild Ulrich’s von Hutten vorn auf jeder Nummer trug. Man berichtet darin aus Wien wörtlich: „Vor Kurzem wurde die Ouverture zu ,Fidelio’ im Augarten gegeben, und alle parteilosen Musikkenner waren einig, daß so etwas Unzusammenhängendes, Grelles, Verworrenes, das Ohr Empörendes schlechterdings noch nie geschrieben worden. Die schneidendsten Modulationen folgen auf einander in wirklich gräßlicher Harmonie, und einige kleinliche Ideen, welche auch jeden Schein von Erhabenheit entfernen, z. B. ein Posthornsolo, das vermuthlich die Ankunft des Gouverneurs ankündigen soll, vollendet den unangenehmen, betäubenden Eindruck.“ – Das war also die Abfertigung einer der größten Schöpfungen des menschlichen Geistes, mit des Höchsten, was je im Reiche der Töne das Ohr entzückte!

[603] Mitten in diesen Strudeln des Mißgeschicks und der Verkennung wäre Beethoven’s Schöpferkraft vielleicht untergegangen, wenn seine wenigen, aber einflußreichen Freunde ihn nicht behütet hätten, wie schützende Engel; und diese Periode ist es namentlich aus welcher der damals Beethoven nahestehende, jetzt hochbetagte Professor Joseph Nöckel, der würdige Stammvater einer bedeutenden Künstlerfamilie, uns manchen schönen Zug, manche interessante Episode vom großen Meister mittheilte.

Bei dem excentrischen Wesen und der oft in Grobheit ausartenden Gereiztheit Beethoven’s wagte ihm in den ersten Tagen nach dem Leonorenunglück Niemand zu nahen. Er selbst blieb meistens hinter verschlossenen Thüren allein mit seinen Gedanken, oder durchstreifte zur Nachtzeit einsame und abgelegene Straßen Wiens. Erst nach und nach wagte man, ihn mit dem Urtheile seiner Freunde bekannt zu machen, und suchte den Mißerfolg auf Rechnung des Textschreibers zu bringen, dessen fehlerhafte Anlage, in Folge deren das Stück in drei Acte zerfiel, der Exposition eine zu große Ausdehnung gegeben hatte. Es geschah dies namentlich, um Beethoven zu einer Umarbeitung zu bestimmen, welche die beiden ersten Acte in verkürzter Form zu einem verschmelzen sollte; – jener aber lehnte den wohlgemeinten Rath entschieden und mit dem ihm eigenen unbeugsamen Starrsinn ab, – immer wieder darauf zurückkommend, daß nur der abgesungene Tenor des italienischen Sängers, welcher die Höhe mit der Bruststimme nicht mehr zu geben vermochte, das Werk zu Falle gebracht hätte.

Die Sache mußte also von einer andern Seite angegriffen werden, und man bemühte sich, einen Sänger zu finden, der nicht allein mit einem jugendlich frischen Tenor von bedeutender Höhe, sondern auch mit der geistigen Capacität für diese bedeutende Partie ausgerüstet war, einen Sänger, der nicht blos durch seine äußere Erscheinung, sondern viel mehr noch durch die Liebenswürdigkeit seines Wesens auf den immer allzusehr abgeschlossenen, zurückstoßenden Beethoven sympathisch einwirken konnte, und gerade einen solchen fand man in dem obenerwähnten, damals kaum zwanzigjährigen Debütanten Joseph Nöckel, der, anfänglich sich der juristischen Laufbahn zu München widmend, durch besondere Protection des französischen Geschäftsträgers an Tomaselli, den berühmten Tenoristen des Erzbischofs von Salzburg, empfohlen war. Dorthin, an den kunstliebenden Hof, wo noch überall die Spuren von Haydn’s wirkender Kraft sichtbar waren, kam im Jahre 1804 der damalige Intendant der kaiserlichen Hofoper auf einer musikalischen Entdeckungsreise und nahm als hoffnungsreichste Beute den jungen Tenoristen mit nach Wien, ließ denselben ein Jahr lang von den tüchtigsten Meistern für die Oper heranbilden und gegen Ende des Jahres 1805 in einigen damals modernen, jetzt längst vergessenen Partieen auftreten. Nöckel gefiel in diesen besser als sein Lehrer, der nach Beethoven’s Meinung den Florestan zu Grunde „fistulirt“ hatte, und des Componisten Freunde, unter diesen besonders der Regisseur Meyer, Mozart’s Schwager, welcher den Pizarro gesungen, bauten daher ihren Plan auf die bezaubernde Stimme des jugendlichen Tenoristen. Allein jener war nicht so leicht auszuführen, als man glaubte. Der große Ideeneinsiedler hatte niemals viel Geschmack an der Oeffentlichkeit, am wenigsten an der bunten, lügenhaften des Theaters gefunden – und jetzt, nach der Leonorenkatastrophe, war er gar nicht zu bewegen, den Fuß über die trügerische Schwelle der Scheinwelt zu setzen. Endlich, nach vielen vergeblichen Versuchen, gelang es Meyer, den grollenden Genius wieder einmal in eine Probe zu locken, und der neue Tenorist Nöckel mußte nach vorheriger Anordnung wie zufällig darin singen. Beethoven äußerte sofort, als er denselben hörte: „Ja, hätte ich den als Florestan gehabt“ – Als aber Meyer hierauf erwiderte, daß ja Herr Nöckel diese Partie auch studiren würde, wenn sich Beethoven zu einer Umarbeitung entschließen könnte – da wollte der zürnende Meister nichts mehr hören. „Nicht eine Note wird daran geändert!“ rief er bestimmt und rannte, dem betroffenen Freunde den Rücken kehrend, aufgebracht hinweg. – Die Sache mußte also wiederum von einer anderen Seite angegriffen werden.

Beethoven war einmal ein von der hohen Aristokratie protegirter, vom Volke mißverstandener Genius; deshalb mußte auch die Einwirkung auf ihn von seinen Hohen Freunden ausgehen. Unter diesen aber stand ihm keiner so nahe wie der ausgezeichnete Fürst Lichnowsky, in dessen Hause er jahrelang mit mehr als fürstlicher Gastfreundschaft bewirthet wurde und jederzeit Gelegenheit fand, seine neuen Compositionen von den größten Virtuosen Wiens probiren zu lassen. Dabei bezog Beethoven von demselben ein Jahrgehalt von sechshundert Gulden, eine für die damaligen Verhältnisse nicht unbedeutende Summe, ohne daß er eine andere Verpflichtung gehabt hätte, als die, seiner Kunst nach freier Neigung zu leben. Die Fürstin, eine geborene Gräfin Thun und vortreffliche Clavierspielerin, behandelte Beethoven mit mütterlicher Liebe und hätte am liebsten, wie er selbst oft zu sagen pflegte, „eine Glasglocke über ihn machen lassen, damit kein Unwürdiger ihn berührte.“ So liebte man im fürstlichen Hotel, in dem er selbst zwar, seinen Launen folgend, nicht mehr wohnte, aber doch häufig verkehrte, Alles an ihm; selbst seine schroffen Eigenheiten und unerklärlichen Launen galten für die unerläßliche Zugabe seines Genies. Dennoch hatte man sich selbst in diesem Hause bei den allwöchentlich wiederkehrenden sogenannten Fidelio-Besprechungen umsonst bemüht, den Meister zur Kürzung und Umarbeitung seiner Oper zu bestimmen. Da wandte sich der obenerwähnte eifrige Regisseur und Baritonist Meyer, der die Componistenkrämpfe wohl noch in ihrer ganzen Furchtbarkeit von seinem verstorbenen Schwager Mozart kannte, eines Tages in der Probe an den jungen Tenoristen Nöckel: „Bleiben Sie heute Abend sechs Uhr in Ihrer Behausung; ich komme alsdann zu Ihnen, um Sie für eine wichtige Angelegenheit beim Fürsten Lichnowsky einzuführen.“ Nöckel willigte ein, und nun lassen wir den würdigen, wahrheitsliebenden Greis selbst aus seiner reichen Vergangenheit erzählen:

Erst auf dem Wege zum fürstlichen Palais theilte mir Meyer mit, daß wir Beethoven dort im Kreise seiner nächsten Freunde finden und seine durchgefallene Oper „Leonore“ mit den übrigen betheiligten Bühnenmitgliedern nochmals zu einer kritischen Aufführung bringen würden, um den Meister selbst von der Nothwendigkeit einer Umarbeitung zu überzeugen. Da Beethoven das Scheitern seiner Oper allein dem früheren Tenoristen schuld gab, so sollte ich, zu dessen Stimme er mehr Vertrauen habe, bei dieser Soloaufführung die Partie des Florestan vom Blatte singen. Dabei hätte ich ebenso wie Meyer und die übrigen Mitglieder fortwährend die nöthigen Kürzungen und Abänderungen und zuletzt die Verschmelzung der beiden ersten Acte unter inständigen Bitten dem Meister vorzutragen.

Mir graute vor dem Auftrage, die schwierige Partie des Florestan vor dem ebenso schwer zu befriedigenden wie leidenschaftlichen Componisten vom Blatte zu singen, obgleich ich dieselbe von meinem früheren Lehrer und jetzigen Rivalen oft gehört und theilweise schon bei ihm studirt hatte; mir graute ebenso sehr vor den Bühnenränken des gekränkten Tenoristen, dessen Nachfolger ich mit diesem Schritte werden sollte, und ich wäre am liebsten wieder umgekehrt, wenn mich nicht Meyer fest am Arme gehalten und förmlich mit weiter geschleppt hätte. So traten wir ein in das fürstliche Hotel und stiegen die glänzend erleuchteten Treppen hinan, auf denen uns mehrere Livreebediente mit geleerten Theebrettern entgegenkamen. Mein Begleiter, der die Sitte des Hauses kannte, machte dazu ein höchst verdrießliches Gesicht und murmelte: „Der Thee ist vorüber, ich fürchte, daß Ihr Zögern unsere Magen in eine sehr empfindliche Lage gebracht haben wird.“

Wir wurden in den mit kerzenreichen Armleuchtern und schweren seidenen Draperien ausgestatteten Musiksaal geführt, an dessen Wänden farbenprächtige Oelgemälde der größten Meister in ihren breiten blitzenden Goldrahmen ebenso von dem hohen Kunstsinn wie dein Reichthum der fürstlichen Familie zeugten. Man schien uns schon erwartet zu haben; denn Meyer hatte Recht gehabt: der Thee war vorüber und Alles war zum Beginn der Musikaufführung bereit. Die Fürstin, eine ältere Dame von gewinnender Freundlichkeit und unbeschreiblicher Milde, aber in Folge großer körperlicher Leiden (beide Brüste Waren ihr in früherer Zeit abgenommen worden) bleich und schwächlich, saß bereits am Clavier; ihr gegenüber, nachlässig in einem Lehnstuhle, Beethoven, die dicke Pandora Partitur seiner unglücksreichen Oper auf den Knieen. Zu seiner Rechten sahen wir den Dichter der Tragödie „Coriolan“, Hof-Secretair Matthäus von Collin, der mit dem intimsten Jugendfreunde des Componisten, dem Hofrath Breuning aus Bonn, plauderte. Meine Collegen und Colleginnen von der Oper, welche die Stimmen schon in der Hand hielten, hatten in einem [604] Halbkreise unweit des Flügels Platz genommen, – es war wieder die Milder als Fidelio, Mademoiselle Müller als Marcelline, Weinmüller als Rocco, Caché als Pförtner Jaquino und Steinkopf als Minister. Nachdem ich dem Fürsten und der Fürstin vorgestellt worden war und Beethoven unsere ehrfurchtsvolle Begrüßung entgegengenommen hatte, legte er seine Partitur der Fürstin auf das Notenpult und – die Aufführung begann.

Die beiden ersten Acte, in denen ich nicht mitzuwirken hatte, wurden von der ersten bis zur letzten Note durchgenommen, man sah nach der Uhr und bestürmte Beethoven, einzelne zu lang ausgesponnene Partieen von untergeordneter Bedeutung wegfallen zu lassen; – der aber vertheidigte jeden Tact und dies zwar mit einer Hoheit und Künstlerwürde, daß ich ihm hätte zu Füßen sinken mögen. Als man aber auf die Hauptsache selbst kam, auf die bedeutenden Kürzungen in der Exposition und die dadurch ermöglichte Verschmelzung der beiden ersten Acte zu einem, gerieth er außer sich, schrie in einem fort: „Nicht eine Note!“ und wollte mit der Partitur Hinwegrennen. Die Fürstin aber legte ihre Hände, wie zum Gebet gefaltet, auf das ihr anvertraute Heiligthum, blickte mit unbeschreiblicher Milde zu dem erzürnten Genius empor, und siehe – sein Zorn schmolz an ihren Blicken, und resignirt nahm Beethoven seinen Platz wieder ein. Die hohe Frau befahl fortzufahren und präludirte zu meiner großen Arie: „In des Lebens Frühlingstagen.“ Ich erbat mir daher von Beethoven die Florestan-Stimme, allein mein unglücklicher Vorgänger hatte sie trotz mehrmaliger Aufforderung nicht herausgegeben, und so wurde ich angewiesen, von der Partitur, auf welcher die Fürstin begleitete, am Clavier abzusingen. Ich wußte, daß diese große Arie für sich Beethoven so viel galt, wie die ganze Oper, und so behandelte ich sie auch. Wieder und immer wieder wollte er sie hören; – fast überstieg die Anstrengung meine Kräfte, aber ich sang sie, denn ich fühlte mich zu glücklich, als ich merkte, daß mein Vortrag den großen Meister mit seinem verkannten Werke auszusöhnen vermochte.

Mitternacht war vorüber, als die Ausführung – durch vielfache Wiederholungen verlängert – endlich beendet war. „Und die Umarbeitung, die Kürzung?“ frug die Fürstin den Meister mit einem flehenden Blicke.

„Verlangen Sie das nicht,“ antwortete dieser düster; „nicht eine Note darf fehlen!“

„Beethoven!“ rief sie mit einem tiefen Seufzer, „so soll Ihr großes Werk verkannt und geschmäht bleiben?“

„Es ist belohnt genug durch Ihren Beifall, gnädigste Fürstin,“ sprach der Meister, und seine Hand glitt leise zitternd aus der ihrigen.

Plötzlich aber war es, als ob die zarte Frau ein stärkerer, mächtigerer Geist erfaßte; halb knieend und ihn mit ihren Armen umfangend, rief sie ihm begeistert zu: „Beethoven! nein – so darf Ihr größtes Werk, so dürfen Sie selbst nicht untergehen! Das will Gott nicht, der die Klänge reinster Schönheit in Ihre Seele gelegt, – das will der Geist Ihrer Mutter nicht, der in diesem Augenblicke durch mich mahnend zu Ihnen fleht – – Beethoven, es muß sein! Geben Sie nach! Thun Sie’s zum Gedächtniß an Ihre Mutter! Thun Sie’s für mich, für Ihre einzige, Ihre treueste Freundin!“

Der große Mann mit dem an olympische Erhabenheit mahnenden Haupte stand lange vor der engelsbleichen Verehrerin seiner Muse, dann strich er mit seiner Hand das lang herabwallende Lockenhaar aus dem Gesicht, als ob ein schöner Traum durch seine Seele zöge, und den Blick voll Rührung gen Himmel gerichtet, rief er schluchzend: „Ich will’s! – will Alles – Alles thun; – für Sie – für meine Mutter!“ Dabei zog er die Fürstin mit Ehrfurcht zu sich empor und reichte die Hand dem Fürsten, wie zum Gelöbniß. Wir aber umstanden die Gruppe mit ernster Rührung, denn wir Alle fühlten schon damals die Bedeutung des großen Augenblicks.

Es wurde von diesem Moment kein Wort mehr von der Oper gesprochen, – Alle waren erschöpft, und ich kann wohl sagen, daß ich mit Meyer einen durchaus nicht schwer verständlichen Erlösungsblick wechselte, als Bediente die weiten Flügelthüren des Speisesaales öffneten und die Gesellschaft sich endlich dort an reichbesetzten Tafeln niederließ, um das Souper einzunehmen. Wahrscheinlich nicht ganz zufällig mußte ich Beethoven gegenübersitzen, der, im Geiste wohl noch bei seiner Oper verweilend, auffällig wenig aß, während ich, vom ärgsten Hunger gequält, den ersten Gang mit einer an’s Komische grenzenden Hast verschlungen hatte. Lächelnd zeigte er auf meinen leeren Teller: „Sie haben ja die Speise verschlungen, wie ein Wolf – was haben Sie denn gegessen?“

„Ich hatte so viel Hunger,“ antwortete ich, „daß ich in der That nicht acht gab, was ich aß.“

„Darum haben Sie auch vorhin die Florestanpartie, den Mann im Hungerthurm, so meisterhaft und mit so vieler Naturtreue wiedergegeben; das Verdienst trifft also weder Ihre Stimme, noch Ihren Kopf, sondern lediglich Ihren Magen. Nun, so hungern Sie nur immer recht brav vor der Vorstellung, dann wird uns der Erfolg nicht fehlen.“

Alles an der Tafel lachte und freute sich wohl mehr darüber, daß Beethoven überhaupt wieder einen Scherz gemacht, als über den letzteren selbst.

Als wir das fürstliche Palais verließen, sprach Beethoven noch zu mir: „An Ihrer Partie habe ich am wenigsten zu ändern; kommen Sie daher in den nächsten Tagen in meine Wohnung, um dieselbe abzuholen, ich werde sie Ihnen selbst ausschreiben.“

Wenige Tage später meldete ich mich in seinem Vorzimmer; ein ältlicher Diener wußte nicht, was er mit mir machen sollte, da sein Herr sich gerade wusch. Ich hörte dies an dem Rieseln des Wassers, welches der edle Sonderling in förmlichen Bächen über sich hinweggoß, dabei stieß er ein gebrüllartiges Stöhnen aus, das bei ihm ein Ausbruch der Behaglichkeit zu sein schien. Auf des alten Dieners unfreundlicher Stirn glaubte ich die Worte: „Melden– oder fortschicken?“ in mürrischen, faltenreichen Buchstaben zu lesen; dann aber frug er plötzlich: „Wen habe ich die Ehre –“

Ich nannte meinen Namen: „Joseph Röckel.“

„Ja, schauen’s,“ meinte der gute Wiener, „da hab’ ich halt Befehl zu melden.“

Er ging und öffnete gleich darauf die Thür. Ich trat ein in die vom höchsten Genius geweihte Stätte. Sie sah fast dürftig einfach aus und es schien ihr jeglicher Ordnungssinn ewig fern geblieben zu sein. Dort, in der Ecke, ein geöffneter Flügel, mit Notenheften im wildesten Durcheinander belastet. Hier auf einem Stuhle ein Stück Eroica; die einzelnen Partieen aus der ihn beschäftigenden Oper theilweise auf anderen Stühlen, theilweise auch auf und unter dem Tische, welcher in der Mitte der Stube stand, und zwischen Kammermusikwerken, Claviertrios und Symphonieskizzen mitten drin der mächtige Waschapparat, an welchem der Meister beschäftigt war, seine starkgebaute Brust mit der kalten Fluth zu bespülen. Er empfing mich ohne die geringsten Umstände, und ich hatte Gelegenheit, seine mächtige Musculatur und seinen starken Gliederbau zu bewundern. Nach diesem durfte man dem Componisten das Alter eines Methusalem versprechen, und es mußte ein gewaltiger feindseliger Einfluß sein, der diese starke Säule so frühzeitig zu brechen vermochte.

Leutselig begrüßte mich Beethoven mit zufriedenem Lächeln und erzählte mir, während er sich dabei ankleidete, mit welcher Mühe er eigenhändig die Stimme aus der unleserlichen Partitur geschrieben, damit ich sie recht schnell und durchaus correct erhalten sollte.

Wenige Wochen später hatten auch schon die übrigen Opernmitglieder ihre Partieen der neuen Bearbeitung in Händen. Wir staunten Alle über die Arbeitskraft Beethoven’s, der in so kurzer Zeit die Umgestaltung seines genialen Werkes vollendet hatte, daß wir es bereits am 29. März 1806, also kaum vier Monate nach seiner ersten kurzen Bühnenexistenz, wiederum im Theater an der Wien, diesmal aber vor einem behaglicheren „wienerischen“ Publicum zur Aufführung brachten.

Dem Componisten war von der Direction Tantième, mir aber, weil ich die eigentlich außer meinem bisherigen Spielsache liegende große Partie so bereitwillig übernommen hatte, ein Extrahonorar zugesichert. Ersterer zankte vor Beginn der Oper heftig mit dem Director, weil man sein Werk, dem er abermals ausdrücklich den Namen „Fidelio“ gegeben, wieder aus Geschäftsrücksichten auf dem Theaterzettel unter dem alten von der Paer’schen Oper her bekannten Namen „Leonore“ ausgeführt hatte.

Wir gaben uns alle mögliche Mühe, dem Werke Erfolg zu verschaffen, und wenn dies nicht gleich beim ersten Male vollständig gelang, so war bei der zweiten und dritten Wiederholung das

[605]

Viehverladung im Hamburger Hafen.
Nach der Natur aufgenommen von H. Leutemann.

[606] Theater bedeutend mehr besucht, und selbst die Kritik ließ dem Werke jetzt einige, wenn auch nicht alle Gerechtigkeit widerfahren.

Ja, es hatte besser gefallen, aber immer noch nicht in dem Maße, wie ein über alles bisher Gehörte sich so weit erhebendes Kunstwerk gefallen mußte; das sahen wir an dem immer noch nicht ganz gefüllten Hause ebenso, wie Beethoven an seiner Tantieme, über deren geringen Ertrag er sich gerade beim Hofbanquier Baron Braun beschwerte, als ich am Tage nach der dritten Vorstellung (der neuen Bearbeitung) mein Spielhonorar bei letzterem in Empfang nehmen wollte. Während ich nämlich im Vorzimmer zum Geschäftsbureau des Barons zufällig warten mußte, hörte ich einem heftigen Streite zu, den derselbe im Nebenzimmer mit dem erzürnten Componisten hatte. Beethoven war mißtrauisch und glaubte seinen Antheil am Reingewinn größer, als ihm der Hofbanquier, welcher gleichzeitig das Theater an der Wien leitete, ausgezahlt hatte, dieser aber bemerke, daß Beethoven der erste Componist sei, den die Direction in Anerkennung seiner außerordentlichen Verdienste mit in Theilung gehen ließ, und erklärte ihm den Ausfall in der Casse dadurch, daß wohl die Logen und Sperrsitze alle besetzt gewesen wären, nicht aber die Plätze, in welchen des Volkes dichtgedrängte Massen eine Einnahme wie bei den Mozart’schen Opern ergeben hätten, wobei er betonte, daß Beethoven’s Musik bis jetzt sich nur bei den gebildetern Ständen Eingang verschafft, während Mozart mit seinen Opern jedesmal gleich das ganze Volk, die Menge begeistert hätte. Beethoven rannte aufgebracht durch das Zimmer und schrie laut:

„Ich schreibe nicht für die ,Menge’ – ich schreibe für die ,Gebildeten’.“

„Diese allein füllen uns aber nicht das Theater,“ versetzte der Baron wieder mit Ruhe, „zu unseren Einnahmen brauchen wir die ,Menge’, und Sie haben sich, da Sie in Ihrer Musik dieser einmal keine Concessionen machen wollten, die geringere Tantieme somit selbst zuzuschreiben. Hätten wir Mozart einen gleichen Antheil von dem Ertrage seiner Opern ausgezahlt, er würde reich geworden sein.“

Dieser nachtheilige Vergleich mit seinem berühmten Vorgänger schien Beethoven auf das Empfindlichste zu berühren. Ohne ein Wort weiter darauf zu antworten, sprang er auf und rief im heftigsten Zorn: „Geben Sie mir meine Partitur zurück!“

Der Baron stand zögernd und starrte, wie vom Schlage gerührt, in das glühende Gesicht des erzürnten Componisten, der aber wiederholte mit furchtbarer Leidenschaft:

„Ich will meine Partitur – auf der Stelle meine Partitur!“

Der Baron zog die Glocke; ein Diener trat ein.

„Die Partitur der gestrigen Oper für diesen Herrn,“ sagte der erstere vornehm, und der Bediente holte dieselbe schleunigst herbei. „Es thut mir leid,“ fuhr hierauf der Cavalier fort, „allein ich denke, daß Sie bei ruhigerer Ueberlegung –“

Beethoven hörte jedoch diese Worte nicht mehr; er hatte den riesenhaften Band dem Diener aus der Hand gerissen und rannte damit – ohne mich im Eifer zu bemerken – durch das Vorzimmer und die Treppe hinab.

Als der Baron mich wenige Minuten darauf empfing, konnte der ernste Mann ein leises Beben noch nicht verbergen; er schien zu fühlen’, welch’ einen kostbaren Schatz er aus der Hand gegeben hatte. Verstimmt sprach er zu mir:

„Beethoven war gereizt und -übereilt; Sie haben Einfluß auf ihn: bieten Sie Alles auf – machen Sie ihm jede Versprechung in meinem Namen, unserer Bühne sein Werk zu erhalten.“

Ich beurlaubte mich und eilte dem zürnenden Meister nach in sein Tusculum. Allein umsonst – er wollte kein Wort der Beruhigung hören: die zweite Bearbeitung des „Fidelio“ verschloß bereits der Notenschrank, aus welchem das Meisterwerk erst nach siebenzehn Jahren durch das Dornröschen der neuen Opernwelt, die jugendliche Schröder-Devrient, unter den Spinngeweben der Vergessenheit wie ein Phönix hervorgezaubert wurde, um in abermals geläuterter Gestalt für immer den höchsten Ehrenplatz im Repertoire der Bühnen aller Nationen einzunehmen.

Soweit die persönlichen Mittheilungen des „ersten Florestan“, welcher seine Verehrung der größten deutschen Oper nicht nur in begeisterten Reden kund gab, nein, der sie im Jahre 1832 von seiner aus eigenen Mitteln gegründeten ausgezeichneten Operngesellschaft, gleichzeitig mit dem damals neuerschienenen Freischütz unseres Karl Maria von Weber, unter dem Namen einer „deutschen Oper“ nach Paris brachte, wo die beiden Kunstwerke unserer Nation Alles übertrafen, was bisher auf den französischen Bühnen „herumklingelte“. Professor Röckel verhalf dadurch dem Fidelio, dessen Componist am 26. März 1827 mit den denkwürdigen Worten: „Hört ihr die Glocke? plaudite amici, die Decoration wechselt!“ verschieden war, zum Range einer Weltoper – und diesen Rang hat das früher so viel geschmähte Kunstwerk nie wieder eingebüßt. Bei Gelegenheit großer Ereignisse, wie die Weltausstellung zu London, hörte das Publicum den Ouvertüren stehend zu, wozu der Hof das Beispiel gab, und man bekränzte dabei auf der Scene die Büste Beethoven’s, des so tief gekränkten Componisten. Zur Galavorstellung beim Besuche Napoleon des Dritten am englischen Hofe gab man ebenfalls den Fidelio, und die „Times“ bot bei dieser Gelegenheit am 19. und 20. April 1855 in Redgrave’s Opera-Ticket-Office eine Loge zweiten Ranges für dreißig Guineen aus. So viel brachten Beethoven alle drei Bearbeitungen seiner Oper zusammengenommen nicht ein, wenn man nämlich die Kränkungen und Verfolgungen nicht für baares Geld rechnen will – und das Ende des Opernschicksals der großen Schicksalsoper zeigt wieder, wie bitter wahr es ist, daß die Deutschen ihre großen Männer immer erst nach dem Tode ehren!

Als der Componist der „durchgefallenen“ Oper Fidelio, als Beethoven, welcher noch auf dem Todtenbette unter den schmerzhaftesten Operationen so höchst charakteristisch bemerkte: „Besser Wasser aus’m Bauch, als aus der Feder“ gestorben war, da wollte ganz Wien, ja ganz Deutschland den unersetzlichen Verlust fühlen. In einem prächtigen Leichenbegängnisse that die Kaiserstadt für den Todten, was sie für den Lebenden zu thun unterlassen hatte: ihn nach Gebühr zu ehren. Wohl mehr als zwanzigtausend Menschen folgten dem Sarge zum Währinger Friedhofe, und Deutschland errichtete 1845 dem großen Meister in seiner Vaterstadt Bonn ein Nationalmonument, nach dessen bronzenem Glänze ihn das Volk in dortiger Gegend nun „den goldenen Musikanten“ nennt.




Aus dem Hamburger Hafen.

Mit Abbildung.

Jedem Binnenländer, der Hamburg besucht, ist der Hafen das Sehenswürdigste, und er pflegt halbe Tage damit hinzubringen, um die in mannigfaltigster Weise wechselnden Scenen voll Leben und Munterkeit mit reger Theilnahme zu beobachten. Fast zu jeder Tageszeit findet er hier thätige Menschen, die in Rüstigkeit und Fröhlichkeit ihr Tagewerk vollbringen, als sei die Arbeit Zweck ihres Daseins, die sich durch lauten Gesang darin fördern und durch ihr kräftiges Aussehen und Zugreifen beweisen, daß frische Luft und reichliche Bewegung am besten gesund erhalten.

Am regsten ist das Leben früh Morgens, nachdem um sechs Uhr die Glocke an der Zolljacht durch vier weithin vernehmbare Schläge das Zeichen zu allgemeiner Thätigkeit gegeben hat. Kurz vor dieser Zeit aber herrscht die tiefste Ruhe im Hafen; es ist ruhiger als selbst in der Nacht, in welcher doch mitunter der Ruderschlag eines Bootes den spät vom Lande zum Schiffe zurückkehrenden Seemann verräth. Nichts regt sich auf den Schiffen, nur bläuliche Rauchwolken, aus den Combüsen (Schornsteinen der Schiffsküchen) aufsteigend, thun kund, daß die für die leibliche Pflege der Mannschaft bestimmten Seeleute bereits in Thätigkeit begriffen sind. In größerer Ferne aber, stromabwärts, oder auch in der Mitte des Stromes in der Nähe des Hafens erblickt man die vielen kleineren Fahrzeuge, die Hunderte von Milch- und Gemüseewern, mit aufeinander gethürmten rothen Milcheimern oder flachen Körben, hochbeladene und langsam vorwärts kommende Smacks, [607] Ruderboote mit Fluß- und Meerfischen, die bei den größeren Seeschiffen vorbeifahren, um weiter aufwärts in die für sie bestimmten Oertlichkeiten zu gelangen.

Im Hafen selbst beginnt dagegen das tägliche Treiben, wie schon erwähnt, erst mit dem Schlage sechs Uhr. Sobald die Zolljacht die vier Schläge hat ertönen lassen, so antworten alle Schiffsglocken, nicht harmonisch zusammenklingend wie die beliebten Heerdenglocken, sondern kurz, kräftig, auffordernd, und die Michaelisuhr fällt im tiefen Baß ein, durch ihre sechs Schläge bestätigend, daß nun der eigentliche Tag begonnen habe. Wie mit einem Schlage ist das Bild verändert; rasch entwickelt sich die Arbeit und die tiefe Stille weicht lautem Geräusche, wie es bei so lebendigem und entschlossenem Volk gleich den Seeleuten nicht anders Sitte ist. Bei ihnen bewegt sich Alles in Contrasten. Hier hört man die kurzen und kräftigen Befehle der Capitaine und Steuerleute, dort poltern Segel und rasseln Taue; hier sind ein paar Ewerführer, die von demselben Schiffe ihre Ladung zu empfangen haben, wegen des Vortritts aneinander gerathen, und auf vielen Schiffen klettern Matrosen und Schiffsjungen mit wahrhaft „affenartiger Behendigkeit“ an den Masten und Tauen hinan, stehen auf den äußersten Enden der Raaen und entwickeln eine Sicherheit und Leichtigkeit in ihren Bewegungen, wie sie ein ausgelernter Seilkünstler nicht besser zu zeigen vermag.

Wie am Morgen, so hat auch am Abend der Hafen seinen besondern Reiz. Dann sieht man am Lande selber viele Matrosen, Leute aus allen Nationen, mit fremdländischem Gesichtsausdruck und mit Sprachen aus aller Herren Ländern, meistens in schmucker und kleidsamer Tracht, stets aber mit dem kurzen und breiten Seitenmesser bewaffnet, das leider allzu oft bei den leichterregten Heißspornen zur Anwendung kommt.

Eine Scene aus dem Hafenleben gegen Sonnenuntergang, die am häufigsten wiederkehrt und einen wichtigen Handelszweig bezeichnet, stellt unser Bild dar. Es zeigt Ochsen, zur Verladung nach England bestimmt. Die großen (englischen) Schiffe, welche diese Fracht übernehmen, ziehen es meistens vor, die bei unruhiger See leicht geängstigten Thiere unter Deck zu schaffen, und bewerkstelligen diese Arbeit in einer ebenso originellen wie einfachen Weise. Die Arbeiter befestigen um den Bauch des Thieres einen breiten Gurt, ein oben an demselben befindlicher eiserner Ring faßt in den Haken eines festen Seiles und durch einen Krahn, an dem Menschenhände oder auch Dampfkräfte arbeiten, wird das ganze Thier in die Höhe gehoben. Eine kurze seitliche Bewegung bringt den Krahn mit dem schwebenden Thiere über die Oeffnung des Zwischendecks, und darauf verschwindet es plötzlich vor den Augen des Zuschauers wie im Schauspiel der böse Geist in der Versenkung.

Es macht einen eigenthümlichen Eindruck, eine solche Verladung mit anzusehen. Man wird ergriffen von der Gewalt des Menschen über die rohe Fleischmasse des Thieres, mit der nach Belieben geschaltet und herumgeworfen wird, und andererseits muß man lächeln über den geistlosen und stieren Blick, die einzige Aeußerung des lebenden Fleischklumpens, mit welchem er die angethane Behandlung beantwortet. Da rührt sich auch kein Glied, wenn der Ochs nur schnell genug vorn Boden gehoben wird, kein Laut verräth Ueberraschung, der Hals mit dem schweren Kopf hängt abwärts und willenlos sinkt die Last hinunter, als ob schon jetzt das Leben darin erloschen wäre.

Es ist erstaunlich, welche Massen Schlachtvieh ein großer Dampfer fassen kann. Ganze Heerden Rinder, Schafe und Schweine stehen oft wenige Schritte vom Einschiffungsplatze eingepfercht, und doch wird in manchen Fällen dies Alles auf einem Schiffe untergebracht. Aber wie hilft man sich auch dann! Unter dem Deck, auf dem Deck und über dem Deck werden die künftigen Schinken, Hammel- und Rinderbraten zusammengedrängt. Jetzt kommt z. B. zuerst eine gewaltige Heerde schönvließiger Schafe. Mit unendlichem Blöken (wie üblich in den verschiedensten Tonarten) folgen sie gewöhnlich dem vorangehenden Schäfer ohne Umstände über den kaum zwei Ellen breiten Steg auf das Schiff, ja sie drängen sich mit ungestümer Eile ihrem Schicksal entgegen. Freilich, wenn der Schäfer nicht dabei ist und vorangeht, gestaltet sich die Scene meist anders. Selbst die Schafsnatur erkennt dann, daß das kein Weg zur saftigen Wiese ist, und weigert sich, den unbekannten Pfad zu beschreiten. Aber der Matrose hilft sich. Der Leithammel oder ein zu dieser Rolle passendes anderes Thier wird von zwei entschlossenen Theerjacken gemüthlich mit seinen Vorderbeinen Arm in Arm genommen; so, aufrecht auf seinen Hinterbeinen zwischen seinen ihn fortziehenden Freunden voranwandelnd, giebt er ein vortreffliches Beispiel gezwungenen Muthes, und hinter ihm drängen dann ohne Weiteres die blökenden Cameraden nach.

Werden die Schafe, wie es zuweilen der Fall, auch mit dem Krahn unter Deck geschafft, so geschieht dies bei ihrer Leichtigkeit natürlich viel schneller; ihr Schafsgesicht ist während dem am ausgeprägtesten, während der Blick des Mastochsen natürlich ein ochsiger bleibt. Aber auch über dem Deck, wie schon erwähnt, wird das Schlachtvieh bei Mangel an Raum aufgestellt, und zwar ebenfalls die Schafe, da sie sich eben am besten fügen. Dazu sind aus Brettern ordentliche Galerien über dem Deck errichtet, zu denen eine gleichfalls aus Brettern hergestellte schiefe Ebene als Aufgang dient. Das Geländer, welches diese Galerie umgiebt, muß so hoch sein, daß kein Schaf dasselbe überspringen kann, denn käme ein solcher Fall vor, so würde die ganze Heerde dem vorangesprungenen Thiere in’s Wasser nachfolgen und unrettbar verloren sein, wie es schon geschehen sein soll. Solche Galerien, wenn sie über dem größten Theile eines Schiffes errichtet sind, dürften allein gegen eintausend Schafe fassen, abgesehen von denen, die sonst noch untergebracht sind.

Schweine bilden, wie später dargethan wird, gegen Rinder und Schafe die Minderzahl des nach England gehenden Schlachtviehes. Aber wenn auch nur wenige sich neben den anderen Schicksalsgenossen auf dem Schiffe befinden, ihr gellendes Quieken übertönt das Brüllen und Blöken jener ganz gewiß. Für sie werden auch die Räume auf dem Schiffsdeck eingepfercht, denn bei ihrer bekannten Widerspenstigkeit dürfte das Herablassen unter Deck seine großen Mißlichkeiten haben.

Doch auch die Rinder werden zuweilen, wenn eben der Raum unter Deck nicht ausreicht, auf demselben aufgestellt. Dann wird nicht jeder einzelne Ochse von einem Mann an den Ort geführt, wo ihm der Gurt angelegt wird, sondern der Trupp ohne Weiteres über die Brücke auf das Schiff getrieben. Dies ist oft ein hochlebendiges Bild. Die Landungsbrücke, insbesondere der eigentlich auf das Schiff führende Steg, sind, weil oft ganz schlüpfrig, mit Stroh belegt, damit die Thiere nicht ausgleiten und stürzen sollen. Aber trotzdem, wenn die gewaltigen Ochsen, ihre Treiber hinter sich, vorwärts drängen, geschieht es oft, daß einzelne stürzen und sich nicht gleich erheben können. Dadurch stockt die gesammte Heerde; einzelne machen Versuche zur Umkehr, es regnet Knüppelhiebe auf die Ochsennasen, und die ganze Energie der Treiber und Matrosen ist nöthig, um den Zug wieder in Gang zu bringen. Auf dem Schiffe selbst aber, wo sie ganz enge nebeneinander angebunden werden, verhalten sie sich vollkommen ruhig; nur die Stiere müssen mit mehr Umsicht behandelt werden, ja, es kam diesen Sommer vor, daß zwei Bullen, welche nicht gleich angebunden worden waren, in einem unbewachten Augenblicke plötzlich Kehrt machten und von dem Schiff über die Landungsbrücke wieder nach dem Lande rannten, Alles vor sich hertreibend. Ihre Anstrengungen halfen ihnen indeß nichts; noch ehe sie das eigentliche User erreicht, wurden sie von kräftigen Händen beim Strick erfaßt, und obgleich sie die Treiber noch eine ziemliche Strecke mit sich fortrissen, durch die nicht gesparten Nasenprügel bald zum Stehen und zur Umkehr gebracht.

Wie schon gesagt, stehen die Thiere auf dem Schiffe ganz eng aneinander gedrängt, so daß sie sich schlechterdings nicht legen können. Selbst bei der Kürze der Ueberfahrt, die höchstens einige Tage dauert, mag dies eine große Pein sein, denn der große Zeitvertreib, das Fressen, findet so gut wie nicht statt. Nur verhältnismäßig wenig Heubündel werden mitgenommen, um dem Nöthigsten zu genügen, so daß, wenn etwa durch Sturm eine Verzögerung der Ankunft geschieht, der Hunger die Thiere furchtbar peinigen muß. Stürme sind überhaupt für solche mit Schlachtvieh vollgeladene Schiffe eine doppelte Noth. In dergleichen Fällen muß manchmal, um das Schiff zu retten, ein großer Theil des Viehes über Bord geworfen werden, was an sich schon wieder mit der größten Schwierigkeit verknüpft ist, wie man sich sehr wohl denken kann.

Natürlich bezieht England seinen Bedarf an Schlachtvieh noch von vielen anderen Orten, doch ist Hamburg der Haupteinschiffungsplatz für das größere Hornvieh. Im Jahre 1866 wurden nach amtlichen Zusammenstellungen achtunddreißigtausend [608] dreihundertneunundvierzig Ochsen und Bullen und neuntausend sechshundertundvier Kühe für England verladen. Nächstdem folgt Frankreich mit neununddreißigtausend zweihundertvierundvierzig Stück Hornvieh, dann Holland, Schleswig-Holstein, Bremen, Spanien, Dänemark, Portugal, Schweden, Belgien, Rußland und noch viele andere Länder. Im Ganzen sind in dem genannten Jahre zweihundertundneuntausend hunderteinundsiebenzig Stück großes Hornvieh im Werthe von fast vier Millionen Pfund Sterling nach England geschafft worden, außerdem mehr als achtundzwanzigtausend Kälber, achtmalhunderttausend Schafe, vierundsiebenzigtausend Schweine, ferner zweihundertdreiunddreißigtausend Centner gesalzenes und frisches Ochsenfleisch (selbst von Australien schafft man jetzt frisches, in flüssigen Talg gepacktes Rind- und Hammelfleisch nach London, wo es das Pfund zu fünf Pence verkauft wird), fünfhundertachtundsiebenzigtausend Centner Speck, siebenundfünfzigtausend Centner Schinken, drei Millionen Großhundert (einhundertundzwanzig) Eier, fünfhunderttausend Centner Fische aus nichtenglischen Gewässern etc. Man sieht aus diesen Zahlen mit aller Augenscheinlichkeit, daß die Engländer den Werth der thierischen Nahrung zu schätzen wissen, sich dieselbe verschaffen, wo sie nur irgend zu haben ist, und sie sich auch ein gutes Stück Geld kosten lassen. Für die aufgeführten Nahrungsmittel bezahlte England im Jahre 1866 mehr als zehn Millionen Pfund Sterling oder siebenzig Millionen Thaler. Und in dieselbe Abtheilung muß man noch die jährliche Ausgabe von mehr als sechs Millionen Pfund Sterling für eingeführte Butter und zwei unddreiviertel Millionen Pfund Sterling für Käse rechnen. Der Einfluß, welchen dieser ungeheure Verbrauch von Nahrungsstoffen auf den Preis derselben ausgeübt hat, ist auf dem ganzen europäischen Continente zu spüren.




Blätter und Blüthen.


Eine Doppelnatur. Als ich ich Herbst 1827 von Leipzig nach Gotha zurückgekehrt war mit einem bereits gut klingenden Namen als Verfasser von einigen Romanen und Novellen, zu dem mir besonders Adolf Müllner verholfen hatte, trat eines Tages ein langer, schlanker, junger Mann von meinem Alter bei mir ein. „Er kenne Niemand in Gotha, der ihn bei mir einführen könne, so komme er allein, zwar ein namenloser Candidat der Theologie und Führer eines jungen Adeligen, der das gothaische Gymnasium besuche, aber großer Liebhaber der deutschen Poesie und Literatur.“ Er hatte ein merkwürdig verzwicktes Gesicht, eigentlich beschränkte, sogar dumme Züge; wenn er sprach, brauchte er erst einige Zeit, um in Fluß zu kommen. Erst kamen die Worte, darauf die Sätze stoßweise, dann aber sprach er rasch, fließend, anfangs gewöhnlich, dann geistreich. Ich machte ihm meinen Gegenbesuch und fand ihn mit Shakespeare in der Ursprache beschäftigt. Er machte die treffendsten Bemerkungen über Shakespeare, und nun lernte ich ihn nach und nach als einen Mann von enormem Wissen und einer sehr scharfen Beurtheilungsgabe kennen, der sich sehr treffend kritisch aussprach. Er kannte Alles, die ganze antike und moderne poetische Literatur, sein Lieblingsfach war aber die altdeutsche, in deren Dichtern er ebenso bewandert war, wie in Goethe, Voltaire, Shakespeare etc. Ich lernte viel von ihm. Dabei war er sehr bescheiden und prunkte nie mit seinen Kenntnissen; über die jüngere Literatur sprach er entschieden ungünstig, ja gehässig. So wie er aber auf sein Brodfach, die Theologie, kam, sprach er lauter wunderliches Zeug; der strengste lutherische Orthodoxe und Bibelgläubige, meinte er, nur im Glauben an die Bibel könne die Menschheit genesen. Ich lachte ihn oft aus und legte mir mehrmals die Frage vor: Ist dieser Mensch dumm oder genial? Zuletzt kam ich mit mir überein, er sei ein ganz außerordentlicher Mensch, zugleich genial und beschränkt, jenes in Beurtheilung der Dichter, dieses in Betracht der Theologie und Philosophie. Natürlich fühlte ich mich zugleich von ihm angezogen und abgestoßen.

Ich arbeitete damals viel für die Brockhaus’schen Unterhaltungsblätter; er sah Bücher bei mir, die mir Brockhaus zur Beurtheilung geschickt, und bat mich, ihn diesem zu empfehlen, er wolle auch in die Unterhaltungsblätter schreiben. Zu diesem Zweck gab er mir einen vortrefflich geschriebenen Aufsatz, den ich Brockhaus schicken mußte. Darauf ist er, glaub’ ich, auch Mitarbeiter geworden. Unser Umgang dauerte vielleicht ein halbes Jahr. Nachher ging ich nach Stuttgart, und er erhielt eine Rectorstelle am Gymnasium in einer Stadt seines Vaterlandes Kurhessen.

Nachher las ich viel von diesem Manne; er wurde der geistreichste Beurtheiler unserer Nationalliteratur bis auf Goethe, und der beschränkteste Ultra-Orthodoxe der Neuzeit, der eine Literaturgeschichte geschrieben hat, die seinen Namen auf die Nachwelt bringen wird, und der allen Ernstes behauptete, der Teufel habe ihm in Person einen Besuch gemacht (wir Thüringer sagen, er hat den Teufel barfuß laufen sehen). Der Leser weiß nun schon, daß es Vilmar war, der vor Kurzem als Consistorialrath und Professor der Theologie in Marburg gestorben ist.
Ludwig Storch.


Instinct oder Ueberlegung? Ich saß einmal in einem Dorfe bei Königsberg in Franken, im Wirthshaus bei einem Glas Bier, ganz allein; wie mir’s schien, war außer mir kein lebendes Wesen mehr in der Stube, als ein großer Metzgerhund, der, ein Mittagsschläfchen machend, sich lang ausgestreckt hatte und auf der Seite lag wie ein todtes Thier. Ich war im ungestörten Zug meiner Gedanken, als ein drittes Wesen hinzukam – ein Staar, der auf den Hund hüpfend, sofort eine Lese begann, wahrscheinlich nach Flöhen, denn daß ganze Schwärme von Staaren sich auf Schafheerden niederließen, um sie von einer andern Gattung von Parasiten zu befreien, mit denen auch unreinliche Menschen, Affen, Wildpret und Schweine reichlich gesegnet sind, das sah ich schon öfter. Hier wie dort hatte ich meine stille Freude an diesem Act der Nächstenliebe, der freilich nicht ganz ohne Eigennutz war, da es sich wohl mehr um das Genießen, als um die Wohlthat für Andere handelte. Der Hund gab lange kein Zeichen der Erkenntlichkeit von sich – als aber der Flohjäger einige Male zu heftig auch an den Kopf des Siesta Haltenden pickte, erhob er denselben mit einem zornig fragenden Blick, und als die Angriffe wiederholt wurden – schnapp – war der Vogel im Rachen des Hundes verschwunden. Ich staunte nicht wenig, zumal der Hund den Kopf ohne Ruck und Druck wieder auf die Seite legte und regungslos liegen blieb, wie vorher. Was, dachte ich, sollte denn der den Kerl mit Haut und Haar, das heißt mit Federn und Krallen, verschlungen haben, ohne ihn zu kauen? Da erhob Sultan nach einigen Minuten sein Haupt wieder, mit einem um Beifall buhlenden Blick auf mich, machte das Maul auf, ungefähr wie Raucher die Ringelwölkchen blasen – und heraus flog Bruder Staarmatz, „fröhlich und wohlgemuth“ einen triumphirenden Flug durch die Stube machend, dann „hüpfte das junge Blut“ wieder auf den dolce far niente Pflegenden und begann den Pürschgang auf den Pulex von Neuem. Die Wirthsleute bezeugten mir später, daß diese brüderliche Scene nicht zum ersten Male gespielt habe, und wir müssen deshalb wohl annehmen, daß nach den vielen Beweisen von Treue und List, von Ueberlegung und Rache, wie sie die Gartenlaube mittheilt, die Thiere auch Humor haben.
G. v. D.


„Das Geheimniß der alten Mamsell“ auf den Brettern. Daß man E. Marlitt’s treffliche Erzählung zu einem Bühnenstück bearbeitet hat, wissen jedenfalls die meisten unserer Leser. Das Drama, von Karl Moßberg verfaßt, ist zuerst auf dem Schloßtheater in Charlottenburg zur Aufführung gekommen, hatte aber dort, wegen der mangelhaften Inscenirung und Rollenbesetzung, nicht den Anklang gefunden, den man zu erwarten berechtigt war; jetzt ist das Stück auch auf dem Victoriatheater in Berlin gegeben worden und hat sich hier, bei zum Theil trefflicher Wiedergabe der einzelnen Rollen, eines durchschlagenden Erfolges zu erfreuen gehabt, so daß, wie die Berliner Theaterkritik voraussagt, „das Geheimniß der alten Mamsell“ jedenfalls ein Zug- und Glanzstück der erwähnten Bühne werden dürfte. Leider ist die hochbegabte Dichterin der mit so allgemeiner Anerkennung aufgenommenen Erzählung noch immer von ihren schweren Körperleiden nicht völlig hergestellt und hat deshalb ihre von der Gartenlaube bereits mehrfach angekündigte Novelle „Reichsgräfin Gisela“ noch nicht vollenden können, wenn auch der Abschluß derselben in allernächster Aussicht steht.


Kleiner Briefkasten.

Frau E. H. in Soerabaya auf der Insel Java. Für Ihre Töchter und deren Ausbildung in Deutschland empfehlen wir Ihnen das Pensionat der Frau Dr. Beta in Berlin, Königgrätzerstraße 48. Da der Bruder derselben, Herr R. Rolf, Postbeamter in Soerabaya ist, wird er nicht nur darüber gern nähere Auskunft geben, sondern Ihnen auch die gewünschten Jahrgänge der Gartenlaube, sowie die Wochenausgabe der Kölnischen Zeitung auf die schnellste und billigste Weise verschaffen. D. R.

G. F. in W…n. Privat-Anfragen über Auswanderung kann ich nicht einzeln beantworten, denn sie nehmen so überhand, daß sie meine ganze Zeit beanspruchen würden.
Dresden, im September 1868. Fr. Gerstäcker.     



Inhalt: Süden und Norden. Eine bairische Dorfgeschichte von 1866. Von Herman Schmid. (Fortsetzung.) – Die Altmeister der deutschen Imker. Mit Portraits. – Das Schellengeläute der Thüringer Heerden. – Fidelio. Nach persönlichen Mittheilungen des Herrn Professor Röckel von Rudolph Bunge. – Aus dem Hamburger Hafen. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Eine Doppelnatur. Von Ludwig Storch. – Instinct oder Ueberlegung? – „Das Geheimniß der alten Mamsell“ auf den Brettern. – Kleiner Briefkasten.


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen. Die Verlagshandlung. 


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Gewiß erinnern sich die Leser dankbar der vielen, trefflichen Beiträge, die B. Sigismund auch für die Gartenlaube geliefert, und werden mit uns eine soeben vorbereitete Gesammtausgabe seiner zerstreuten Arbeiten freudig begrüßen.