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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[321]

No. 21.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Vetter Gabriel.
Von Paul Heyse.
(Fortsetzung.)


Als Gabriel unter die Hausthür trat und in die enge Gasse hinaussah, über der der prachtvollste Mondhimmel funkelte, erleichterte sich sofort sein eingeschnürtes Herz unter dem Hauch der reinen Herbstlüfte, die er, wie ein Verdurstender ein Glas Wasser, begierig einsog. Jetzt hinauswandern, immer dem Monde nach, immer in der silbernen Dämmerung über Länder und Meere, nie zurücksehen, nie unter Menschen kommen, die ein Tagewerk treiben – wenn das möglich wäre! Aber im Grunde, was käme dabei heraus? Ist nicht dummer Weise die Erde rund, und fände man sich nicht endlich wieder am alten Fleck, nicht klüger, nicht froher, als man ausgegangen? Nein, hier bleiben, hier gute Miene zum bösen Spiel machen, und endlich, mit Geduld und Trotz, alle Schicksalstücke unter die Füße zwingen, daß man Jedem in’s Gesicht sehen und sich seines Lebens freuen kann!

Eben bog ein nachtschwärmendes Paar um die Ecke, ein Soldat mit seinem Mädchen, beide zwar an der mondhellen Seite, aber die Gesichter so dicht einander zugekehrt und so in ihr Geplauder vertieft, daß sie sich wie zwei Blinde langsam mit den Füßen weitertasteten. Sie kamen an Gabriel vorbei, ohne ihn gewahr zu werden. Er aber sah deutlich, daß es nur ein häßliches Schätzchen war, was der schmucke Bursche sich ausgesucht hatte, mit langen Armen, breiten Füßen und schmächtigen Schultern. Aber er hielt sie darum nicht minder sorgsam und angelegentlich umfaßt, und wie sie so mit überm Nacken verschlungenen Armen in einander vertieft dahingingen, überkam den Zuschauer doch etwas wie Neid. Der Bursche da, sagte er bei sich selbst, wird wenigstens nicht nöthig haben, dermaleinst Abend für Abend in ein ödes Quartier heimzukehren und mit dem Geschnurr des Katers am Ofen vorlieb zu nehmen. Er hat zugegriffen, zur rechten Zeit; hernach merkt er vielleicht, daß er sich vergriffen hat; je nun, darauf hin muß es ein Jeder wagen. Aber das schlimmste Loos zu Zweien ist doch erträglicher, als Niemand anzugehören und mitten unter den wimmelnden Menschenpaaren nur mit seinem unfruchtbaren Ich verheirathet zu sein!

Er war eben bei diesem etwas gewagten Satze angelangt und wandte sich mit einem tiefen Seufzer in den dunklen Hausflur zurück, um sein schweres Haupt und sein noch schwereres Herz zu Bette zu tragen, als ein artiges Bild, das eben wie für ihn hingemalt aus dem schwarzen Rahmen der hintern Thür hervorglänzte, seine müden Sinne plötzlich ermunterte. Die Thür nämlich am andern Ende des Hausganges öffnete sich in den Hof. Da stand mitten im Mondschein am fließenden Brunnen ein Mädchen, das er zwar nur vom Rücken sah, aber sogleich für die Traud erkannte. Sie hatte die Aermel bis an die Schultern zurückgestreift, neigte sich über den steineren Trog und wusch sich mit sichtlichem Behagen die nackten Arme, die sie dann, wie ein badender Vogel seine Flügel, hoch in der Luft schüttelte, daß die Tropfen im Monde blitzend um sie herumsprühten. Als sie das eine Weile so getrieben hatte, bückte sie ihr Gesicht unter den Wasserstrahl und ließ sich über und über berieseln, fuhr dabei mit den Händen über Stirn und Hals und achtete es nicht, daß ihre Zöpfe losgingen und zur guten Hälfte in’s Wasser hinabtauchten. Endlich richtete sie sich wieder auf und schwenkte und schüttelte nun auch den Kopf, wie vorher die Arme, und hielt dabei die fest zugedrückten Augen gegen den Mond, als wollte sie sich von seinen Strahlen abtrocknen lassen. Aber plötzlich riß sie sie weit auf und sah sich erschrocken um. Ein Arm hatte sich zutraulich um ihren schlanken Leib gelegt, eine Stimme ihren Namen genannt.

„Sie sind es?“ rief sie erschrocken. „Was nehmen Sie sich heraus? Den Augenblick lassen Sie mich los, oder ich bespritze Sie so, daß kein trockner Faden an Ihnen bleibt!“

„Sei still, Kind,“ sagte er, indem er ihre Hände zu fassen suchte. „Ich habe mit Dir zu reden.“

Sie aber wand sich wie ein Fisch aus seinem Arm, trat ein paar Schritte vom Brunnen weg und sagte mit zornig blitzenden Augen, während sie ihr nasses Gesicht mit dem Schürzchen abwischte: „Ist das auch Manier, Herr, einem nachzuschleichen und heimtückisch zu überfallen, wenn man an nicht Arges denkt? Ich seh’ wohl, Sie haben es darauf abgeseh’n, mir allen Tort anzuthun, und ich hab’s Ihnen vorhin noch nicht deutlich genug gesagt, daß ich so nicht mit mir spaßen lass’. Schämen Sie sich! Sie sind ’s gar nicht werth, daß ich freundlich zu Ihnen war, Sie haben gleich schlimme Gedanken, und ich will gar nichts mehr mit Ihnen zu schaffen haben. Haben Sie mich verstanden?“

Dabei schlang sie sich so heftig die losgegangenen Flechten wieder um den Kopf, daß das herumsprühende Wasser ihn in’s Gesicht traf. Aber er ließ sich nicht einschüchtern, sondern trat ihr näher und sagte mit seinem ernsthaftesten Ton:

„Traud, Du thust mir Unrecht, jetzt und schon vorhin. Ich mein’ es sehr gut mit Dir und bin nur gekommen, Dir eine bessere Meinung von mir beizubringen. Wir Zwei kennen uns noch nicht lange, aber man braucht keinen Scheffel Salz mit einander zu essen, um zu wissen, ob man einander vertrauen kann; dafür hat man ein Gefühl in sich, das klüger ist, als alle Erfahrung [322] und wenn Dir das Deine anfangs gesagt hat, daß ich ein rechtschaffener Mensch sei, so hat es Dich, weiß Gott! nicht betrogen. Ich sage Dir, Kind, Menschen, die man von Jugend auf zu kennen gemeint hat und lieb und theuer gehalten hat, die können einen plötzlich so fremd ansehen, daß es einem eiskalt übers Herz läuft.“

„Ja wohl,“ unterbrach sie ihn plötzlich und sah ebenfalls sehr ernsthaft vor sich nieder, „das kenn’ ich, das hab’ ich auch schon erlebt.“

„Nun siehst Du,“ fuhr er eifrig fort und bemächtigte sich ihrer kühlen feuchten Händlein, die sie ihm jetzt unbedenklich überließ; „also was soll der Mensch thun, dem so was begegnet ist? Wenn er irgendwo einen andern Menschen findet, zu dem er plötzlich so ein recht volles, herzhaftes Zutrauen faßt, daß er ihn nie betrügen werde, soll er den nicht festhalten mit beiden Händen und fragen, ob er nicht bei ihm bleiben und Freud’ und Leid mit ihm theilen wolle?“

Sie sah ihm mit einem großen, staunenden Blick gerade in’s Gesicht. „Mein Gott,“ sagte sie, „ist das nun wieder Spaß, oder spricht der Wein aus Ihnen?“

„Keins von beiden, Kind, sondern mein guter, ehrlicher Ernst. Ich weiß, daß Du ein braves und getreues Herz hast und daß Du jeden Mann glücklich machen wirst, den Du recht lieb hast, und ich, wenn ich mich auch nicht rühmen will, ich weiß auch von mir, daß Eine, die es mit mir wagen wollte, es nicht zu bereuen hätte, und wenn es mir schon einmal quer gegangen ist, ich denk’, ich verdiene es wohl, daß es mir nun desto besser gehe, und werden nicht auch Ehen im Himmel geschlossen? Also, dächt’ ich, wir sollten uns ein Herz fassen und, ohne uns lange zu besinnen, einander die Hand geben, um sie nie wieder loszulassen.“

Während er so sprach, verrieth keine Miene ihres Gesichts, welchen Eindruck seine Worte auf ihn machten. Sie stand mit herabhängenden Armen, die Augen ruhig auf seine Hand mit dem Ringe gesenkt, als erzähle ihr Jemand eine unverständliche Geschichte, die sie aber aus Höflichkeit nicht zu unterbrechen wage. Uebrigens war sie ihm nie so reizend erschienen, als eben jetzt, da ihr Gesicht ganz blaß geworden war, und die breiten Augenlider mit den langen Wimpern ihre runden Wangen beschatteten.

„Ich hätte eine Bitte,“ sagte sie jetzt leise und sah ihn forschend an, ob er es ihr auch nicht übel nähme: „wenn Sie mir den Ring da auf fünf Minuten leihen wollten; es sollte Ihnen nichts daran geschehen.“

„Nimm ihn,“ sagte er. „Er ist Dir ja zugedacht, und ich hab’ es schon vorhin ganz ernstlich gemeint, daß ich ihn nicht mehr am Finger leiden wolle.“

„Nein, nein, nein!“ erwiderte sie rasch. „Es ist nur, um etwas zu probiren.“

Sie nahm das blanke Reifchen behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger und flog damit in’s Haus hinein.

Nach fünf Minuten, die er, am Brunnenrande stehend, wie im Traum verbrachte, kam sie wieder, jetzt langsam und mit einem geheimnißvollen, schüchternen Lächeln.

„Schon geschehen?“ fragte er.

Sie nickte.

„Und Alles in Richtigkeit?“

Die Röthe stieg ihr bis an die Schläfen. „Es ist wohl dummes Zeug,“ sagte sie. „Ich glaub’ selber nur so halb daran. Es heißt, wenn man von einer Person wissen will, ob sie ’s ehrlich mit einem meint, braucht man nur einen Ring von ihr zu nehmen, an ein Fädchen zu binden und in ein leeres Glas zu halten. Wenn er dann von selber zu schwingen anfängt und an’s Glas anklingt, so ist ’s recht und richtig.“

„Und der meine da? Hat er seine Schuldigkeit gethan?“

„Auf dem Fleck, kaum daß ich ihn hineingehängt hatte, und geklingelt, als ob das Glas zerspringen sollt’.“

„Nun siehst Du,“ rief er und ergriff ihre Hand mit dem Ringe, indem er mit aufglühender Freude das Mädchen an sich zog, „so wirst Du’s nun glauben, nicht wahr, und Dich entschließen, mit mir zu gehen und meine kleine Frau zu werden?“

Sie machte sich mit einer scheuen Geberde von ihm los. „Ich bitte gar schön,“ flüsterte sie. „So darf mich kein Mensch anfassen, als mein Bräutigam, und ich kann’s noch immer nicht glauben –“

„Was?“

„Daß wir Zwei zusammentaugen, ein studirter Herr, wie Sie, und ein armes Bauernkind. Seh’n Sie, das ist, wie unsere zwei Ringe neben einander; der meine da hat zehn Batzen gekostet, auf’s Höchste, und Ihnen Ihrer Gott weiß wie viele Gulden! Ich hab’ auch sonst gar nichts Ihnen zuzubringen, als meine gesunden Arme und mein gutes Gewissen. Es könnt’ Sie doch einmal reuen, wenn Ihnen später so ein recht gelehrtes, vornehmes Fräulein begegnete, das auch brav Geld hätt’ und zu schwätzen wüßt’ und Klavier spielen und Alles.“

Sie hatte eine so liebliche Art, das Alles zu sagen, daß er ihr am liebsten statt aller Antwort um den Hals gefallen wäre, um jeden Zweifel an seiner zärtlichen Neigung auf ihren Lippen zu ersticken. Aber er kannte sie nun schon genug, um einzusehen, wie wenig diese Art der Freiwerbung nach ihrem Sinn gewesen wäre.

„Setz’ Dich da einmal her zu mir,“ bat er, und führte sie zu einem Bänkchen, das im Schatten eines alten Baumes stand. – Sie that es und saß nun, die Hände in ihrer Schürze schlicht zusammengelegt, die jugendliche Brust etwas vorgebeugt, in der rührendsten Haltung von Unschuld und Hingebung ihm gegenüber, wie ein Kind, dem ein Märchen erzählt werden soll. Während er sprach, ließ sie kein Auge von ihm, ihr Athem ging ruhig aus und ein, und nur das Zittern ihrer feinen Nasenflügel verrieth dann und wann den Antheil, den sie an seinen Worten nahm. Er erzählte ihr ein gut Stück von seinen Schicksalen, beschrieb ihr das schöne Haus, das die Tante ihm hinterlassen, sein Leben und Treiben auf dem Gut, wie friedlich unbeschrieen sie dort hausen würden, und daß er nichts Anderes sei und sein wolle, als ein Weinbauer, zu dem ein Bauernkind, wenn es nur ein feines Herz und einen geraden Sinn habe, tausendmal besser tauge, als ein Stadtfräulein mit allem Schnickschnack, den man in der Pension lernt. Das Alles redete er so treuherzig an sie hin, daß er jedenfalls sich selbst vollständig überzeugte, er habe nie in seinem Leben etwas Gescheiteres gesagt und gethan als in dieser Stunde.

Als er endlich schwieg, stand sie ruhig auf und sagte: „Das ist Alles recht, und ich glaube Ihnen jedes Wort, aber Heirathen ist kein Kinderspiel, und Sie müssen mir schon erlauben, daß ich mich bedenk’ und Sie auch noch ein Paar Mal seh’ und spreche. Sie kennen mich ja auch erst seit drei Stunden. Es könnt’ doch sein, daß ich ein rechter Drach’ wäre und Sie kämen schlimm mit mir an.“

„Was Dich betrifft,“ sagte er, „so ist das meine Sache, und ich verlang’ nichts weiter von Dir zu wissen, als was meine zwei Augen mir gesagt haben. Wenn Du Dich aber bedenken willst, kann ich Dir ’s nicht wehren. Nur bedenk’ auch, daß ich morgen früh wieder nach Hause gehe, und was bis dahin nicht zu Stande kommt, ist ein für alle Mal aus und vorbei. Ich will Dich nicht weiter drängen. Ich nehm’ ein Zimmer hier im Haus und sag’ Dir gute Nacht. Morgen früh, eh’ ich fortreise, hol’ ich mir den Bescheid. Bist Du’s zufrieden, Schatz?“

Sie besann sich. Ein reizend nachdenkliches Fältchen zwischen Nase und Augenbrauen kam dabei zum Vorschein; er konnte sich nicht enthalten, es mit einem tüchtigen Kusse zu glätten.

„Darf ich der Frau Path’ Alles sagen?“ fragte sie erröthend.

„Nein! Ich will nicht, daß Du thust oder lässest, was ein Fremdes Dir eingiebt. Deinem Herzen sollst Du folgen. Wenn das für mich ist, kannst Du Dich getrost auf das verlassen, was es Dir räth. Ich möcht’ auch nicht,“ fuhr er fort, „daß die Sache beschwatzt und ausposaunt würde, eh’ wir zum Pfarrer gegangen wären. Die Menschen haben keine größere Freude, als Andern ihre zu verderben.“

„Das ist wieder wahr,“ sagte sie. „Nun also, schlafen Sie wohl, Herr ... wie heißen Sie aber?“

„Gabriel heiß’ ich. Ist der Name Dir recht?“

Sie lachte. „Wenn ein Erzengel damit zufrieden ist,“ sagte sie, „kann er einem armen Mädle wohl recht sein. Also gute Nacht, Herr Gabriel. Auf morgen früh!“

Sie reichte ihm herzlich die Hand, sah ihm noch einmal halb liebevoll, halb mit ungläubigem Staunen über das ganze Abenteuer in die Augen und verschwand dann, da man eben im Hause nach ihr rief, hurtiger, als ihm lieb war, von seiner Seite.

Er fühlte jetzt, daß der Tag für ihn zu Ende war. Auch hatte er sich seinen Schlaf wohl verdient nach so anstrengender Arbeit. Zwei Brautwerbungen im Verlauf eines einzigen Abends [323] sind selbst für den Rüstigsten keine Kleinigkeit. Also ließ er sich von dem Wirth ein Zimmer anweisen, warf, sobald er sich allein sah, die Kleider ab und ging zu Bette. Eine Weile lag er noch, mit offenen Augen nach der Decke starrend, wo die Hand eines geistreichen Stubenmalers sich in tollkühnen Arabesken verewigt hatte.

Es that ihm wohl, in dies Gewirr von krausen Schnörkeln und Zackenwerk zu blicken, bei denen sich nicht das Geringste denken ließ; denn so zufriedenen Schrittes er in sein Zimmer hinausgegangen war, so wenig geheuer war ihm doch in der Stille vor seinen eigenen Gedanken. Zuletzt seufzte er tief auf, löschte das Licht und kehrte sich nach der Wand, um zu schlafen.

Aber er mochte sich alle Mühe geben und die weisesten Selbstgespräche über die Nothwendigkeit der irdischen Geschicke vor sich hin phantasiren, es gelang ihm doch nicht, das unbequeme Etwas in sich einzuschläfern, das immer das letzte Wort behielt und ihm zuzuraunen sich unterstand: von den zwei Brautwerbungen dieses Tages sei die zweite noch um Vieles übereilter und halsbrechender gewesen, als die erste. Er hielt in Gedanken eine lange Rede an seine gute selige Tante, als ob sie noch lebte, um ihr klar zu machen, wie zweckmäßig er gehandelt habe. Dabei sah er aber immer ihr Haubenband wackeln, wie in alter Zeit, wenn sie ihm über einen seiner dummen Streiche auf ihre kurze und trockene Manier ihre Meinung sagte. Er brachte endlich ein Argument auf’s Tapet, das zwar vor der Tante nicht viel mehr Gnade fand, als alle übrigen, ihn selbst aber gar sehr beruhigte, nämlich: er sei es sich schuldig, zu zeigen, daß er kein Knabe mehr sei, der sich in den Winkel stellen lasse, wenn er sich nicht ganz nach Wunsch aufgeführt habe. Man werde doch curiose Augen machen, wenn man in der Rheinstraße Nr. 27 erfahre, der Vetter sitze keineswegs untröstlich im Schmollwinkel, sondern habe sich eine allerliebste kleine Frau genommen, von geringer Herkunft freilich, aber das unbescholtenste, munterste, liebenswürdigste Kind im ganzen Ländchen, das in dem schönen neu hergerichteten Hause mitten im Weingut sich ausnehme wie die Perle im Golde.

Die Genugthuung, die er hierüber empfand, hatte ihn nun wohl in Schlaf lullen können; auch war unten im Hause längst jedes Geräusch verstummt. Nur die große Uhr auf dem Gange vor seinem Zimmerchen tickte so hart und beschwerlich wie ein böses Gewissen und schlug mit heiser schnarrender Zunge die Viertelstunden. Es überkam ihn zuletzt eine Art von persönlicher Erbitterung gegen das alte Hausgeräth, als wäre Alles in bester Ordnung, wenn der verwünschte Pendel nur nicht beständig den Frieden störte. Ganz erbos’t stand er endlich auf, schlich im Dunkeln hinaus und tastete an dem Werk herum, bis er’s zum Stehen gebracht hatte. Darauf empfand er eine große Erleichterung, legte sich wieder nieder und schlief nun auch fest und traumlos ein. –

Um dieselbe Stunde war in einem Zimmer der Rheinstraße Nr. 27 noch Licht. Eine kleine blasse Frau sagte einem schönen schlanken Mädchen gute Nacht und küßte sie mütterlich aus Stirn und Augen. „Dein Kopf ist so heiß, Kind“ sagte sie; „es thut mir leid, daß ich gerade heute davon gesprochen habe, aber einmal mußte es doch geschehen, und da ich wußte, daß Dein Herz dabei nicht betheiligt ist, dacht’ ich, es würde Dich nicht sehr aufregen. Nun, schlaf’ Dich aus und denke, daß auch Dein Vater keinen andern Wunsch hat, als Dich glücklich zu sehen.“

Was hatte die Mutter mit der Tochter zu reden gehabt? Es war eben nichts Unerhörtes, und dies Gespräch nicht das erste seiner Art. Daß der Vater des jungen Bordelesers an ihren Vater geschrieben, wie es sein und seines Sohnes lebhaftester Wunsch sei, die alte Geschäftsverbindung der beiden Häuser durch ein noch innigeres Band zu befestigen, und wie der Sohn es als sein höchstes Lebensglück ansehe, die Neigung der schönen Cornelie zu gewinnen; und dann die Bitte, seinen ernstlichen Bewerbungen wenigstens nicht hinderlich in den Weg zu treten, falls das Herz ihrer Tochter noch frei sei: das hatte die kluge Mutter geglaubt ihrem Kinde eröffnen zu müssen, damit es auf der Hut sei und die Hoffnungen des jungen Hausfreundes nicht ermuthige, falls es sie nicht endlich zu erfüllen gedachte.

„Nimmermehr!“ hatte Cornelie gesagt. „Ich schätze ihn gewiß, aber ich kann überhaupt den Gedanken nicht fassen, wie ich fort sollte von Dir und dem Vater.“

„So lange Du das nicht kannst,“ hatte die Mutter erwidert, „ist es freilich nicht der Rechte. Ich möcht’ aber nur wissen, Du seltsames Kind, wie der einmal aussehen soll!“ –

Darauf hatte Cornelie geschwiegen, aber der Mutter war es auch eben nicht um eine Antwort zu thun; sie kannte ihre Tochter bis zum letzten Grunde ihrer schweigsamen Seele und hatte wohl gemerkt, als sie heut’ nach Hause gekommen, daß irgend etwas vorgefallen sein mußte, und weiter nicht gefragt, als Cornelie mit erzwungener Gelassenheit berichtete, der Vetter sei da gewesen. Sie wartete immer, bis ihr Kind selbst das Bedürfniß fühlte, sich gegen sie auszusprechen. Heut’ war das noch nicht zu hoffen; darum ließ sie sie allem. Aber sie horchte in ihrem Zimmer nebenan, ob das Kind zur Ruhe komme. Das geschah erst nach Stunden. Das Fenster war geöffnet worden, als wäre es nebenan zu schwül gewesen. Das Stühlchen am Schreibtisch hatte sie rücken hören, und der stand so nah am Fenster; das unbedachte Kind wird doch nicht an der rauhen Luft sich heiß geschrieben haben? Und doch wehrte ihr ein gewisses Zartgefühl, noch einmal hineinzugehen; als ob sie sich in ein Geheimniß eindrängte, das man ihr vorenthalten wolle. Endlich wurde das Fenster geschlossen und Alles still. Aber am frühen Morgen schon trieb es das unruhige Mutterherz aus dem Bette, um nach ihrem Liebling zu sehen. Es war noch sehr dunkel im Zimmer, aber sie erkannte doch die glühenden Wangen und den fieberhaften Glanz in den Augen, als Cornelie sie überwacht und traurig zu ihr aufschlug. Nun machte sie sich Vorwürfe, daß sie nicht schon in der Nacht dem Unverstand gewehrt hatte, und beruhigte sich nur halb, als der eilig gerufene Arzt erklärte, es habe nichts zu bedeuten. –

Noch ein wenig früher erwachte im Mäusethurm ein uns wohlbekannter junger Mann, der nach viel unbesonneneren Nachtschwärmereien dennoch den Schlaf des Gerechten geschlafen hatte. Der Rausch aber, in den ihn gestern Abend sein bitteres Herzeleid, der edle Wein und der alte Freund phantastischer Thorheiten, der Mond, hineingelockt hatten, war jetzt verflogen, und in der nüchternen grauen Nebelfrühe, als er sich plötzlich auf Alles zurückbesann, überkam ihn ein so klägliches, so mitleidswürdiges Gefühl, wie er es nach den tollsten Gelagen und den schlechtesten Weinen nie erlebt hatte. Er stützte sich im Bette auf und sah in den Hof hinaus, wo die entblätterten Aeste des Baumes, unter dem er gestern mit der Traud gesessen, nicht mehr wie Silber schimmerten, sondern schwarz und feucht in die falbe Luft hinaufstarrten. Er hätte viel darum gegeben, wenn er den Abend aus seiner Erinnerung hätte wegwischen können, wie eine falsche Rechnung auf einer Schiefertafel. Aber um so aufdringlicher kam ihm jedes Wort zurück, das er gesprochen hatte, und so unmöglich es ihm jetzt schien, so gewiß und unzweifelhaft war es: er hatte wie ein leichtsinniger Spieler sein Lebensglück auf eine verdeckte Karte gesetzt. Wo war nun der bittere Trotz, der ihm gestern Abend zugeraunt, er sei es sich schuldig, zu beweisen, daß er sich nicht so leicht niederschlagen lasse? Nichts dachte er jetzt, als daß er einer der unglücklichsten Menschen auf Erden sei, und daß ihm unter der Erde wohler sein würde. Die alte Liebe trat wieder dichter an sein Herz, daß er hätte aufschreien mögen, da er sich gestehen mußte, wie schwer er sich an ihr versündigt hatte. Es schien ihm noch Alles ganz so hoffnungslos, wie Tags zuvor, ja noch weit schlimmer, da er nach dem, was vorgefallen, sich noch weniger getraut hätte, in dem Hause in der Rheinstraße wieder anzuklopfen, als müsse ihn Jedermann darin, vom Hausherrn bis zum Portier, auf das Abenteuer im Mäusethurm ansehen. Aber besser in ewiger Einsamkeit seine verlorenen Hoffnungen begraben, als vorlieb nehmen mit dein ersten besten Ersatz.

Und doch, so klar ihm das Alles war, so peinlich war ihm der Gedanke, das nun geradezu dem guten Mädchen zu erklären, dem er gestern die treuherzigsten Geständnisse gemacht hatte. Was sollte sie davon denken? Was hatte sie ihm über Nacht zu Leide gethan, um sie nun ebenso kurzangebunden abzudanken, wie er sie ohne viel Besinnen an sein Herz gezogen hatte? Wie vernünftig und überzeugend hatte er ihr Alles vorgestellt und jede ihrer Einreden entkräftet! wie feierlich betheuert, daß er ihres Vertrauens werth sei! Und jetzt sollte er sich mit der Weinlaune entschuldigen oder gar ihr gestehen, daß sie ihm nur gerade gut genug gewesen sei, da eine Bessere ihn abgewiesen?

Er war in einer so verzweifelten Stimmung, daß er hundertmal sein Leben verwünschte.

Aber etwas mußte geschehen, und wie er jetzt aus dem Bette sprang und, nachdem er lange genug tiefsinnig in die Stiefelschäfte gestarrt hatte, endlich entschlossen hineinfuhr, schien ihm aus dem [324] Boden eine geheime Kraft zuzuströmen. Er wollte das Haus, dessen Bewohner hoffentlich noch schliefen, ohne Weiteres verlassen, nach Hause fahren und dort einen ausführlichen, sehr liebevollen und sehr herzbewegenden Brief an die Traud schreiben, um ihr sein treuloses Davonschleichen auf die schonendste Weise zu erklären. Vielleicht auch hatte sie selbst, nachdem sie sich’s beschlafen, sich in ihrer ersten Meinung bestärkt, daß sie doch wohl nicht für einander taugten, und es kam ihr nur gelegen, wenn er ihr das halbe Wort, das sie ihm gegeben, zurückgab.

Hastig fuhr er in die Kleider und öffnete leise die Thür. Im Hause schien wirklich noch Niemand wach zu sein und er nahm sich in Acht, die Treppenstufen nicht zum Knarren zu bringen. Als er aber glücklich unten war und sich eben, behutsam schreitend, der Thür des Gastzimmers näherte, öffnete sich diese und die Traud stand vor ihm. Sie schien an seinem Schleichen kein Arg zu haben, sondern es eher für einen Beweis ihres zärtlichen Einverständnisses zu halten. Um so beschämender war es ihm nun selbst, so gleichsam auf Diebeswegen ertappt zu sein, und er brachte nicht einmal den Morgengruß über die Lippen. Auch sie sagte nichts, nickte ihm nur mit vertraulichem Lächeln zu und zog ihn an der Hand sich nach über die Schwelle. Drinnen brannte eine einzelne Kerze, deren ungewisser Schein die Röthe auf seinen Wangen nicht verrieth. Aber das arglos heitere Gesicht des Mädchens sah er deutlich genug, um plötzlich allen Muth zu einer unumwundenen Erklärung zu verlieren. Es soll nicht sein! murmelte er vor sich hin. Du entrinnst deinem Schicksal nicht. Die Strafe für deinen Leichtsinn soll dir nicht geschenkt werden. Und da sie Niemand trifft, als dich selbst, so ergieb dich darein, statt noch dies unschuldige Herz zu kränken, dem alles Vertrauen auf Menschen plötzlich schwinden würde, wenn du sie so grausam enttäuschen könntest.

In diesen unglückseligen Gedanken schritt er das Zimmer auf und ab, wie ein Gefangener, der sich endlich in seine Unfreiheit ergiebt. Er sah ihr dabei durch die offene Thür zu, wie sie in der Küche geschäftig über dem hellen Feuer ihm den Kaffee kochte und dann Alles zu seinem Frühstück zusammholte. Dabei nahm sie sich in ihrem weißen Häubchen und dem sauberen Kattunröckchen ganz wie eine reizende kleine Hausfrau aus, und wenn er sich dachte, daß sie so an seinem Heerde schalten und walten sollte, schien ihm sein Loos noch immer gnädig genug. Sie fragte ihn ein paar Mal unbedeutende Sachen, wie er geschlafen habe, ob er wirklich schon fort müsse. Ihre muntere Stimme that ihm, so wund sein Inneres war, dennoch wohl. Es war etwas von dem Klange darin, wie am dunkeln Morgen die Vögel in den Bäumen zu zwitschern anfangen, was ein Kranker gern hört.

Als sie ihm dann das Frühstück auftrug, brachte er es über’s Herz, sie freundlich anzublicken und ihr mit seiner heißen Hand sanft über das blonde Haar zu streichen. Eine liebliche Röthe stieg ihr in die Wangen, sie sagte aber nichts, und auch er fand noch immer kein unbefangenes Wort. Erst als er den Zucker nachdenklich in der Tasse umgerührt hatte, wobei sie ihm am Tische stehend so ernsthaft zusah, wie ein Student einem merkwürdigen chemischen Experiment, gewann er es über sich, von der Hauptsache anzufangen.

„Nun, Traud?“ sagte er.

Sie schien nur darauf gewartet zu haben.

„Ich habe mir’s die halbe Nacht überlegt,“ sagte sie mit sicherem Ton, ehrlich und wacker, wie wenn sie in der Kinderlehre ihr Glaubensbekenntniß aufsagen müßte. „Wenn es wirklich Ihr Ernst ist, so wird es ja wohl mein Glück sein. Nur müssen Sie ein bischen Geduld mit mir haben, denn ich habe wohl guten Willen, aber ich bin noch jung und weiß nicht viel, und Sie werden es in manchen Stücken anders gewöhnt sein. Lieb haben werd’ ich Sie können, das fühl’ ich schon jetzt, und treu werd’ ich Ihnen auch sein. Ich bin noch Niemand untreu geworden, der’s nicht mir wurde, und auch dann hat mich’s Herzweh genug gekostet. Hier haben Sie meine Hand darauf. Wir wollen recht gut miteinander hausen, Herr Gabriel.“

Er nahm ihre Hand und sah ihr mit wehmüthigem Ernst in die Augen. Ihre schlichten Worte hatten das Letzte gethan, seinen Entschluß zur Reife zu bringen. „Ich glaube Dir, Traud,“ sagte er, „und es wird ja, denk’ ich, Gottes Wille sein, daß wir glücklich miteinander leben. So viel an mir liegt, soll geschehen, Dir ein gutes Leben zu bereiten, und Du sollst Dich nicht in mir getäuscht haben. Ein Vierteljahr freilich, oder etwas länger, wird es wohl noch dauern, bis ich Dich heimführen kann. Aber bis dahin komm’ ich ab und zu und besuche Dich, und wir schreiben uns auch und besprechen Alles, was noch nöthig ist, und vorläufig, nicht wahr? erfährt kein Mensch davon.“

Sie nickte und legte die Hand auf’s Herz.

„Und noch Eins,“ sagte er. „Du hast in einen Dienst gehen wollen. Das darfst Du nun nicht mehr thun, hörst Du wohl? sondern mußt hier im Hause bleiben bei Deiner guten Frau Pathe. Meine Braut soll keine Magddienste thun bei fremden Leuten. Versprichst Du mir das?“

„Es wird aber schwer halten,“ sagte sie nachdenklich. „Denn ich soll ja auch den Grund nicht sagen. Indessen, es sind noch drei Tage bis zum Ziel, da wird mir schon was einfallen, und am Ende ist’s meinen Leuten hier gerade recht, wenn mich’s wieder reut und ich sag’, ich will nicht weg von ihnen.“

„Abgemacht!“ sagte er und stand auf. „Und hier ist der Ring, mein liebster Schatz, den magst Du tragen oder aufheben, wie Du willst. Streck Dein Fingerchen aus, daß ich ihn Dir anstecke.“

Sie wurde über und über roth und schlug die Augen nieder. Dann streifte sie ihr eigenes Ringelchen mit den Granaten vom Finger und bot es ihm mit einer Zaghaftigkeit, die ihn herzlich rührte. „Er hat keinen Werth,“ sagte sie, „aber ein treues Herz hängt daran, und Sie werden’s wohl nicht verschmähen.“

Da umfaßte er das liebliche Kind und küßte es auf den Mund, der seinen Lippen freundlich entgegenkam. Gleich darauf machte sie sich wieder los und zog unter ihrem Fürtuch ein Büchelchen hervor. „Ich hab’ Sie gestern Abend doch angelogen,“ sagte sie mit einem lustigen Gesicht. „Ich hab’ gesagt, ich wär’ arm wie eine Kirchenmaus, um erst zu sehen, ob Sie es dennoch nicht gereuen würde. Es ist aber nicht gar so schlimm. Sehen Sie, das ist mein Sparcassenbuch, da stehen hundertundsechszig Gulden darin, und die Interessen lass’ ich immer beim Capital stehen, so wächst es mit der Zeit. Das hab’ ich mir Alles zusammengespart von Trinkgeldern und Neujahrsgeschenken, und auch ein bischen Aussteuer bring’ ich Ihnen zu, daß Sie sich meiner nicht so gar arg zu schämen brauchen.“

Sie sah ihn triumphirend an und tupfte mit dem Finger auf die Zahlen in ihrem Büchlein, daß er lachen mußte.

„Schau,“ sagte er, „da mach’ ich ja eine gute Partie. Am Ende hat mir’s Einer gesteckt, und ich nehm’ Dich nur des Geldes wegen?“

Er umfaßte sie wieder und führte sie ein paar Mal das Zimmer auf und ab. Sie verabredeten, daß sie ihm zuerst schreiben sollte, und seine Antwort sollte er poste restante adressiren, und in acht Tagen wollte er wiederkommen, und wo sie sich dann treffen wollten, daß sie sich ohne Zeugen aussprechen könnten. Je länger ihn die Heimlichkeit dieser Morgenstunde umfing, je mehr verließ ihn seine Beklommenheit, und als er endlich, da es im Hause lebendig wurde, Abschied nahm mit einem herzlichen Kuß und Händedruck, und in das kühle Morgenroth hinauseilte, glaubte er wirklich, er habe nichts zu bereuen und es werde ihm nicht schwer fallen, dieses Mädchen als seine kleine Frau sein Leben lang werth zu halten und auch so glücklich mit ihr zu werden, als es ihm überhaupt noch möglich sei, nachdem er seiner Jugendliebe habe entsagen müssen.

Diese Stimmung blieb ihm auch treu, während er auf dem raschen Dampfer den Rhein hinunterfuhr. Nur wie er sein Haus, auf stattlicher Terrasse nahe am Landungsplatz gelegen, aus dem grünen Hintergründe der Weinberge hervorschimmern sah, fiel es wie ein plötzlicher Nebel über seine Zukunftsgedanken. Wie anders hatte er wiederzukommen gedacht! Das kleine Ringlein von seinem Schatz konnte er plötzlich nicht mehr am Finger leiden.

Er streifte es ab und steckte es in die Westentasche. Im nächsten Augenblick schämte er sich dieser Schwäche und steckte es wieder an. Aber als ihm am Eingang seines Besitzthums der Verwalter entgegentrat und ihn mit einem fragenden, verschmitzten Schmunzeln bewillkommnete, hatte er nicht das Herz, ihm in die Augen zu sehen, sagte nur, ein plötzliches Geschäft sei daran schuld, daß er so geschwind zurückkehre, ließ sich zerstreut über den Fortgang der Lese berichten und ging in’s Haus, mit dem Befehl, daß man ihn nicht stören solle, da er zu schreiben habe.

(Schluß folgt.)
[325]
Eine Maifahrt im Schnee.


Dorf Splügen.
Nach der Natur aufgenommen von J. Sütterlin.

Wer die Alpenpässe der Schweiz und Tirols, den Gotthard, die Bernina, das Wormser Joch, den Simplon u. a. nur im hohen Sommer gesehen hat, der kann sich schwer ein Bild von dem so ganz andern Gepräge machen, welches diese Alpenstraßen im Frühling und Winter annehmen, wenn sie beim Schnee in offenem Schlitten befahren werden. Wird die Reise z. B. im Mai und von der schweizer Seite aus angetreten, so ist es eine wahre Fahrt durch zwei Zonen, indem man auf der Paßhöhe eine wilde sibirische Winterlandschaft vor Augen hat, um wenige Stunden später im Gebiete der Feigen und Kastanienbäume italienischen Himmel, südlich warme Luft und den Blüthensegen eines herrlichen Mais zu begrüßen. Die Erlebnisse einer solchen Fahrt von Splügen nach Chiavenna versuche ich nachstehend den Lesern der Gartenlaube vor Augen zu führen.

[326] Es war an einem Mittage des unfreundlichen Mai des letzten Jahres, daß ich im Dorfe Splügen, dem malerischen Bergorte, welchen unsere Abbildung, allerdings im Sommergewande, zeigt, am Fuße des gleichnamigen Berges, ankam. Eine jener riesigen Archen auf vier Rädern, eidgenössische Postwagen genannt, hatte mich vor dem stattlichen Gasthaus zur Post abgesetzt, wo das officielle Mittagsmahl unser harrte. Um fünf Uhr früh war ich von Chur abgereist, bei einem strömenden Regen, der hie und da unter dem Einflüsse eines rauhen Ostwindes sich zu Schneeflocken verdichtete. Von einem Genusse der Schönheiten der interessanten, stellenweise classischen Route war keine Rede. Der Wind trieb Flocken und Regentropfen so an die Wagenfenster, daß selbst die nächstliegenden Gegenstände sich nur undeutlich aus dem dunkeln Nebelhintergrunde abhoben. Felsberg, Reichenau, die Via mala, die prächtigen Burgruinen – das Alles ging uns verloren. Es blieb uns nichts übrig, als trotz des Frühlings, dicht in den Mantel gehüllt, mit offenen oder geschlossenen Augen zu träumen. Es war daher auch keine rosige Stimmung, in welcher die Insassen des Wagens den Fuß wieder auf die Erde setzten, verschlafen, steif vom langen Sitzen, fröstelnd – mit all’ dem leiblichen und seelischen Mißbehagen, das man nach einer solchen Frühmorgenfahrt bei kaltem Regenwetter empfindet. Zu diesem Katzenjammer gesellte sich aber noch die Besorgniß, es möchte in Folge des plötzlichen Schneefalls des Morgens der Paß unfahrbar geworden und uns beschieden sein, einen Tag lang in Splügen zu bleiben, bis die Passage wiederhergestellt sein würde. Solche Ueberraschungen werden dem Reisenden nicht selten zu Theil, namentlich auch am Fuße des Gotthard. Glücklicher Weise gab der Postmeister gleich beim Aufsteigen über diesen Punkt die beruhigendste Auskunft. Bei mir selbst verlor sich das Mißbehagen, so wie ich die schlaftrunkenen Augen recht öffnen konnte.

Der Himmel hatte ausgetobt, Regen und Schneegestöber waren, verschwunden, ein freundlicher Sonnenblick fiel auf das stattliche Dorf Splügen und vor uns lag in seiner ganzen Glorie der imposante Berg mit seinen malerischen Zacken – im weißen Schneegewand zwar, aber von einer warmen Maisonne beschienen und und in lieblichen Farbentönen erglänzend.

Das Dorf Splügen liegt bereits viertausend vierhundert und dreißig Fuß über dem Meere[1] und gehört also zu den höchstgelegenen Dörfern Europas. An der Grenzscheide zwischen zwei sehr besuchten Schweizeralpenstraßen – denjenigen über den Splügen und den Bernhardin – stehend, ist es der Mittelpunkt eines sehr regen Verkehrs, der viel Wohlstand in das ursprünglich arme Bergdorf gebracht hat. Denn der Splügen ist jetzt der weitaus am meisten bereiste Schweizerpaß, und außer den Kaufleuten und den Touristen lockt die romantische Gegend und der Reichthum an Mineralien und seltenen Alpenpflanzen jeden Sommer auch Schaaren von Künstlern und Naturforschern in diesen Thalkessel hinaus. So ist denn auch das Gasthaus zur Post in Splügen eine vortreffliche Herberge, die allen Ansprüchen an Comfort Genüge leistet.

In dem geräumigen Speisezimmer hatte sich bereits eine zahlreiche Gesellschaft um den Mittagstisch versammelt, meist Kaufleute aus der Lombardei oder dem Canton Graubünden. Ein lustiges Feuer prasselte im Kamine und verbreitete behagliche Wärme, der purpurne Veltliner Wein löste die Zungen und goß flüssige Gluth in die Adern der Tischgenossen. Der Schirrmeister machte aber bald dem geselligen Leben ein Ende, indem er die Splügenreisenden abberief. Der Eilwagen stand fertig gepackt und bespannt vor der Thür; der Schwager thront auf seinem hohen Sitze, wir steigen ein und – hipp – die Bergfahrt beginnt.

Zwischen dem Dorfe Splügen und dem eigentlichen Berge liegt ein wüstes Trümmer- und Steinfeld, mit gewaltigen Felsblöcken, ein Erinnerungsblatt der Verheerungen, welche die Hochwasser in den dreißiger Jahren wiederholt hier angerichtet hatten. Der mitten durch’s Dorf Splügen fließende Bach hatte Brücken und Häuser weggerissen und einen großen Theil der Straße zerstört. Beim Zurückgehen in sein gewohntes Bett ließ er dieses Steingeschiebe als Zeichen seiner Kraft hier zurück.

Die Straße über den Splügen ist eine der bestangelegten und bequemsten Alpenstraßen; die Steigung ist so gering, daß man nie Vorspannpferde braucht, und die Breite so respectabel, daß zwei schwergeladene Frachtwagen sich bequem ausweichen können. Wie alle Alpenstraßen, geht sie in Zickzacklinien, deren man von der Schweizerseite aus sechszehn bis zur Paßhöhe zählt. Wir waren nur wenige Minuten gestiegen, als wir den ersten Schnee begrüßten, der, erst nur als leichter Schaum die Straße bedeckend, rasch an Mächtigkeit zunahm. Die Schlittenpartie, der interessantere Theil der Reise, hatte zu beginnen; wir waren kaum zwanzig Minuten von Splügen entfernt, als wir denn auch an der Seite der Straße eine lange Reihe bespannter Schlitten, jeder mit einem Kutscher, stehen sahen. Die Schneedecke war bereits zu hoch für unseren schweren Wagen; er mußte seine Bemannung und sein Gepäck abgeben und nach Splügen zurück. Das Frachtgut ward sorgfältig auf einen Fourgonschlitten geladen, die Reisenden aber wurden je zwei in einen Schlitten verpackt, und abermals ging es vorwärts.

Diese Postschlitten sind sehr einfach und ihrem Zwecke entsprechend gebaut; die Breite ist nur gerade für zwei Personen hinreichend, vorn befindet sich der Sitz für den Schwager, der aber, nur bei der Thalfahrt benutzt wird. Bei der Bergfahrt geht der Kutscher vor oder hinter dem Fuhrwerk einher, indem er die Zügel einem der Reisenden übergiebt oder einfach vorn an seinem Sitze befestigt. Die Pferde sind so vertraut, daß er die Passagiere getrost ihrer Führung überlassen darf. Der Sitz der Reisenden ist gepolstert, mit einer Rücklehne, die bis an’s Kreuz geht, aber ohne alle Bedachung. Bei Schneegestöber und Regen muß dies für die Fahrenden sehr peinlich sein, die denn auch oft halb erstarrt und mit entzündeter Gesichtshaut am Fuße des Berges ankommen; bei so herrlichem Wetter aber, wie wir es zu unserer Bergfahrt hatten, ist dagegen der freie Rundblick, den diese offenen Schlitten gewähren, von großer Annehmlichkeit. Die Füße der Reisenden sind mit einer Lederdecke geschützt; die Post hat aber auch außerdem väterlich für das Behagen gesorgt, indem nicht nur auf dem Fußbrett reichlich Stroh aufgeschüttet ist, sondern auch Teppiche, Wolldecken und Wildschuren im Ueberfluß vorhanden sind, in welche jeder Reisende, gleich einem Wickelkind, bis an die Arme hinauf eingehüllt wird. Jeder Schlitten ist mit einem Pferde bespannt und die einzelnen Fuhrwerke folgen sich in einer geschlossenen Reihe. Ich hatte neben mir als Schlittennachbar einen jungen Graubündner. Kaum den Knabenjahren entwachsen, hatte er doch schon unter Garibaldi den Feldzug nach Sicilien und Neapel als Officier mitgemacht, sich mit den Oesterreichern herumgeschlagen und schien wieder aus militärischen Zwecken die Alpen zu übersteigen.

So sanft auch die Steigung, der Straße über den Splügen ist, so geht doch die Reise bei dem beschwerlichen Weg im weichen Schnee nur sehr langsam fort. Bei jedem Schritte sinkt das Pferd ein und macht sich durch einen Ruck frei, der sich auf unangenehme Weise bis in den Schlitten fortpflanzt und jene eigenthümliche Erschütterung bewirkt, die man auf dem Kameele bei einem Ritt durch die Wüste empfindet. Aber das Schauspiel, das sich uns darbietet, ist so großartig, so eigenthümlich, daß man beim Anfang der Reise die langsame Beförderung fast vergißt. Ein Blick rückwärts zeigt uns eine lange Reihe von Schlitten in malerischem Zuge und das Zickzack der Straße, die sich gegen Splügen verliert. Vor uns thürmen sich Felswände, imposante Berghöhen, Wellenlinien in allen Formen, Alles mit tiefem Schnee bedeckt. Nur einzelne verkrüppelte Nadelbäume biegen sich unter der weißen Belastung, um noch weiter oben ganz zu verschwinden. Die Schneedecke, welche im Anfange die Straße nur ein paar Zoll hoch bedeckte, nahm rasch an Mächtigkeit zu, je weiter wir hinauf kamen, um nach einer Fahrt von etwa einer Stunde die Höhe von zehn bis zwölf Fuß zu erreichen. In diese Schneemasse hinein hatten die Arbeiter eine Art von Stollen gegraben, eine tiefe Rinne, in welcher sich die Schlitten fortbewegen, zu beiden Seiten von einer imposanten Schneemauer überragt. Die Sonne schien mit aller Macht einer jungfräulichen Maisonne, die Schnee- und Eisnadeln flimmerten in ihrem Scheine wie Millionen Krystall und alle Farbentöne des Prisma funkelten uns entgegen, wo die Strahlen senkrecht herunterfielen. Ich hatte gleich am Anfange der Fahrt einen grünen Schleier vorgebunden, um der Schneeblindheit zu entgehen, aber das feine Gewebe war eine ungenügende Blendung gegen diese Fluth des grellsten weißen Lichtes, das von allen Seiten mir entgegendrang. Zuerst stellte sich ein Thränen der Augen, dann eine krampfhafte Lichtscheu und endlich ein so furchtbarer bohrender Schmerz in der Tiefe der Augenhöhlen ein, daß ich ernstlich für meine Augen besorgt wurde. Selbst das feste Schließen der Lider brachte nur wenig Erleichterung, ich glaubte [327] zu meinem Entsetzen gezwungen zu sein, mit verbundenen Augen die Fahrt bestehen zu müssen, als mir der Schirrmeister, der meine qualvolle Lage sah, mit einer grünen Schneebrille aushalf, die wie mit einem Zauberschlage allen meinen Leiden ein Ende machte. – Diese rasche Einwirkung des vom Alpenschnee reflectirten Lichtes auf die Netzhaut des Auges hat etwas sehr Eigenthümliches. Ich hatte schon oft in der Ebene tagelange Fahrten im offenen Schlitten und beim blendendsten Sonnenlichte gemacht, ohne besonders darunter zu leiden, während eine Fahrt von kaum einer Stunde über den Splügen nur so verhängnisvoll wurde. Man scheint sich gegen diese Einwirkung auch nicht durch Gewöhnung abhärten zu können, denn die Kutscher, der Schirrmeister und die Schneeschaufler, die wir zu Hunderten längs der Straße trafen, waren alle mit dunkeln Brillen versehen. Und doch sind diese Leute oft schon vom October an bis zum Frühling fast täglich in diesen Höhen beschäftigt, mit Schaufeln und Picken den Schnee wegzuräumen, der oft in wenigen Stunden die Straße überdeckt und unfahrbar macht. Sie tragen bei dieser beschwerlichen Arbeit, wenigstens beim Sonnenschein, alle ihre dunkeln Augengläser, was den ernsten kräftigen Gestalten einen ungemein komischen Anstrich verleiht. Man könnte glauben, daß man mitten in der Schneewüste auf ein Stück verspäteten Carnevals gestoßen sei, oder daß man sich einer Augenheilanstalt nähert, deren Reconvalescenten eine Schneepromenade angetreten haben. Diese Schneeschaufler, die wir immer nur in langen Reihen beisammenstehend trafen, waren aber auch die einzigen lebenden Wesen, denen wir begegneten. Kein Wanderer arbeitete sich durch den Schnee fort, kein Vogel segelte vorüber. Nur die Fährten eines Raubthieres oder Alpenhasen erschienen hier und da im Schnee abgedrückt und ließen sich auf weite Entfernungen verfolgen. Eine Wendung der Straße, und wir waren wieder allein, und wieder lag die einsame Schneewüste vor uns, unbeweglich, schweigsam, nichts als weiße Höhen, Abgründe – den Wellen eines wildaufgeregten Meeres ähnlich, die plötzlich erstarrt sind. –

Nach dreistündiger Fahrt langten wir endlich auf der Paßhöhe an, in der muldenförmigen Ebene, welche die Einsattlung des Berges bildet und über welche jedes Jahr die Zugvögel mit ihrem unverbrüchlichem Festhalten an traditionellen Routen in zahlreichen Schwärmen nach Italien ziehen. Der Blick wird freier, die Fernsicht ausgedehnter, eine schöne Ebene liegt vor uns und zieht sich dem Kamme des Berges entlang in leichten Wellenlinien fort. Links von uns erhebt sich der Soretto mit seinem prächtigen Gletscher, rechts, im Westen, das steilansteigende Schneehorn. Wir nähern uns der Grenze Italiens, und die aus Stein gebaute casa cantoniera (Berghaus), deren graue Mauern so einladend aus dem Schneevorwerk hervorblicken, steht bereits auf italienischer Erde. Sie ist ein Zufluchtsort für Reisende im Winter, ein Gasthaus und zugleich eine Art von Leuchtthurm. Denn bei Schneegestöber und Nebel wird die große Glocke hier in Bewegung gesetzt, um verirrten Reisenden die Richtung des Weges anzuzeigen. Für uns ist aber hier keine Ruhestätte, bereits sitzt der Kutscher auf seinem Bocke und schwingt seine Peitsche. Es geht thalwärts! Schnell wie der Wind fliegt das leichte Fahrzeug einher, und wird links und rechts, oft dicht an den Abgrund geschleudert, wenn die Straße eine scharfe Wendung beschreibt. Wir aber schauen behaglich dem veränderten Bilde, der tollen und doch ganz gefahrlosen Fahrt zu; lustig wirbeln die blauen Wölklein unserer Pfeifen in die reine Luft herauf, und wir lassen uns die Schneeflocken von den Hufen der Pferde in’s Gesicht schleudern.

Der rasche Trab führt uns ja Italien zu, dem sonnigen Süden, der wiedergeborenen Italia libera! Mir war es, als hätte ich Mignon’s Sehnsucht nach der Heimath und die hohe Poesie von Goethe’s herrlichem Liede noch nie so warm empfunden, als hier an dieser hohen Grenzscheide, sechstausendfünfhundert Fuß über dem Meere. Wieder heben sich ein paar graue Mauern aus dem Schnee empor, ein Haufen armseliger düsterer Häuser, mit kleinen Fenstern und unheimlichem Aeußeren; es ist die Dogana, wo zur Zeit der österreichischen Herrschaft das Mauthamt seinen Sitz hatte, während es jetzt nur eine Station für die Grenzwächter ist. Das erträglichste dieser trübseligen Baracken ist das Wirthshaus „zum Splügen“. Hier fliegen wir nicht vorbei. Schon stehen die Postpferde bereit, die unsere müden Gäule ersetzen sollen, und uns bleibt noch Zeit zu einem erquickenden Glase italienischen Weines. Welch’ trauriger Winkel Erde im Winter, diese Dogana, die oft bei Schneestürmen halb verschüttet wird, in diesem öden Kessel, rings von himmelhohen Gebirgen umschlossen! Nur im Sommer bringen der Touristenzug, der Waarentransport und die Bergamaskerschafe, die zu Tausenden das spärliche Gras der mageren Bergtriften abweiden, einiges Leben in dieses verlorene Nest. Es bleibt uns aber keine Zeit zu weltschmerzlichen Träumereien; der italienische Postillon sitzt wieder aus seinem Bocke, die Hetzjagd beginnt auf’s Neue. Ueber das baumlose Hochplateau der Staffetta, beim majestätischen Carcinsagletscher vorbei, dessen bläuliche Eismassen aus der Ferne uns entgegenschimmern, fliegen wir bei der zweiten und dritten Cantoniera vorbei und kommen endlich in’s Bereich der Galerien, die zum Schutze der Straße vor Lawinen erbaut worden sind, gewaltige Bauwerke aus festem Mauerwerk, mit massiven Dächern, über welche die Schneemassen gefahrlos hinübergleiten, um in dem Abgrunde, rechts von der Straße, zu zerschellen.

Welche strategisch mächtige Position für ein Häuflein entschlossener Männer, um einer großen feindlichen Uebermacht den Weg zu verlegen! Welche mächtigen Strebepfeiler stützen diese Mauern gegen den Abgrund hin! Welchen großartigen Eindruck machen diese Viaducte schon durch ihre Höhe, die bei fünfzehn Fuß beträgt, und durch die imposante Länge von vielen hundert Fuß! Man fühlt, wenn man im Winter und Frühling durch diese Gänge, die an den gefährlichsten Stellen erbaut sind, hindurchfährt, ein unendliches Behagen; man wird der Gefahren, durch die man bis dahin mit heiler Haut durchgeschlüpft, erst recht bewußt, wenn man die großartigen Vorkehrungen gewahr wird, welche gegen sie hier errichtet sind. Man mißt staunend diese Cyklopenmauern mit den Augen und berechnet mit Behagen, daß dieselben auch der größten Lawine widerstehen würden. Um das Tageslicht durchzulassen, sind in diesen Galerien in regelmäßigen Abständen schießschartenähnliche Fenster gegen den Abgrund angebracht. Der Fußgänger wirft durch sie einen Blick in die grausige Tiefe. Jetzt aber waren sie zum großen Theil mit Schnee und Eis vermauert und ein geheimnißvolles Dunkel herrschte im Innern. An vielen Stellen aber, wo der Schnee nur in dünnen Schichten lag, fiel das Tageslicht reicher durch diese Blendungen ein, brach sich in den wundervollsten blauen und grünen Farbentönen, wie in der blauen Grotte von Capri, und zauberhafte Lichtreflexe funkelten am Boden. Vier solcher Galerien folgen sich in kurzen Entfernungen. Beim Austritt aus der zweiten überrascht uns der prächtige Prospect auf die alte frühere Splügenstraße, welche in Zickzackwindungen durch die gefährliche Cardinell nach dem tief unten im Thale gelegenen Isola führt. Auf diesem gefährlichen Wege führte im December 1800 Macdonald eine Abtheilung der französischen Armee nach Italien, unter namenlosen Beschwerden und unter großer Einbuße von Menschen und Saumthieren, die in ganzen Reihen von Lawinen in die Tiefe gerissen wurden. Von solchen Fährlichkeiten ist die neue Splügenstraße frei, die namentlich auf der italienischen Seite ein wahres Musterbild des Straßenbaues in den Alpen ist. Scheinbar unüberwindliche Hindernisse sind hier siegreich überwunden und Stunden lang ist das Auge in einer beständigen Spannung, bald durch die Erhabenheit der Natur, bald mehr noch durch die Großartigkeit dieser kühnen Brücken, Terrassirungen und Schutzmauern in Anspruch genommen.

Wir sind wieder in der Baumregion; der Trab unseres Pferdes wird schärfer, je mehr die Steigung sich mindert. Die Scene wechselt mit überraschender Schnelligkeit. Wir fahren dicht an dem imposanten Wasserfalle des Madesimo vorbei. Welche reichen Wassermassen werden da an siebenhundert Fuß in die Tiefe geschleudert! Wenige Wasserfälle in den Alpen dürften sich an Fallhöhe, Wasserreichthum und Großartigkeit der Umgebung mit dem Madesimo messen. Die Schlitten halten alle ein paar Minuten vor dieser wundervollen Scene, deren Schauplatz die Straße in mehreren Windungen umkreist, so daß wir den Fall, dessen Donner uns noch lange nachfolgt, von den verschiedensten Seiten betrachten können. Wir fühlen bereits, daß wir an dem Südabhange der Alpen sind; laue Lüfte wehen uns entgegen, dünner und dünner wird die Schneedecke und auf einmal steht die Diligence vor uns! Decken, Pelze, Schneebrillen – Alles fliegt weg, die Schlitten treten die Rückreise an und die behaglichen Räume des Eilwagens nehmen die ganze Reisegesellschaft auf. Wiederum poltert der feste Erdboden unter unseren Füßen, das erste Grün erquickt die Augen, wir rasseln durch eine vierte und letzte Galerie hindurch und nach [328] einigen Windungen der Straße fahren wir in Campo dolcino ein. Gut italienisch, wie der melodisch klingende Name, ist da schon die Bauart der Häuser, die fensterarmen Mauern, der Schmutz, das rege Straßenleben. Das halbe Dorf ist um das armselige Wirthshaus versammelt, wo zugleich die Douane ist – lebhafte braune Gesichter, dunkles Haar, schwarze Augen, italienischer Typus vom reinsten Wasser. Man könnte sich in die Campagna di Roma oder nach Sicilien versetzt glauben, wenn die Vegetation nicht zu nördlich wäre, so verschieden von Land und Leuten, die wir vor wenigen Stunden in Splügen gesehen hatten, ist Alles in diesem elenden Bergdorfe.

Die Gepäckvisite ist nicht allzu scharf, bald setzt sich der Wagen wieder in Trab. Wir lenken in’s malerische Lirathal ein, dessen Thalsohle eine wilde Steinwüste ist, wo haushohe Blöcke neben und über einander liegen, als hätte ein großer Bergsturz sie hierher geschleudert. Aber schon fängt der südliche Charakter der Vegetation an, schon zeigt der Kastanienbaum seine unscheinbaren Blüthentrauben und sein markiges Blättergrün, erst in einzelnen schüchternen Bäumen, dann in Gruppen, bis uns in San Giacomo der erste Kastanienwald entgegentritt, der sich in üppiger Blätterfülle bis hoch an die Berghänge hinaufzieht. Wir fahren über eine kühngeschwungene Brücke, die Straße ist eben, die Landschaft hat ihren wilden Charakter verloren, Maiblumen und Blüthen begrüßen uns, in duftiger Ferne winkt der Campanile von Chiavenna. Einzelne Feigenbäume erheben sich verschämt aus den kleinen Gehöften, die Rebe breitet ihre mächtigen Ranken aus; wir nähern uns dem Reiseziele des heutigen Tages. Aber schon ist die Sonne am Untergehen, ein warmer südlicher Ton ist über die malerische Landschaft ausgegossen, der Tag geht zur Rüste. Die Avemariaglocke tönt uns entgegen, wie wir im altehrwürdigen Chiavenna einziehen, aus dem Battisterio dringen die gedämpften Töne der Vigiliengesänge. Hier und da schimmert schon ein Licht aus einem Fenster, es ist Feierabend. Alles drängt in’s Freie, der Abend ist so mild und lau, der Blüthenduft so balsamisch. Die liebe Straßenjugend umtanzt heulend und jubelnd die Diligence, aus den Bierschenken schallt die Garibaldi-Hymne. Alles duftet, jubelt, singt uns entgegen: Ja, das ist Chiavenna – la Chiava (der Schlüssel) d’Italia.!

Z.





Aus Ungarns Räuberleben.

Von Daniel von Kàszony.
I.

Räuberländer und Räubersorten – Das Assecuranzgeschäft mit den Betyáren – Der Betyárenführer Dombi und sein Ehrenwort – Der Werther der Pußta – Der Räuber Zöld Marczi als edler Wohlthäter und Ehestifter – Ein besonders leuchtender Stern am Räuberhimmel: Sóbri – Enthüllungen des Sóbri-Geheimnisses – Der junge Graf als Student, Reichstagscanzlist, Seemann, Caralerist, Infanterist – Der abgeführte Stuhlrichter – König Lear.

Durch die Tageszeitungen ist die öffentliche Aufmerksamkeit wieder auf eine Persönlichkeit hingelenkt worden, die durch den wildromantischen Reiz ihrer Thaten und Unthaten lange zu den Tagesbeliebtheiten gehörte: Rosza Sándor, hieß es, sei bei Gelegenheit der Taufe des jüngsten Sprossen des Kaiserhauses begnadigt und von Kufstein, seinem Strafsitze, entlassen worden. Diese Nachricht hat sich nicht bestätigt, das öffentliche Interesse hat sich aber der bunten Vergangenheit des ungarischen Räuberlebens für den Augenblick wieder einmal zugewandt, so daß der Verfasser der nachstehenden authentischen Nachrichten über dasselbe den Lesern der Gartenlaube mit deren Mittheilung einen angenehmen Dienst zu leisten glaubt.

Mit der sich immer weiter verbreitenden Civilisation hat sich auch die Zahl derer, die von dem Eigenthume ihrer Mitmenschen gleichwie Hummeln vom Honige der Bienen leben, bedeutend vermindert. In Europa giebt es jetzt nur noch drei Länder, in welchen das Räuberleben in üppiger Blüthe steht: Griechenland, Italien und Ungarn. Doch ist der Charakter der Räuber in diesen drei Ländern von einander sehr verschieden, denn während dieselben in der Nähe von Athen und Piräus oder im Innern von Thessalien blos auf Plündern ausgehen, ohne blutdürstig zu sein, morden die italienischen Briganti ohne Noth und ohne Bedenken; die Betyáren Ungarns stehen zwischen Beiden, nähern sich jedoch mehr ihren griechischen Collegen.

In Ungarn unterscheidet man drei Classen von Räubern: die Csikósche, die Betyáren und die eigentlichen Räuber, welche auf Raub und Mord zugleich ausgehen. Der ersteren Classe legt man jedoch diese Benennung fälschlich bei, denn die Csikosche oder Gestütknechte sind bekanntlich bezahlte Diener von Gestütbesitzern, aber so leidenschaftliche Reiter, daß ihnen die ihrer Wartung anvertrauten Pferde nicht genügen, und nur deshalb stehlen sie in den Gestüten anderer Herrschaften und zwar nur Pferde.

Der Betyár unterscheidet sich vom Csikósch dadurch, daß er sich nicht auf Pferdediebstahl beschränkt, obschon auch bei ihm das Pferd obenan steht; er verachtet aber auch Hornvieh, Schweine und Schafe nicht: das erstere, nämlich Hornvieh, stiehlt er, um es zu verkaufen, die letzteren zumeist nur, um sie abzuschlachten und zu verzehren. Der Betyár ist, im Allgemeinen betrachtet, ein leicht zu behandelnder Bursche, der blos leben will, ohne arbeiten zu müssen. Die Herrschaften pflegen mit den Betyáren gegenseitig bindende Verträge abzuschließen. Die Herrschaft liefert dem Betyár zu gewissen Zeiten eine bestimmte Anzahl von Schafen, einige Seiten Speck, Weizen oder Brod, etwas Schießpulver und einige Gulden in baarem Gelde; dafür verpflichtet sich der Betyár, seinen Untergebenen jeden Diebstahl von den Heerden des Herrn, mit dem er den Vertrag abgeschlossen, zu verwehren, ja er schützt ihn sogar vor anderen Betyárenbanden. Somit wird mit dem Betyár ein förmliches Assecuranzgeschäft abgeschlossen.

Als ich im Jahre 1845 mich auf der Pußta Ináres im Pesther Comitate bei einem Herrn von Schájer befand, beklagte dieser sich bitterlich über die Betyáren, weil ihm acht Stück seiner schönsten Zugochsen gestohlen worden seien. Es war eben zu Weihnachten; um diese Zeit pflegten die Betyáren ihre Contribution bei den Grundherren zu erheben, und Herr von Schájer erwartete sie ebenfalls. Ein anderer anwesender Gast, Herr von Irsay, rieth Schájer, die Schelme, wenn sie es wagen sollten, sich nach begangenem Diebstahl bei ihm zu zeigen, abzufangen und dem Comitate zu überliefern.

„Gott bewahre mich vor einem so unglücklichen Gedanken; in drei Tagen hätte ich den rothen Hahn auf meinem Dache,“ entgegnete Schájer. „Ich werde mit den Kerlen sprechen, sie müssen mir meine Ochsen wieder herbeischaffen.“

„Sie werden es nicht thun,“ stritt Irsay.

„Du wirst sehen, ob ich Recht habe. Ich bin überzeugt, daß fremde Räuber mich bestohlen haben, Leute, welche zum ersten Mal in diese Gegend kamen. Das Vergehen der Inárcser Betyáren besteht blos darin, daß sie den Diebstahl geschehen ließen.“

Herr von Schájer hatte sich nicht getäuscht. Am Abend vor Christnacht meldete ihm sein Leibhusar, daß der alte Dombi, der Führer der Betyárenbande, in der Spinnstube sei und nachgefragt habe, wann er wieder kommen dürfe.

„Laß ihn hereinrufen,“ bat ich Schájer, „ich möchte den Mann gern sehen.“

„Ich weiß nicht, ob er wird kommen wollen,“ entgegnete der Hausherr; „wenn er erfährt, daß Pepi hier sei (Herr von Irsay hieß Joseph, in der Abkürzung Pepi), so kommt er nicht, er glaubt, dieser sei ihm aufsässig.“ Dann wendete er sich zu seinem Husaren und fragte, ob Dombi wisse, wer hier sei.

„Er weiß nur so viel,“ sprach der Husar, „daß Euer Gnaden Gäste haben, und auch die Mädchen in der Spinnstube wissen es nicht, wer hier ist.“

„Schau zu, daß Du ihn auf eine gute Art herein lockst,“ befahl Schájer.

Der Husar entfernte sich und kam erst in einer halben Stunde wieder, doch auch dies Mal allein.

„Nun, wo ist Dombi?“ fragte ihn der Herr.

„Er will nicht kommen, er hat den Wagen des gnädigen Herrn (Irsay’s) erkannt, er sitzt noch immer in der Spinnstube.“

[329] „Dann muß ich selber zu ihm gehen.“

„Schade, daß ich den Mann nicht sehen kann,“ sagte ich.

„O, Du könntest ihn wohl sehen, komm mit mir.“

Ich ging mit Schájer in den Hof, es war Mondenschein, doch nicht sehr hell. denn es hatten sich Wolken vor die glänzende Scheibe gestellt. Der Husar ging indeß in die Spinnstube, um den Betyár herauszurufen.

„Wir hätten auch in die Spinnstube gehen können,“ meinte ich.

„Nein,“ erwiderte er, „ich will meinen Respect bei den Weibern nicht dadurch einbüßen, daß ich in ihrer Gegenwart mit dem Betyár spreche. Stelle Dich ein wenig abseits, damit er Dich nicht gleich bemerkt, er könnte Dich für einen Pandurencommissär halten. Ich muß ihn erst auf Deine Gegenwart vorbereiten.“

Bald kam der Betyár aus der Spinnstube in den Hof. Er zog vor Schájer seinen Hut ab, nahm die Pfeife aus dem Munde und erst als dieser ihm befahl, sich wieder zu bedecken und weiter zu rauchen, that er es. Der Mann hatte einen Schafpelz über seinem Hemd und der Gatya (eine weitschößige Leinwandhose), über dieser war sein Ledergürtel und ich konnte die Schafte zweier Pistolen, welche in demselben steckten, wahrnehmen; in der Rechten hielt er seinen Fokosch, einen langen Stock mit einer Art Beil von Messing als Griff. Nachdem Schájer ein paar Worte mit ihm gewechselt, rief er mich beim Namen und ich trat hinzu.

„Fürchte Dich nicht, Peter,“ sprach Herr von Schájer zum Betyár, „dieser Herr ist kein Commissär, er ist mein guter Freund, mein ehemaliger Camerad.“ Dann aber wendete er sich zu mir: „Sieh diesen Kerl gut an, er ist der einzige Betyár, der sein Wort nicht hält, man hat meine besten Ochsen gestohlen und dieser Hallunke ließ es geschehen. Weißt Du, Dombi, daß ich gute Lust hätte, Dich niederziehen und Dir fünfzig Stockstreiche geben zu lassen? Verdient hast Du sie.“

„Sie werden die Ochsen wieder bekommen,“ antwortete der Betyár ruhig. „Sie sind nicht von Betyáren aus dieser Gegend geholt, sondern von Neograder Palóczen; diese haben die Ochsen über Bugyi getrieben, während wir in Pilis waren. Man kann doch nicht überall gegenwärtig sein. Wir hatten bei Ihrem Herrn Schwager, dem Grafen Beleznay zu thun, auch seine Ochsen wurden weggetrieben, wir brachten sie von Kis-Telek zurück. Den Ihrigen, gnädiger Herr, sind wir auf der Spur, Sie werden sie noch vor dem neuen Jahr zurückerhalten. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.“

„Ich will Dir noch dies Mal glauben,“ sagte Schájer, „bringst Du sie mir, so sollst Du zum neuen Jahr einen fetten Hammel bekommen. Was willst Du aber jetzt?“

Der Betyár kratzte sich hinter den Ohren, ohne eine Wort zu sagen.

„Ihr werdet doch nicht wieder Etwas brauchen?“ sprach Schájer, „wenn Ihr in Pilis wäret, so müßt Ihr ja dort Euer Weihnachtsgeschenk erhalten haben.“

„Die Kammern waren leer, der Graf hat sein Getreide den Juden gegeben, seine Schweine nach Dabas geschickt, um sie zu verkaufen; er ist uns diesmal schuldig geblieben. Die Wirthschaft geht dort schlecht.“

„Ihr werdet das Eure später bekommen,“ tröstete ihn Schájer.

„Ja wohl, aber bis dahin müssen wir auch leben, und es ist uns bereits Alles ausgegangen.“

„Und da wollt Ihr, daß ich Euch aushelfen soll?“

„Sie haben doch so viel, gnädiger Herr, Sie können es thun, Sie werden uns arme Bursche nicht verhungern lassen,“ bat Dombi.

„Wenn ich aber meine Ochsen nicht zurück erhalte?“

„Sie werden sie vor dem neuen Jahre haben.“

„Kann ich darauf mit Sicherheit rechnen, auf Betyárswort, he?“

„Ich soll ewig Wasser saufen, wenn Sie sie nicht haben werden.“

„Nun, dann sollt Ihr jetzt zwei Seiten Speck und ein kleines Fäßchen Wein erhalten. Mein Beschließer wird Euch das Alles übergeben.“

„Und etwas Schießpulver?“ fragte der Betyár.

„Auch das noch’, und zwar zwei Pfund. Bringt Ihr mir die Ochsen zurück, so sollt Ihr mehr haben; auch eine gute Kugelbüchse will ich Dir geben.“

Der Betyár ging und hielt redlich Wort: in fünf Tagen waren die Ochsen im Stalle, Dombi und seine Leute hatten sie den Neogradrern in der Gegend von Pataj abgenommen.

Es giebt Namen unter den Betyáren, welche eine gewisse Celebrität erlangt haben und noch jetzt im Munde des Volkes leben, sie sind zum Gegenstand von Balladen, Novellen und Theaterstücken geworden. Solchen Nachruhmes erfreut sich unter Andern Oldal Janko. Dieser hauste in den oberen Comitaten, namentlich in Abaúj, Torna, Hevesch und Borschod und war einer der geschicktesten Pferdediebe; namentlich wurde Szent-Péter, ein Marktflecken im Borschoder Comitat, von den durch ihn verübten Pferdediebstählen so berüchtigt, daß es zum Sprüchwort geworden ist: „Dem die Pferde zu Szent-Péter nicht ausgespannt, der Koffer zu Miskólcz nicht vom Wagen gestohlen und der zu Putnok nicht betrogen worden sei, könne ungefährdet durch die ganze Welt reisen.“ Ein anderer noch berühmterer Betyár war Angyal Bandi. Er raubte allerdings nur Pferde, hatte aber ein ganzes Gestüt gestohlener Rosse zusammengebracht und war im ganzen Lande als der schönste Mann und der kühnste Reiter bekannt. Man kann noch jetzt in den Dorfschenken sein Portrait hängen sehen. In seiner Liebe war er zärtlich und treu bis in den Tod; er würde bei seinem fast schwermüthigen, tiefen Ernst vielleicht ein Werther geworden sein, wenn er anstatt auf der Pußta in einer Stadt gelebt hätte.

Ganz der Gegensatz Angyal Bandi’s war Zöld Marczi, ein lustiger Geselle, der aber mehr als Csikósch und Betyár war, denn er beraubte jeden Reisenden, der ihm begegnete. Er war sehr geschickt in Verkleidungen, besuchte die Märkte, zumal jene von Pesth und Debreczin, erschien zuweilen als Student, manchmal als Officier verkleidet an der Tafel der Gasthöfe, kundschaftete hier aus, wer an diesem oder jenem Tage abreisen werde und wer viel Geld bei sich führe. Zöld Marczi hatte es hauptsächlich auf Juden abgesehen; wo er einen solchen antraf, plünderte er ihn. Zuweilen überkam ihn eine großmüthige Laune, wenn er einen reichen Menschen um große Baarschaft erleichtert hatte. Dann verschenkte er wohl das geraubte Geld an Nothleidende. Stiftete er doch sogar Ehen, indem er die Väter beraubte und das Geld den jungen Verliebten gab. Auch er ist in mehreren, mehr oder minder gelungenen Gedichten, Novellen und sogar in einem Theaterstück verherrlicht worden.

Alle diese Räuber lebten zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts. Von 1820 bis 1836 gab es Keinen, der sich einen allgemeineren Ruf erworben hätte; das Betyárenthum bestand nach wie vor, ohne einen in dieser Beziehung besonders leuchtenden Stern aufweisen zu können.

Vom Jahre 1836 bis 1838 erwarb sich Sóbri durch seine Kühnheit und die Geschicklichkeit, mit welcher er allen Verfolgungen entging, einen Namen in ganz Europa. Sowohl über seine Geburt, als über sein Ende herrscht ein tiefes, niemals gelichtetes Dunkel; man kann mit voller Bestimmtheit annehmen, daß das, was am allgemeinsten über diesen Räuber erzählt wird, daß er in einem Gefechte gegen die kaiserlichen Uhlanen in den Wäldern des Tolnaer Comitates geblieben sei, völlig unbegründet und niemals erwiesen worden ist, die Annahme hingegen, daß er der Sohn aristokratischer Eltern gewesen – und daß er noch jetzt lebe, als viel richtiger erscheint. Da jedoch der Nome einem der ersten Geschlechter Ungarns angehört, so werde ich ihn hier, wo ich das, was ich über Sobri weiß, zum ersten Male vor die Oeffentlichkeit bringe, nur mit dem Anfangsbuchstaben bezeichnen.

Der Graf L… besaß eines der hübschesten und größten Gestüte in einem der Theißcomitate, einer seiner Roßwärter hieß Sobri und war ein Csikósch, sonst nichts; der wirkliche Sóbri benutzte nur dessen Namen. Der Graf hatte sieben Söhne, der zweitälteste, Joseph, studirte zu Sáros-Patak im reformirten Collegium. Bei den Studenten der Collegien ist es Sitte gewesen, eine Verbrüderung zu bilden, die sie Comitat nannten, denn sie nahmen die Comitatsorganisation, wie dieselbe bis zum Jahre 1848 bestanden hatte, an, sie hatten ihre Vicegespäne, Stuhlrichter, Notare, Fiscale, Perceptoren und Commissärs; der Chef der Comitate ist der Obergespan. Zu dieser Stelle wählten sie den Reichsten unter sich, den jungen Grafen Joseph L…. Allein dieser nahm die Wahl nicht an.

„Ich will außer dem Gesetze stehen,“ sagte er, „ich werde allerhand Schelmenstreiche verüben, fangt mich, überweist mich, daß ich dieses oder jenes gethan habe, wenn Ihr es könnt! Ich werde Euch ein Schnippchen schlagen, und das wird mir mehr Spaß machen, als bei Euch zu präsidiren. Ein Comitat ohne Räuber taugt [330] nichts und ich will Euer Räuber sein! Nennt mich fortan nicht Graf, sondern Sóbri.“

Graf Joseph hielt sein Wort. So oft den Professoren eine Nase gedreht, etwas aus dem Museum, ein Buch aus der Bibliothek entwendet wurde, wußten die Studenten, daß dies von Niemandem sonst, als von Sóbri, wie sie ihn nannten, verübt worden, doch konnte man ihn niemals dabei erwischen. Außerdem aber bestahl der junge Graf auch seines Vaters Gestüt, er schlich sich bei Nacht in dasselbe, hatte es bald weg, wie man mittelst der Schlinge ein Füllen fangen könne, und holte so die hübschesten Rosse aus dem Gestüte, ritt sie so lange, bis sie unter ihm zusammenbrachen und ganz lahm wurden, und wenn er eines nicht mehr brauchen konnte, fing er es bei einem andern an.

Der alte Graf sandte seinen Sohn auf den Preßburger Landtag, wo er Reichstagscanzlist sein sollte. Hier trieb er jedoch so arge und so allgemein empörende Stänkerei, daß der alte Graf, um jedem ferneren Scandale auszuweichen, ihn zum Militär gab und zwar recht fern von Ungarn: er schickte ihn nach Venedig, in die Marineschule. Graf Joseph blieb gerade einen Tag auf dem Schiffe, dann schrieb er seinem Vater, er wolle kein Seemann werden, er möge ihn zur Cavalerie geben. Auch das geschah; Joseph wurde Cadet im ersten Chevaux-legers-Regimente. Widersetzlichkeit und Streiche tollster Art veranlaßten endlich die Versetzung des gräflichen Thunichtgut zu einem Regimente, welches die Garnison einer Festung bildete, da hier die Aufsicht eine größere und Excesse schwerer zu verüben seien, als bei der Cavalerie. So kam Graf Joseph als Cadet zum Infanterieregimente Franz Ferdinand nach Peterwardein.

In den ersten Wochen, ehe der junge Graf Bekanntschaften gemacht hatte, ging Alles ziemlich gut, der commandirende General, Freiherr von Csollich, war ein intimer Freund des alten Herrn, er lud den jungen Wildfang zu sich ein, dieser verliebte sich in die hübsche Tochter des Generals und ihrer Fürsprache hatte er es zu danken, daß ihm mehr Freiheiten gestattet wurden, als anderen Cadeten, ja, daß man ihm sogar Pferde zu halten erlaubte. Diese Vergünstigung mißbrauchte er in kurzer Zeit auf so waghalsige, die allgemeine Sicherheit der Straße so arg gefährdende und endlich sogar den Commandirenden bloßstellende Weise, daß letzterer ihm endlich ein für alle Mal alles Reiten und Fahren auf öffentlichen Plätzen untersagte und Uebertretungen dieser Verbote mit strengem Arrest bestrafte.

Das Leben in der Festung ward ihm nachgerade ebenso unleidlich, als ehemals jenes auf dem Schiffe, und eines Tages verschwand er, ohne daß man über ihn siebenzehn Monate hindurch etwas erfahren hätte. Dies geschah zu eben jener Zeit, als Sóbri und seine Bande durch ihre Räubereien im ganzen Lande bekannt wurden. Graf Joseph, den man sowohl damals als später damit aufzog, daß er Sóbri sei, stellte dies nicht sehr in Abrede, obschon er sich niemals damit brüstete, daß er und der berüchtigte Räuber eine und dieselbe Person gewesen; dennoch pflegte er einige seiner Abenteuer, die darauf hindeuten, daß an dem Gerüchte doch etwas Wahres sein müsse, und die in diesen Zeitabschnitt fallen, gern zu erzählen. Namentlich sind es zwei dieser Abenteuer, die ihn charakterisiren.

Das erste fand in der Bácska statt. Er reiste daselbst mit seinem Freunde Madarasy herum; er und sein Freund saßen auf dem Bocke, während der Kutscher und der Jäger auf dem Rücksitze Platz nahmen. Der Graf war erst kürzlich vom Regiment desertirt, trug jedoch noch seine Uniform, über dieser aber einen Civilrock. Auf dem Sitze lag ein wattirter Schlafrock. Madarasy war ebenfalls in Civilkleidern, der Kutscher hatte einen dunkelgrünen, mit rothem Plüsch ausgeschlagenen Livrérock, einen dreieckigen Hut mit weißen Federn auf dem Kopfe, der Jäger hingegen einen hechtgrauen Rock mit Goldtressen und ebenfalls einen dreieckigen Hut mit grünen Federn. Die Livrée des Letzteren glich also sehr einer österreichischen Generalsuniform.

So fuhren sie über Roglatitza nach Baja; an beiden Enden des Dorfes unterhielten sie sich damit, daß sie auf Krähen, die sich in großer Menge dort eingefunden hatten, Jagd machten, und es war ziemlich spät Abends, als sie zu Baja ankamen. Der Kühle wegen hatte der Graf seinen Schlafrock, auf welchem er gesessen, angezogen, ebenso setzte er seine raizische bunte Mütze auf den Kopf, die ziemlich die Form einer in jener Gegend von den Bäuerinnen stark getragenen Kopfbedeckung hatte. Als sie im Wirthshause ankamen, ließ der Graf ein Zimmer öffnen, einheizen und ein paar Gläser Punsch bringen. Der Kellner hielt ihn offenbar für ein weibliches Wesen. Als das Zimmer wärmer wurde, warf der Graf den Schlafrock und die gehäkelte Mütze von sich und der Kellner machte große Augen, als er die junge Dame zu einem schmucken Cavalier entpuppt fand, und sein Erstaunen verwandelte sich später in Schrecken, als der Graf, vom Punsch noch mehr erwärmt, auch den Oberrock ablegte und in Uniform den Gürtel mit Pistolen und einem Kandjar besteckt, dastand. Später gingen die jungen Herren in den Speisesaal, um daselbst zu soupiren; sie setzten sich abseits an einen Tisch, während der andere bereits mehrere Gäste zählte.

„Stellt Euch mein Pech vor,“ sprach ein junger Cavalier zu seinen übrigen Freunden am langen Tisch, „ich hätte heute ein reicher Mensch werden können, wenn ich bessere Rosse gehabt hätte.“

„Wie so?“ riefen die Uebrigen.

„Ich hätte den berüchtigten Sóbri beinahe gefangen,“ sagte der junge Herr. „Er selbst war in russischer Generalsuniform, dunkelgrün, mit rothem Kragen, Rabatten und Aufschlägen, einen Dreimaster (dreieckigen Hut) mit weißen Federn auf dem Kopfe. Sein Adjutant Milfait Ferko war in österreichischer Generalsuniform, hechtgrau mit Gold; zwei Andere seiner Bande, Pap Andor und Karálábé, saßen in Civilkleidern auf dem Bock; sie hielten Jagd auf Krähen. Der Wagen selbst, in welchem sie saßen, war grün, inwendig mit scharlachrothem Tuche ausgeschlagen.

Vier Rothschimmel, welche er sicherlich aus dem Horváth’schen oder Sándor Latinovics’schen Gestüte gestohlen haben muß, fuhren sie wie der Blitz an mir vorbei. Ich peitschte meine Pferde so gut ich konnte, doch vom Einholen war keine Rede; ich würde gerne zweitausend Gulden für einen solchen Zug geben. Hätte ich ihn gefangen, so würde ich bei ihm gewiß eine tüchtige Summe Geldes gefunden haben.“

„Kennst Du den Menschen, welcher soeben gesprochen?“ fragte der Graf seinen Freund Madarasy.

„O ja, es ist der Stuhlrichter Gusti Piukovics.“

Hierauf erhob sich der Graf, ging an den andern Tisch und redete Herrn von Piukovics an; er sagte ihm, er habe vernommen, daß er einen Wagen und Pferde kaufen wolle; er könne ihm mit beidem dienen und lud ihn ein, diese im Stalle zu besehen. Der Angeredete ließ sich nicht lange bitten, sondern folgte dem Grafen, welcher, als er sich zum Abendessen begeben, wieder den Civilrock über die Uniform angezogen hatte, in den Hof, wo der Wagen stand.

„Dies ist mein Wagen,“ sagte der Graf, „gefällt er Ihnen?“

Herr von Piukovics machte schon große Augen, als er den rothgefütterten Wagen sah. Hierauf gingen sie in den Stall, wo die Rothschimmel standen.

„Sehen Sie da meine Pferde? He, Philipp!“ rief der Graf.

Der Kutscher in seiner russischen Generalsuniform erschien.

„Wo ist mein Jäger?“

„Hier, gräfliche Gnaden!“ entgegnete der Jäger in der österreichischen Generalsuniform.

Herrn von Piukovics ward nicht recht wohl zu Muth und der junge Graf weidete sich an seiner Angst; er blickte ihn an, wie die Schlange den zum Opfer erkorenen Vogel, und knöpfte seinen Oberrock auf, unter welchem sein mit Pistolen besetzter Gürtel sichtbar wurde. Herr von Piukovics wußte nicht, was er sagen, welche Miene er machen sollte.

„Und Sie wollten Sóbri fangen?“ fuhr ihn der Graf an, „Sie, der Sie schon beim Anblick dieser beiden Bursche, meines Kutschers und Jägers, die Sie für Generale hielten, zittern? Sóbri würde mit Ihnen noch sehr gnädig umgehen, im Vergleiche dazu, wie ich es gleich thun werde, wenn Sie nur nicht allsofort vor allen den Herren, vor welchen Sie prahlten, Abbitte thun.

Ich bin der Graf L… und kann mich als solcher ausweisen, Sie haben mich für Sóbri ausgeschrieen, Sie werden Ihre Worte zurückziehen, sonst sollen Sie eine üble Stunde erleben.“

„O, wenn es nur Das ist, Herr Graf, von Herzen gern!“ sagte Herr von Piukovics, begleitete den Grafen in den Speisesaal, wo er ihm in der Weise, wie es ihm der Graf vorgeschrieben, die gewünschte Abbitte leistete und noch froh war, so wohlfeilen Kaufes davon zu kommen.

Der zweite Fall, den ich und viele meiner Freunde ebenfalls aus dem Munde des Grafen hörten, ist noch charakteristischer.

[331] Im Verlaufe desselben Winters reiste der Graf im Stuhlweißenburger Comitate und kam einmal ziemlich spät bei Nacht nach Czecze. Das Thor des Wirthshauses war schon geschlossen und er befahl seinem Jäger, mit seinem Hirschfänger auf die Fensterläden zu klopfen, um die Leute zu wecken. Der Jäger vollzog den Befehl seines Herrn, trommelte so lange an den Läden, bis man das Thor öffnete und den Wagen einließ. Auch hier führte der Graf die Scene mit dem Kleiderwechseln auf, so daß man ihn zuerst für ein Frauenzimmer, später für einen jungen Herrn, dann für einen Militäristen hielt. Hierdurch wurden die Leute stutzig und sie machten darüber beim Dorfnotar eine Anzeige, denn auch hier hatte man schon Vieles über die von Sóbri begangenen Räubereien gehört, man glaubte ihn in der Nähe und die vom Comitate getroffenen Anstalten zu seinem Habhaftwerden waren sehr streng.

Als der Graf am nächsten Morgen weiter reisen wollte, meldete ihm sein Jäger, das Wirthshaus sei ganz von Comitatspanduren umstellt, so daß er nirgends herauskommen könne. Ihn setzte dies nicht in Verlegenheit, er nahm einen großen Theaterzettel, in welchen die Epauletten seines Jägers eingewickelt gewesen waren, hervor, drückte sein Grafensiegel auf denselben und befahl dem Jäger, einen der Panduren zu ihm in’s Zimmer zu schicken. Der Mann trat ein und erhielt, nachdem durch ihn der Graf überzeugt worden war, daß seine Weiterreise von der Prüfung seines Passes durch den Dorfnotar abhängig sei, die Weisung, den Notar zu schicken. Dieser kam, der Graf versicherte sich vor Allem, daß derselbe Englisch und Französisch gar nicht und Deutsch nur sehr wenig verstehe, und dann spann sich folgendes Gespräch zwischen Beiden ab: „Wie wollen Sie nun aber meinen Reisepaß lesen? Er ist in den drei von mir erwähnten Sprachen, das Meiste ist Deutsch, dies werden Sie vielleicht verstehen, aber das Französische und Englische nicht.“

„Wollen Sie so gut sein, ihn mir blos zu zeigen und dann vorzulesen, vielleicht werde ich es doch verstehen.“

„Sehr wohl. Hier ist der Paß,“ dabei faltete er den Theaterzettel auseinander und wies auf das große beigedruckte Siegel. „Hören Sie also.“ Nun begann er zu lesen: „Mit allerhöchster Bewilligung – verstehen Sie dies?“

„Ja, gnädiger Herr,“ entgegnete der Notar, dem schon das große Siegel Respect eingeflößt hatte.

„,Pesth, den 23. September 1836, verstehen Sie dies?“

„O ja.“

„,König Lear’. Sehen Sie, hier steht der Name mit großen Buchstaben, hier weiter unten mit kleinen: ,Lear, König von Britannien’.“

„Ah!“ rief der Notar verlegen.

„,Der Herzog von Cornwall, der Herzog von Albanien, der König von Frankreich’, hören Sie?“

„So große Herren!“

„,Der Graf von Gloster, der Graf von Kent’. Hören Sie?“

„Ja, ja, ich höre.“

„Hier folgen die Namen der Secretäre: Herr Wagner, Herr Demini, Herr Posinger, Herr Grohmann, Herr Melchior, Herr Schmidt’.“

„Ah, es ist genug, der Paß ist in bester Ordnung.“

„Sie müssen mich aber weiter reisen lassen, ehe meine Zeit um ist. Denn sehen Sie, was hier gedruckt steht:, Anfang um halb sieben, Ende nach zehn Uhr’. Ich muß also bald fort, denn es ist nahe an acht Uhr.“

„Sehr wohl, Herr –“

„Graf Verywell und Baron von Howdoyoudo.“

„Gnädiger Herr Graf, vergeben Sie mir, daß ich Sie belästigte; hätte ich gewußt, mit welch hoher Herrschaft ich die Ehre haben werde –“

„Entschuldigen Sie sich nicht, Sie haben nur Ihre Pflicht gethan, und ich werde es nicht versäumen, Ihrer bei allen den Hohen Herren, deren Namen Sie hier auf dem Reisepässe gelesen, als eines im Dienste eifrigen Mannes zu erwähnen.“

„Ah, Sie sind zu gnädig, Excellenz,“ sprach der Notar und entfernte sich unter zahllosen Bücklingen, befahl dann den Panduren, ein Spalier zu bilden, und Alle standen entblößten Hauptes da, als der Graf weiter fuhr.





Im Lande der Pharaonen.

Von Arthur Stahl.
Das arabische Haus und der türkische Harem.

„Es gehet eine kleine Wolke auf, wie eines Mannes Hand,“ singt der Bote des Elias und ebenso erwartungsvoll betrachteten wir, auf der Terrasse des Hotels in Kairo, das aufsteigende Gewölk, welches den ersehnten Regen bringen sollte. Denn nichts ist so rar und nichts ist so kostbar in Aegypten. Ewig blau spannt sich der Himmel über das schmachtende Land, die Luft ist glühend, trocken, wirkt wie eine elektrische Spannung, die ohne Lösung bleibt, die Bäume und Pflanzen haben keine Farbe mehr, so sind sie von Staub bedeckt, der feste Boden scheint sich auslösen zu wollen in wirbelnde Wolken. Es regnet – und Alles athmet erquickt auf! Die Palmen breiten ihre Fächer aus, um das köstliche Naß bis in’s Herz zu empfangen, das Zuckerrohr richtet sich frisch gebadet auf, die Akazien duften voller, die Lerchen zwitschern lustig, sie nehmen hier ihren Winteraufenthalt, es ist ein großer Feiertag in der Natur.

Aber auch für die Wagen und Eselführer. Denn wenn es in Kairo geregnet hat, so verwandelt sich der Staub in so undurchdringlichen Schmutz, daß auch der an nordische Straßen gewöhnteste Fuß hier nicht ausgehen könnte. Das ist dann nur möglich für die arabischen und nubischen Füße, die sich nicht mit den Ueberflüssigkeiten der Schuhe und der Pantalons befassen und bei jeder Moschee ein geweihtes Wasserbassin finden, um sich zu baden, wie der Koran es gebietet.

Ein solcher Regentag, der es uns unmöglich macht, die Straßen und Spaziergänge aufzusuchen, ist sehr geeignet, sich das Innere der Häuser und des orientalischen Familienlebens zu betrachten, und ich machte zwei Besuche, zu welchen man mich aufgefordert hatte: im Harem eines Pascha und im Hause eines Arabers, der an die Fremden geschnittene Steine verkauft.

Wenn es nun sehr interessant war, nacheinander das Innerste zweier Häuser zu sehen, welche den verschiedensten Rangstufen angehörten, so muß ich zugleich gestehen, daß der Eindruck des letzteren der bei weitem angenehmere war.

Der türkische Harem ist weit öfter als das erstere beschrieben worden. Ich kann nur sagen, daß der tiefste Widerwille mich keinen Augenblick verlassen hat. Da nur der Hausherr selbst Fremden den Besuch in seinem Harem gestatten kann, so pflegt man sich gewöhnlich zuerst mit ihm zu unterhalten. Er erweist sich als ein Mann von europäischer Bildung, ist mit den Culturzuständen, den politischen Ereignissen, den Verhältnissen anderer Länder bekannt; man fühlt sich also geistig mit ihm auf dem Fuße der Gleichheit. Unwillkürlich legt man diesen Maßstab, der bei uns davon unzertrennlich ist, auch an den Zuschnitt seines Hausstandes. Eine Weile wird diese Täuschung noch aufrecht erhalten durch die halb französische Einrichtung der Prachtgemächer, durch welche man geführt wird, doch beginnt sie schon zu schwanken. Denn welch ein mißverstandenes Durcheinander selbst in den Palästen, welch ein stilloses Aufputzen der Gemächer! Wo ist die altorientalische vornehme Pracht? Im Salon ein Büffet und ein Eßtisch, im Speisesaal Nippesschränke und weichliche Polstermeubel! Ueberall erblickt man an sich schöne Gegenstände, von deren richtiger Anwendung man keine Ahnung gehabt hat. Anstatt der kostbaren Seidentapeten von Damaskus hängen jammervolle Oelgemälde an den Wänden, anstatt der prächtigen gewirkten Stoffe vor den Fenstern französische Gewebe oder Papierrouleaux, bemalt mit Jagd- und Blumenstücken, wie bei uns in den Gasthäusern.

Und jetzt, von den schwarzen Scheusalen bewacht, öffnen sich die Thüren des Harems. Wir befinden uns gegenüber den puppenhaften, trägen Geschöpfen, die uns anstarren, unsere Kleider betasten, unsern Schmuck bewundern und uns nicht einmal den

[332] Eindruck intelligenter Kinder, ja selbst nicht den großer Schönheit gewähren. Denn mit welch frischen Reizen geschmückt sie auch in den Harem gekommen sind, die Gefangenschaft beschneidet dem Vogel die Flügel, macht gerade die Begabtesten stumpf, die stete Sorge für den Körper, denn dieser allein ist im Harem wichtig, macht sie träge, und endlich das Wohlleben ohne jede Spur geistiger Regsamkeit apathisch. Wenn erzählt wird, daß Mehemed Ali mit zweiundvierzig Jahren von einer circassischen Sclavin seines Harems lesen und schreiben gelernt habe, wenn auch die reizende Scheherezade ihren Kopf nur durch die schönen Geschichten, die sie zu erzählen verstand, rettete, so würde man doch sehr irren, wollte man daraus auf den allgemeinen Bildungszustand schließen. Derselbe ist sehr gering und kann es in diesem Verhältnisse dem Manne gegenüber nur sein. Denn wenn er sich änderte, so würde sogleich das ganze Haremswesen zusammenfallen, die Frau würde das glänzende Joch abschütteln und aus der Sclavin der Liebe die freie Gefährtin des Mannes werden. Nein, sie fühlt das Unwürdige ihres Looses noch nicht, sie hat noch keine Vorstellung von dem heiligen Palladium des Hauses und der Ehe, welche auf der völligen Gleichheit der Rechte und der Pflichten beruht. Doch wird die Zeit kommen, denn warum sollte sie es nicht? So wenig sich der Orient den Culturströmungen Europas entziehen kann, so wenig wird auch das Loos und die Bildung der Frauen des Orients von den Konsequenzen derselben unberührt bleiben. Auch giebt es bereits Ausnahmen, und diese am leichtesten, wo die Frau Kinder, vorzüglich einen Sohn hat. Dies giebt ihr den obersten Rang im Hause, stellt die anderen Frauen oder Sklavinnen unter ihre Herrschaft, und der Ehrgeiz, für welchen sie empfänglich scheint, weckt ihre schlummernden Lebensgeister, um sie zur Erziehung und zur Förderung des Sohnes zu verwenden. Wie im Alterthum, so erhält auch die Frau des Orients erst Würde und Werth durch die Mutterschaft, an sich ist sie nichts und rechtslos.

Indessen hatten die gewöhnlichen Haremsunterhaltungen begonnen. Zwei der Damen saßen neben mir auf dem Polster, und einen Gesprächsgegenstand zu finden, gehört keineswegs zu den leichten Sachen; denn der Putz und die Tagesgeschichte des Harems macht ihre Welt aus. Sie waren hübsch, aber nach unserm Geschmack erinnert die Gesichtsmalerei, welche die Frauen im Orient allgemein anwenden, zu sehr an das Theater. Wenn sie nicht Schminke auflegen, so lassen sie wenigstens einen feinen schwarzen Strich um die Augen herum zeichnen, was ihren Glanz hebt und sehr kokett aussieht. Ebenso waren ihre Gestalten in den leichten Gewändern von weißem Mousselin, welche ein bunter Shawl um die Hüfte hielt, noch anmuthig; aber eine gewisse Haltlosigkeit in ihren Bewegungen ließ schon den Augenblick ahnen, wo sie zu stark werden.

Zwei Sclavinnen saßen zu meinen Füßen und betrachteten mit großem Ernst meine Fußbekleidung. Sorbet, Kaffee, Dattelconfect, candirte Rosenblätter wurden zierlich dargereicht von Sclavinnen, welche die Teller auf silberbefranzten Tüchern hielten, die lang herabhingen. Der Herr des Harems rauchte inmitten seiner Frauen den Nargileh; die Lieblingskinder, mit Pariser Kleidern wie kleine Affen herausgeputzt, spielten, auf den Teppichen liegend, mit riesengroßen französischen Puppen; denn die Damen der vornehmen Harems in Kairo und Alexandria sind ebenso erpicht darauf, europäische Sachen zu kaufen, als wir orientalische.

Jetzt sollten einige Sclavinnen singen und tanzen. Und sie sangen und sie tanzten schlecht.

Den hohen Reiz der Orientalinnen und ihre üppige Grazie vermag das Künstlerauge nur noch im Volke, und zwar in den niederen Schichten, zu finden, wo allein sie sich rein erhalten hat.

Für die Musik hat der Araber überhaupt keinen Sinn, sie ist ebenso monoton, als seine reiche und phantastische Sprache für die Poesie ausgiebig ist, und der Tanz der Almen hat nur Interesse, wenn er völlig ungebunden der Leidenschaft des Südens Ausdruck geben darf. Von dem Auge des gut erzogenen Europäers kann man indessen nicht erwarten, daß es den Tanz de l'abeille ertrage. (Bei dem Tanz mit der Biene wird diese als auf die Tänzerin zufliegend und schließlich in die Gefangenschaft zwischen die Finger gerathend darstellt.) Im türkischen Harem ist nichts dergleichen zu befürchten. Im weiß nicht, welches gezierte, französische, carikirte Wesen hier beginnt, seinen Stempel aufzudrücken und den Frauen ihre natürliche Anmuth zu nehmen. Es wäre wünschenswerther für sie, daß deutscher und englischer Einfluß sich geltend machte; er würde ihren Geist zu wecken suchen, ohne doch ihre naive und einfache Grazie zu zerstören.

Hoffen wir, daß die himmelblauen Mauern ihres Gefängnisses – denn diese Farbe pflegt man den Gebäuden des Harems zu geben – einst niederfallen und die Frau des Orients, frei geworden, zeige, daß sie, wie die Frauen anderer Nationen, würdig ist, dem Manne gleichzustehen.

Einen völlig verschiedenen Eindruck macht das Haus des Arabers. Obwohl es ihm freisteht, mehrere legitime Frauen zu haben, so beginnt dies immer seltener zu werden, denn – es ist zu kostspielig. Die Frau aus dem Volke scheint im Orient richtigeres Gefühl zu haben, als die Haremsdame; sie erträgt es nicht, mit einer andern Frau das Haus zu theilen, und will der Mann eine zweite und dritte Frau nehmen, so muß er ihr ein Haus und einen Hausstand geben, weil unter einem Dache der Hausfriede schlecht berathen sein würde.

Mein Scarabäenverkäufer[2] Abdallah, eine der malerischsten Gestalten vom weißen Turban bis zu den gelben Pantoffeln und dem prachtvollen Faltenwurf seiner schwarzen Toja, besaß deren zwei und führte mich zu seiner Lieblingsgattin mit dem harmonisch klingenden Namen Chareb. Obwohl Abdallah offenbar eitel war und eine Ehre darein setzte, mir seine hübsche Frau zu zeigen, geschah dies doch nicht, ohne mir vorher beizubringen, daß ich dem Diener ein „Bakschisch“ und der Frau ein Geschenk geben möchte; denn das Geschäft vergißt der in den Städten geschulte Araber nie.

Wir gingen durch einige dunkle Straßen von Kairo, in welchen die Häuser einander so nahe stehen, daß man sich aus den Holzerkern der oberen Etagen die Hände reichen kann, und in welche nie ein Sonnenstrahl hineindringt. Die Hausthüren haben kein Schloß. Ein großer Holzriegel wird vorgeschoben, und man hört nie von einem Diebstahl. Es war also nur eine vornehme Form, daß Abdallah mit mir vor der Thür, die mit allerlei Zeichen roth bemalt war, wie die Juden mit dem Blut des Osterlamms zu thun pflegten, stehen blieb, um mit wuchtigen Schlägen zu klopfen. Ein kleiner schwarzer Eunuch, ohne welche kein Haus in Aegypten bestehen zu können scheint, öffnete und wir stiegen aus dem dunkeln Hausflur in die oberen freundlicheren Stockwerke des Hauses. Ich hörte die Pantoffeln und die Gewänder der Damen des Hauses an einer der Thüren rauschen, aber sie erschienen noch nicht. Man führte mich nun in ein Gemach, in welchem meine Augen auf das Sonderbarste durch Lithographien, die Wengernalp und andere Schweizeransichten darstellend, berührt wurden; ehe hätte ich einen Tanz der Mumien oder eine Procession der Sonnenpriester erwartet.

Sodann öffnete sich die Thür und Chareb trat ein. Sie war eine Frau von zwanzig Jahren, mit hübschen, einnehmenden Zügen. Ein herabfallender Schleier von weißem dünnem Stoff umrahmte das ausdrucksvolle dunkle Gesicht, die Füße steckten in goldbordirten Pantoffeln, und über den weißen weiten Pantalons, welche um den Knöchel schlossen, trug sie einen gesteppten losen Rock von gelbem Stoffe, nicht zu vergessen der Ohrringe, Halsbänder und Armspangen von dunkelgelbem Golde. Obwohl dieser Anzug an sich nichts Graziöses hat, kleidete er sie doch, oder vielleicht lag das Gefällige mehr in ihren zurückhaltenden und anmuthigen Bewegungen. Sie reichte mir die Hände, von welchen jeder Finger mit einem großen Ringe von imitirten Brillanten besteckt und jeder Nagel mit Henne roth gefärbt war, und führte mich in das Wohnzimmer.

War es die lange erkältende Nothwendigkeit des Hotellebens und zugleich das den Deutschen nun einmal eingeborne Verlangen nach häuslichem Behagen: dieses Gemach mit seinen Bewohnern gewährte mir einen der angenehmsten Eindrücke, die ich in Kairo gehabt habe. Die Einrichtung war sehr einfach. Das Fenster nach der Straße hin hatte zu meinem Erstaunen einen offenen Balcon, was mich zu der Ansicht bewog, daß Abdallah in Bezug der Frauen ein aufgeklärter Mann, ein Freigeist sei. An der ganzen Länge des Zimmers liefen zu beiden Seiten rothe Divans

[333]

„Sein Bild!“

[334] hin und vor einem derselben ein breites Polster, mit einem Teppich bedeckt, um auf der Erde zu sitzen, wie die Morgenländer es lieben.

Auf diesem Polster saßen die Mutter und die Schwester der Frau vor einem wie ein Tafelaufsatz geformten Kohlenbecken, um den Kaffee zu bereiten. Ein großer Blasebalg und ein silberner Teller mit den bekannten Bechern und Kaffeeschälchen vervollständigte das Bild, ebenso ein kleiner weißer Schooßhund, der sich behaglich auf dem Polster zusammenrollte, und der Negerknabe, welcher bereit stand aufzuwarten.

Auf dem gegenüber liegenden Polster nahmen die beiden Gatten Platz und ließen mich in ihrer Mitte sitzen. Der Anstand und die Sitte des Hauses erfordern, daß die Frau sich an diesen kleinen Beschäftigungen nicht betheiligt, sie ruht auf dem Divan an der Seite des Mannes und wird bedient.

Der Blasebalg fachte jetzt die Kohlen zu heller Gluth, das Wasser brodelte in der kleinen Kanne, der feingemahlene Mokka wurde hineingeschüttet und einige Secunden gekocht. Während dieses köstliche Gebräu sich setzte, erfüllte sich das Zimmer mit dem Aroma des Mokka und des Ambra, von welchem sie ein Stückchen in die Kohlen werfen. Der Negerknabe brachte jetzt zwischen den Fingern die kleinen Kaffeebecher und – verhülle dein Antlitz, Kranzler, und wie sonst unsere Kaffeekünstler heißen mögen – nie hat ein wunderbareres Kaffeearom meine Lippen berührt, als im Hause des Scarabäenverkäufers in Kairo. Chareb reichte dazu ihrem Gatten und mir Papiercigarren, die der Knabe uns mit einer Kohle anzündete, und es war sehr graziös anzusehen, wie sie in ihren beringten Händen zierlich die Schale hielt, um sie auszunippen, und in der andern die Cigarette. Die Mutter zündete sich einen langen Tschibouk an und Abdallah flüsterte mir zu, daß dies nur noch die alten Frauen thäten – nicht mehr Fashion.

Mich überkam ein unaussprechliches Behagen. Die ganze Scene hatte einen Anstrich von ruhiger Vornehmheit, den man zuweilen in den vornehmsten Häusern vergebens sucht, sie repräsentirte die Poesie des Hauses in ihrer einfachsten, wahrsten und reizendsten Gestalt, und der Anblick der antiken Ruhe, mit welcher die Orientalen die alltäglichen kleinen Freuden genießen, erfüllt uns fieberisch unruhigen Geister des neunzehnten Jahrhunderts mit einer Art von beneidender Bewunderung.

In dieser Form mag man den Harem und den Schleier der Frau getrost gelten lassen. Ja ich begriff, als ich Abdallah seine hübsche Frau entzückt betrachten sah, plötzlich den Reiz, welchen es für den Mann haben muß, seine Kleinodien, seine Frau und sein häusliches Glück vor den Augen der Welt zu verbergen, und daß das Bild der Ehe keine reinere Form annehmen könne. Während in den vornehmen türkischen Häusern das Haremswesen noch in seiner vollen Verderbniß florirt, würde man diesen Zustand des Familienlebens in den meisten arabischen Häusern finden, und es ist eine Freude zu sehen, wie sich die Mißbräuche der Jahrhunderte ohne Gewaltsamkeit aus dem gesunden Sinn der Völker ausscheiden. Wenn die Orientalen viel von unserer Cultur annehmen müssen, um sich auf die Höhe der Zeit zu stellen, so finden wir dagegen in der Ursprünglichkeit und Poesie ihrer Empfindungen und Lebensformen einen unerschöpflichen Quell der Schönheit und Grazie, von welcher der egoistische Materialismus unserer Tage nur zu sehr entkleidet ist, und wir sollten uns sorglich hüten, mit unserer überlegenen Bildung vornehm auf sie herabzublicken, sondern gebend – lernen.




Im Hause der Bonaparte.

Historische Erzählung von Max Ring.
(Fortsetzung.)

Das bekannte historische Schreiben Louis Napoleon’s an seine Mutter lautete folgendermaßen: „Deine Liebe wird uns verstehen; wir sind Verbindungen eingegangen, die wir nicht lösen dürfen. Der Name, den wir tragen, legt uns die Verpflichtung auf, den unterdrückten Völkern zu Hülfe zu eilen, wenn sie uns rufen. Lassen Sie mich in den Augen meiner Schwägerin als den Verführer meines Bruders erscheinen. Es schmerzt ihn tief, daß er ihr eine einzige That seines Lebens verschwiegen hat.“

Ein neuer Thränenstrom netzte die schönen Wangen der Prinzessin, als sie den Brief beendet hatte. Robert zögerte, sich in das Gespräch der betrüben Frauen zu drängen und ihren Kummer noch durch seine Befürchtungen zu mehren. Doch blieb ihm keine andere Wahl, wenn er die Freunde warnen, vor der drohenden Gefahr beschützen wollte.

„Ich fürchte nicht das Volk,“ erwiderte Hortense mit königlicher Würde, „da ich und die Meinigen stets demselben wohlgethan, uns für dasselbe geopfert haben. Den fanatisirten Pöbel, das Werkzeug unserer Feinde, verachte ich. Mag er immerhin mein Geld, meine Juwelen nehmen, wenn ich nur damit die Rettung meiner Kinder erkaufen kann.“

„Aber die Sicherheit Ihrer Hoheit ist bedroht. Sie dürfen nicht länger in Rom verweilen.“

„Nicht aus Furcht werde ich Ihren Rath befolgen, sondern aus Liebe zu meinen Kindern. Ich habe noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, ihnen auf meinem Wege zu begegnen. Noch heute werde ich mit meiner Schwiegertochter die Stadt verlassen.“

„Sie können unmöglich allein die Reise unternehmen. Die Umgegend von Rom befindet sich in der höchsten Aufregung, die Straßen werden von bewaffneten Banden durchzogen und unsicher gemacht. Jedenfalls bedürfen Sie des männlichen Schutzes.“

„Mein Schutz ist der Himmel. Die Bonapartes haben auf Erden keine Freunde. Selbst auf unsere nächsten Verwandten darf ich nicht rechnen. Mein Schwager Lucian sucht seinen Sohn, der, wie meine Kinder, heimlich entflohen ist und sich in das aufständische Lager begeben hat. Jerôme muß bei Lätitia, unserer Mutter bleiben, und mein Gatte lebt in Florenz von der Gicht gelähmt,“ versetzte traurig Hortense.

„So gestatten Sie, daß ich Sie begleiten darf,“ bat Robert. „Ihre Lage und meine Freundschaft für den Prinzen werden hoffentlich die Kühnheit meines Anerbietens bei den Damen entschuldigen.“

Ein freundliches Lächeln der unglücklichen Mutter, ein dankender Blick aus Charlottens Augen sagten Robert, daß sie mit Freuden seinen Schutz annahmen. In seiner Begleitung legten beide Frauen schnell und ohne jede Gefahr den Weg nach Florenz zurück, obgleich sich ihre Hoffnung nicht erfüllte, auf der Reise die Spuren der geliebten Flüchtlinge zu entdecken.

Erst von dem aufgebrachten Vater, der über die Unbesonnenheit der jungen Prinzen zürnte, erhielt Hortense die erste sichere Nachricht von den schmerzlich Vermißten, als die gemeinsame Liebe zu ihren Kindern die getrennten Gatten wieder vereinte.

„Ich habe,“ sagte der frühere König Ludwig von Holland, „endlich durch meine ihnen nachgeschickten Couriere erfahren, wo die Verblendeten weilen. Sie standen noch vor Kurzem mit den Verschworenen in Civita-Castellane, um die dort eingesperrten Staatsgefangenen zu befreien. Die Thoren! Wer weiß, ob sie nicht morgen schon dasselbe Schicksal trifft, wenn sie nicht erschossen werden. Wie Du weißt, sind die Oesterreicher, von dem Papste aufgefordert, auf dem Wege nach Bologna. Wenn unsere Söhne in ihre Hände fallen, sind sie verloren. Wie mir gestern erst Fürst Corsini mittheilte, wollen die Oesterreicher ein Exempel an unseren Söhnen statuiren und werden keinen Anstand nehmen, sie vor ein Kriegsgericht zu stellen.“

„Meine Kinder, meine Kinder!“ klagte die entsetzte Mutter.

„Das sind die Folgen einer verkehrten Erziehung,“ grollte der Vater. „Louis’ Ehrgeiz ist durch die Erinnerung an den Kaiser künstlich genährt worden, und er hat seinen Bruder angesteckt. Jetzt ernten wir, was wir gesäet.“

„Wozu die Vorwürfe? Ich habe nur den einen Gedanken, wie ich meine Söhne retten kann. Wir müssen Alles aufbieten, um sie der Gefahr zu entreißen.“

„Ich habe bereits gethan, was in meinen Kräften stand, an sie geschrieben, sie beschworen, von ihrer Thorheit abzulassen und zu mir zurückzukehren, ihnen selbst mit meinem väterlichen Fluch [335] gedroht, aber leider vergebens. Die Ungehorsamen antworteten, daß sie durch ihren Eid gebunden wären. Auch ein anderer Versuch ist nicht besser gelungen. Ich habe nämlich unter der Hand an die provisorische Regierung mich mit der Aufforderung gewendet, unsere Söhne aus ihrem Lager zu entfernen, weil sie der Sache der Revolution nur schaden müßten, und so lange sie daran sich betheiligten, Louis Philipp Italien seinen Beistand versagen, ja eher zu seiner Unterdrückung die Hand bieten, als die Neffen des Kaisers an der Spitze des revolutionären Heeres dulden würde.“

„Und was hat die provisorische Regierung gethan?“

„Meine Vorstellung schien ihr einzuleuchten. General Armandi ließ Louis kommen und forderte ihn im Namen Italiens auf, das Opfer zu bringen, seine Stelle niederzulegen und das Lager zu verlassen, wozu er sich auch sogleich bereit erklärte.“

„So sind sie glücklich der Gefahr entgangen?“

„Du triumphirst zu früh. Louis erklärte zwar, daß er auf das ihm übertragene Commando verzichten und das Lager meiden wollte, daß ihn aber nichts zurückhalten könnte, als gemeiner Freiwilliger für das Vaterland zu kämpfen. Natürlich war sein allzuschwacher Bruder damit einverstanden.“

„Ich bin stolz auf meine Söhne!“ rief Hortense mit leuchtenden Augen.

„Aber ich zittere für ihr Leben. Als ich von Neuem in sie drang, drohten sie, zwar Italien zu verlassen, aber sich nach Polen zu begeben, um sich an dem dortigen Kampfe zu betheiligen, als wenn keine Revolution ohne sie gemacht werden könnte. Wenn sie es so forttreiben, sind sie verloren.“

„Ihre Mutter wird sie beschützen!“

„Ich fürchte, daß es bereits zu spät ist. Schon ist Modena wieder in den Händen der Oesterreicher, unter deren Schutz Herzog Franz mit seinem Henker sich blutig an der Revolution rächt. Bereits steht ihre Avantgarde an den Grenzen des Kirchenstaates, sperrt ihre Flotte die Häfen und das Meer. Man spricht von einer Proclamation, worin den Insurgenten, welche die Waffen niederlegen wollen, Amnestie versprochen wird, mit Ausnahme der Häupter, unter denen sich unsere beiden Söhne befinden.“

„Um so weniger dürfen wir zögern. Schon morgen will ich zu ihnen eilen und mit ihnen entfliehen.“

„Du weißt, daß jeder Weg versperrt, die Aussicht auf Flucht ihnen abgeschnitten ist. Wohin willst Du Dich mit Deinen Söhnen wenden?“

„Noch weiß ich nur das Eine, daß mir nichts zu schwer fällt, sie zu retten, daß der Geist einer Mutter ebenso unerschöpflich ist wie ihr Herz, wenn das Leben ihrer Kinder bedroht wird. Im Augenblick der Gefahr wird ein Engel mir den Weg zum Heile zeigen.“

Am nächsten Tage verließ Hortense in tiefster Stille Florenz, um ihre Söhne aufzusuchen. Niemand, weder ihr Gatte, noch die Prinzessin Charlotte wußten um ihre geheimen Pläne, die sie sorgfältig vor aller Welt verborgen hielt.

In der schlaflosen Nacht, auf ihrem Lager, das sie mit ihren Thränen benetzte, hatte sie den kühnen Gedanken gefaßt, mit ihren Kindern den einzig offen gelassenen Weg nach England über Paris einzuschlagen, obgleich sie das Decret kannte, welches jedem Mitgliede der Familie Bonaparte das Betreten des französischen Bodens bei Todesstrafe untersagte. Sie rechnete jedoch bei ihrem gewagten Unternehmen auf ihre zahlreichen Freunde und selbst im Falle der Entdeckung, wenn nicht auf die Großmuth, so doch wenigstens auf die Dankbarkeit Loius Philipp’s, für dessen Familie sie sich bei dem Kaiser in glücklicheren Zeiten verwandt hatte.

Nachdem sie einmal den Entschluß gefaßt, ging sie mit der ganzen Energie einer Mutter in ähnlicher Lage an die Ausführung, indem sie sich die nöthigen Pässe mit Hülfe einer ihr zu Dank verpflichteten englischen Familie mit dem Visum des französischen Consuls und der toscanischen Regierung zu verschaffen wußte, was um so größere Schwierigkeiten bot, da die Polizei in Florenz in diesem Augenblick mit der größten Strenge auf alle Verdächtigen achtete und sie selbst nur zu gut daselbst bekannt war.

Zitternd, mit heruntergelassenem Schleier, aus Furcht, entdeckt zu werden, athmete sie erst wieder auf, als sie das streng bewachte Thor der Stadt hinter sich sah und so schnell als möglich auf dem Wege nach Bologna in ihrem Reisewagen dahinrollte. Noch war dieses letzte Bollwerk der Freiheit in den Händen der Aufständischen, noch vertheidigten die tapferen Freiwilligen Terni und Spoleto gegen die päpstliche Uebermacht, noch hatte das siegreiche österreichische Heer nicht die Grenzen der Romagna überschritten, so daß Hortense neue Hoffnung schöpfte.

Sie hatte einen zuverlässigen Courier mit einem Briefe vorausgeschickt, worin sie ihren Söhnen ihre Ankunft meldete und Beide aufforderte, Bologna sofort zu verlassen und mit ihr in Foligno zusammenzutreffen.

In einem elenden Gasthof dieser Stadt wartete von Stunde zu Stunde die unglückliche Mutter auf die Rückkehr ihrer Kinder mit steigender Ungeduld. Traurig dachte sie an die Tage ihres früheren Glanzes, als sie noch eine Königin war und ihre Söhne einen Thron erwarteten. Jetzt saß sie in dem niedrigen Zimmer eines italienischen Hotels als eine Verbannte, die sich vor der Welt verbergen mußte, jetzt waren die Lieblinge ihres Herzens geächtet und in Gefahr, einen schimpflichen Tod zu sterben.

Erschüttert von dem furchtbaren Contrast, suchte sie den trüben Gedanken zu entfliehen, indem sie mechanisch ihre Blicke auf die geschwärzten Wände ihrer Zelle richtete, welche die früheren Bewohner mit ihren Namen, Betrachtungen und Versen bedeckt hatten, wie es wohl müßige Reisende zu thun pflegen.

Hortense ergriff ihren Bleistift und schrieb, von ihren Gefühlen übermannt: „Wer hätte mir wohl vor zwanzig Jahren gesagt, daß ich mich hier und in einer solchen Lage wiederfinden würde!“ Darunter setzte sie ihren Namen, Tag und Stunde. Es war der 17. März 1831.

Schmerzliche Ahnungen erfüllten ihr Mutterherz, da ihre Söhne noch immer zögerten. Von Augenblick zu Augenblick erwartete sie ihre Ankunft, doch vergebens; sie kamen nicht. Die Minuten dehnten sich zur Ewigkeit, Angst und Sorge drückten die sonst so muthige Frau zu Boden. Das leiseste Geräusch erschreckte sie, bei jedem Rollen eines Wagens, bei dem Hufschlag eines vorbei eilenden Pferdes fuhr sie empor, eilte sie fieberhaft erregt an das geöffnete Fenster.

Endlich sprengte der ihnen entgegengeschickte Courier in den Hof; sie eilte ihm entgegen. Er kam allein.

„Wo sind meine Söhne?“ fragte sie enttäuscht.

„Ich habe sie gesehen, gesprochen.“

„Dem Himmel sei gedankt, sie leben! Aber wo weilen sie? Wissen sie nicht, daß ich sie mit Sehnsucht hier erwarte?“

„Sie haben bereits Bologna verlassen, wo die Oesterreicher eingerückt sind. Die beiden Prinzen haben sich deshalb nach Forli gewendet.“

„Schnell! Lassen Sie den Wagen anspannen. Wir haben keinen Augenblick zu versäumen.“

Mit klopfendem Herzen schlug Hortense den Weg nach Ancona ein, von düsteren Befürchtungen gequält. Sie war nur noch einige Stunden von Forli entfernt, als ihr ein offener, zweirädriger Wagen begegnete, der ihr in rasender Eile entgegenfuhr. Aus demselben sprang ein unbekannter Mann und trat an ihren Schlag.

„Habe ich die Ehre, Ihre Hoheit die Herzogin von St. Leu zu sprechen?“ fragte derselbe mit unsicherer Stimme.

„Was wollen Sie von mir?“ entgegnete sie zitternd vor einem neuen Mißgeschick.

„Ich habe den Auftrag, Ihrer Hoheit mitzutheilen, daß der Prinz Napoleon plötzlich erkrankt ist.“

„Mein Sohn krank!“ schrie Hortense. „Woran leidet er?“

„Am Scharlach mit heftigem Fieber in Folge der geistigen Aufregung. Er verlangt nach Ihrer Hoheit.“

„Er verlangt nach mir. Vorwärts! Mein Sohn verlangt nach mir!“

Mit geschlossenen Augen, einer Ohnmacht nahe, gab sie den Befehl zur höchsten Eile, während ihre bleichen Lippen schmerzlich murmelten: „Das Unglück ist zu groß. Unmöglich, der Himmel wird gerecht sein; es ist zu viel, mehr als ich ertragen kann. Nein, nein! Er wird, er darf nicht sterben. Er wird gerettet, mir erhalten werden. Muth, Fassung, damit ich nicht erliege!“

Von Station zu Station nahm ihre Unruhe zu; überall glaubte sie in den Mienen der ihr Begegnenden die Schreckensbotschaft zu lesen. Sie wagte nicht zu fragen, die Ungewißheit schien ihr noch ein Glück. Zuweilen hörte sie wie im dumpfen [336] Traume den düstern Schreckensspruch: „Napoleon ist todt Arme Mutter! Napoleon ist todt!“

Ihr Herz, das Mutterherz zog’ sich krampfhaft zusammen und drohte bei dieser Trauerkunde still zu stehen.

Jetzt hatte sie Pesaro erreicht; der Wagen hielt vor dem Palast eines nahen Verwandten. Aus der Thür wankte ihr ein bleicher junger Mann entgegen, das starre Antlitz von Schmerz durchwühlt, die glanzlosen Augen von Thränen geröthet. Sie erkannte ihn und streckte ihm die zitternden Arme entgegen.

„Louis!“ rief die unglückliche Mutter. „Wo ist Dein Bruder?“

Weinend sank er an ihre Brust, ohne ihr zu antworten.

„Todt,“ murmelte sie, „und ich konnte nicht bei ihm sein, ihn nicht retten!“

Mit einem lauten Schrei stürzte sie ohnmächtig in die Arme ihres einzigen, ihres letzten Sohnes.




7.

In dem düstern Palaste, welchen der Herzog von St. Leu in Florenz bewohnte, saßen einige Wochen nach diesen schmerzlichen Ereignissen die trauernden Hinterbliebenen des unglücklichen Prinzen Napoleon, seine Gattin, ihre Mutter, die Gräfin von Survilliers, ihre Tante, Frau von Villeneuve, und deren Tochter, die einst so heitere Juliette mit ihrem Verlobten.

Die Damen in dunkler, schwarzer Tracht, welche besonders die edle Schönheit der Prinzessin hob, unterhielten sich leise, mit gedämpfter Stimme, während sie mit weiblichen Handarbeiten beschäftigt waren.

„Hast Du,“ fragte die Gräfin von Survilliers, „keine neuen Nachrichten von Hortense und ihrem Sohn?“

„Wie sie im letzten Brief mir schreibt, sind Beide glücklich in London angelangt,“ versetzte die Prinzessin, von ihrer Stickerei aufblickend.

„Ich bewundere den Muth der Herzogin,“ bemerkte die erst kürzlich angekommene Frau von Villeneuve. „Was muß die arme Mutter gelitten haben! Welch’ ein Herz, welch’ ein hoher Geist! Ich bin in der That begierig, Näheres von Dir über ihre Flucht zu hören.“

„Sobald meine Schwiegermutter,“ berichtete die Prinzessin tief bewegt, „sich von dem furchtbaren Schlage erholt hatte, der sie und mich getroffen, hatte sie nur den einen Gedanken, Louis zu retten, mit ihm über Frankreich nach London zu entfliehen.“

„Welche Kühnheit!“ rief die Tante voll Bewunderung. „Nach Frankreich zu gehen, wo sie Gefangenschaft, selbst der Tod. erwartete!“

„Kaum blieb ihr eine andere Wahl,“ fuhr die Prinzessin fort, „wenn sie nicht in die Hände der Oesterreicher fallen wollte, die ihr auf dem Fuße folgten. Zuerst eilte sie mit Louis nach Ancona, wo sie geflissentlich das Gerücht verbreitete, daß sie sich nach Corfu einschiffen wollte, während sie im Geheimen alle Vorbereitungen für ihre Reise nach Frankreich traf. Schon war die Stunde der Abreise bestimmt, als Louis plötzlich ebenfalls am Scharlach erkrankte, das er sich durch Ansteckung zugezogen hatte. Aber Hortense verlor nicht die Besinnung trotz dieses neuen Unglücks. Während sie an dem Bette ihres kranken Sohnes saß, ließ sie durch ihre Dienerschaft öffentlich ihr Gepäck, Koffer und Pakete, auf das nach Corfu bestimmte Schiff bringen, um die Welt in dem Glauben zu erhalten, als wollte der Prinz noch an demselben Tage nach Corfu entfliehen. Sie selbst aber gab sich für leidend aus, weshalb sie ihren Sohn nicht begleiten könne. Das geschickt ersonnene Märchen wurde allgemein für wahr gehalten und Niemand zweifelte in Ancona, daß Louis sich bereits auf dem Wege nach Corfu befinde.“

„Ich kenne keine zweite Frau,“ bemerkte die Gräfin von Survilliers, „die so vielen Geist, eine solche Willenskraft besitzt.“

„Unterdeß war die Avantgarde der Oesterreicher in Ancona eingerückt und der Zufall wollte, daß der Befehlshaber derselben, General Geppert, sich in demselben Palast einquartierte, den Hortense mit dein kranken Louis bewohnte.“

„O, ich wäre vor Angst gestorben!“ sagte Juliette.

„Zum Glück kannte Hortense den Adjutanten des Generals aus früheren Zeiten; durch ihn ließ sie den Baron Geppert ersuchen, in Rücksicht auf ihre Krankheit ihr die fernere Benutzung des von ihr bisher bewohnten Zimmers zu gestatten. Von Mitleid gerührt, ertheilte derselbe bereitwillig die erbetene Erlaubniß, um so leichter, da er, wie alle Welt, Louis auf dem Schiffe nicht fern mehr von Corfu glaubte, während dieser Wand an Wand unter demselben Dache mit seinen Verfolgern schlief. Er durfte nicht laut sprechen und sah sich öfters gezwungen, den quälenden Husten zu unterdrücken, um nicht seine Gegenwart zu verrathen.“

„Welche entsetzliche Marter!“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


„Sein Bild.“.

(Mit Abbildung s. S. 333.)

Komm’ an mein Herz, geliebter Sohn,
Heut’ ist zum zweiten Mal die Feier,
Die Du, so jung in Trauer schon,
Und ich begeh’ im Witwenschleier.

5
Im Geiste geh’n wir Hand in Hand

Und bringen als Geburtstagsgabe
Dem Vater fern im Böhmenland
Heut’ Gruß und Kranz zu seinem Grabe

Doch hier, wo er so lieb und mild

10
Gewaltet, und so fest und bieder,

Hier halten wir im Arm sein Bild,
Als läg’ er uns am Herzen wieder.

Hier sind wir wieder alle Drei
So still vereint, wie in den Stunden,

15
Wo, war der Tag der Pflicht vorbei,

Er nur bei uns sein Glück gefunden.

Und wie er da in sel’ger Lust
Auf’s Knie Dich hob, in’s Aug’ Dir schaute,
So, Kind, geschmiegt an meine Brust,

20
Vernimm, was mir sein Bild vertraute.


Sein Auge, sieh, es spricht zu Dir
So klar, daß ich mich jetzt noch freue:
Verehr’ als höchste Manneszier,
Mein Sohn, Wahrhaftigkeit und Treue!

25
Wie reich in seines Herzens Grund

Der Schatz der Liebe ist gewesen, –
O, küsse Deines Vaters Mund,
In seinem Bild, ist’s noch zu lesen!

Auf seiner Stirn, auf der oft rann

30
Die Perle schwerer Arbeitbürde,

Thront der Geist, der allein den Mann
Verkündet in der Hoheit Würde.

So war Dein Vater. Nicht das Schwert
Des Kriegers war allein sein Trachten:

35
Der Menschheit Wohl war mehr ihm werth,

Als blutiger Triumph der Schlachten.

Er starb als Held, treu seiner Pflicht,
Und fern von uns deckt ihn die Erde, –
Doch was zu Dir sein Bild heut’ spricht,

40
Dem strebe nach, mein Sohn, das werde!


Du bist sein Ebenbild! Sei’s ganz.
Wie Du der Trost bist meinen Tagen!
Dann kann ich einen Freudenkranz’
Auf meinem Witwenschleier tragen.

Fr. Hofmann.




E. Marlitt in Armerika. Nachdem wir unseren Lesern bereits von einer englischen Uebertragung von Marlitt’s „Goldelse“ berichten konnten, kommt uns soeben auch eine Uebersetzung vom „Geheimniß der alten Mamsell“ zu, welche die amerikanische Schriftstellerin Miß A. L. Wister in einer sehr eleganten Ausgabe in Philadelphia veröffentlicht hat. Gleichzeitig hat das deutsche Original selbst, trotz der erst vor Monatsfrist erschienenen sehr starken ersten Auflage, schon eine zweite erlebt – ein Erfolg, wie ihn die novellistische Literatur Deutschlands kaum jemals aufzuweisen hatte. Der energische Widerspruch gegen religiöse Verdumpfung und Heuchelei, welcher die Erzählungen Marlitt’s charakterisirt, ihre durchaus humane und lichtvolle Lebensanschauung hat unstreitig viel zu diesem Erfolge beigetragen.


  1. Also nahezu eintausend Fuß höher als der Gipfel des Brocken.
  2. Eine gewisse Art Käfer (scarabaeus) galt den alten Aegyptern als heiliges Thier, weil sie durch das fortrollen ihres Eierklumpens an die angeblich rollende Bewegung der Sonne am Himmelsgewölbe erinnerte. Figuren desselben wurden vielfach als Schmuckgegenstände benutzt, und der Verkauf solcher Scarabäen, antiker oder nachgemachter, an europäische Reisende, die ein kleines Andenken aus dem Lande der Pharaonen mitzunehmen wünschen, ist gegenwärtig ein einträglicher Geschäftszweig.
    D. Red.