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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[305]

No. 20.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Vetter Gabriel.
Von Paul Heyse.
(Fortsetzung.)


Dergleichen war Gabriel nichts Neues. Er hatte sich früh gewöhnen müssen, das schöne Mädchen von den ausgesuchtesten Huldigungen umringt zu sehen, und hätte Jeden, der in ihrer Nähe gleichgültig geblieben wäre, für einen armseligen Stockfisch gehalten. Aber damals, im heimlich ihm zugesicherten Alleinbesitz, wie er glaubte, dieses vielbegehrten Kleinods, schmeichelte es ihm nur, zu beobachten, wie Andere, minder Glückliche ihre Mühe verschwendeten. Heute zum ersten Mal war es ihm eine unerträgliche Qual, da er sie für immer verloren zu haben dachte. Nicht gegen den jungen Fremden wendete sich sein Groll. Der oder irgend ein Anderer, das war ihm vollkommen gleichgültig. Aber sie, die doch fühlen mußte, wie ihm zu Muthe war nach allen gegenseitigen Eröffnungen, wie konnte sie das Herz und die Stirn haben, in seiner Gegenwart zu klimpern und zu lachen, wie wenn sie selbst nicht das Geringste dabei empfunden hätte, als sie ihn so tief zu Boden schmetterte! Dieses Lachen, das war noch ganz dasselbe, vor dessen schadenfrohem Uebermuth er sich den Morgen nach dem Ball gefürchtet hatte. Nichts war inzwischen geändert, nur eine noch vollendetere Weltdame aus ihr geworden, die drittehalb Jahre lang kaltblütig an die Stunde gedacht hatte, in der sie das getreueste Herz mit einem Tritt ihres kleinen Fußes in den Staub treten könnte!

Wie er so saß und von Minute zu Minute Grimm und Gram in seiner Brust wachsen fühlte, faßte er den Entschluß, nie wieder diese Schwelle zu betreten. Die Einsicht, die vorher in ihm aufgegangen war, daß man wohl Ursache habe, sich auch über ihn zu beklagen, ging völlig unter in dem Gefühl der bittersten kaltherzigsten Vergeltung, die man an ihm geübt. „Gut denn!“ sagte er für sich; „wenn wir denn quitt sind, wollen wir uns nicht ferner lästig fallen. Wieder anfangen mit einander, wieder Vetter und Bäschen spielen, nur damit Einer mehr sei, den Hofstaat der jungen Hoheit zu completiren – dazu sind wir denn doch zu gut! Und wenn ich gefehlt und mich selbst betrogen habe – war ich nicht bereit, Alles wieder gut zu machen, mich auf Gnade und Ungnade lebenslänglich ihr auszuliefern? Und was ist der Bescheid? Eine Chanson, so kalt und seelenlos, wie des guten Lori Sprüchlein. Nicht doch, zum Verzweifeln und Vergrämen ist das Leben zu kostbar. Machen wir hier ein Ende und fangen in frischer Luft von Frischem an!“

Er benutzte die nächste Pause im Gesang, um sich dem Flügel zu nähern, seinem Bäschen, die plötzlich erblassend zu ihm aufsah, die Fingerspitzen zu bieten und mit dem ungezwungensten Ton, den er zu erschwingen vermochte, sich bis auf Weiteres von ihr zu beurlauben. Auf die hastige Frage, ob sie den Eltern für morgen seinen Besuch ankündigen solle, erwiderte er achselzuckend, er wisse nicht, ob er Zeit finden werde, verneigte sich gegen den Franzosen und verließ den Saal.

Draußen vor der Thür mußte er einen Augenblick still stehen, das Herz schlug ihm bis in die Fußspitzen hinunter. Es war plötzlich Alles um ihn her stumm und dunkel geworden, der Kopf brannte ihm, er strich sich mit der eiskalten Hand über die Stirn und seufzte tief auf. Hinter sich glaubte er den Franzosen lachen zu hören, und jetzt gar das Bäschen. Aber nein, das war eine Täuschung. Er hörte nur ihre Stimme, die aber riß ihn aus seiner Erstarrung auf. Er wollte kein Wort von ihr erlauschen; was sie ihm gesagt hatte, war gering und übergenug. So stieg er mit schwankenden Schritten die Treppe hinab, die er so voll Freuden hinaufgeflogen war. Eben zündete ein Bedienter unten den Gascandelaber an. Er erkannte den tiefsinnig herabsteigenden jungen Herrn nicht, so wenig wie der Portier. Es waren neue Gesichter, denen der Vetter fremd war. „Alles ist neu und fremd geworden in diesem Hause,“ dachte er bei sich selbst; „das Wohlbekannteste am fremdesten. Was widerstände auch der Macht der Zeit? Es soll freilich Mancherlei geben, was selbst zwei Jahre und sieben Monate überdauert, z. B. Liebe und Treue, aber wenn es dergleichen giebt, in diesem Hause wenigstens sucht man es vergebens. Ha nun, um so besser! Man muß sich nur danach einrichten. Und wenn ich’s recht bedenke: ist es denn in mir noch vorhanden? Wie ich diese Treppe hinaufstieg, dachte ich nicht, ich könne ohne dieses Mädchen nicht leben? Und jetzt lebe ich doch noch und befinde mich sogar ganz wohl dabei, in der That, noch wohler, als vorher. Es drückt und engt mich nichts mehr hier auf der Brust; mir ist so frei und leicht, wie seit Jahren nicht! Ich Narr! Ich hätt’ es längst so gut haben können, wenn ich mir nicht eingebildet hätte, ich sei es ihr schuldig, ein schweres Herz um sie zu haben. Nun will ich mich wohl hüten, je wieder in diese Kinderkrankheit zu verfallen!“

In diesen ingrimmig resoluten Gedanken schritt er die Straße hinunter, ohne den Kopf nur einmal umzuwenden nach dem Balcon, den er bei seinem Kommen so fröhlich begrüßt hatte. Ein schöner, eleganter Wagen rollte ihm entgegen, er erkannte von fern die Livrée des Oheims und trat in den Schatten eines Thorwegs, um ihn erst vorbeizulassen. Auf dem offenen Rücksitz saßen die Eltern, wenig verändert, seit er sie nicht gesehen, der Vater mit [306] dem vornehmen Profil nur noch kühler und strenger, wie es ihm wenigstens vorkam, die Mama, eine kleine, schüchterne, sehr einfache Frau und nur der Schatten ihres Mannes, noch um etwas gedrückter in ihrer Haltung, als sonst. „Cornelie hat keinen Zug von ihr, sie ist die Tochter ihres Vaters,“ murmelte er vor sich hin. „Und ich habe mir jemals einbilden können, diese kühle Statue wäre eine Frau für mich? Gottlob, daß mir noch bei Zeiten die Schuppen von den Augen gefallen sind!“

Der Wagen war längst vorübergerollt, und noch stand der einsame Späher unter dem Thorweg und starrte ihm nach. Wohin sollte er sich auch wenden? Wenn er noch zeitig genug an den Rhein kam, um den Dampfer zu erreichen, der stromab fuhr, zu Hause mochte er sich noch nicht wieder sehen lassen. Er hatte gegen seinen alten Verwalter, ein Erbstück von der seligen Tante, allerlei Winke fallen lassen, daß er wohl zu Zweien wiederkommen würde, und schämte sich, nun so unverrichteter Sache als ein trübseliger Korbträger heimzukehren. Es blieb nichts übrig, als in der Stadt zu bleiben und die Sache vorerst zu beschlafen. Nur graute ihm davor, in einen der großen Gasthöfe zu gehen, in denen er aus früherer Zeit bekannt war und wohl auch am Wirthstische Bekannte getroffen hätte. Endlich fiel ihm ein kleines, spießbürgerliches Weinstübchen ein, „zum Mäusethurm“, dessen Wirth neben dem Weingeschäft eine bescheidene Herberge hielt. Er hatte vor Zeiten, als sein Beutel noch schmal war, dann und wann hier eingesprochen und jüngst ein Faß von seiner besten Lage an den Wirth verkauft, ohne ihn persönlich dabei kennen zu lernen. Da hoffte er wenigstens einen unverfälschten Schlaftrunk und einen stillen Winkel zu finden, wo er ungestört dem Groll um verlorene Liebesmühe nachhängen könnte.

Auch fand er, als er eintrat, daß er sich nicht getäuscht hatte. In den großen vorderen Zimmern saßen an blankgescheuerten Tischen lauter Stammgäste in behäbigen Jahren, rauchend, spielend und von der Zeitung schwatzend. Dahinter war noch ein kleineres Cabinet, nur durch ein einarmiges Gaslämpchen erleuchtet und die beiden Tische darin ganz leer. Der Wirth, ein rühriger kleiner Mann mit spärlichem Haupthaar und buschigem Backenbart, der selbst den Kellner machte und jeden Schoppen frisch vom Faß heraufholte, complimentirte den jungen Gast in dies Hinterstübchen, mit dem Bedauern, daß an den anderen Tischen kein Platz frei sei.

Gabriel nickte zerstreut und warf sich auf einen Stuhl am Fenster, eine Flasche von seinem eigenen Gewächs bestellend. Indessen ging der Mond auf und beleuchtete den Wandkalender, der in der Fensternische hing, und warf den Schatten eines großen Geraniumtopfes zierlich auf die weiße Tischplatte, auf der ein Vorgänger des einsamen Zechers in einer unbewachten halben Stunde zwei verschlungene Initialen eingeschnitten hatte, um sie herum ein Herz mit einer großen Flamme. Ob ihm wohler dabei war, als unserm Freunde? Wer konnte es sagen! Gabriel aber seufzte tief, als er diese Fährte eines angeschossenen Wildes entdeckte. Er wechselte den Platz, um sie nicht immer vor Augen zu haben, ließ das volle Glas unberührt vor sich stehen und vertiefte sich, die Augen zugedrückt und das Gesicht in beide Hände gestützt, in seine bitterbösen Gedanken.

„Haben Sie Zahnweh, Herr?“ hörte er plötzlich eine muntere Stimme dicht neben sich fragen.

Er blickte in die Höhe und sah ein Mädchen vor sich stehen, etwa achtzehnjährig, das runde Gesicht ganz vom Monde versilbert, der zierliche Kopf mit dicken, blonden Zöpfen umwunden. Welche Farbe die Augen hatten, konnte er nicht unterscheiden. Jedenfalls erschienen sie dunkel gegen die zarte, fast kinderhafte Stirn und Wange, und das Ganze hätte nach einem blonden Puppenkopf ausgesehen, wenn nicht der Mund mit den etwas derben, rothen Lippen Kraft und Leben geathmet hätte.

„Wie kommst, Du zu der Frage, Mädchen?“ erwiderte Gabriel, nachdem er sie eine Weile starr angesehen hatte. „Ich wollt’, es gäbe nichts Schlimmeres unter dem Monde, als Zahnweh.“

„Sie hielten sich die Backe so, daß ich meinte, Sie hätten Schmerzen,“ sagte das Mädchen. „Nun, desto besser. Ich zwar kenne es nicht,“ und dabei lachte sie, daß sie ihre sämmtlichen weißen Zähne zeigte, „aber die Pathe leidet oft daran und wird dann wie unsinnig vor Wehleid. Wollen Sie etwas zu Nacht speisen?“

„Ich danke Dir. Ich habe keinen Appetit.“

„Ei nun, man sagt l’appétit vient en mangeant.“

„Kannst Du auch Französisch?“ fragte er.

„Nur, was ich so aufgeschnappt habe,“ versetzte sie und strich sich dabei ein krauses Löckchen zurück, das ihr über die Stirn fiel.

„Wir hatten hier einmal einen Kellner aus der Schweiz, der parlirte den ganzen Tag. Schreiben aber kann ich kein Wort.“

„Und wenn ich was essen wollte, was könntest Du mir empfehlen?“ fragte er.

„Je nun,“ sagte sie mit einem lustigen Zwinkern ihrer feinen Nasenflügel, als röche sie schon im Geist den Duft eines Lieblingsessens, „Jeder räth eben, was er selber gern ißt. Ich weiß aber nicht, ob dem Herrn sein Geschmack und meiner zusammenstimmen.“

„Das käme auf die Probe an,,“ sagte er. „Was würdest Du für Dich selbst aussuchen?“

„Ich mag kleine Vögel am liebsten essen,“ antwortete sie flink. „Sie knarpsen so hübsch zwischen den Zähnen, wenn man die Knöchelchen zerbeißt, und darum bleiben sie uns gewöhnlich übrig. Denn bei dene grauhärige Herre da drin steht’s nicht mehr zum Besten mit ihrem Zahnwerk. Sie aber, da Sie kein Zahnweh haben, können, schätz’ ich, einem paar Krammetsvögeln noch alle Ehr’ anthun, und wir haben gerade heut’ sehr gute und ein frisches Kraut dazu.“

„So bringe sie in Gottes Namen. Und höre, noch Eins: Wie heißest Du?“

„Gertraud. Der Wirth heißt mich Traud, und die Wirthin, was meine Frau Path’ ist und eine Kölnerin, nennt mich Drückchen, wie sie ’s dort aussprechen. Nun haben Sie die Auswahl, Herr!“

Damit flog sie davon und nach der Küche, das Verlangte zu bestellen. Fast hätte er ihr nachgerufen, sie solle es nur bleiben lassen; denn er hatte einen so bittern Geschmack auf der Zunge, daß es ihm unmöglich schien, einen Bissen hinunterzubringen. Er dachte, wie sie jetzt in dem schönen Hause in der Rheinstraße um den mit Silber gedeckten Tisch sitzen und die Bedienten in weißen baumwollenen Handschuhen die Speisen serviren würden. Und er, statt, wie er sich eingebildet, den Ehrenplatz einzunehmen zwischen der Frau vom Hause und dem schönen Bäschen, er saß jetzt in einem halbdunkeln Schenkenwinkel vor ungedecktem Tisch mutterseelenallein. Freilich, so eine Kellnerin hätte Manchem ein Dutzend Livreebedienten aufgewogen. Aber ihm, – was waren ihm alle Mädchen auf und ab am ganzen Rhein? Falsche Schlangen, glatte Ungeheuer, lächelnde Basilisken! Das Weib soll die Krone der Schöpfung sein? Jawohl, aber eine Dornenkrone! Wer mit ihr gekrönt wird, hat erst einen langen Passionsweg durchzuwandeln, um zu guter Letzt an ein Hauskreuz geschlagen zu werden. Und er wollte sich noch beklagen, daß sein gutes Glück ihn vor diesem Loose bewahrt hatte? Thorheit! Der Wein ist zu edel, um ihn mit überflüssiger Galle zu vergiften. Es lebe die Freiheit und die Jugend und der Genuß! Vielleicht lachen sie jetzt eben in dem Speisesaal des Hauses in der Rheinstraße über den gutherzigen Narren, den Vetter Gabriel, und dem jungen Herrn aus Bordeaux wird die Geschichte erzählt, wie er das erste Mal aus dem Hause kam und seitdem nicht klüger geworden ist. Aber nur Geduld; wer zuletzt lacht, lacht am besten! Nur die Lese noch vorübergelassen, dann hält uns hier nichts mehr, dann gehen wir nach Paris und London und in die neue Welt, und wenn wir gelegentlich in einer deutschen Zeitung lesen: ,Fräulein Cornelie und Monsieur tel el tel empfehlen sich als ehelich Verbundenes zünden wir uns eine frische Havanna an und bringen dem Gott der Freiheit ein duftendes Rauchopfer! – –

In solchen heroischen Gedanken hatte er schon das zweite Glas geleert, als das Mädchen aus der Küche wieder hereinkam, das Gericht auf sauberem Teller sorgfältig vor sich her tragend, die Augen fest auf die kleinen Vögel geheftet, die so appetitlich in dem weißlichen, feingeschnittenen Kraut lagen, wie ein paar Zwillinge in der Wiege. Sie stellte den Teller mit einem stolzen Schmunzeln vor Gabriel hin, als wollte sie sagen: „Hab’ ich nicht gut gerathen?“ sprach das übliche „Wohl bekomm’s!“ und blieb dann am Tische stehen, wie um abzuwarten, ob der Gast ihre Leibspeise loben würde.

„Höre,“ sagte er, „Du mußt aber mithalten. Komm’, hol’ Dir einen Teller. Wir machen Halbpart.“

„Ich dank’ schön,“ gab sie lachend mit einem muntern Knix [307] zur Antwort. „Da ist gar nichts abzugeben für eine Mannsperson in Ihren Jahren, denn so ein Krammetsvogel ist ja kein Vogel Strauß. Oder riecht’s Ihnen etwa nicht lecker genug?“

„O nein,“ erwiderte er, „das Essen ist gut, nur der Esser taugt nicht viel. Und es ist auch ein leidig Ding, allein zu tafeln.“

„Muß freilich besser schmecken, wenn die Frau Gemahlin mit am Tisch sitzt.“

„Was, Gemahlin!“ brummte er. „Ich bin ein lediger Mensch und denk’ es mein Lebtag zu bleiben. Aber komm’, Traud, ich erstick’ an dem Bissen da, wenn Du mir nicht hilfst, denn wenn ich allein bin, muß ich noch meine Gedanken mit hinunterwürgen, und die sind nicht sehr verdaulich.“

„Nun, so schneiden Sie mir meinetwegen einen, Flügel ab. Ich hab’s doch einmal schon verrathen, daß es mein Leibessen ist.“

Hurtig schnitt er den einen Vogel mitten durch und bot ihr den Teller an. Sie sah sich verstohlen nach dem andern Zimmer um, ob Niemand zuschaue, ehe sie die eine Hälfte säuberlich am Knöchlein ergriff und mit einem „Schönen Dank!“ vom Teller nahm. „Der Pathe würde zanken,“ sagte sie, „wenn er mich hier zugreifen sähe, und es ist doch nichts Unrechts dabei, außer daß ich mit den Fingern esse; aber was soll ich machen? Ich kann doch nicht zwei Bestecke für Einen Gast holen!“

Nun fing sie an, vor ihm stehend, mit ihren scharfen Zähnchen den Vogel zu bearbeiten, daß es eine Lust war, ihr zuzusehen. Besonders gefiel ihm, wie die Flügel des schlanken Stumpfnäschens leise zitterten, während sie schmauste, und wirklich, das „Knarpsen“, von dem sie gesprochen hatte, klang allerliebst. Sie kam ihm mit jeder Minute hübscher vor. Unwillkürlich verglich er ihr heiteres, zutrauliches Wesen, das ihn warm anmuthete, mit dem frostigen Hauch, der eben gegenüber der Schweizerlandschaft und der eisgepanzerten Jungfrau über all’ seine Hoffnungsblüthen hingefahren war.

„Nun mußt Du auch trinken,“ sagte er, als sie nach einigem Zureden auch mit dein andern halben Vogel fertig geworden war und sich Lippen und Finger sorgfältig an einer Serviette abgeputzt hatte. „Koste einmal diesen Wein; der ist auf meinem Grund und Boden gewachsen.“

„Was nicht gar!“ rief sie. „Das ist ja unsere beste Sorte. Sind Sie denn ein Weinbergsbesitzer?“

„Freilich, Traud. Und erst den heurigen solltest Du kosten! Der hat noch ganz ein anderes Feuer. Aber Du nippst ja kaum?“

„Ich danke schön, ich darf nicht mehr, es geht nur gleich in’s Blut. Aber was ich sagen wollte: sind Sie denn nicht mehr Kaufmann?“

Er sah ihr erstaunt in die Augen. „Woher weißt Du denn in aller Welt, das; ich’s überhaupt war? Kennst Du mich denn? So viel ich weiß, sehen wir uns heut’ zum ersten Mal.“

„Das will ich wohl glauben, daß Sie mich vergessen haben,“ erwiderte das Mädchen und lachte geheimnißvoll in sich hinein. „Ich sah mir auch noch gar nicht ähnlich damals, während Sie - Sie haben sich nicht besonders verändert, nur daß Sie etwas breiter und voller geworden sind. Wissen Sie aber gar nicht mehr, daß Sie vor drei Jahren hier einen Frühschoppen getrunken haben mit noch ein paar jungen Herren, und Sie sprachen von nichts, als von Buchhaltung und Wechselrechnung und so Sachen, und ich war eben aus der Schul’ heimgekommen und hatte einen Preis gekriegt, mein letzter, denn hernach mußt’ ich gleich der Frau Path’ in der Wirthschaft helfen, und was ich noch nicht gelernt hatt’, sollt’ ich auch nimmer lernen. Nun weiß ich nicht, wie es kam, daß Sie mich bemerkten und ausfragten, und ich, ein dummdreist Dingelchen wie ich war, mußt’ auch Alles herausplappern, auch von dem Schulpreis, und das Buch herzeigen. Darauf haben Sie in die Tasche gegriffen und zwei große Apfelsinen herausgeholt und sie mir geschenkt und ganz ernsthaft eine Rede dazu gehalten, und die Andern haben sehr gelacht. Ich war aber plötzlich so verschämt, das; ich mich mit Gewalt losgemacht hab’ und hinausgelaufen bin, und draußen die Küchenmägd’ haben mich erst recht ausgelacht. Nun, wenn Sie es auch vergessen haben, ein Mädchen vergißt’s nicht so leicht, wenn es sich einmal geschämt hat, und darum hab’ ich Sie gleich wieder erkannt, als ich Sie vorhin hier sitzen sah.“

Ihm war die Geschichte gänzlich entfallen.

„Schau,“ sagte er, „so bin ich ja bei alten Bekannten, ohne es zu wissen. Aber was so ein kleiner Kopf Alles behält, und ich dachte, er beherberge so wenig einen Gedanken lange Zeit, wie der Mäusethurm einen Gast.“

„Ja wohl,“ versetzte sie rasch, „es giebt aber auch Stammgäste, die immer wieder einkehren.“

„Und so einer wäre ich gewesen?“

Sie bedachte plötzlich, was für ein verfänglicher Sinn aus ihren Worten herauszuhören sei, und wurde dunkelroth. Um sich’s nicht merken zu lassen, bückte sie sich ein wenig, als bemerke sie jetzt erst den schönen Ring an seinem Finger.

„Tausend,“ sagte sie, „das ist einmal ein Staatsring! So einen hab’ ich meiner Lebtag nicht gesehen.“

„Möchtst Du ihn haben, Traud?“

„Ich? Ja das wär’ auch ein Ring für mich, damit in’s Spülfaß zu greifen oder den Besen anzufassen. Nein, so einer – und sie zeigte ein kindisches dünnes Reifchen mit drei kleinen Granatsplittern, das sie an der Linken trug der ist für ein Bauernkind. Der Ihrige gehört für ein vornehmes Fräulein, das am Wochentag in Seide geht.“

Corneliens seidnes Kleid fiel ihm ein und die ganze bange Stunde, in der er es hatte knistern und rauschen hören, während er in wechselnden Gefühlen den Ring hin und her gedreht hatte.

Er schien ihm plötzlich am Finger zu brennen. Hastig zog er ihn ab und hielt ihn dem Mädchen hin. „Nimm Du ihn,“ sagte er, „mir hat er kein Glück gebracht. Ich mag ihn nimmer.“

Sie lachte hell auf. „Sie wollen mich zum Besten haben,“ sagte sie. „Aber ich bin kein so dummes Schulkind mehr, und ein Ring ist keine Apfelsine.“

„Du behältst ihn nun einmal,“ rief er, sich ereifernd, und faßte ihre beiden Hände. „Ich möchte doch wissen, wer mich hindern wollte, Dir so viel Ringe zu schenken, wie ich will, und so viel seidne Kleider, als mir einfiele, und wenn sich alle vornehmen Mädchen in der Stadt darüber ärgerten, desto besser!

Halt’ Dein Fingerchen her, daß ich ihn Dir anprobire! Willst Du wohl stillhalten?“

„Lassen Sie mich gehen,“ flüsterte sie und versuchte lebhaft ihre Hände aus den seinen loszumachen. „Ich will ihn nicht, ich darf ihn nicht nehmen. Was würden die Leut’ denken?“

„Was sie wollen; daß ich Dich gern hab’, daß Du mir lieber bist, als manches hochmüthige Fräulein, und ich wollt’, es sähe eine Gewisse zu, wie ich Dir jetzt diesen Ring anstecke, und dächte sich dabei noch viel mehr, als wir Beide, und wenn es sie nachträglich doch verdrösse, um so besser! Komm’, sei vernünftig. Da an den Goldfinger!“

„Ich will nicht!“

„Du mußt!“

„Meine ganz gehorsamste Gratulation, Jungfer Traud!“ erscholl plötzlich hinter ihnen eine behagliche Summe. „Schau, schau, ist das Vögelchen endlich doch in die Sprenkel gegangen! Nu, nu, es kommt für Jedes einmal seine Zeit. Aber hier scheint’s schnell gegangen zu sein. Oder wär’s schon eine alte Liebschaft, und man hätte nur mit dem Herrn Onkel so lange Versteckens gespielt? Ei, ei, Jüngferchen, das sind mir schöne Geschichten!“

Mit diesen Worten zupfte der eben Eingetretene das über und über erglühende Mädchen am Ohrzipfel und gab ihm dann mit dem Rücken der Hand einen sanften Schlag auf die Wange. Aber im Nu machte sich die Traud sowohl von ihm wie von dem verdutzten Gabriel los, warf den Ring hastig auf den Tisch und stand in hellem Zorn, mit den Thränen kämpfend, zwischen den beiden Männern.

„’s ist nicht wahr!“ rief sie mit halberstickter Stimme, „und ich will ihn nicht und ich hab’ ihn nicht gewollt, und das ist schändlich von Ihnen, Herr Rentmeister, daß Sie aus einem dummen Spaß Ernst machen und so Reden führen, daß man sich in den Erdboden hineinschämen möchte, und nun sagen Sie’s nur dem Herrn, daß ich zu gut dafür bin, so Gespött und Kurzweil mit mir treiben zu lassen, und daß er sich Andere suchen mag, ihnen seine Ringe und seidene Kleider anzubieten, und wenn ich mit ihm gespaßt hab’, weil ich ihn für einen rechtschaffenen Herrn gehalten habe, nun thut mir’s von Herzen leid, denn ich sehe wohl, er ist nicht besser, als Alle. Gute Nacht!“

Sie war mit einem Sprunge hinaus, ehe noch Einer der Beiden ein Wort erwidern konnte.

[308] „Purrrrr! –“ machte der neuhinzugekommene Gast, ein solider Fünfziger mit kleinen goldnen Ringen in den Ohren, einem vergnügten glattrasirten Gesicht, aus dem ein paar kleine vergißmeinnichtblaue Augen unter röthlichen Wimpern hervorblinzelten, und einem Anzug, der vor zehn Jahren die neueste Mode gewesen war, nämlich enganschließenden Nankinghosen und einem blauen Frack mit goldenen Knöpfen. Er stellte seinen hohen grauen Filzhut auf einen Stuhl und fing an mit einem Taschenkämmchen seine etwas schiefgerückte blonde Perrücke zu frisiren. Dabei beobachtete er den jungen Fremdling scharf von der Seite, offenbar im Zweifel, was er aus ihm machen solle.

„Denken Sie nichts Unrechtes, Herr,“ sagte Gabriel nach einer Pause. „Das wunderliche Kind hat einen sehr harmlosen Scherz mißverstanden und mir nun selbst durch ihr Davonlaufen die Erklärung abgeschnitten.“

„Hm, hm!“ brummte der Andere, und seine Mienen wurden wieder ganz menschenfreundlich, „mir wär’ auch gar nicht bange, daß Einer den Scherz mit der Traud zu weit treiben könnte. Die hat Haare auf den Zähnen und weiß sich zu wehren. Und doch wünscht’ ich ihr, daß einmal der Rechte käme, dem es Ernst mit ihr wäre. Ja, ja, so ein Mädel! Der bravste Mann könnte Gott danken, wenn er sie kriegte. Hm, hm! Eine Prise gefällig?“

Gabriel nahm Anstandshalber ein paar Körnchen des grauen Schneebergers aus der silbernen Dose und rückte, die Höflichkeit zu erwidern, einen Stuhl für den Stammgast zurecht. „Sie sind ihr Onkel, wenn ich recht verstanden?“ fragte er.

„Nicht doch,“ erwiderte der Andere. „Ich wollt’ ich wär’s, dann nähm’ ich sie heute noch hier aus dem Mäusethurm weg und in meine Junggesellenwirthschaft, und wenn ich stürbe, wäre sie meine Erbin. Es ist nur so ein Spaß zwischen uns, daß ich mich ihren Onkel nenne, wissen Sie. Vorm Jahr um diese Zeit – nu, Sie werden keinen Gebrauch davon machen – da hab’ ich alter Narr mir wahrhaftig noch eingebildet, sie sollte mich mit einem ganz anderen Namen nennen. Sie war gescheiter als ich und hat mich ausgelacht, und da hab’ ich ein paar Tage gebrummt und bin weggeblieben. Aber hernach hab’ ich mich besonnen, daß das noch närrischer sei, mit ihr trutzen zu wollen, und hab’s auch nicht recht aushalten können zu Hause, und wie ich wiedergekommen bin, hab’ ich ihr gesagt: ,Darum keine Feindschaft, Traud; zehn Jahre hast Du Zeit, Dich anders zu besinnen, so lange bleibe ich Dir aufgehoben, Du brauchst nur zuzugreifen; aber drüber hinaus steh’ ich für nichts, und so lange will ich Dein Onkel sein, und versprich mir nur, daß Du mir’s zuerst klagen willst, wenn Du etwa einen Kummer hast? Nun, daran fehlt’s keinem Mutterkind, und so hatt’ ich bald genug was zu trösten; denn Sie müssen wissen – es bleibt aber unter uns – schon vor zwei Jahren, als sie noch sechzehnjährig war, hatte sie sich mit einem jungen Landwirth aus ihrem Dorf so gut wie versprochen, und nun heirathete der plötzlich eine reiche Bauerntochter, und auf den Brief, den sie ihm bei dem ersten Gerücht davon schrieb, hat er nicht einmal geantwortet. Seitdem ist sie nimmer die Alte, und obwohl es ihr hier an nichts fehlt – denn ihre Pathe hält die größten Stücke auf sie, und Jeder, der sie kennt, und ich selbst muß sagen, da ich nun seit fünf Jahren hier aus und ein gehe, es ist kein ungutes Fädchen an dem ganzen Mädchen – aber so recht von Herzen froh ist sie nicht mehr geworden. Hm, ja, wissen Sie!“

Er trank tiefsinnig das erste Glas von dem Schoppen, den ihm der Wirth, ohne zu fragen, gebracht hatte. Dann seufzte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn und unter sein Toupet, als würde es ihm zu warm darunter.

„Sie ist noch so jung,“ sagte Gabriel, den die zutrauliche Redseligkeit seines neuen Bekannten wohlthätig von seinem eigenen Sinnen ablöste. „Sie wird sich mit der Zeit trösten und nicht als eine Klosterfrau sterben.“

„Gewiß nicht, Herr,“ sagte der ,Onkel’. „Ich hab’ sie einmal darüber befragt. ,Wenn ein braver Mensch kommt’, hat sie gesagt, ,der mir nicht zuwider ist und sein Auskommen hat, warum sollt’ ich ihn nicht nehmen? So lieb wie den Lorenz kann ich freilich nie wieder einen Menschen haben. Aber was hat mir meine große Liebe geholfen? Unglücklich hat sie mich gemacht, und ich seh’ wohl, es ist nicht gescheit, einen Menschen so heftig zu lieben, daß man meint, ohne ihn müsse man das Leben hassen. Wenn er uns im Stich läßt, so sitzen wir recht erbärmlich da und haben das Nachsehen. Nein, sagte sie, ,ich will ihm den Gefallen nicht thun, um seinethalb mein bischen Leben zu vertrauern!’ – Sehen Sie, so sind unsere Mädchen hier am Rhein. Es geht ihnen wohl auch Alles nah, wie Anderen; aber wenn’s eben nicht sein kann, so kann’s eben nicht sein, und wer nicht alle Neun schiebt, kann immer noch einen Kranz werfen, wissen Sie. Darum ist mir auch für Traud gar nicht bange, desto mehr für mich und uns Alle, die wir uns nun seit Jahren an das liebe Gesicht gewöhnt haben. Hm, ja! ’s ist ein Kreuz.“

„Was meinen Sie damit?“

„Je nun, sie will mit Gewalt aus dem Haus, nicht etwa nach ihrem Dorf zurück, nur so zum Besuch; denn ihre Mutter hat noch sechs jüngere Kinder und ist eine Wittfrau und froh, die Traud hier bei der Pathe so gut aufgehoben zu wissen. Weiß Gott, wer dem eigenwilligen Ding in den Kopf gesetzt hat, sie müsse endlich auch einmal etwas Anderes sehen und thun, als was in einem Weinhaus zu erleben ist, und nun hat sie einen Dienst angenommen als Hausmädchen bei reichen Leuten. Sie wird sich wundern, wie ihr das vorkommen wird nach dem ungebundenen Leben hier, wo Alles sich um sie gedreht hat. Indessen, es muß eben Jeder durch Schaden klug werden. Aber was fang’ ich an, als Onkel ohne Nichte? Alle Gemüthlichkeit ist weg aus dem Mäusethurm, und was hilft nur die gute Küche der Frau Wirthin, wenn die Traud nicht mehr, Wohl bekomm’s!’ dazu sagt?“

Der Arme stützte dabei den Kopf so heftig in die Hand, daß das Toupet noch einen Zollbreit von der Stirn zurück rutschte, und schloß eine Weite die Augen, als könne er der öden, unheimlichen Zukunft nicht in’s Gesicht sehen. Gabriel fühlte ein lebhaftes Mitleiden.

„Wenn es nicht unbescheiden ist, zu fragen,“ sagte er: „warum haben Sie, mit Ihrem Bedürfniß nach Häuslichkeit und Menschen, für die Sie sorgen könnten, nicht geheirathet, Herr Rentmeister? Und da Sie noch in den besten Jahren sind, warum thun Sie es nicht noch jetzt, lieber heut’ als morgen?“

Der Gefragte öffnete schwermüthig die Augen und sagte: „Lieber Herr, warum ist der Mensch ein Thor, eh’ er zur Vernunft kommt? Sehen Sie, ich dachte, wie so Viele denken: die Beste wäre gerade gut genug für mich, und das ist der pure Unsinn. Die Erste Beste, wenn sie nur nicht übel ist, wird endlich die Allerbeste, wenn sie einem gut ist und man sich zwanzig Jährchen an sie gewöhnt hat. Ich hab’ mir Wunder was eingebildet, so lang’ ich ein junger Sausewind war, wie Sie – nichts für ungut! – und Die war mir nicht schön genug, und Jene nicht gebildet, und eine Dritte zu fromm, und Nummer Vier zu weltlich, und so fort. Und jetzt, wo das Spiel quarte-sept steht und, wenn ich nicht endlich zugreife, ich mit leeren Händen stehen bleiben werde bis an den jüngsten Tag, jetzt mein’ ich wieder, accurat wie die Traud müsse das Weib aussehen, mit dem ich glücklich werden sollte. Ein alter Esel bin ich, das weiß ich wohl – ganz unter uns gesagt –; denn was hilft mir mein bequemes Häuschen und Hab’ und Gut und Alles? Wenn Andere sich des Abends an einen Tisch setzen, wo so ein halb Dutzend Rangen herumsitzen und eine liebe Frau, bleibt mir nichts übrig, als in ein Weinhaus zu schleichen und mit anderen mißvergnügten alten Knaben ein einfältiges Spiel zu machen um ein paar Batzen. Und komm’ ich dann nach Haus, – statt im Dunkeln ein paar schlafende Kinderköpfe zu streicheln und noch ein paar Worte mit meinem Weibe zu wechseln über Dies und Das, hör’ ich nur meinen Kater schnurren auf seinem Stuhl am Ofen, und wenn ich die Nacht wegsterbe, – meine alte Köchin oder der Stiefelputzer fragen vor Allem danach, ob ich ihnen ein Legat ausgesetzt habe, und hier im Mäusethurm trinkt keiner den nächsten Abend einen Schoppen weniger, außer ich selber. Ja, ja, das ist das goldene Junggesellenleben, von dem die Ehemänner sprechen oder die jungen Herren, die’s nicht probirt haben. Zugreifen, so lang’ es noch Zeit ist, und nicht in der Suppe herumlöffeln, bis sie einem kalt geworden ist, das ist die wahre Weisheit, wissen Sie. Aber um Vergebung, daß ich Sie mit solchen Reden gelangweilt habe. Man ruft da drinnen nach mir. Es scheint, es fehlt ein vierter Mann. Hat mich sehr gefreut, Ihre werthe Bekanntschaft – und was ich geschwatzt habe, bleibt unter uns nicht wahr? Hm, ja, – guten Abend!“

[309] Damit stand der Biedermann auf und überließ Gabriel seinen Gedanken.

Oder was man so Gedanken nennt, zwischen dem vierten und fünften Glase, mit dem man sich Groll und Gram von der Seele zu waschen sucht, ohne zu merken, daß sie, anstatt heller, nur trüber davon wird. Der Winkel, wo der Einsame saß, war auch gar zu freudlos, der Geraniumtopf roch so süßlich und altjüngferlich, wie der Potpourri, den seine alte Tante auf ihrem Porcellanschrank stehen hatte, der Mond sah immer kälter und zudringlicher durch’s Fenster auf den weißen Tisch, und nebenan das biedere Gurgeln, Räuspern und Auftrumpfen der alten Herren, ihre stehenden hundertjährigen Spielwitze – Alles beklemmte ihm den Athem, daß er immer hastiger trank, immer wilder sich durch das Haar fuhr und endlich aufsprang, um in der Nachtkühle draußen ein paar freiere Athemzüge zu thun.

(Fortsetzung folgt.)




Skizzen aus dem Zollparlament.
1. Das Local und die Plätze der verschiedenen Parteien.

Bekanntlich ist der Reichstag des Norddeutschen Bundes vorläufig beim preußischen Herrenhause untergebracht, in dessen Saal die Sitzplätze mit knapper Noth bis auf zweihundertsiebenundneunzig vermehrt sind. Das Zollparlament darin zu versammeln, war unmöglich; man hat also hierzu das am Dönhofsplatze, einem der größeren freien Plätze Berlins, gelegene Abgeordnetenhaus bestimmt und deshalb in diesem wiederum einige Aenderungen vornehmen müssen.[1]

Das Sitzungsgebäude des Zollparlaments.

Das Sitzungsgebäude des Zollparlaments unterscheidet sich äußerlich kaum von den größeren herrschaftlichen Häusern des vorigen Jahrhunderts. Es ist drei Stock hoch, vorausgesetzt, daß die acht und einen halben Fuß hohen Zimmer, welche über dem Erdgeschoß liegen, für ein Stockwerk gelten können. Tritt man durch den Thorweg ein, so hat man vor sich den innern Hof, hinter dem der Saalbau liegt, zu welchem eine breite Treppe und dreifache Thüren führen. Neben dieser Treppe ist rechts ein tief liegender Eingang, der durch einen langen Gang zu den öffentlichen Tribünen des Saales führt. Vom Vorderhause kann man aber auch durch die Seitengebäude rechts und links zum Saale gelangen. Rechts vom Hausflur hat man die Stube des Portiers und einige jetzt wenig benutzte Räume, welche mit der Restauration zusammenhängen. Gleich vorn bei der Portierstube liegt die Treppe, die das Publicum in die Kanzlei führt, welche in dem erwähnten niedrigen Stockwerk schlecht genug untergebracht ist. Im dritten Stock sind Abtheilungs- und Commissionszimmer, im vierten Stockwerk wohnt der Bureaudirector. Links vom Hausflur befindet sich zunächst straßenwärts das Postbureau und hofwärts das Telegraphenamt. Daneben sind zwei große Zimmer, in denen die Journalisten ihre Sitzungsberichte auszuarbeiten pflegen. Eins davon ist sehr wenig hell und dient obenein als Durchgang zu dem linken Seitenflügel. Zu diesem kann man auch aus dem Nachbarhause, in welchem

  1. Als Bauplätze für die Herstellung eines eigenen Gebäudes für den norddeutschen Reichstag sind bis jetzt in Erwägung gezogen: der Königsplatz rechts vor dem Brandenburger Thor, das Akademiegebäude unter den Linden, die Artilleriecaserne an der Spree, die jetzt leerstehende Franz-Grenadier-Caserne in der Commandantenstraße und die Grundstücke der Porcellanfabrik und des Herrenhauses in der Leipziger Straße.

[310] das geheime Civilcabinet des Königs ist, gelangen. Es ist dort eine besondere Hausthür gebrochen, durch welche die Minister und jetzt die Bundesräthe vorzugsweise ihren Weg nehmen, denn deren Räume liegen auf der linken Seite des Gebäudes. Dort haben sie auch im Seitenflügel ihren großen Conferenzsaal, der ursprünglich dem stenographischen Bureau diente. Nachdem im vorigen Jahre die Stenographen zwei Arbeitszimmer hinter dem Hauptsaale erhalten hatten, wurde dieser Saal zur Zeitungshalle eingerichtet. Des Zollparlaments wegen ist diese jetzt in den Neubau hinter der Restauration mit der Aussicht auf den alten Festungsgraben und den Spielplatz der Gewerbeschule verlegt. Es war das unvermeidlich, weil sonst kein für die achtundfünfzig Bundesräthe ausreichender Raum nahe dem Parlamentssaale und der Kanzlei vorhanden ist, zu welcher hier ein zweiter Aufgang, eine eiserne Wendeltreppe, führt. Ueber diesem großen Conferenzsaale liegen noch zwei Abtheilungszimmer und der Gang zur Hof- und zur Diplomatenloge. Auch dorthin gelangt man mittels der Wendeltreppe.

Da wir nicht zum Bundesrathe gehören, so gehen wir über den Hof, die breite Treppe hinauf, durch eine der drei Thüren, durch ein kleines Vorhaus und kommen so in einen Flur, der nach rechts und links führt. Dem Eingang gegenüber ist eine eiserne Thür, durch die man zu den übrigen reservirten Tribünen oder Logen gelangt. Rechts führt der Gang zur Restauration, links zum Sitzungssaale, auch zu den Räumen der Bundescommissarien und endlich zu einer dritten Treppe, welche den Haupteingang zur Bibliothek und den einzigen Eingang zu derselben für Alle bildet, die nicht direct aus dem Sitzungssaale zu ihr hinaufgehen. Der linke Theil dieses Flurs, der in seiner Länge quer vor dem größten Theile des Hintergebäudes liegt und fast den ganzen Verkehr zwischen den verschiedenen Räumen vermittelt, dient zugleich als Garderoberaum.

Der Parlamentssaal ist im Innern, also ohne die Tribünen, die nirgend über die untere Umfassungswand hineinragen, vierundvierzig Fuß breit und doppelt so lang. Er ist hoch und hell; sein Tageslicht empfängt er von den Tribünen an der Nord- und Ostseite und vom Dache. Als er im vorigen Jahre um zwanzig Fuß verlängert wurde, hat man ihn ohne Luxus, aber in würdigem Stile ausgestattet, die Farben sind sehr gut gewählt und bei Gasbeleuchtung gewährt er sogar einen glänzenden Anblick. Früher war er wegen schlechter Heizung und Lüftung verrufen. Diese Uebel wurden im vorigen Jahre auch beseitigt. Die Einrichtungen, welche die Herren Elsner und Stumpf zu diesem Zwecke angebracht, haben sich, sobald die Bedienungsmannschaft damit umzugehen wußte, im Ganzen vortrefflich bewährt. In einer Höhe von ungefähr neun Fuß vom Boden liegt ein durchbrochener Fries, aus welchem gewärmte und kalte Luft einströmen kann. Außerdem sind in den vier Ecken des Saales Heizungsröhren angebracht, durch deren Verkleidung diese Ecken abgestumpft sind.

Der Präsident hat seinen Platz nicht, wie im englischen Unterhause, an der dem Haupteingange gegenübergelegenen schmalen Wand und die Mitglieder sitzen nicht blos längs den beiden Langwänden, rechts und links, sondern er hat seinen Hochsitz in der Mitte einer Langwand und die Versammlung theils zu beiden Seiten, theils auch vor sich. An der andern Langwand, dem Präsidialbureau gegenüber, sitzen die Bundesräthe hinter einem langen, nur auf der rechten Seite einmal durch einen Gang unterbrochenen Tische. Im preußischen Abgeordnetenhause haben die Minister nur das mittlere Stück inne, und unmittelbar daneben befinden sich rechts und links für die Abgeordneten drei Bänke, die der Wand entlang stehen. Diese Bänke haben jetzt vor den zahlreichen Bundesräthen weichen müssen. Es sind dadurch für die Abgeordneten einundzwanzig Plätze auf jeder Seite des Ministertisches, also im Ganzen zweiundvierzig Plätze, verloren gegangen. Die Hälfte rechts gehörte den Freiconservativen, die Hälfte links den Nationalliberalen. Außer den Plätzen auf dem Präsidialbureau hat das Abgeordnetenhaus vierhundertachtunddreißig Sitzplätze, für das Zollparlament sind also dreihundertsechsundneunzig Plätze vorhanden, vierzehn über den Bedarf. Für diese Plätze dienen einfache Bänke mit Sitzen aus Stuhlrohr und gepolsterten, roth überzogenen Rücklehnen. Wenn das Haus sich leert, so wird das durch diese scharfhervorleuchtenden Polster sofort bemerklich. Die Bänke, welche rechts und links von dem langen Hauptgange stehen, haben sechs Plätze, die übrigen, welche mit dem einen Ende die Wand berühren, fünf. In der Mitte des Saales vor den Bänken stehen zwanzig Stühle, je einer rechts und links an der Rednerbühne, je sechs weiter rechts und links und sechs im eigentlichen Centrum. Von diesen Stühlen sind die letzteren sechs am gesuchtesten, weil sich zwischen je zweien ein Tischchen befindet. Vor den Plätzen in den Bänken hängen Brettchen, die sich aufklappen lassen und dann einen Tisch ersetzen sollen. Für die Zuhörer in der Kirche würden dieselben gerade groß genug sein, um das Gesangbuch darauf zu legen. Im Herrenhause sind die Sitze etwas besser eingerichtet.

Im Allgemeinen ist überall die englische Sitte nachgeahmt, daß die Freunde des Ministeriums rechts und die Gegner links vom Präsidenten Platz nehmen, aber nicht immer ist sie anwendbar. In den Jahren 1862 bis 1866, als drei Fünftel aller preußischen Abgeordneten zur entschiedenen Opposition und kaum ein Fünftel zur ministeriellen Partei gehörten, fand blos die Fraction der deutschen Fortschrittspartei auf der linken Seite Raum; die Fraction des linken Centrums, die sich von ihr nicht im Programm, nur in der Taktik einigermaßen unterscheiden wollte, mußte mit der kleinen ministeriellen Partei und mit den Altliberalen, die eigentlich in’s Centrum gehörten, sich auf der rechten Seite niederlassen. Die Plätze im Centrum waren damals von der Fraction der specifischen Katholiken belegt. Diese Fraction besteht im Abgeordnetenhause nicht mehr, sie wurde seit 1861 bei jeder Neuwahl kleiner, und jetzt sind im Abgeordnetenhanse kaum noch Zehn, die zu ihr gehört haben oder die, wenn sie noch bestände, sich ihr anschließen würden. Sie haben ihren Platz im Centrum behauptet. Die übrigen Plätze sind dort von den Altliberalen nun nach und nach eingenommen worden. Im großen Ganzen finden die Parteien des Abgeordnetenhauses sich im Zollparlament wieder und auch, so weit die veränderte Einrichtung es gestattet, auf denselben Plätzen

Rechts dem Stenographenraum gegenüber gehören die vier ersten Bänke noch immer der Fraction des linken Centrums, die sich jetzt auch wohl „freie Vereinigung“ nennt. Weiter nach dem wirklichen Centrum und im Centrum haben die Altliberalen, die sich „rechtes Centrum“ nennen, belegt. Also sitzt das linke Centrum weit mehr nach rechts als das rechte Centrum. Außer den beiden letzten Reihen gehören die übrigen Plätze auf der rechten Seite den beiden conservativen Fractionen, der „Fraction der Conservativen“ und der „conservativen freien Vereinigung“ (was in „freiconservativ“ zusammengezogen ist). Auf der linken Seite gehört die Stuhlreihe dem Stenographentisch gegenüber während des Zollparlaments den specifischen Hannoveranern; die beiden ersten Bänke dahinter gehören eigentlich den Polen. Diese wollen aber am Zollparlament wenig Theil nehmen und haben alle Plätze bis auf drei preisgegeben. Drei Plätze behalten sie für den „Beobachtungsposten“, den sie ausstellen. Durch diesen werden sie benachrichtigt, wenn eine Frage zur Entscheidung kommen sollte, welche polnische Interessen berührt, denn dann eilen sie herbei. Weiter nach dem Centrum, jenseits des langen Ganges, der durch den ganzen Saal führt, sind die fünf unteren geraden Bänke und ein Theil der sechsten Bank von der deutschen Fortschrittspartei besetzt. Das Stückchen Centrum, das vor diesen Bänken ist, und fast alle übrigen Bänke auf der linken Seite sind für die Nationalliberalen, deren Zahl im Zollparlament ungefähr Hundert beträgt, in Beschlag genommen.

Die Abgeordneten, die sich keiner Fraction anschließen, die sogenannten „Wilden“, pflegen entweder im Centrum oder auf der äußersten Rechten oder Linken, nahe der Langwand einen Platz zu belegen.

Diese letzteren Plätze sind in der Woche vor der Parlamentseröffnung durch Süddeutsche belegt worden, auf der äußersten Rechten durch die Würtemberger und die specifischen Baiern; die Letzteren haben außerdem die letzten Bänke hinter den Conservativen genommen; auf der äußersten Linken tragen die ersten Bänke die in diesem Saale neue Bezeichnung „Volkspartei“, die hintern Bänke sind den nationalliberalen Vertretern Badens zugefallen. Hätte Rothschild den Platz, den er zuerst gewählt hatte, behalten, so hätte er die nächste Berührung mit der Volkspartei gehabt. Nachdem er aber gesehen, welche Nachbarn er bekäme, ist er in’s Centrum zu den Altliberalen ausgewandert. Im Allgemeinen sind die Süddeutschen bei [311] der Raumvertheilung schlecht weggekommen. Die Ursache liegt darin, daß sie mit geringen Ausnahmen sich nicht von vornherein einer Reichstagsfraction anschließen mochten und also zur rechten Zeit Niemanden hatten, der für sie sorgen konnte. Die Fractionen des linken und rechten Centrums und der Fortschrittspartei haben genau die Stelle inne an der sie sich im Abgeordnetenhause befinden, so daß diejenigen ihrer Mitglieder, welche sowohl zum Abgeordnetenhause wie zum Zollparlament gehören, auf ihren gewohnten Plätzen sitzen.

Neben dem Präsidenten links ist ein Stuhl frei, welchen der Berichterstatter über die zur Verhandlung stehende Vorlage einnehmen kann. Rechts und links vom Präsidenten und vom Berichterstatter, aber etwas niedriger, sitzen je zwei Schriftführer, hinter diesen stehen vier Saaldiener (Huissiers), wenn sie nicht anderweitig beschäftigt sind. Der dem Präsidenten nächste Schriftführer rechts führt das Sitzungsprotokoll, der auf der andern Seite die Rednerliste. Zu ihrer Unterstützung hat Jeder den Schriftführer zur Seite, welcher in der vorigen Sitzung den Dienst gehabt hat. Unmittelbar vor dem Präsidenten steht die Rednertribüne, die aber in diesem Saal selten bestiegen wird. Die meisten Abgeordneten haben, auch nachdem die beiden „Berge“ am Ministertisch dem Bundesrathe überlassen sind, Plätze, von denen aus sich wohl sprechen läßt. Aber es gehört, von welcher Seite auch Jemand spreche, immer eine gute Stimme dazu, um im ganzen Saale verstanden zu werden. Unmittelbar vor der Rednerbühne ist der Raum, wo an einem Stehpult die Stenographen arbeiten. Der Ober-Stenograph, der nur mitschreibt, wenn die Stenographen wechseln oder in einer Rede schwierigere Stellen, z. B. längere Citate in fremden Sprachen, vorkommen, ist fortwährend anwesend. Die übrigen Stenographen lösen je zwei alle zehn Minuten einander ab, so daß jeder in einer Stunde zehn Minuten im Saale arbeitet und dann fünfzig Minuten Zeit hat, um die Reinschrift zu dictiren.

Für die Abgeordneten stehen drei Schreibtische in den Ecken und ein vierter Schreibtisch links vom Haupteingange des Saales. Rechts vom Eingänge steht ein Schrank mit der Gesetzsammlung für den Handgebrauch im Saal. Hoch über dem Eingang ist die Saaluhr. Die eigentliche Bibliothek liegt in zwei Sälen über den Ministerzimmern. Der nördliche Saal enthält die Parlamentsverhandlungen aller europäischen Länder; im südlichen Saale befinden sich die übrigen Bücher, meistens staatswissenschaftlichen Inhalts.

Um den Saal herum liegen zur ebenen Erde folgende Räume: vorn der Flur und Garderoberaum; rechts die Restauration, die mit Ausnahme des Cabinets für den Präsidenten und eines Schreibzimmers für die Schriftführer die ganze Langseite und noch ein Zimmer am vorderen Hofe einnimmt. Zum Lesezimmer gelangt man jetzt durch die Restauration. In der Restauration ist nichts wohlfeil, aber Alles gut; sie soll auf gewisse Abgeordnete eine merkliche Anziehungskraft üben, und im Publicum ist man so weit gegangen, die beiden conservativen Fractionen nach dem derzeitigen Wirthe, Herrn Müller, mit dem Collectivnamen „Fraction Müller“ zu belegen. Auf der entgegengesetzten Langseite gehören die Nebenräume des Saales dem Bundesrathe. In einem Vorzimmer wird für sie ein besonderer Telegraph bedient. Von hier tritt man in ein Sprechzimmer, dahinter liegt ein Conferenzzimmer, in welchem das preußische Staatsministerium während des Landtags zuweilen Sitzung hält. An dieses schließt sich ein Raum mit Bequemlichkeitsanstalten. Auf derselben Seite liegt noch ein kleiner Flur, durch welchen man vom Saale aus in das Schreibzimmer der Stenographen, mittels der Treppen abwärts in den hintern Hof und aufwärts in die Bibliothek gelangt. Der Haupteingang zur Bibliothek liegt, wie schon bemerkt ist, vorn bei dem Eingange zu den Ministerzimmern. An der schmalen Seite hinter dem Saale liegen zwei Zimmer; in dem einen, das mit dem Schreibzimmer der Stenographen zusammenhängt, können die Abgeordneten die Reinschrift ihrer Reden durchsehen; das andere ist das Abtheilungszimmer Nummer 13 (früher 3) und dient während der Plenarsitzung der rechten Seite als Rauchzimmer.

Ueber den Nebenräumen des Saales befinden sich die Tribünen. Blos an der Seite, wo der Bundesrath sitzt, sind keine Tribünen; dort ist der Raum, der dazu dienen könnte, zur Bibliothek benutzt. Auf den andern Seiten sind die Tribünen folgendermaßen vertheilt: 1. Links, a. zunächst der Bibliothek die Hofloge, b. über dem Haupteingange die Diplomatenloge, c. Loge (genannt Tribüne D) zur Verfügung des Bundesraths. 2. An der Langseite: a. Loge der Ministerialräthe, b. Tribüne C zur Verfügung der Abgeordneten, c. hinter dem Präsidium die jetzt sehr bedeutend erweiterte Tribüne der Zeitungscorrespondenten, d. die kleine öffentliche Tribüne B. 3. Rechts, die große öffentliche Tribüne A. Was diese öffentlichen Tribünen betrifft, so ist zu bemerken, daß auch sie nur gegen Karten zugänglich sind, von denen ungefähr ein Drittel verschiedenen Behörden zur Verfügung steht, ein Drittel unter die Abgeordneten der Reihe nach vertheilt und ein Drittel von der Kanzlei an die darum Nachsuchenden ausgegeben wird. Man thut wohl, sich in der Kanzlei schon am Tage vor der Sitzung, der man beiwohnen will, bis Abends fünf Uhr schriftlich um eine Tribünenkarte zu melden. Am Sitzungstage selbst ist es selten möglich, eine Karte zu bekommen. Im innern Flur am Haupteingange zum Sitzungssaale steht täglich angeschrieben, welche Abgeordneten zur nächsten Sitzung eine Karte zu vergeben haben. Wenn ein Abgeordneter auch keine Tribünenkarte zur Verfügung hat, so kann er einen Fremden doch auf die Tribüne C führen, so weit der Raum dort langt. Bei wichtigen Sitzungen ist aber gerade diese Loge der Abgeordneten am frühesten besetzt und zwar von dem schönen Geschlecht, dessen Wißbegier in Berlin nicht geringer ist als anderswo.




Aus der Zeit der schweren Noth.

Der letzte Rest vom zweiten Regiment.
Von A. Trabert.

Im Hafen von Plymouth war es an einem der ersten Februartage des Jahres 1814 ungewöhnlich lebendig. Officiere der königlichen Seeschule, von angesehenen Kaufherren begleitet, eilten nach dem Ausgange des Hafens. Die Straßenjugend folgte ihnen mit dem lustigen Rufe: „Hurrah, die Nassauer!“ und von den Arbeitern der großen Schiffswerfte warfen nicht wenige den Hammer, die Axt, ja selbst das Schurzfell von sich, um sich neugierig anzuschließen. Auch wir folgen dem bunten Menschenschwarm und sehen auf der Rhede ein Häuflein Soldaten aufgestellt, das sich eben bereit macht zur Einschiffung.

Deutsche Landsleute waren es, das „zweite nassauische Infanterieregiment“, dessen bevorstehender Abzug das Interesse der schaulustigen Menge in so hohem Grade geweckt hatte. Wie aber kamen diese Tapferen hierher nach England? Welches Schicksal hatte sie dahin verschlagen? Und welcher neuen Bestimmung gedachten sie eben jetzt fröhlich entgegen zu gehen?

Am 20. August 1808, vor ungefähr fünf und einem halben Jahre also, hatten sie, dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorchend, die schöne deutsche Heimath, die gesegneten Ufer des Rheins und der Lahn, verlassen müssen, um unter dem Commando des ebenso tapfern wie umsichtigen Obersten von Kruse -– als Hülfsvölker Frankreichs den schweren Krieg in Spanien mitzumachen. Sie waren es, die sich dort aus dem Munde des französischen Generals Desolles im Kampfe mit den Spaniern und Engländern den Ehrennamen verdient hatten: „La citadelle mobile!“

Doch nein! Nur noch die Reste der citadelle mobile! standen eben jetzt auf der Rhede von Plymouth; denn als das zweite nassauische Infanterieregiment den Marsch nach Spanien antrat, war es sechszehnhundertneunundachtzig Mann stark; es hatte wiederholt Nachschub aus der Heimath erhalten und zählte jetzt trotz alledem kaum noch mehr als sechshundertundfünfzig. Dreiundvierzig Officiere hatte das Regiment beim Ausmarsche gehabt; hier in dem gastlichen Hafen Englands standen jetzt nur noch zweiundzwanzig, und unter diesen mehrere, die ihre Epauletten sich erst in Spanien verdient hatten. Der Spielleute waren es beim Aufbruche aus den sonnigen Thälern von Wiesbaden und Biebrich [312] neunundzwanzig gewesen; auf der Rhede von Plymouth zählte man ihrer jetzt nur noch neun! Wo waren die Anderen? Gefallen in hundert und aber hundert Gefechten und Schlachten; gestorben in den Lazarethen; ermordet von den empörten spanischen Bauern. Und wir, die deutschen Landsleute der Gemordeten, können den Mördern nicht einmal recht zürnen darum. Vertheidigte das empörte Volk doch nur seine Nationalität, seine Freiheit, sein Vaterland. Wir können höchstens dem Schicksale grollen, das unsere Söhne in den blutigen Dienst des corsischen Eroberers dahingab und unsere verblendeten, des eigenen Vaterlandes vergessenen Fürsten eine Ehre darin erkennen ließ, das Blut der Völker zu verspritzen für ihn, zur Unterjochung Europas.

Fünf Jahre und zwei Monate hatte der Dienst in Spanien gedauert; die pyrenäische Halbinsel war wiederholt erobert und verloren worden, da war endlich die Nachricht von der großen Völkerschlacht bei Leipzig bis hin an das biscayische Meer gedrungen. Auch der Oberst von Kruse hatte heimliche Kunde davon, aber er hatte von seinem Herzog auch gleich den bedenklichen Befehl erhalten, sobald ihm in einem gleichgültigen Geschäftsbriefe ein gewisses ganz unschuldig klingendes Stichwort werde gegeben werden, ohne Verzug überzugehen zu den Engländern. Das Stichwort kam und trotz aller Aufmerksamkeit der Franzosen, welche nun schon Verdacht geschöpft hatten, war es dem Obersten am Abende des 10. December 1813 denn auch gelungen, dem Befehle zu entsprechen. Der Uebergang erfolgte in der Nähe von Bayonne, unmittelbar nach einem allgemeinen Angriff auf die Armee der Engländer und ihrer Verbündeten. Alles Gepäck freilich, die Kriegscasse und einhundertfünfundfünfzig von seinen Leuten, darunter sechs Officiere, hatte der Oberst im französischen Lager zurücklassen müssen. Auf englischen Schiffen war er dann mit seinem Regimente – mit den tapferen Resten dieses Regiments – nach Plymonth gekommen und dort durch das Gouvernement und den Prinzen von Oranien bestimmt worden, sich und die Seinen bis auf Weiteres in Holland verwenden zu lassen, anderweiter Befehle seines Kriegsherrn gewärtig.

Kein Wunder, wenn nach einer solchen Vergangenheit unsere Sechshundertundfünfzig in dem Augenblicke, in welchem sie sich anschickten, aufs’s Neue die Schiffe zu besteigen, nicht sehr parademäßig aussahen. Die Farbe ihrer Uniformen war in den ununterbrochenen Bivouacs schon in Spanien sehr zweifelhaft geworden. Englische Säbelhiebe hatten die rothen Fangschnüre der stämmigen Carabiniers arg zerfetzt. Von den grünen Federbüschen der Voltigeurs waren – Dank den spanischen Kugeln, die allmählich bestens zu treffen gelernt hatten – nur noch dürftige Spuren zu entdecken, und die schwarzen Büsche der Centrecompagnien sahen nicht besser aus. Aber alles das verunstaltete nicht, denn die ganze Erscheinung der kleinen Truppe zeigte bei alledem noch das unverkennbare Gepräge jenes kriegerischen Muthes, der als eine der höchsten Tugenden des Mannes gilt. Aus den hageren, wettergebräunten Gesichtern sprachen eiserne Festigkeit und unverdrossene Todesverachtung, und mehr als bunter Uniformsflitter zierten die Narben, diese beredten Offenbarungen der zahllosen Kämpfe, in welchen diese Männer ihr Leben eingesetzt hatten – leider nur zum Ruhme des neuen Cäsar Augustus, nur im Interesse des großen Zwingherrn, der so lange für unbesiegbar galt.

Die Flotte, welche unsere Nassauer, die ungünstige Winde vier Wochen lang im Hafen von Plymouth zurückgehalten hatten, durch den Canal und die Straße von Dover nach der Küste von Holland bringen sollte, bestand aus sechs oder sieben kleinen Transportschiffen. Am 4. Februar 1814 ankerte dieselbe „in den Dünen bei Deal“. Am folgenden Tage, als der günstige Wind ständig zu werden versprach, ging sie nach Holland in Segel. Aber trotz aller guten Vorbedeutungen, – schon dieser erste Tag brachte schweres Ungemach. Ganz unerwartet erhob sich ein Sturm mit starkem Schneegestöber. Der helle Februartag wurde plötzlich in dunkle Nacht verwandelt. Es wurde den einzelnen Schiffen unter diesen Umständen sehr bald unmöglich, gleichen Cours zu halten; auch waren sie gar bald nicht mehr im Stande, einander zu sehen. Die Folge davon war, daß sie sich sehr schnell nach verschiedenen Richtungen hin verloren. Vier von ihnen kehrten deshalb am späten Abende zurück auf den Ankerplatz, den sie früh Morgens verlassen hatten. Das eine dieser in die Dünen zurückgekehrten Schiffe war das Schiff des Hauptmanns Müller. Die Truppencommandanten der drei anderen Schiffe waren der Oberstlieutenant Gödecke und die Hauptleute Berninger und Büsgen.

Am Morgen des 7. Februar tobte noch immer der Sturm. Aengstlicher noch als zuvor fragten sich jetzt die in die Dünen Zurückgekehrten: Was wird aus unseren Cameraden geworden sein? Die hochgehenden Wogen des Meeres aber gaben keine Antwort. Gegen zehn Uhr Morgens hatte sich der Sturm gelegt. Man wartete trotzdem noch einige Stunden auf die Verschlagenen. Keine Spur von ihnen war zu entdecken. Endlich im Laufe des Nachmittags beschloß der Bevollmächtigte der englischen Staatsregierung, welcher sich auf dem Schiffe des Hauptmanns Büsgen befand, mit dem Reste seiner Flotte auf’s Neue unter Segel zu gehen. Es wurde das Signal gegeben zum Lichten der Anker. Die Fahrt ging indeß nur bis um die Mittagszeit des folgenden Tags gut von Statten. Der Sturm hatte sich um diese Zeit von Neuem erhoben, Land aber war noch nicht zu entdecken. Der englische Bevollmächtigte vermuthete trotzdem dessen Nähe. Er fürchtete, an die Küste getrieben zu werden, und ließ darum mittels eines Kanonenschusses die übrigen Schiffe zunächst avertiren, dann gab er das Signal zum Umwenden in die hohe See. Das Signal wurde aber nur auf dem Schiffe des Oberstlieutenants Gödecke bemerkt und darum auch nur von diesem einen Fahrzeuge befolgt. So zerstreute sich nun auch der Rest der Flotte, der bis dahin zusammengehalten hatte: Gödecke und Büsgen gingen mit ihren Leuten wieder seewärts; die Schiffe aber, auf denen sich Berninger und Müller befanden, setzten, vom Sturme getrieben, den Cours nach der holländischen Küste fort. Wir verlassen sie einstweilen, um zunächst den beiden anderen zu folgen.

Auch diese beiden Schiffe, dieselben also, auf welchen sich der Bevollmächtigte Englands und die Truppencommandanten Gödecke und Büsgen befanden, nahmen am Morgen des folgenden Tags – am 9. Februar – wieder die Richtung nach Holland. Sie segelten auf der hohen See abermals landwärts und entdeckten jetzt auch gar bald die ersehnte Küste. Eine holländische Fischerbarke gewahrend, die nach England bestimmt war, zwangen sie den Patron derselben, sich trotz all’ seinen Protesten auf das Schiff des Hauptmanns Büsgen zu begeben, um da als Lootse zu dienen. Gezwungener Dienst ist aber in der Regel nur schlechter Dienst, und unsere beiden Schiffe sollten das nur zu bald zu ihrem Schaden gewahr werden. Auf der Höhe der Insel Goree gerieth das Fahrzeug Büsgen’s plötzlich auf Grund. Dabei wurde die Brandung, die ringsumher tobte, immer heftiger und schleuderte das Schiff wiederholt mit gewaltiger Wucht immer weiter hinein in die Sandbank. Das Gebälke des Schiffes krachte. Das Steuerruder wurde aus den Angeln gerissen; durch ein großes Leck brauste alsbald die salzige Fluth herein. Man verlor indeß auf dem Schiffe glücklicher Weise den Kopf nicht. Der Capitän gab die geeigneten Befehle und alle Hände gingen rasch an die Ausführung. So gelang es denn auch, das Schiff wieder flott zu machen.

Dem Fahrzeuge des Oberstlieutenants Gödecke, welches sich ganz in der Nähe gehalten hatte, war es leider nicht viel besser ergangen. Auch dies Schifflein wurde wie eine leichte Nußschale von der Brandung erfaßt und wiederholt auf die Sandbank gestoßen. Natürlich wurde es hierdurch ebenfalls leck, doch gelang es auch ihm, sich wieder flott zu machen. Während dann die Mannschaften beider Schiffe ununterbrochen an den Pumpen arbeiteten, ging man abermals zurück in die hohe See, um kreuzend den nächsten Tag zu erwarten. Der Morgen kam, aber er brachte so undurchdringlichen Nebel, daß es unmöglich war, einen neuen Versuch zum Landen zu machen. Auch die hohe See halten zu wollen, wäre bei der schweren Haverei der Schiffe und bei der ununterbrochenen Fortdauer des Sturmes nicht minder bedenklich gewesen, und so erfolgte denn jetzt ein neuer Befehl des englischen Bevollmächtigten, der den Schiffen abermals den Cours nach rückwärts gab. Sie segelten jetzt nach der Küste Englands und waren auch bald so glücklich, Harwich zu erreichen, wo die Schäden ausgebessert werden konnten. Erst gegen Ende des Monats März war das Schiff des Hauptmanns Büsgen im Stande, auf’s Neue in See zu gehen. Auch war es dann so glücklich, seine Mannschaft nach kurzer Fahrt auf der Rhede von Helvoetfluys wieder an’s Land zu setzen. Schon einige Wochen früher war ebendaselbst Oberstlieutenant Gödecke gelandet, dessen Schiff weniger schwer beschädigt gewesen war und darum auch schneller wieder seetüchtig hatte gemacht werden können.

[313] War nach alledem die Fahrt dieser beiden Schiffe keine sehr erfreuliche gewesen, so war sie doch im Vergleich mit den Schicksalen der beiden anderen, die wir seit dem späten Nachmittage des 8. Februar aus den Augen gelassen haben, eine beneidenswerth glückliche.

Wir berichteten schon[1]: jene beiden anderen Schiffe – die der Hauptleute Berninger und Müller – hatten an jenem stürmischen Abende, theils wegen zu großer Entfernung, theils wegen des allzu lauten Getöses der wild erregten Wogen, die ihnen schon viel zu schaffen machten, den Kanonenschuß, den der englische Regierungsbevollmächtigte hatte abfeuern lassen, völlig überhört und dann auch das Signal nicht bemerken können, welches auch für sie eine Aufforderung sein sollte zur Rückkehr in die hohe See. Sie ließen sich vom Sturme weiter treiben, und dabei wurde es dunkler und immer dunkler. Doch allmählich schien sich die Wuth der empörten Elemente besänftigen zu wollen. Der Wind zerrte zwar noch immer ziemlich heftig an den Segeln und die Wellen gingen noch drohend hoch, der Capitän aber, dem das Schiff des Hauptmanns Müller anvertraut war, hielt trotzdem alles Ungemach für überstanden. Er überließ die Leitung des Schiffs dem Steuermann, und als die Nacht nur noch tiefer und der Wind, der in die Segel blies, noch ein wenig ruhiger geworden war, hielt es auch der Steuermann für gerathen, dem Beispiele seines Vorgesetzten unbekümmert zu folgen. Die Leitung des Schiffes lag jetzt nur noch in den Händen der Matrosen und in der tückischen Laune des Sturms, der sich gar bald auf’s Neue erheben sollte.

Noch bis zwei Uhr Morgens tanzte das Schifflein lustig auf der schäumenden Fluth. Die gewaltigen Wogen des ewigen Meeres schienen nur noch ihr leichtes Spiel mit ihm zu treiben. Es lag so still und sorglos auf den Wogen, wie ein träumendes Kind in der Wiege, ohne zu fühlen, wie es schaukelnd gehoben und gesenkt wurde. Da mit einem Male krachte das Schiff in allen seinen Fugen. Die Schläfer springen aus ihren Lagerstätten, aber ehe sie noch recht zur Besinnung kommen, folgt schon wieder Stoß auf Stoß, einer immer heftiger als der andere. Das Schiff ist, ohne daß irgend wer weiß, wo es sich befindet, aufgefahren auf der Haaksbank, und schon hört man auch jetzt das Wasser rauschen, das durch ein gewaltiges Leck hereinzuströmen begonnen hatte.

Die Matrosen, die Officiere und Soldaten eilen bestürzt auf Deck. Wer beim Schlafengehen die Kleider abgelegt hatte, nimmt sich nicht einmal Zeit, sich erst wieder anzukleiden. Niemand hatte noch eine rechte Vorstellung von der Gefahr, in welcher jetzt das Schifflein schwebte, Aller aber hatte sich doch urplötzlich ein Gefühl bemächtigt, als sei das letzte Stündlein bereits sehr nahe gekommen.

Der Mond ging auf und beleuchtete rings umher die wild brandende Fluth. Das Meer bot nur noch einen grausigen Anblick des Verderbens dar. In einiger Entfernung sah man jetzt auch wieder das andere Schiff, das des Hauptmanns Berninger. Das Takelwerk war nur noch eine verwirrte Masse. Die Segel flatterten wie zerrissen um die Mastbäume. Dennoch verlangten die Truppen des Hauptmanns Müller ohne Verzug hinübergebracht zu werden auf das andere Schiff. Ein zweiter Blick aber auf dieses genügte schon, um Allen die Gewißheit zu geben, daß auch dort Tod und Verderben kaum noch vermeidlich seien.

Man ließ jetzt auf dem Schiffe des Hauptmann Müller die Pumpen arbeiten, man warf alles entbehrliche Geräthe über Bord, doch die Lage wurde trotzdem nicht besser. Man berathschlagte, aber leider ziemlich chaotisch, was zur Rettung der Mannschaft vielleicht noch zu thun sei; man machte Plan auf Plan, schließlich wurde indessen wieder Alles verworfen. Jeder Windstoß brachte ohnehin immer neue Arbeit, und über diesen kleineren Aufgaben, die sich in immer veränderter Gestalt herandrängten, vergaß man die Lösung der großen: zu retten, was noch zu retten sei.

Die Stunden dieser schauerlichen Nacht verstrichen qualvoll, peinlich. Sie schienen nur noch dem Tode langsam näher zu rücken. Endlich wurde es Tag, der erste nach dem schweren Aufstoßen des Schiffes auf die Sandbank, und man lugte wieder hinüber nach dem Schiffe des Hauptmanns Berninger. Aber man sah dort nur noch zerbrochene Balken als eine wirre Trümmermasse auf den Wogen treiben. Hie und da zeigte die tückische Welle wohl auch dem suchenden Auge die Leiche eines Cameraden, mit der sie Fangeball spielte, um sie dann hohnlachend mit hinabzunehmen in die endlose Tiefe, den „Hyänen des Meeres[WS 1]“ zur leckeren Beute.

Als es noch heller geworden war, zeigte sich jetzt aber doch auch ein freundlicher Hoffnungsblick. Man sah in nicht allzu weiter Ferne die Mastspitzen einer zahlreichen Flotte und konnte wieder an die Möglichkeit der Rettung glauben.

Der Capitän, hierdurch ermuthigt, entschloß sich zu einem letzten Versuch, das Schiff wieder flott zu machen. Er befahl, den Hintermast zu kappen, der bald krachend über Bord stürzte. Allein bei dieser und anderen Vorkehrungen war es leider nicht einem von den Seeleuten in den Sinn gekommen, die Segel einreffen zu lassen, wie es der fortdauernde Sturm unerläßlich gemacht hätte. Der Wind, der sich jetzt wieder stärker erhob, erfaßte das Schifflein, um es wie einen Keil stoßweise immer tiefer in die Sandbank zu treiben. Wieder krachte das Fahrzeug in allen seinen Fugen, aber trotzdem hielt es zusammen.

Das Leck war dabei immer weiter geworden. Alle inneren Räume des Schiffes füllten sich über und über mit Wasser, und trotz der tröstenden Nähe der Flotte, die man gesehen hatte, wuchs jetzt wieder die Todesgefahr mit jeder Minute.

Der Capitän ließ ein Fäßchen Rum herbeischaffen. Die Matrosen und wer sonst noch Lust hatte, sollten sich wohl Muth zum Sterben trinken. Hauptmann Müller und seine Officiere aber befürchteten hiervon nur größere Unordnungen, und obgleich sie jetzt kaum noch recht an die Möglichkeit der Rettung zu glauben wagten, so ließen sie das Fäßchen doch zum großen Verdruß des Capitäns durch ihre Soldaten zerschlagen. Einer der Matrosen war dabei so glücklich, sich ein gutes Theilchen des zischend emporsprudelnden Rums in der Mütze aufzufangen. „Meerweibchen, Prost!“ rief er mit lautem Lachen und schlürfte den Trank bis zum letzten Tropfen. Singend und tanzend lief er dann auf der schmalen Galerie hin, die das Verdeck umgab. Als er ungefähr zehn Schritte weit gekommen war, glitt er aus, taumelte und stürzte. Er verschwand im Meere, aber Niemand dachte daran, den unglücklichen Frevler zu retten, denn schon wieder hatte ein gewaltiger Windstoß das Schifflein erfaßt, um es wo möglich noch tiefer in die Sandbank hinein zu keilen.

„Der Matrose wird der Quartiermacher sein sollen, der uns anmeldet bei den vorausgegangenen Cameraden,“ sagte der Hauptmann Müller zu dem graubärtigen Feldwebel, der in seiner Nähe stand. Der Alte nickte. Beide blickten dann schweigend nach der Gegend hin, wo man am Morgen die Spitzen der Mastbäume gesehen hatte.

Der Capitän hatte, als sich der Himmel wieder dichter mit Wolken verhüllte, auf die Fluth vertröstet, die das schon sehr arg zugerichtete Schifflein doch wohl wieder heben werde. Die Fluth kam, und es wurde jetzt noch einmal mir allen Pumpen riesig gearbeitet. Bald aber überzeugte man sich, daß das eindringende Wasser nicht mehr zu bewältigen sei. Hätte das Schiff nicht wie mit Felsen eingemauert fest in der Sandbank gesessen, so wäre es ohne Zweifel schon jetzt gesunken. Unter diesen Umständen konnte es natürlicher Weise auch durch die Fluth nicht mehr gehoben werden. Mit dem stärkeren Anschwellen der Wogen aber wurde die Lage der Gestrandeten nur immer entsetzlicher. Haushoch kamen die aufgewühlten Wassermassen heran, um über das Verdeck hinzustürzen und um das Verderben der Unglücklichen zu beschleunigen.

Auch über den graubärtigen Feldwebel, dessen zu gedenken wir schon Gelegenheit hatten, war eben die Fluth hingegangen.

Mühsam hatte er ihr Stand gehalten, indem er sich fest an der Galerie hielt. Er schüttelte sich dann wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt, und sagte mürrisch zu dem Sergeanten, der an seiner Seite stand: „Hole der Teufel die Wetter! Lieber doch gleich noch einmal mutterseelenallein unter allen Kartätschen, Granaten und Gewehrkugeln der verdammten Spanier bis zur Brücke von Almaraz reeognosciren gehen, als sich hier so wegfegen lassen zu müssen, ohne sich auch nur wehren zu können.“

„Oder mit dem Regimente Holland noch einmal Mesa de Ibor stürmen,“ entgegnete ihm Andreas Kranz aus Geisenheim, „auch wenn uns jetzt gleich zwanzigtausend Spanier gegenüber ständen, anstatt der nur siebentausend von anno Neun.“

Und wieder brauste jetzt eine gewaltige Woge daher, den Einen mit sich fort in’s Meer reißend, den Andern wider die [314] Küche schleudernd, so daß auch diese schon drohte, krachend zusammenzubrechen.

Oberlieutenant Keim machte in diesem Augenblick den Vorschlag, auf den Vordermast zu klettern, um vom Verdeck nicht fortgespült zu werden. Hauptmann Müller aber schüttelte mit dem Kopfe. „Wozu sich da droben noch lange abquälen?“ meinte er; „unser Stündlein hat geschlagen, und ich verspüre schlechte Lust, jetzt noch mit Minuten zu geizen.“

Lieutenant Meder, der das schweigend mit angehört, drehte sich noch einmal um, mit finsteren Blicken über das Meer hin schweifend. Seine Gesichtszüge waren in diesem Augenblicke fest wie Stahl. Rasch wendete er sich dann wieder zu seinem Vorgesetzten. „Sie haben Recht, Hauptmann,“ sagte er dann, indem er militärisch grüßte. „Adieu, Cameraden, ich gehe in den ewigen Schlaf.“ Und festen Schrittes ging er hinab in die Cajüte, in die das Wasser schon eingedrungen war.

Ein stämmiger Carabinier hatte ihn mit den Blicken verfolgt, bis er verschwunden war. Die starren Gesichtszüge des Carabiniers wurden dann plötzlich lebendig, als ringe sich aus der Seele ein großer Entschluß los. Dort, einige Schritte von dem Carabinier, hielt sich ein Voltigeur krampfhaft an der Galerie fest, das Gesicht unverwandt dem Meere zugekehrt. Mühsam ging der Carabinier hinüber zu dem Cameraden. Sie waren die Söhne zweier Schwestern, aus einem und demselben Dorfe gebürtig. Kein Wunder, wenn sie das ganz besonders aneinander fesselte. Aber sie hatten auch eine gemeinsame Erinnerung, welche sich in diesem Augenblicke noch mehr geltend machte, als die Bande des Blutes. Der Carabinier klopfte dem Voltigeur leise auf die Schulter. „Weißt Du, Franz,“ sagte er dann, „was ich möchte?“

Der Voltigeur nickte.

„Ja,“ fuhr der Carabinier fort, und in seiner Aufregung achtete er nicht darauf, daß die Umstehenden es hörten, „es geht mir heute wieder wie in der unglücklichen Schlacht von Vitoria. Ich kann den Blick des Alten von Arenas auch heute nicht los werden. Mir ist, als wenn wir eben jetzt in den Keller drängen, als wenn wir eben jetzt im hellen Schein der Lampe anstatt des Weines, den wir suchten, das verdammte Gold blinken sähen, das der Alte vergraben wollte. Siehst Du? Da steht er jetzt wieder leibhaftig vor mir. Er hebt drohend seine Hacke, aber seine Kniee, seine Arme, seine knochigen Hände zittern. Wir stoßen ihm doch, Du und ich, in einem und demselben Augenblick, als wenn wir commandir würden, die Bajonnete in die nackte Brust. O, ich seh’ ihn noch zuckend zusammenstürzen und sterben.“

Der Voltigeur schwieg eine Weile. „Bah,“ sagte er dann, „auf das Geld hatten wir ein Recht, denn General Leval hatte wegen des grausamen Hinschlachtens der westphälischen Chevauxlegers das Plündern und Verbrennen der mörderischen Stadt befohlen. Und was den Alten betrifft, weshalb drohte er uns? Auch war’s immerhin noch besser für ihn, er starb durch unsere Bajonnete, als wenn er sich in der brennenden Stadt elend zu Tode hätte rösten lassen, wie so mancher von unseren betrunkenen Cameraden.“ „Ob wir nun recht oder unrecht gethan,“ entgegnete der Carabinier, „ich will jedenfalls nicht mit dem Golde hier in der Fluth begraben werden.“ Und damit schleuderte der Carabinier die Beute von Arenas, die er noch immer bei sich trug, weithin in’s brausende Meer. Der Voltigeur lachte. Aber das Gold seines Cameraden war kaum in der Tiefe verschwunden, da wühlte auch er in den Taschen und ließ darauf gleichfalls eine Handvoll Goldes langsam in’s Meer rollen. In demselben Augenblicke ging eine Woge hoch über die Küche hin. Sie riß einen Theil des Daches ab und schleuderte ihn gegen den Voltigeur und den Carabinier. Beide taumelten, stürzten und verschwanden wie ihr Gold in der Tiefe.

Lieutenant Keim wiederholte jetzt seinen Rath, auf den Vordermast zu klettern, und führte den Vorschlag seinerseits auch sogleich aus. Lieutenant Wernecke, Dümmler und Andere folgten ihm. Die Einen kauerten dicht aufeinander im Mastkorbe, die Anderen, die noch ein Plätzchen fanden, klammerten sich an der Leiter fest. Und wieder brauste jetzt eine Woge, stärker als je zuvor, über das Schiff hin. Sie zertrümmert, was noch von der Küche steht, und zerdrückt einen großen Theil der Galerie. Aber was das Entsetzlichste war: sie reißt auf einmal fünfzig Menschen mit fort, die sich an der Galerie festgehalten hatten. Fünfzig auf einmal verschwunden in der Tiefe!

Hauptmann Müller und Lieutenant Groß blieben trotzdem noch immer auf dem Verdeck. Sich gegenseitig umschlingend, hielten auch sie sich an einem Theil der Galerie fest, den die Wogen noch nicht zertrümmert hatten und der stark genug zu sein schien, ihnen noch länger zu trotzen. Von Nässe und Kälte erstarrt, wurden sie wiederholt rücklings auf das Verdeck geschlendert. Nur mühsam rafften sie sich wieder auf. Jetzt kommt in der That auch ihre Stunde. Abermals naht ein gewaltiger Wogenschwall und reißt den Hauptmann hinab in’s Meer. Die am Maste sehen es mit an, und trotz all’ der Schrecken, die sie nun schon erlebt hatten, erfaßt sie ein neues Grausen. „Ich muß meinen Hauptmann retten,“ schreit der Sergeant Philipp Dietz und eilt die Mastleiter hinab auf’s Verdeck. Auf dem Hintertheile des Schiffes befindet sich noch ein kleines Boot. Dietz versucht, es zu lösen, um es dann in’s Meer hinabzulassen. Da wird auch er hinabgespült von der Fluth. Mit demselben Ruf: „Ich muß ihn retten!“ war aber noch ein Zweiter, der Bediente des Hauptmanns, Wilhelm Schwarz aus Hasselbach, von der Mastleiter hinabgesprungen, um sich sofort in’s Meer zu stürzen. Rettung zu bringen, vermochte aber der Eine so wenig wie der Andere. Die Fluth begrub sie gleichzeitig alle Drei.

In anderer Weise als Hauptmann Müller sollte Lieutenant Groß sein Ende finden. Dieselbe Woge, welche den Anderen mit fort in’s Meer gerissen, halte ihn seitwärts zwischen Trümmer und Balken geschlendert, die ihn, vom Wasser heftig hin und her gestoßen, langsam zermalmten. Die Leute in dem Mastkorbe sahen ihn zucken und sterben.

So war denn das allgemeine Elend immer größer und größer geworden. Auch die auf dem Mäste litten entsetzlich. Zitternd und bebend vor Frost, auch dort oben immer auf’s Neue von der Fluth durchnäßt und vom eisigen Winde unablässig durchweht, fingen sie gar bald an, die Todten sogar zu beneiden. Lieutenant Krift, der sich seither schwebend in den Tauen festgehalten und nun fühlte, daß seine Kraft erlahme, sprang hinab auf’s Verdeck und dann mit dem Rufe: „Lebt wohl, Cameraden!“ in’s Meer. Andere folgten unwillkürlich, indem sie langsam erstarrten und dann bewußtlos hinabkollerten. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch den Lieutenant Gödecke. Er hatte sich auf eine Walze gelegt, die am Maste befestigt war und zum Auf- und Abwinden der Anker diente. Auch er war dort erstarrt und so von den Wogen widerstandslos fortgespült worden. Andere verwickelten sich, indem sie von den Wellen mit fortgerissen wurden, mit den Füßen in den Tauen und wurden so vom Sturme hin und her geschleudert, bis ihre Glieder an den Balken des Schiffes zerschellten. Auch der Capitän und der Steuermann starben, aber Niemand weiß, wie sie zu Grunde gegangen.

Als der Tag endlich zu sinken begann und das Meer wieder einmal etwas ruhiger geworden war, erscholl plötzlich der Ruf: „Ein Boot! Ein Boot!“ In der That, ein Boot kam heran und zwar mit vollen Segeln. Es kam von der Flotte her, deren Maste unsere Schiffbrüchigen schon am Morgen in der Ferne gesehen hatten. Das Boot kam bis auf Sprechweite heran. Es erfolgte dann in französischer Sprache die Anfrage, woher das gestrandete Schiff komme und was es an Bord führe. „Es kommt aus England,“ war die Antwort, „und führt deutsche Truppen an Bord.“ Und wieder rief man jetzt aus dem Boot: A revoir jusqu'à demain.“ (Auf Wiedersehen bis morgen.) Dann wandte es sich und segelte zurück zur Flotte. Wie sich nachher herausstellte, war diese Flotte, von der das Boot als ein trügerischer Bringer der Rettung hergesandt worden war, die französische, die nicht sehr fern von der Unglücksstätte, unter dem Oberbefehl des Viceadmirals Grafen Verhuel im Helder lag.

Als das Boot verschwunden war, kam allmählich d!e Nacht, auch diese über alle Beschreibung schrecklich. Sie schien an Dauer der Ewigkeit zu gleichen, einer Ewigkeit, deren furchtbares Einerlei mitunter nur dadurch unterbrochen wurde, daß ein langsam Erstarrter schweigend von der Mastleiter hinab auf’s Verdeck und dann in’s Meer stürzte. Doch endlich ward es auch wieder Morgen, zum zweiten Male nach dem Schiffbruch. Die Wogen des Meeres gingen nicht mehr über das Schiff hin. Man verließ den Mast und ging wieder hinunter auf das Verdeck. Zu den alten Qualen aber gesellten sich hier die Schmerzen des Hungers. Es wurde deshalb mit eisernen Haken in dem inneren Schiffsraum nach Lebensmitteln gesucht. Zum Glück gelang es, ein Fäßchen mit Mehl heraufzufischen und gleich nachher noch ein zweites mit süßem [315] Wasser. Das Mehl wurde nun in einem Trinkblech mit Wasser angerührt und so genossen. Nachher wurden abwechselnd auf der Spitze des Mastes Signale gegeben, um zu zeigen, daß noch Leben an Bord sei. Als aber die ersehnte Hülfe trotzdem ausblieb, kamen die Matrosen und Soldaten, die noch übrig geblieben waren, auf den Gedanken, die ringsumher zerstreuten Trümmer und Balken zu einem Flosse zusammen zu fügen, um auf diesem mit der nächsten Fluth Rettung zu suchen.

Aber die Fluth kam rascher, als man gedacht, und das Verdeck mußte wieder, ehe das Floß auch nur zu Hälfte fertig war, geräumt werden. Um die Noth der Schiffbrüchigen noch zu vermehren, schwammen jetzt auch starke Eismassen heran und drohten das Schiff völlig zu zertrümmern. Es wurde dabei wiederum Nacht und noch immer keine Hülfe. Die Schiffswände krachten unter den Stößen der Eisblöcke wieder ganz entsetzlich, aber sie hielten trotz alledem auch jetzt noch zusammen. Endlich begann es wieder zu tagen der dritte Morgen seit dem Schiffbruch. Dort in der Ferne zeigte sich auf’s Neue der wohlbekannte Mastenwald, allein kein rettendes Boot kam erlösend näher.

Mit eintretender Ebbe wurde dann wieder am Floßbau gearbeitet, rastlos, aber erfolglos. Den Hungerigen und Ermatteten versagte die Kraft und die Arbeit mußte eingestellt werden. Kaum daß man noch im Stande war, von der Spitze des Mastes herab nach wie vor Signale zu geben – Signale, an deren Erfolg schon Niemand mehr zu glauben wagte. Zum Sterben bereit, setzten sich die Einen wieder in den Mastkorb, die Anderen suchten sich sonstwo ein Plätzchen, ohne jetzt noch lange zu wählen. Was that’s auch, ob man von hier oder von dort aus in den ewigen Schlaf ging? Jetzt endlich, als schon Alle verzweifelten, am Nachmittage des dritten Tages nach dem Schiffbruch, erscholl plötzlich auf’s Neue der Ruf: „Ein Boot! Ein Boot! Alles wurde wieder lebendig, hinstarrend und die Arme ausstreckend nach diesem neuen Zeichen der nahenden Rettung. Und hinter dem einen Boote sah man bald noch andere. Sie steuerten alle heran auf das Schiff. Auch sollten diese neuen Zeichen der endlichen Hülfe nicht mehr trügen. Wackere Bewohner der Insel Texel waren es, die heran kamen, um den Gestrandeten ihren Beistand zu bringen. Den Rettern wurden Seile zugeworfen und ihre Boote legten an. Zwei dieser Fahrzeuge genügten, um die ganze noch übrige Mannschaft aufzunehmen. Es waren ihrer noch neunundzwanzig Soldaten, darunter die Officiere Wernecke, Keim und Dümmler, und außer diesen noch elf Matrosen. Aber sie sahen Alle mehr dem Tode als dem Leben ähnlich.

Die Boote segelten mit ihren Geretteten an der französischen Flotte vorbei und landeten in einer Bucht, nahe dem Dorfe Horn. Mühsam, aber mitleidig unterstützt von kräftigen Armen, schleppten sie sich in die Wohnungen ihrer menschenfreundlichen Retter. Einen derselben, den wackeren Lootsen Clas Dalen, nennt die Quelle, der wir zum Theil unsern Bericht entlehnen, mit Namen. Drei Tage blieben die Geretteten unter sorgsamer Pflege in Horn. Sie hatten hier bereits Zeit, ihre Todten zu zählen. Von den Nassauern allein hatten nicht weniger als zweihundertunddreißig auf der Haaksbank ihr feuchtes Grab gefunden, unter diesen auch zwölf Officiere. Von Horn wurden die Geretteten nach Bergen gebracht, um hier unter ärztlicher Obsorge ihre volle Genesung zu erwarten. Nur noch Einem war es beschieden, sie nicht zu finden. Einem Corporale waren die erfrorenen Glieder brandig geworden; unter der ärztlichen Pflege zu Bergen ging er in Folge dessen heim zu seinen todten Cameraden. Der Rest unserer Helden aber, der die Katastrophe glücklich überstand, trat am 26. März 1814 zu Herzogenbusch wieder in’s Regiment ein. Ihre Stunde zu froher Heimkehr in den sonnigen Rheingau war leider noch immer nicht gekommen. Die Nachricht von dem großen Unglück auf der Haaksbank aber eilte ihnen um Jahre voraus, von Hütte zu Hütte, von Thal zu Thal, von Berg zu Berg. Noch jetzt geht die Sage davon düster und schwer durch das Land, und manch’ stilles Taunusbäuerlein wird gesprächig, wenn es aufgefordert wird, zu erzählen, was es davon erfahren hat. Ist doch vielleicht gar seiner eigenen Mutter Bruder dabei gewesen, als die Fünfzig auf einmal hinabgespült wurden in die See!






Eine Mitternachtsstunde unter Haberfeldtreibern.

„Halt! Werr-r–da!!“ rief uns eine Stimme mark- und beindurchschneidend entgegen, und ohne in der undurchdringlichen Finsterniß einer sternlosen, von dichten Isarnebeln umfangenen Novembernacht auch nur Contouren zu erkennen, hörte ich gleichzeitig das rasche Knacken eines Hahnes und fühlte das kalte Eisen eines Gewehrlaufes mir unsanft auf die Brust gedrückt. Ich war verwirrt. War es Wirklichkeit? War es eine Vision? Waren es die Geister des alten Bieres, das wir in trauter Gesellschaft im Bürgerbräu zu Tölz so reichlich genossen, daß wir erst in später Nachtstunde schwanken Schrittes den Weg nach L. angetreten haben? Tausend Gedanken schossen mir wirr und bunt durch den Kopf.

Erst die Frage: „Woas wöllt’s ös?“ weckte mich aus diesen Betrachtungen und führte mir scharf und klar die Gefährlichkeit meiner Lage vor Augen, doch gaben mir Ton und Anstrich von altbaierischer Gutmüthigkeit, mit dem diese Worte gesprochen wurden, wieder Hoffnung und Muth. Hatten es die kalten Herbstnebel bewirkt, war die Gewehrmündung auf meiner Brust die Ursache davon: gleichviel, die Befangenheit meiner Sinne war geschwunden; mit einer Bestimmtheit, mit einer Verstandesklarheit, als ob ich seit Wochen keinen Tropfen alten Bieres gesehen hätte, sagte ich, daß wir, mein College und ich, eben im Begriffe seien, in unsere Wohnung nach L. zurückzukehren. Ich hatte während dieser Rede den Gewehrlauf erfaßt und ihm eine andere weniger gefährlichere Richtung gegeben. „Koin Schritt vorwärts oder i schieß’!“ war die Antwort auf mein Beginnen.

Mein Freund, ein harmloser Schwabe, wollte einen Discurs anfangen und sich Aufklärung über das Warum und Weshalb unserer Lage verschaffen, aber kein Wort war herauszupressen aus den schweigenden Lippen unseres Gesellschafters, und so blieben wir eine Weile stehen. Ich hatte inzwischen denselben noch immer nicht erkannt; noch immer sah ich in der schwarzen Nacht nur eine noch schwärzere Masse vor uns stehen. Ein paar Mal war mir’s schon, als hörte ich ein fernes Geräusch; ich hielt es jedoch für das Rauschen der Isar. Jetzt konnte ich mich nicht mehr täuschen, es konnte kein Zweifel sein, man hörte durch die lautlose Stille der Nacht deutlich die Schritte eines großen Menschenhaufens, der sich uns nähern mußte, und ich war froh, nun bald aus der unerquicklichen Situation erlöst zu werden; nur wollte ich die Leute noch vollends herankommen lassen, bevor ich Lärm schlug.

Doch was ist das? Ein Blitz zu Ende November? Ein Knall, und die Erscheinung ist verschwunden. Es war eine Rakete, und wie mit einem Schlag änderte sich urplötzlich die Scene. Ein mächtiger Böllerschuß durchzittert die Luft und findet in den nahen Bergen ein tausendfaches Echo, massenhaftes Kleingewehrfeuer aus Büchsen, Flinten und Pistolen knattert. Trommeln schlagen betäubende Wirbel. Pfiffe aller Tonarten schwirren durch die Nacht; ein wildes Geschrei und Gejohle aus hundert rauhen Männerkehlen erfüllt die Lüfte. Grelle und unbeschreibbare Töne aus Ratschen, alten Röhren und Spectakelwerkzeugen jeder Art mischen sich mit dem eintönigen Geklapper der Windmühle darein. In kurzen Pausen vernimmt man stets wieder den gewaltigen Donner des Böllers, und das bunte Geknatter des Kleingewehrfeuers verstummt keinen Augenblick. Zahlreiche Raketen und Schwärmer beleuchten blitzartig die Scene und lassen in unserer nächsten Nähe eine Gruppe von etwa einhundertundfünfzig Gestalten erblicken. Mir war es nun klar geworden, um was es sich handelte, oder war dies nicht das Vorspiel zu einem Haberfeldtreiben?

Ueber zwei Jahre war ich bereits im bairischen Gebirge. Von Salzburg bis Lindau hatten sich meine Arbeiten ausgedehnt, und mein Beruf brachte es mit sich, daß ich meist auf Einödhöfen und kleineren Dörfern wohnen und das Gebirge nach allen Seiten durchstreifen mußte. Ich hatte das Leben in den Rockenstuben und auf der Alm, dort die hübschen Diandeln und hier die alten Jungfern kennen gelernt. Das ganze bairische Gebirg mit seinen Alpenrosen und seinem Edelweiß, seinen Dirnen und Burschen, seinen reißenden Flüssen und stillen Seen, weißen Firnen und Gletschern – nichts war mir entgangen. Ich hatte mich während eines großen Theils der Zeit am Gau der Haberer, d. i. zwischen Inn und Isar, zwischen Rosenheim und Tölz herumgetrieben.

[316] In wenigen Wochen waren meine Geschäfte beendigt, bereits hatte ich den Auftrag erhalten, mich hierauf an den wein- und sagenreichen Untermain zu begeben, und noch hatte ich keinem Haberfeldtreiben beigewohnt, noch kannte ich’s nur aus dem Hörensagen. Wohl wurden auch häufig Treiben für einen bestimmten Ort und Tag angesagt, ich blieb dann regelmäßig mit ebenfalls Neugierigen bis nach Mitternacht wach, um die Haberer abzuwarten. Aber wenn wir auch bis zum Morgen warteten, immer war es vergebens, denn wenn ich bei Rosenheim wachte, fand das Treiben bei Holzkirchen statt, und wenn es für Holzkirchen angesagt war, wurde es in Miesbach abgehalten.

Stets aber wurden außer Tag und Ort, wo das Treiben statt finden sollte, noch einige weitere Umstände auf geheimnißvolle Weise verbreitet, so daß Jedermann glauben mußte: aber heute findet es ganz gewiß statt. – Durch diese Taktik wurde ich sechs bis acht Mal dupirt; doch nicht ich allein, denn auch die Polizei verfolgte die Haberer mit einem ebenso großen Interesse wie ich und traf stets ausgedehnte Sicherheitsmaßregeln zum Empfang der nächtlichen Ruhestörer, die indeß regelmäßig vier bis sechs Stunden davon entfernt in aller Ruhe ihr Amt übten.

So hatte ich längst alle Hoffnung aufgegeben, und jetzt sollte ich durch einen reinen Zufall plötzlich Zeuge dieser mitternächtigen Behme werden. Ich war entschädigt für den gehabten Schrecken, entschädigt für den unfreiwilligen Aufenthalt in der naßkalten Herbstnacht, und erwartungsvoll gab ich mich meinem Schicksale hin.

Unweit von uns tauchen zahlreiche Lichtlein auf, die behend hin- und herspringen, und die beleuchteten Fenster, deren Zahl sich mit jedem Augenblick vergrößert, lassen uns erkennen, daß wir bereits in die unmittelbare Nähe von L. gekommen waren. Ein Rennen und Jagen in allen Häusern, der ganze Ort ist auf den Beinen. Zu dem Heidenspectakel, der in ungebrochener Stärke fortdauert, kommt jetzt noch das Brüllen des scheugewordenen Rindviehes, das aus den schlecht verschlossenen Ställen ausbricht und nun rasend herumirrt.

Inzwischen waren leichtgekleidete Gestalten vielleicht die Mehrzahl der Dorfbewohner, in hastiger Eile herangekommen und umstanden in weitem Kreis die Haberer. Der Lärm ließ nach und war bald ganz verschwunden. Da lodert plötzlich ein Fackelbüschel blutig roth auf und läßt ziemlich deutlich eine bis au die Zähne bewaffnete Männergruppe mit geschwärzten Gesichtern erkennen, während ein weiter Ring von bewaffneten Gestalten jene Gruppe einschließt.

Eine Stentorstimme läßt sich vernehmen: „Graf Pappenheim!“ (Damals Bezirksamtmann in Tölz.) „Hier!“ rief ein Anderer, und weiter „König Max!“ – „Hier!“ – „Abt Hanneberg!“ – „Hier!“ – „Prinz Carl!“ – „Hier!“ – „Andreas Hofer!“ – „Hier!“ – „Napoleon!“ – „Hier!“ – „Schinderhannes!“ – „Hier!“ und so ging’s fort, sämmtliche in jenen Kreisen bekannten Notabilitäten aller Zeiten und aller Länder wurden genannt. „Hierauf wurde dargethan, wie das durch Kaiser Karl errichtete Habergericht heute in L. seine Pflicht erfüllen muß; daß die am schwersten Angeklagten die Posthalterin zu L. und der Baron v. E. seien, denen nun das Haberfeld getrieben werden solle.

Die Posthalterin – das war allerorts bekannt – sah ihre Postknechte gern, und man sagte ihr nach, daß nur jene auf einen längeren Dienst rechnen konnten, welche ihr mit der nöthigen Galanterie entgegen kamen, während sie alle andern in den ersten Wochen schon davon jagte. Ihr wurde nun das Haberfeld getrieben. Aber in welcher Sprache geschah dieses? Es ist unmöglich, dem schrecklichen Cynismus, der hier gepredigt wurde, auch nur im Entferntesten zu folgen. Die Tinte würde erstarren, die Feder sich sträuben, das Papier erröthen. Dies war jedoch nur die Einleitung, ein anderes Bild, eine andere Tonart folgt. Als nach kurzer Pause dieselbe Stentorstimme wieder begann: „Auch dem Herrn Pfarrer T. müssen wir’s einreiben und ihm itzunder ’s Haberfeld treiben,“ dachte ich schon, daß nun abermals eine Beschreibung seiner Köchin vom Scheitel bis zur Zehe folgen werde. Doch dem war nicht so. Der Herr Pfarrer hatte eine ausgedehnte Oekonomie, und da im bairischen Hochgebirge überhaupt ein großer Mangel an Menschenkräften herrscht, so hatte er sich eine Häckselschneidemaschine angeschafft und schon seit zwei Jahren für actienweise Beschaffung einer Dreschmaschine agitirt; – er ging also darauf aus, den Leuten den Lohn abzustehlen, und deshalb ward ihm das Haberfeld getrieben!

Ein fremder Name, ein Bräuer, der „chemisches“, d. h. mit Narkotiken versetztes Bier braute, kam jetzt auf’s Tapet, und als ich einen Näherstehenden fragte, wo der wohne, hieß es: „der Kerl ist in die Stadt gezogen.“ Auch beim folgenden, einem Müller seines Zeichens, mußte ich mich erkundigen. „Der Lump ist gestorben,“ hieß es.

Nun kam der Gutsbesitzer Baron v. E. an die Reihe. Er hatte ein Gut, dessen Grundstücke in der ganzen Flur zerstreut lagen, arrondirt und zu dem Behufe einige Höfe, welche inmitten seiner Besitzung lagen, angekauft; das heißt in der Sprache der Bauern die Eigenthümer von Haus und Hof verjagen. Er hatte Maschinen eingeführt; hat er nicht dadurch den Menschen das Verdienst geraubt? Er hatte in Ermangelung einheimischer fremde, namentlich norddeutsche Arbeitskräfte herangezogen; hat er nicht dadurch die einheimischen brodlos gemacht? Er hat eine große Schneidemühle mit acht Gängen gebaut und dieselbe, damit sie auch bei dem niedrigsten Wasserstande betriebsfähig bleibt, mit einer Dampfmaschine in Verbindung gesetzt; hat er nicht dadurch die sämmtlichen Flößer und Sägemüller des Isarthales an den Bettelstab gebracht?

Man sieht also, der Baron halte genug verbrochen, damit sich die ganze Lauge des bäuerlichen Spottes über ihn ergieße, daß die ganze Wucht des Habergerichts ihn treffe. Wenn vorhin jedes Wort eine Unfläthigkeit, so bildete jetzt jeder Buchstabe eine Drohung, einen Dolch, stachelte jede Silbe zur Rachsucht, zur Vernichtung des Barons und seines Besitzthums auf. Kein Stein sollte auf dem andern bleiben! Der rothe Hahn solle auf die stolzen Zinnen des Schlosses gesteckt werden und keine Seele lebend mehr dein Sündenpfuhl entweichen. –

Mord! Gift! und rother Hahn! Mir schauderte die Haut vor dem drastischen Gemälde, das sich vor meinem Blicke entrollte.

Eine Gesellschaft zur glühendsten Rachsucht anfachen, die das im Griff feststehende Messer stets in der Tasche führt, jeden Augenblick bereit, etwaige Meinungsdifferenzen damit zu bereinigen; eine Gesellschaft, aus der statistisch nachgewiesen die meisten Körperverletzungen mit nachfolgendem Tod hervorgehen, wo der Freund den Freund, der Bruder den Bruder nicht schont! die Leidenschaften einer solchen Gesellschaft emporstacheln, sie zu Brand und Mord aufrufen – dieser Gedanke hatte für mich etwas furchtbar Entsetzliches. Ich versank in Sinnen, aus dem mich erst das majestätische Dröhnen des Böllers weckte. Die Fackel war erloschen, unser Wächter war verschwunden und im Nu die ganze Gesellschaft auseinandergestoben.

„Gehen wir,“ meinte mein Begleiter, und halb betäubt zog er mich mit sich fort.

Es schlug eben ein Uhr, als wir in die Nähe der Kirche gelangt waren: „Hörst Du nichts?“ fragte mich mein Freund. Es klang wie leises Wimmern, das aus der Kirche zu kommen schien. Ich legte mein Ohr an die Thür, und richtig, deutlich vernahm ich eine nach Hülfe rufende tiefe, heisere Stimme. Mein Freund hatte inzwischen Leute herbeigerufen. Licht ward gemacht und die Thür eingebrochen. Vor uns lag fest geknebelt mit verbundenem Munde der Meßner; hoch über ihm baumelten die abgeschnittenen Glockenstränge.

Der große Lärm hatte auch ihn geweckt, und rasch wollte er durch Sturmläuten das Unglück, das seinem Ort drohte, verkünden, als er die Glockenstränge abgeschnitten findet. Er eilt nun nach Leitern, wird aber, als er wieder zurückkommt, von zwei Haberern unschädlich gemacht. Ein paar Schritte weiter kamen uns die Gensdarmen des Ortes entgegen; auf die neugierigen Fragen, die von allen Seiten an sie gerichtet wurden, erzählten sie, wie ihre Wohnungen von allen Seiten dicht umstellt waren, so daß sie weit in der Minderzahl blieben und einen Kampf nicht wagen konnten.

Spät erst kam ich zur Ruhe und lange konnte ich nicht einschlafen; noch immer höre ich den Lärm, noch immer schreckten mich die fürchterlichen Drohungen empor. Als ich mit dem frühesten Morgen – der Tag war noch nicht angebrochen – aufstand, jagte ein zweispänniges Fuhrwerk auf der Straße gegen Tölz; es war der Wagen des Baron v. E., der die Gegend verließ. –

[317]

Das Gericht der Haberer.
Originalzeichnung von Ph. Sporrer.

[318] Ein Geheimbund, wie der der Haberer, der factisch über hundert Jahre besteht, der allen Gesetzen des Rechtsstaates, trotz der eifrigen Forschungen, spottet, der mit blitzartiger Schnelligkeit plötzlich da auftaucht, wo man es am wenigsten vermuthet, sich in die tiefsten Familiengeheimnisse eingeweiht zeigt, sein Rächeramt übt und ebenso rasch und geheimnisvoll wieder verschwindet, mußte von jeher die größte Aufmerksamkeit des denkenden Beobachters erregen, und er hat sie auch sogar im hohen Grade erregt, ohne daß indeß über Wesen und Organisation desselben etwas Authentisches bekannt geworden wäre. Allerdings sind die hingeworfenen Floskeln, Schnurren und offenkundigen Lügen, mit denen unsere Bauern die neugierigen Stadtherren belehrten, vermischt mit den Gebilden einer erhitzten und ungezügelten Phantasie, nachher in Romanen, Reisewerken und Zeitschriften als wundersam funkelnde Märchen und Fabeln erschienen, gleichwie sie über die Gemsen, Sennerinnen und Alpenblumen im Schwange sind. Dadurch wurde der klare Blick des Fernerstehenden getrübt, wurden unrichtige und verschrobene Urtheile erzeugt, wurde der ganze Geheimbund mit einem romantischen Nimbus der Heiligkeit und Unverletzbarkeit seines Rächeramtes umgeben. Aufgeklärt wurde indeß Niemand; wohl aber wurde Jeder, der Gelegenheit hatte, einem solchen Treiben beizuwohnen, argen Täuschungen ausgesetzt.

Der Geheimbund der Haberer entstammt einer Zeit, welche die düstersten Blätter der baierischen Geschichte bildet. Es ist die von Despotismus erfüllte Regierungszeit Karl Theodor’s, dem bekanntlich 1777 Baiern zugefallen war. Manche meinen zwar den Ursprung des Haberfeldtreibens auf die mittelalterliche Vehme zurückführen zu müssen, und die Haberer selbst glauben es, allein wenn sich bei ihnen auch einige Reminiscenzen an dieselbe vorfinden, so ist dies doch kein Beweis für diese Behauptung. Solche Reminiscenzen lebten entweder unter der Bevölkerung noch fort, oder, indem man denselben Zweck verfolgte, ist man auf dieselben Mittel verfallen; – mag dem indeß sein, wie ihm wolle, so viel steht fest, daß vor Karl Theodor’s Zeiten von Niemandem das Haberfeld getrieben wurde.

Leben und Eigenthum, Recht und Freiheit waren damals von der Laune fürstlicher Hetären abhängig. Unzucht, Willkür, Käuflichkeit herrschten in einem Maße, wie sich’s selbst Frankreichs Könige niemals erlaubten. In üppigen Orgien ward der Schweiß des Landes verpraßt, und das Leben eines Jagdhundes galt mehr, denn das Leben eines Unterthans. Wie der Fürst im Großen, so trieb jeder Vogt, jeder Patrimonialrichter dieselbe Wirthschaft im Kleinen und die Geistlichkeit mit den zahlreichen Klöstern half wacker mit. Die Gräuel des Despotismus kannten keine Grenzen, bis sich der gesunde Sinn des Volkes ermannte, das Joch der Gewaltherrschaft abzuschütteln. Er schuf eine Volksjustiz, die in ihrer Spitze vorzugsweise gegen Verbrecher, welche außerhalb des Gesetzes standen, und gegen Verbrechen gerichtet war, die in keinem Strafgesetzbuch vorgesehen waren; er schuf das Habergericht, das sich zur Aufgabe machte, die verletzte Moral zu sühnen, das gebeugte Recht wieder aufzurichten.

Die Haberer, die bei dem Landvolk bald zu großem Ansehen kamen, übten mit patriarchalischer Machtvollkommenheit ihr Rächeramt. Um Mitternacht ward der Verbrecher aus süßem Schlaf geweckt und mußte nun schlaftrunken, halb angekleidet, oft nur im Hemd – ganz so, wie wir es auf unserer vortrefflichen Abbildung sehen – heraus vor den Richterhof. Da halfen keine Schergen, keine Polizei. Knieend wurde ihm unter freiem Himmel beim Klänge der Pauken und Trompeten und unter Betheiligung der ganzen Gemeinde sein Sündenregister vorgehalten und Ermahnungen zur Besserung gegeben. Es kam nicht selten so weit, daß Vögte, Landrichter, Pfarrer und dergleichen sich nach einem Haberfeldtreiben nicht mehr in der Gegend halten konnten und sich versetzen ließen. Dadurch war denn das öffentliche Aergerniß beseitigt und die Haberer hatten ihren Zweck erreicht.

Ein spartanisch strenger Geist herrschte unter ihnen, und mit unverbrüchlicher Treue sind die Geheimnisse desselben bewahrt worden. Wurde durch das „Treiben“ irgend ein Schaden verursacht, wurden Fenster und Thüren zerbrochen, kam Vieh dabei um, so wurde dem Beschädigten auf geheimnißvolle Art stets die volle Vergütung übermittelt. Früher lag das Geld vor der Thür oder es wurde ihnen durch das Fenster geworfen, später durch Post von Salzburg, München etc. zugesandt.

Inzwischen sind die Rechtszustände geordnetere geworden. Baiern hat sich aus einem Willkür- in einen Rechtsstaat verwandelt, dadurch ist aber dem Bunde der Haberfeldtreiber der Boden unter den Füßen weggezogen, ist ihm die innere Nothwendigkeit geraubt worden; er hat hinfort keine Berechtigung mehr zu existiren, und trügen nicht alle Zeichen, so geht er auch mit Riesenschritten seinem nahen Verfalle entgegen. Der alte respectable und achtunggebietende Geist, der früher unter den Haberern herrschte, ist verschwunden, eine den Bund in seinen Grundfesten erschütternde Demoralisation ist eingerissen. Der strenge Rechtssinn, die Verschwiegenheit, welche Torturen aller Art und monatelangen Kerker aushielt, ohne zu wanken, sind dahin.

Wohl schützen die Haberer noch Leben und Eigenthum, aber das ist auch der einzige Punkt, in dem sie ihrer Tradition treu geblieben sind. Während sonst die Verbrecher mitten in der Nacht aus süßer Ruhe aufgestört und knieend ihre Sündenregister vor dem ganzen Volke anhören mußten, wird es ihnen jetzt bequemer gemacht und, gleich als ob die Haberer den Muth nicht hätten, dem Angeklagten Aug’ in Aug’ gegenüberzutreten, lassen sie ihn ruhig fortschlummern, ziehen hinaus vor’s Dorf und lesen dort seine Sünden herab. Es ist etwas Anderes, nach einer gut durchschlafenen Nacht beim Frühstück zu erfahren, daß einem das Haberfeld getrieben worden sei; etwas Anderes, um Mitternacht vor dem versammelten Volke knieend der ganzen Wucht der allgemeinen Verachtung preisgegeben zu werden.

Wie Alles, was sich dem Geiste der Zeit entgegenstemmt, wird auch der Bund der Haberer morsch und faul ohne Axthieb fallen und lautlos untergehen in dem rauschenden Strome der Zeiten. Mit wehmüthigem Schmerz fühlen bereits ältere Leute im Gau das baldige Ende der Haberer herannahen. „Die Zeiten des letzten Haberers,“ sagte mir ein alter Graukopf bei Miesbach, „sind nicht mehr fern, und bei den kommenden Geschlechtern wird der Geheimbund gleich alten, längst verklungenen Sagen nur manchmal in den Erzählungen der Greise und Matronen an ihre Enkel gespensterhaft wieder auftauchen, und erschreckt und kopfschüttelnd werden diese zuhören und werden froh sein, daß sie vorbei ist, längst vorbei – ,die gute alte Zeit’.“



Im Hause der Bonaparte.

Historische Erzählung von Max Ring.
(Fortsetzung.)

Während Hortense sprach, beobachtete Louis ein tiefes, ehrfurchtsvolles Stillschweigen; eine tiefe Bewegung zuckte durch das sonst so starre Gesicht und die innigste kindliche Liebe sprach aus seinen gewöhnlich glanzlosen Augen. Erschüttert beugte er sich auf ihre weiße, abgezehrte Hand, auf die er voll Pietät seine stummen Lippen drückte mit niedergeschlagenen Blicken, als wagte er nicht, ihr in das forschende, von mütterlicher Sorge erfüllte Antlitz zu sehen.

Als die Verwandten gegangen waren, blieben Hortense und ihr Lieblingssohn noch wach im lebhaften Gespräch. Wohl zitterte auf seinen Lippen das Geständniß seiner Schuld, aber der abgelegte Schwur verschloß sie wieder, selbst wenn er den Muth gehabt hätte, die zärtlich geliebte Mutter durch ein solches Bekenntniß zu betrüben. Als er erst spät nach Mitternacht zu Bett ging, träumte er von blutigen Kämpfen, von dunklen Kerkern, von einer Kaiserkrone und von seiner – Mutter. Noch schlief er, als Hortense durch ein ungestümes Klopfen an ihrer Thür geweckt wurde. Nachdem sie mit Hülfe ihrer ergebenen Kammerfrau sich angekleidet hatte, befahl sie zu öffnen.

„Was giebt es?“ fragte sie den bestürzten Diener.

„Der ganze Platz ist von Bewaffneten umstellt. Päpstliche Truppen, an deren Spitze ein Officier steht, begehren Einlaß und wollen die Herzogin von St. Leu sprechen.“

[319] „So führe ihn herein!“ befahl die zitternde Hortense, ein neues Unglück befürchtend.

„Ihre Hoheit werden verzeihen,“ sagte der eingetretene Officier, „wenn ich störe. Aber ich habe den Befehl erhalten, den Prinzen Louis aufzufordern, mir auf der Stelle, angesichts meiner Ordre, zu folgen.“

„Mein Sohn verhaftet, gefangen!“ rief die erschrockene Mutter. „Was hat er verbrochen?“

„Darüber kann ich Ihrer Hoheit keine Auskunft geben. Es handelt sich auch nicht um eine Verhaftung, sondern nur um eine Ausweisung des Prinzen aus dem Kirchenstaate. Mein Befehl lautet, ihn ohne Aufenthalt bis zur toscanischen Grenze zu geleiten.“

„Sie geben mir das Leben wieder. Doch Sie gestatten, daß ich meinen Sohn vorbereite und von ihm Abschied nehme,“ erwiderte Hortense, einigermaßen beruhigt.

Schon nach wenigen Augenblicken erschien der Prinz in Begleitung seiner Mutter, äußerlich ruhig und bereit, dem Officier ohne Widerstreben zu folgen, obgleich innerlich empört über diese willkürliche Maßregel der päpstlichen Regierung, die er lediglich seinem gefürchteten Namen und der dreifarbigen Schabracke seines Pferdes zu verdanken hatte.

Hortense selbst war mit diesem Ausgang keineswegs unzufrieden, da sie den Prinzen lieber in Florenz in der Nähe seines Vaters und Bruders wußte, als in der Gesellschaft der römischen Verschwörer. Gern wäre sie sogleich mit ihm gegangen, aber da sie von ihrem Gatten geschieden war und die leidende Lätitia, für die sie die höchste Verehrung fühlte, in ihrer Krankheit nicht verlassen wollte, sah sie sich gezwungen, auf ihren Wunsch zu verzichten.

Ohne fernere Abenteuer gelangte Louis nach Florenz, wo er vorläufig in dem Palast seines Vaters einige Zeit verweilte. Der frühere König von Holland lebte in dem düstern Hause in strengster Zurückgezogenheit, getrennt von seiner übrigen Familie, deren politischen Ehrgeiz er keineswegs theilte, weshalb er auch mit seinem jüngeren Sohn wenig oder gar nicht stimmte, der dafür der Liebling seiner Mutter Hortense war.

Um so herzlicher wurde Louis von seinem älteren Bruder begrüßt, während die Prinzessin Charlotte von Neuem seinen gefährlichen Einfluß fürchtete, indem sie unbewußt eifersüchtig auf seinen dämonischen Zauber war und ihn mit mißtrauischen Blicken fortwährend beobachtete.

Tief verletzt durch die neue Willkür der päpstlichen Regierung und den ihm zugefügten Schimpf, brütete er im Stillen über seine Rache, zu der ihm noch früher, als er erwartete, die Gelegenheit geboten wurde.

Während in Florenz die größte Ruhe herrschte, war der Aufstand in der Romagna und in Modena ausgebrochen. Hier hatte der kühne Menotti die Fahne des Aufruhrs erhoben und trotzdem er verwundet in die Hände seines grausamen Feindes fiel, den feigen, elenden Herzog Franz gezwungen, die Flucht zu ergreifen. Gleichzeitig traf die Nachricht ein, daß auch Bologna sich im vollen Aufstand befand, den päpstlichen Legaten verjagt und eine neue provisorische Regierung eingesetzt hatte.

„Sieg, Sieg!“ jubelte Louis seinem älteren Bruder entgegen. „Wir dürfen nicht länger zögern, wenn wir nicht Alles verlieren, unsere Ehre, unsern Namen einbüßen wollen. Der Tag der Rache, der große Augenblick ist gekommen, wo wir uns an die Spitze der Bewegung stellen müssen. Von Neuem leuchtet der Stern Napoleon’s seinen Erben.“

„Vielleicht nur ein Irrlicht!“ mahnte düster der besorgte Prinz.

„Wie! Du zögerst vor der großen Entscheidung? Muth, Muth, Napoleon! Nur wer da wagt, gewinnt! Italien hat sich erhoben, bald folgt ihm Frankreich nach, von der Gewalt der Ereignisse fortgerissen. Der Thron des elenden Bürgerkönigs stürzt zusammen und auf seinen Trümmern bauen wir ein neues Reich. Jetzt oder nie! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich habe Alles im Stillen vorbereitet, unsere Pferde stehen gesattelt. Ein kühner Ritt trägt uns in das Lager der Revolution, die wir nur als Mittel zum Zwecke nützen. Entschließe Dich, oder ich gehe allein!“

„Laß mich wenigstens mit Charlotte sprechen!“

„Wo denkst Du hin? Ein unbedachtes Wort von ihr, und wir sind verrathen. Unser Vater würde uns mit Gewalt festhalten, im Nothfall uns selbst der toscanischen Regierung ausliefern.“

„So will ich schriftlich von ihr Abschied nehmen!“

„Damit man uns nachsetzt, unsere Spur verfolgt! Fort mit dieser Schwäche! Wo es sich um Kronen handelt, dürfen wir uns nicht von Weiberthränen rühren lassen.“

„Sie wird mir nie vergeben!“

„Wenn Du ihr ein königliches Diadem in die Haare flichtst, wird sie Dir verzeihen und lächeln. Um diesen Preis ist jedes Weib zu kaufen.“

So drängte und trieb er den schwankenden Bruder, der ihm widerstandslos folgte, der geistigen Ueberlegenheit, der dämonischen Gewalt sich unwillkürlich beugend.

Wenige Minuten später sprengten zwei Reiter in wildem Galopp durch das Thor von Florenz, welches nach Bologna führte, wo sie mit offenen Armen von dem ihnen entgegenjubelnden Volke empfangen wurden.

Von banger Ahnung ergriffen, wartete die Prinzessin Charlotte von Stunde zu Stunde vergeblich auf die Rückkehr ihres Gatten, der nach der Aussage des Bedienten mit seinem jüngeren Bruder einen Ritt in’s Freie unternommen. Angsterfüllt eilte sie zu dem Vater, um bei ihm Trost und Beruhigung zu suchen. Erst gegen Morgen kehrten die von ihr ausgesandten Boten mit der unterwegs erfahrenen Nachricht zurück, daß die Flüchtlinge sich der Revolution angeschlossen.

„Das hat Louis gethan!“ grollte der Vater.

„Und Napoleon hat mich so verlassen können!“ schrie die Unglückliche, in höchstem Schmerz zusammenbrechend. „Ich werde ihn niemals wiedersehen!“




6.

Während in Modena und in der Romagna die Revolution vorläufig siegte, überließ sich das Volk in Rom der heiteren Lust des Carnevals und der Freude über die Wahl eines neuen Papstes. Aus den Fenstern, von den Balconen hingen bunte Teppiche, gleichsam die Decorationen des beginnenden Schauspiels. Bis zu dem höchsten Stockwerk hinauf saßen Kopf an Kopf gedrängt Männer, Frauen und Kinder im besten Staat, das Publicum dieser einzigen Festvorstellung.

Die Piazza del Popolo mit den benachbarten Straßen bildete den riesigen Festsaal, dessen Wände die zum Himmel aufsteigenden geschmückten Paläste zu beiden Seiten abgaben, durchfluthet und durchbraust von der unzählbaren Menschenmenge in den verschiedensten Trachten und Verkleidungen.

Hier sah man einen gewandten Arlechin, dort den täppischen Polichinell, Doctoren mit mächtigen Spritzen bewaffnet, Advocaten mit langen Allongenperücken, welche jedem Vorübergehenden mit einem Proceß drohen, gehörnte Teufelmasken, Charlatane in rothen Tressenröcken, die ungeheure Flaschen zeigen und ihre Wunderelixire anpreisen, Mohren, Türken, wilde Indianer, der unvermeidliche Engländer mit rothen Haaren und schief im Nacken sitzenden Hut. Das Alles schwirrt, schwärmt, tobt, lacht, jauchzt in übermüthiger Ausgelassenheit.

Von den Balconen, auf denen die schönsten Frauengestalten saßen, aus den Fenstern fiel ein Regen von Confetti, Blumen, Zuckerwerk, ein Hagel von Kreidekugeln auf die vorüberströmenden Masken, welche die Neckerei mit einem ähnlichen Bombardement erwiderten. Dazwischen drängten sich männliche und weibliche Confetti-Verkäufer und Blumenhändler mit dem grellen Ruf: „Ecco fiori, ecco fiori!“

Aber trotz der allgemeinen Fröhlichkeit und der ausgelassenen Lust schwebte über dem römischen Carneval des Jahres 1831 eine eigenthümlich drückende Schwüle; mitten in dem bunten Getümmel erblickten die Eingeweihten oder die schärferen Beobachter das Gespenst der Revolution. Unter der Larve funkelte ihr blitzendes Auge, unter den Blumen barg sie ihre Waffen, unter der bunten Harlequinsjacke ihre verwegenen Anschläge.

Aus dem wogenden, lachenden, schreienden Menschenstrom tauchten allerlei verdächtige Gestalten auf, jüngere und ältere Männer mit besonderen Abzeichen versehen, die sich heimlich die Hände in eigenthümlicher Weise drückten, mit einander flüsterten und sich das Losungswort zuraunten, wenn sie sich unbeachtet glaubten.

[320] Aber der wachsamen Polizei war ihr Treiben nicht entgangen. Zahllose Sbirren waren in den verschiedenen Theilen der Stadt in den Straßen aufgestellt, größere Militärposten auf den öffentlichen Plätzen versammelt, die Wachen an den päpstlichen Gebäuden verdoppelt, ohne Aufsehen zu erregen, so daß das leichtlebige Volk diese Vorsichtsmaßregeln kaum bemerkte und sich darum nicht weiter kümmerte.

Noch hatte der prächtige Wagen-Corso nicht begonnen, noch fehlte der eigentliche Glanzpunkt des Festes, das Wettrennen der Pferde, das mit steigender Spannung erwartet wurde. Plötzlich verbreitete sich die unwillkommene Nachricht, daß die römische Regierung den Corso untersagt, das so beliebte Pferderennen der „Barberi“ verboten habe. Zugleich setzte sich eine Abtheilung von päpstlichen Dragonern und Carabinieri in Bewegung, um den Volksplatz und die daran grenzenden Straßen von dem Maskenschwarm zu säubern. Die Menge schimpfte, fluchte, drängte und stieß sich, verdrießlich über die unwillkommene Störung, von Furcht erfüllt und sich in Muthmaßung dieses unerhörten Befehls erschöpfend.

Die allgemeine Verwirrung wurde durch den plötzlichen Knall einiger Schüsse auf das Höchste gesteigert, denen eine regelmäßige Flintensalve des Militärs folgte. Zu demselben Augenblick stürzte sich auf ein gegebenes Zeichen jener verdächtige Maskentrupp auf die überraschten Soldaten; der Straßenkampf entwickelte sich und an die Stelle des heiteren Carnevals war die düster blutige Revolution getreten.

Unter den überraschten Zuschauern dieser ebenso seltsamen wie aufregenden Scene befand sich auch Robert, der sich in das bunte Maskentreiben gemischt hatte, um seinen Schmerz über die Abwesenheit der geliebten Freunde zu vergessen. Plötzlich fühlte er sich von einer weichen Frauenhand ergriffen und aus dem gefährlichen Getümmel fortgezogen. Vor ihm stand die Maske einer schönen Gärtnerin, im kurzen grünen Kleidchen, den Blumenkorb voll Grazie auf dem Haupte balancirend.

Eine schwarze Halblarve, die sie jetzt entfernte, bedeckte das reizende Gesicht.

„Maria-Grazia!“ rief er verwundert, indem er die Frau des früheren Briganten wieder erkannte.

„Was thut Ihr hier?“ sagte sie heftig. „Wollt Ihr Euch von einer verirrten Kugel erschießen lassen? Ich glaube, Ihr seid Eures Lebens müde, daß Ihr Euch einer solchen Gefahr aussetzt. Thut mir den Gefallen und begebt Euch sogleich nach Hause, oder besser noch, wenn Ihr Rom ohne Zögern den Rücken kehrt.“

„Und warum sollte ich fliehen und die Stadt verlassen?“

„Weil es hier nicht recht geheuer ist. Der Tanz geht los, und Francesco, der es als Sergeant von seinem Capitän wissen muß, sagt, daß morgen die Trasteveriner in die Stadt ziehen werden, um alle Vornehmen und Reichen zu morden und auszuplündern. Der heilige Vater hat das Gesindel zur Hülfe gegen die Carbonari aufgeboten und ihnen im Voraus Absolution ertheilt. Hauptsächlich ist es auf die Bonapartes abgesehen, die in ihren Palästen Kisten voll Geld und Diamanten aufbewahren sollen. Da ich weiß, daß Ihr der Freund des Hauses seid, so habe ich es übernommen, Euch und sie zu warnen.“

„Ich kann es nicht glauben, daß der Papst zu diesen Banden seine Zuflucht nimmt.“

„Gerufen oder ungerufen werden sie kommen und das Oberste zum Untersten kehren, darauf könnt Ihr Euch verlassen. Das Volk, welches den heiligen Vater über Alles liebt, wird sich nicht bitten lassen, noch dazu, wo es Beute giebt. Francesco ist von Allem durch einen Gevatter unterrichtet, der den geheimen Auftrag von seinem Beichtvater empfangen hat, die Trasteveriner aufzuwühlen, weil die Carbonari den heiligen Vater tödten, die Peterskirche anzünden und unsern Glauben abschaffen wollen.“

„Das sind thörichte Märchen.“

„Märchen oder nicht, das Volk glaubt einmal daran und will die Feinde des heiligen Vaters, vor Allen die Bonapartes, aufhängen und sich in ihre Schätze theilen. Ich habe Teresina versprechen müssen, Euch zu warnen; das habe ich gethan, und nun macht, was Euch gut dünkt.“

„Teresina!“ rief der Maler, aus seinen Gedanken erweckt, „Wo weilt sie? Hast Du sie gesehen?“

„Im Kloster der barmherzigen Schwestern, wo sie für Euch betet.“

Ehe Robert antworten konnte, war Maria-Grazia verschwunden, erschreckt durch die immer näher rückenden Schüsse, deren Kugeln sich bereits in die abgelegene Straße verirrten. Auch Robert erachtete es für gerathen, sich aus der gefährlichen Umgebung des noch immer fortdauernden Kampfes schnell zu entfernen, um so mehr, da er sich verpflichtet hielt, die noch in Rom verweilende Mutter und Verwandte seiner anwesenden Freunde vor dem Fanatismus und der Habgier des aufgereizten Volkes zu beschützen.

Als er zu diesem Zwecke in den Palazzo Ruspoli trat, erwartete ihn eine neue Ueberraschung. Kaum traute er seinen Augen, als er in der schwarz verschleierten Dame, die weinend an der Brust der Königin Hortense lag, die Prinzessin Charlotte wiedererkannte, die er noch fern und sicher in Florenz glaubte.

Bei seinem Eintritt richtete sich die Unglückliche auf, um dem treuen, bewährten Freunde die Hand zu reichen.

„Um des Himmels willen, was führt Sie, Prinzessin, in diesem Augenblicke nach Rom?“ fragte er besorgt über ihr bleiches, krankhaftes Aussehen.

„Die Verzweiflung hat mich hergetrieben. Ich hoffte, meinen Gatten, Napoleon, hier bei seiner Mutier zu finden. Es war meine letzte Hoffnung, aber auch sie hat mich getäuscht.“

„Wir werden ihn wiedersehen!“ tröstete die durch eine so unerwartete Nachricht tief erschütterte Hortense. „Ich selbst werde meine Söhne aufsuchen und nicht eher ablassen, als bis ich sie gefunden, bis ich Napoleon in Deine Arme zurückgeführt, ihn und Louis in Sicherheit weiß.“

„Er allein trägt die Schuld an unserem Unglück’.“ klagte die Prinzessin.

„Hier ist seine Rechtfertigung,“ erwiderte die Königin, indem sie ihrer Schwiegertochter einen Brief reichte, welchen sie erst vor wenigen Stunden empfangen hatte.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen

Ein unentbehrliches Hülfsbuch. Nicht unsere einseitige Annahme, vielmehr unleugbare Thatsache ist es, daß die Gartenlaube zur Hausbibliothek geworden und zwar zu einer sehr stattlichen Bibliothek von bereits fünfzehn Bänden voll des mannigfaltigsten Inhalts an Wort und Bild. Wie aber jede Bibliothek nur dann erst recht gebraucht werden und ihre Zwecke erfüllen kann, wenn uns ein genauer Nachweis über ihren speciellen Inhalt orientirt und so die Benutzung erleichtert, so, meinen wir, wird für alle diejenigen unserer Leser, welche sich die verschiedenen Jahrgänge unseres Blattes gesammelt und in ihrer Bücherei aufgestellt haben, die Gartenlaube erst so recht zum bleibenden Hausbuche und zur immer bereiten Hausfreundin werden, wenn ihnen ein sämmtliche Jahrgänge umfassendes und über alle die Tausende der einzelnen literarischen und artistischen Beiträge nach Band und Seitenzahl Rechenschaft und Nachweis gebendes Register eine genaue Uebersicht über die Fülle des Gebotenen verschafft und sie in den Stand setzt, sonder Mühe zu finden, worüber sie sich gerade belehren oder unterhalten wollen. Ein solches Register unter dem Titel: „Ausführliches Sachregister der Gartenlaube“ etc. aus der Feder des in dergleichen Arbeiten vielfach bewährten Adolf Büchting in Nordhausen liegt nunmehr vor und erfüllt, wie wir aus eigener Erfahrung bestätigen können, in der That nach jeder Richtung hin die Ansprüche, welche man an ein solches Nachschlagebuch stellen muß; mit Einem Worte, es ist durchaus praktisch – das beste Lob, das wir ihm zu ertheilen vermögen.

Allerdings werden unsere zahlreichen preußischen Abonnenten und Leser in diesem Register auch den Inhalt der Jahrgänge verzeichnet finden, die ihnen durch das Verbot der Gartenlaube verschlossen waren, indeß ist dies im Verhältnisse zum Ganzen doch immer mir ein kleiner Theil des Inhalts, und so können wir auch ihnen, wie allen Freunden unserer Zeitschrift, dieses wahrhaft unentbehrliche Noth- und Hülfsbuch, das ihnen jede Buchhandlung um den geringen Preis von 10 Ngr. zu liefern in den Stand gesetzt ist, auf das Angelegentlichste empfehlen. Es wird ihnen den Besitz des Blattes doppelt werthvoll machen, indem es ihnen klar vor Augen führt, welches Bildungs- und Unterhaltungsmaterial durch die bedeutendsten Schriftsteller und Künstler Deutschlands ihnen in der Gartenlaube geboten ist.

S.


  1. Wir entnehmen im Wesentlichen alle Thatsachen dem, vor siebenundzwanzig Jahren erschienenen Werke von Hergenhahn, „Antheil der herzogl. nassauischen Truppen im spanischen Kriege von 1808–1814“, dessen sehr in’s Einzelne eingehende Berichte unserer Schilderung zu Grunde liegen.
    Der Verfasser.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Meerres