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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[289]

No. 19. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Erbstreit.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Ein kurzes Stillschweigen trat ein. Elisabeth blickte eine Weile nachdenklich zu Boden, dann sagte sie:

„Sind Sie so sicher, daß der Ausdruck ,Handlungsweise’ der richtige ist? Ist es nicht möglich, daß bei Ihrem Gegner kein böses Handeln statt fand? Vielleicht besaß er die Urkunde nicht, deren Unterschlagung Sie ihm schuld geben! Ich habe gehört, daß in Processen oft die eine Partei es wie eine fixe Idee festhalte, die andere besitze eine Urkunde, die das Recht klarstelle, wenn sie das Document nur herausgeben wolle!“

„Also auch in Processen sind Sie erfahren, Fräulein?“ sagte mit etwas satirischem Ton Markholm. „Sie sind eine kleine Allwissenheit. Hier aber ist es nicht so. Es ist durchaus keine fixe Idee von mir, daß sich in dem Archiv auf Haus Markholm die alte Lehnsurkunde finden muß, worin es bestimmt ist, daß die Güter an die jüngere Linie fallen sollen, wenn der letzte Vasall der älteren nur Töchter hat. Der jetzige Besitzer von Markholm, dieser Herr von Morgenfeld, hat also kein Recht, obwohl er der Gatte der einzigen Tochter des letzten Vasallen aus der älteren Linie ist. So lange der Mannesstamm blüht, kann keine Tochter erben – um sich im Besitz zu erhalten, hat er die Urkunde unterschlagen, vor Gericht wenigstens eidlich deren Vorhandensein abgeleugnet: und damit bin nicht ich allein um mein Erbe betrogen, es sind die Güter meiner Vorfahren in fremde Hände gebracht, der Name meiner Familie wird dem Erlöschen anheimfallen! Können Sie begreifen, daß mich das tief verstimmt oder besser mit Bitterkeit erfüllt?“

„Nur zu sehr! Aber Herr von Morgenfeld ist ein allgemein geachteter Charakter, ein Mann. den man einer so gründlich unehrenhaften Handlungsweise nicht für fähig halten darf – man hat früher so oft alte Urkunden mit großer Verachtung als völlig werthlose Dinge betrachtet, als unnützen Plunder verworfen … ist es denn nicht möglich, daß die, um welche es sich handelt, wirklich nicht mehr vorhanden war? Das Schicksal hat Sie in die Nähe des Herrn von Morgenfeld geführt: thäten Sie nicht wohl, sich ihm persönlich zu nähern, ihn kennen zu lernen, um sich zu überzeugen, ob Sie es mit einem Manne zu thun haben, der ein Meineidiger, ein Betrüger sein kann? Vielleicht werden Sie den Glauben gewinnen, daß es ihm redlich darum zu thun gewesen, die Urkunde herbeizuschaffen, aber daß er es nicht vermochte.“

„Sie nehmen sehr eifrig die Partei meines Herrn Vetters,“ sagte Markholm. „Nun, es ist ja natürlich – Ihr Vater steht als Pfarrer zu ihm, seinem Patronatsherrn, in freundlichen Beziehungen.“

„Mein Vater?“ fiel Elisabeth aufblickend ein – aber sie schwieg wieder und sah in Markholm’s Züge, als ob sie verwundert und überrascht sei – gewiß von der tiefen zornigen Bitterkeit, womit er fortfuhr: „Mich aber werden vier Pferde nicht dazu bewegen, jemals die Schwelle dieses Mannes zu betreten, den ich hasse mit Allem, was zu ihm gehört!“

Elisabeth hielt noch immer ihre großen prüfenden Augen auf ihn geheftet, dann sagte sie mit einem leisen Seufzer zu Boden blickend: „Es ist am Ende natürlich! Aber öffnen Sie mir jetzt Ihren Schlagbaum da, das heißt, wenn Sie mir erlauben wollen, meinen Weg über Ihren Grund und Boden fortzusetzen – er ist kürzer für mich.“

Markholm öffnete rasch den Schlagbaum, indem er lächelnd sagte:

„Nur, wenn Sie mir verstatten wollen, Ihnen sicheres Geleit auf meinem Grund und Boden zu geben!“

„Auf Ihrem Gebiet sind Sie der Herr!“ entgegnete Elisabeth und trat, nachdem sie ihre Steine genommen, den Weg durch die kleine Allee an.

Markholm schritt neben ihr her. Er brachte das Gespräch auf andere Gegenstände, aber Elisabeth war einsylbig geworden – sie ging nicht darauf ein. Sie schritt rasch einher. Als der Garten erreicht war und Beide durch den mittleren Pfad auf die offenstehende Glasthür, die in Markholm’s Haus führte, zugingen, sagte er:

„Wenn Sie den kürzesten Weg nehmen wollen, so dürfen Sie nicht um mein Haus herumgeben, sondern müssen sich von mir hindurch führen lassen. Darf ich es? Es würde mir eine große Freude sein … eine große, wenn Sie es betreten!“

Elisabeth sah ihm mit einem freundlichen Lächeln in’s Gesicht, aber sie antwortete nicht. Als sie am Hause angekommen, schritt sie ohne Weiteres über die Stufen vor der Glasthür und trat hinein. Sie sah sich in dem Salon um, überflog die Bilder an der Wand und trat einer unter dem Spiegel hängenden Photographie näher, die sie aufmerksam betrachtete. Es war ein Portrait von Max.

„Das Original kennen Sie!“ bemerkte Markholm.

Elisabeth nickte.

Markholm schien unruhig darüber zu werden, daß sie es so aufmerksam betrachtete.

[290] „Ich möchte Ihnen meine Bibliothek zeigen,“ sagte er – „hier rechts!“

Sie folgte ihm in sein Studirzimmer. Er schritt auf den dahinter liegenden Raum zu. Aber Elisabeth, schien es, wollte erst das Studirzimmer mit Muße betrachten; dann warf sie einen neugierigen Blick auf den Schreibtisch und auf das Manuscript, an welchem Markholm arbeitete.

„So schreiben Sie … immer so fließend und ohne Correcturen?“

„Die Correcturen kommen später, wenn der erste Entwurf niedergeschrieben ist; aber ich sehe Sie mit einiger Unruhe hier verweilen, Fräulein; gewiß anatomisiren Sie wieder!“

„Und wie so?“

„Wenn Sie schon zwischen den Zeilen eines Buches den Charakter eines Autors lesen, wie sehr werden Sie solche Forschungen anstellen, wenn Sie die Umgebung eines Menschen, die Art, wie er sich eingerichtet hat, und endlich gar seine Handschrift sehen!“

„Sie thun mir Unrecht,“ sagte sie lächelnd, „mir sind in diesem Augenblick solche verrätherische Gedanken ganz fremd … aber da Sie mich darauf bringen, sage ich Ihnen, daß ich aus Ihrer Art, sich einzurichten, schließe, Sie sind ein milder, nachgiebiger und durchaus kein revolutionärer Geist.“

„Das mag sein!“

„Auch kein Egoist!“

„Ich danke Ihnen, woraus sehen Sie es?“

„Aus der Art, wie Sie hier sich in Allem nach dem gerichtet haben, was Sie fanden; dem altfränkischen Stil ihres Hauses haben Sie die Einrichtung angepaßt, dunkel, einfach, die Möbel alt oder alterthümlich geformt, solide. Sie haben nirgendwo modernen Plunder, Nipptischzierlichkeiten und Kriemskram, geschnitzelte Rähmchen um werthlose Bildchen, Läubchen und Draperiechen angebracht, Sie haben Ihren Geschmack dem Geschmack des Hauses, das Sie fanden, untergeordnet und sich eingerichtet wie ein Mann, nicht wie ein Junggeselle … das gefällt mir.“

„Und richten sich die Junggesellen nicht wie Männer ein?“

„Wenn sie in ein gewisses Alter kommen – nein. Ihre Einrichtungen bekommen dann etwas Altjüngferliches – sie beginnen den Mangel des weiblichen Elements zu empfinden und stellen dann Dinge um sich her auf, in denen sich weibliches Element spiegelt – sie wollen es dann wenigstens reflectirt um sich haben, da sie es doch einmal nicht entbehren können.“

„In der That,“ rief Markholm aus, indem er Elisabeth mit einem unverhohlenen Erstaunen ansah, „Sie scheinen über Alles nachgedacht, Alles ergründet zu haben!“

„Ach,“ sagte sie, sich abwendend und jetzt ihre Schritte der Bibliothek zulenkend, „wenn man allein ist, auf dem Lande, so kommen die Gedanken von selbst. Aber jetzt lassen Sie mich in Ihre Büchersammluug sehen … da Sie so darauf bestehen, mich in diesen Hinterhalt zu locken!“

„Hinterhalt? weßhalb?“

„Weil Sie denken, ich würde mich da in voller Glorie als Gelehrte zeigen wollen, damit Sie wieder spotten können!“

„Spotten … als ob ich das je gewollt hätte … wahrhaftig, Fräulein, Sie thun mir Unrecht … und spottet man denn einer Freundin – haben Sie den Bund vergessen, den wir geschlossen?“

„O, von einem Bunde weiß ich nichts!“

„Wie – eine Freundschaft wäre kein Bund? Kann es einen ernsteren geben … ich wenigstens betrachte ihn als einen sehr ernsten; und Sie wollen einräumen, daß Sie mir nur die Freundschaft vorgespiegelt haben, um mich zum Sprechen zu bewegen und dann das Handschlaggelübde treulos zu brechen?“

„Wie rasch Sie fahren! Freundschaft, Gelübde, treulos …“

„Hab’ ich nicht Recht?“

Sie schwieg – trat an eines der Bücherrepositorien und nahm ein Buch heraus.

„Wollen Sie mir das leihen?“ sagte sie.

„Wollen Sie Ihrem Gelübde treu bleiben? sonst nicht!“

Sie nahm das Buch, ging rasch auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte:

„Adieu … ich muß gehen – es wird die höchste Zeit!“

Gab sie ihm die Hand auf seine Frage, oder die Hand zum Abschiede? Markholm hatte nicht den Muth zu fragen, sie schritt so rasch davon; er begleitete sie, durch das Haus, über den Hof – an der Hofthür wies sie seine Begleitung zurück; er sah, wie sie den Weg zu dem zehn Minuten entfernten Dorfe einschlug, zu der neben demselben auf einem Hügel zwischen Obstgärten liegenden freundlichen Pfarrwohnung. – Als Markholm am Abend wie gewöhnlich am Kaminfeuer saß und der am Tage immer so unstete Neffe ihm dabei Gesellschaft leistete, fand Max den Onkel auffallend schweigsam. Er erkundigte sich nicht nach seinen Jagdabenteuern, er hörte nicht zu, wenn Max von seinen bevorstehenden Examenarbeiten sprach, und am Allerwenigsten schien ihm ein angenehmer Gegenstand der Unterhaltung mit Max das Pfarrhaus zu sein, von dem der Neffe nach einer Weile zu reden anfing.

„Es ist doch eigentlich gut, daß Deine Ferien sich ihrem Ende nahen,“ begann er plötzlich wie mit einem Anflug übler Laune; „Du treibst mir das Verhältniß zu weit, es wird zu ernst … was soll daraus werden!“

Max sah ihn sehr erstaunt an. Bisher hatte der Onkel nichts geäußert, was darauf hindeutete, daß er sich einer ernsten Verbindung zwischen seinem Neffen und der Tochter des Pfarrers, von der Max nach der ersten Bekanntschaft ihm vorgeschwärmt hatte, widersetzen würde. Es konnte, was er jetzt sagte, unmöglich etwas Anderes sein, als ein Ausbruch übler Laune… Max hielt es deshalb für räthlich, zu schweigen und nicht energischen Widerspruch hervorzulocken. Er sagte nach einer stummen Pause nur: „Mein Verkehr im Pfarrhause läßt mich doch Allerlei erfahren, was auch Dich interessiren wird … so hat mir Elisabeth heute etwas erzählt, was merkwürdig genug ist … von den Morgenfelds drüben!“

„Sie hat Dir von Morgenfelds erzählt? Und was?“

„Es ist eine Tochter da auf Haus Markholm, wie Du weißt, ein junges Mädchen, älter als Elisabeth, aber sehr befreundet mit ihr – sie sehen sich sehr oft, und von der weiß sie es. Während des Processes, als Morgenfelds noch in der Stadt wohnten, hat der alte Herr seinen Sohn, den Rittmeister, auf das Gut gesendet mit dem Auftrag, die Urkunde zu holen – aber der Rittmeister ist zurückgekehrt mit der Versicherung, sie nicht gefunden zu haben. Da ist der alte Morgenfeld selbst hingereist; er soll in dem guten Glauben gestanden haben, die Urkunde spreche ihm die Nachfolge in den Gütern zu, und deshalb sehr darauf erpicht gewesen sein, sie zu erhalten. Aber trotz seiner Versicherung, sie müsse da sein, sein Schwiegervater habe sie ihm in früheren Jahren selbst gezeigt, er wisse bestimmt, in welchem Carton im Archiv sie liege – trotzdem ist auch er zurückgekommen, wie er gegangen. Nun ist in dem alten Herrn der Verdacht aufgestiegen, die Urkunde müsse in der That zu Deinen Gunsten sprechen, und um sein Erbrecht auf die Güter nicht zu verlieren, habe sein Sohn, der Rittmeister, sie beseitigt. Darüber ist es zwischen Beiden zu heftigen Scenen gekommen und der Rittmeister hat seinem Vater die Beschuldigung zurückgegeben und ihm gesagt, ebenso gut könne er selber bei früheren Anwesenheiten in Markholm die Urkunde unterschlagen haben …“

„Schönes Verhältniß zwischen Vater und Sohn!“ rief Markholm aus, „Einer nennt den Andern Spitzbube – und es ist nur fraglich, wer von Beiden Recht hat.“

„Schwerlich der Alte,“ fuhr Max fort, „denn der Rittmeister ist so empört gewesen, daß er bis jetzt seine Eltern nicht wieder gesehen hat; und vor einigen Wochen hat er an den Vater geschrieben, er wolle mit den Markholm’schen Gütern nichts zu schaffen haben, er verzichte darauf feierlich für immer!“

„Ein Edelmuth, der sich wohl daraus erklärt, daß er sich mit einer Banquierstochter verlobt hat, die ihm unsere Güter überflüssig macht!“

„Wahrscheinlich!“ sagte Max. „Aber die Freundin Elisabeth’s ist nun die Erbin der Güter – ein Umstand, der sie jedoch über das Zerwürfnis zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder nicht tröstet … sie soll darüber außer sich sein!“

„Das eben ist der Fluch der bösen That!“ sagte Markholm achselzuckend. „Und das Alles hat das Fräulein von Morgenfeld Deiner Elisabeth so offen anvertraut und diese Dir wieder?“

„Heute!“ versetzte Max.

„Seltsam!“ sagte Markholm ironisch, in des Neffen Zügen spähend.

Das Gespräch stockte. Markholm schien heute nicht zum Sprechen aufgelegt und Max nahm ein Buch, um die Zeit bis zum [291] Schlafengehen herumzubringen. Markholm erhob sich und schritt im Salon auf und ab – so lange, daß Max sich endlich fragte:

„Wie ist es möglich, nicht vor Müdigkeit umzusinken, wenn man so stundenlang auf- und abgeschritten ist! In welche langweilige Gewohnheiten können doch die Menschen auf dem Lande verfallen!“ –

Am anderen Morgen machte Markholm wie an den zwei früheren Tagen seinen Weg durch den Garten, durch das Gehölz bis an den Schlagbaum. Sein Herz klopfte vor Erwartung, als er, das Ackerfeld überschauend, hier still stand. Aber er harrte vergeblich. Elisabeth kam nicht.

Eine Viertelstunde – eine halbe verfloß; Nichts störte die Stille. Die Finken kamen und setzten sich auf den Schlagbaum, ohne den so regungslos in seine Gedanken versunkenen Mann zu scheuen, der wie eine Bildsäule dastand, den Arm auf das Holz vor ihm stützend und das Kinn auf die Hand.

Endlich rührte er sich; er wandte sich und ging heim. Wie hatte er auch annehmen können, daß sie noch einmal kommen würde! Und doch – hätte sie nicht kommen können, wenn sie es mit der geschlossenen Freundschaft ein wenig ehrlich gemeint? Aber vielleicht hatte er sie mit dieser aufgedrungenen Freundschaft gerade zurückgescheucht? – Vielleicht hatte er sie damit verletzt? – Ach, es waren thörichte Gedanken! Er kam sich vor sich selber ein wenig lächerlich vor … hatte er ihr nicht schon vollständig den Hof gemacht? Er der Angebeteten seines Neffen – er, ein alter Mann, einem so jungen Mädchen den Hof machen!

Und doch – es war nicht zu leugnen, sie war ein auffallend kluges und auffallend gebildetes Geschöpf. Er mußte suchen, in Verkehr mit ihr zu bleiben. Dieser Verkehr hatte für ihn etwas unendlich Anregendes. Wie durfte er in seiner Einsamkeit solchen Anregungen aus dem Wege gehen? War es nicht etwas wie seine Berufspflicht, wenn ihm ein solch ungewöhnlicher Charakter begegnete, ihn zu studiren? Und es bot sich ein so einfaches Mittel, den Verkehr fortzusetzen. Er konnte ja das Pfarrhaus aufsuchen; gewiß würde der Pfarrer nichts lieber sehen, als seinen täglichen Verkehr dort – Markholm war ja eigentlich darauf angewiesen, da sich gar kein anderer Umgang in der Umgebung darbot. Einen Besuch hatte er bei seinem Kommen dort gemacht und den Herrn Pfarrer und die Frau Pfarrerin kennen gelernt; Beide waren zum Gegenbesuch bei ihm gewesen. Eine Einladung hatte er dann abgelehnt, weil er sich nicht wohl gefühlt; aufrichtig gesagt, er war nicht gern gegangen. Der Pfarrer war eine Persönlichkeit, die ihm in hohem Grade mißfallen. Ein Mann, der sich mehr um die Interessen der zur Pfarrstelle gehörenden Ackerwirthschaft, als um den geistigen Weinberg, in welchem er zum Arbeiter berufen, kümmerte; der nicht eher geneigt schien, sich groß um das Unkraut in den Seelen seiner geistlichen Heerde zu sorgen, als bis man auch dazu eine die Arbeit verrichtende zweckmäßige Jäte-Maschine erfunden haben würde. Während des Gesprächs, das Markholm mit ihm gehabt, hatte der Mann ihm so geklemmt und gedrückt geschienen, als ob er sich in einem Examen befinde, als ob er verlegen die Lücken seiner Bildung wohl fühle, aber sie vor Markholm bänglich zu verschleiern suche.

Vielleicht dachte deshalb Markholm nicht daran, jetzt plötzlich einen intimen Verkehr mit ihm zu beginnen … es ging ja auch nicht. Markholm konnte nicht in die Fußstapfen seines Neffen treten. Er konnte nicht demselben Magnete folgen wie Max. Er hätte sich schämen müssen vor sich selber, wenn er es gethan! Gewiß schon deshalb dachte er nicht daran.

Als er so saß, in tiefes Sinnen verloren, die Arbeit, welche seit einigen Tagen so wenig gefördert war, vor sich, die Feder in der Hand, aber statt zu schreiben langsam große Buchstaben auf den Rand des Manuskripts malend, vernahm er plötzlich einen leichten raschen Schritt, der durch die offenstehende Glasthür des Salons kam; und im nächsten Augenblicke stand, so plötzlich wie eine Vision, auf der Schwelle der ebenfalls wie gewöhnlich offenstehenden Thür seines Arbeitszimmers Elisabeth.

„Störe ich?“ sagte sie. „Ich komme nur, um Ihnen das Buch zurück zu bringen. Hier ist es. Ich danke. Jetzt geh’ ich gleich wieder!“

Markholm war aufgesprungen. Er fühlte, daß eine hohe Röthe seine Züge überströmte. Er war so betroffen, daß er im ersten Augenblicke nicht wußte, was sagen. So betroffen, es war kindisch, so betroffen zu sein, sagte er sich im selben Augenblicke selbst … es war gewiß nur, weil sie so plötzlich kam … warum kam sie auch so überraschend, so eilig, so ganz unvermuthet herein gestürmt?

„Fräulein,“ stammelte er, „und Sie wollen auf der Stelle wieder gehen?“

„Ich will Sie nicht stören. Adieu!“

„Haben Sie denn das Buch schon gelesen? Wollen Sie nicht ein anderes?“

„Nein, ich danke Ihnen.“

„Aber es ist nicht freundlich, aus dem Hause – eines Freundes so wieder fortzustürmen!“

Gewiß, es war nicht tactvoll, schon wieder auf diese Freundschaft zurückzukommen. – Markholm fühlte das recht wohl, aber ihm fiel ja nichts Anderes ein, sie zu halten, und sie zu halten hätte er ein Stück seiner Seele hingegeben – er mußte mit ihr sprechen, es war ihm, als hinge sein Leben davon ab … was, wozu, das wußte er selbst nicht!

„Nun, wie lange muß eine Freundin, wenn sie einem Freunde ein Buch zurückbringt, bleiben?“ fragte sie lächelnd.

„Wenigstens so lange, um ein kleines Gespräch zu pflegen.“

„Beginnen wir es!“ sagte Elisabeth, sich in dem Sessel niederlassend, der an der anderen Seite vor Markholm’s Schreibtisch stand. „Wer hat Ihnen den hübschen Strauß da gebunden?“

„Wer sollte es anders gethan haben, als ich mir selber? Ich muß mir meine Blumen selbst in’s Leben streuen – Andere thun es nicht!“

„Das ist Ihre Schuld!“

„Schuld? Nun ja. Ich hätte vielleicht Hände finden können, die mir Blumen gepflückt, sie mir sogar auf Sophakissen und Pantoffeln gestickt hätten; aber ich habe mich nie viel darum gekümmert.“

„Um die Blumen oder um die Hände?“

„Nun – um die Hände. Die männlichen Hände machen Alles besser, auch Frauenarbeiten, wenn es sein muß!“

„Das lautet paradox.“

„Und ist doch wahr. Sie sehen deshalb auch, daß in allen Häusern, wo der Mann nicht durch seine Berufsarbeit ganz in Anspruch genommen ist, dieser sehr bald die Frauenarbeit an sich nimmt, daß er Küche und Keller beaufsichtigt, die Rechnungen durchsieht, die Cassa führt, über die Gesundheit und Erziehung der Kinder wacht, und daß in einem solchen Hauswesen viel mehr Ordnung und Ruhe herrscht, die Dienstboten williger und verträglicher sind, die Ausgaben geringer, als wo ,Frauenhände’ walten – ja nicht einmal zum Kochen sind die Frauen berufen – wer reich genug dazu ist, jagt seine Köchin fort und nimmt einen Koch.“

Elisabeth lachte. „Ist das Ihr Ernst?“ sagte sie.

„Gewiß. Es ist ein großes Vorurtheil, daß ein Hauswesen einer Frau bedürfe. Man überläßt der Frau das Haus, weil man nichts Anderes zu thun hat für sie, um ihr eine Beschäftigung zu geben; aber berufen ist sie nicht dazu, die Männer verstehen wie Alles auch das viel besser.“

Sie schüttelte den Kopf. „Was soll denn die Frau thun?“

„Die Frauen sind wie die Muscheln – es giebt ihrer Tausende im Meere und nur in einigen wenigen findet man Perlen.“

„Also einige Perlen räumen Sie doch ein! Und diesen Perlen, welchen Beruf geben Sie denen?“

„Den andern zu zeigen, was die Frau eigentlich sein sollte: des Mannes bessere, edlere, nicht seine untergeordnete Hälfte; das Element der Bildung, der Kunst, des Schönen im Hause. Im Grunde, das will ich Ihnen einräumen, halte ich die Frauen für feiner organisirte, sensitivere Naturen; in ihrer Seele liegen hundert Ranken, die sich an etwas Höheres anklammern und emporwachsen möchten zu Licht und Sonne, zum Idealeren – allein diese Ranken werden niedergehalten, sie zerwuchern, am Boden niederer Alltäglichkeit hinsiechend.“

„Und woher kommt das?“

„Weil man sie verkehrt erzieht, weil man ihrem Geiste keine ernste Nahrung, ihren Fähigkeiten keine strenge Zucht giebt, weil ihr Unterricht eine Kinderei, ein Spott auf tüchtiges Lernen ist, und weil man ihnen an der Wiege vorsingt: Ihr seid für den Kochlöffel und den Strickstrumpf geboren.“

[292] Elisabeth lächelte wieder, aber sie sagte: „Wissen Sie, daß Sie mir das hätten gar nicht sagen dürfen?“

„Und weshalb nicht?“

„Weil diese Theorie so ganz mit der Ketzerei übereinstimmt, der ich längst im Stillen gehuldigt habe … denn ach, ich fühle, daß ich eine sehr schlechte Wirthschafterin sein würde, und habe immer … doch das würden Sie ja nicht glauben, wenn ich es sage …“

„Was haben Sie immer?

„Nein, nein, Sie haben neulich ganz andere Dinge von den Frauen gesprochen und vielleicht sagen Sie dies Alles nur, um mir eine Schlinge zu stellen!“

„Und welche Schlinge?“

Elisabeth sah ihn wieder mit ihrem großen, fragenden, forschenden Blicke an. Dann sagte sie: „Welche Schlinge? Mich zu verlocken, mit dem Interesse für Dinge zu kokettiren, wofür Sie den Frauen doch alles wahre Interesse abgesprochen haben.“

„Es ist wahr … aber wissen Sie, ob das nicht neulich blos eine Boutade von mir war, ein Ausbruch der Bitterkeit, darüber daß mir eine Frau mit wahrhaften geistigen Interessen im Leben nicht begegnet sei und daß ich … sie doch so grenzenlos tief und leidenschaftlich geliebt haben würde!“

Elisabeth mußte etwas in Markholm’s auf sie gerichteten Blicken begegnen, was sie veranlaßte, ihre sonst so ruhigen, selbstbewußt und klar schauenden Augen plötzlich abzuwenden und aufzustehen.

„Ich denke, wir haben nun lange genug conversirt, für zwei Freunde!“ sagte sie dabei.

„Noch lange nicht genug, um mich ganz auszusprechen,“ wollte Markholm sehr erregt ausrufen; aber er wurde durch einen lauten Männerschritt unterbrochen, der in diesem Augenblick durch den Salon herankam, und gleich darauf trat Max in das Zimmer des Onkels.

„Ah, Fräulein Elisabeth!“ sagte Max, offenbar überrascht von dem Anblick der jungen Dame und ihr eine etwas unceremoniöse Verbeugung machend.

Ist er eifersüchtig? fragte sich, dies beobachtend, Markholm, der sehr ärgerlich über die Störung war.

Elisabeth reichte Max unbefangen die Hand.

„Ah, gefangen!“ rief sie dann lachend – Markholm kam es vor, als ob sie ein wenig gezwungen lache – aus.

„Gefangen – ach, ja – , ich denk’ daran‘ hätt’ ich sagen müssen – ich habe mein Vielliebchen verloren!“

„Zur Auslösung wird Ihnen mein Neffe einen Hasen schießen,“ sagte Markholm, von Neuem durch diese Scene, die ihm die Vertraulichkeit der beiden jungen Leute zeigte, nicht wenig erregt.

„Ach, nein,“ versetzte Elisabeth, „es soll meinetwegen kein Blut vergossen werden – ich bin zufrieden, wenn Ihr Neffe mich eine Strecke heimbegleitet, ich habe ihm Etwas zu sagen!“

Sie gab Markholm die Hand und mit einem kurzen Adieu verschwand sie. Max folgte ihr.

Markholm blieb in einer schwer zu beschreibenden Stimmung zurück. Diese Begegnung der jungen Leute hatte Etwas gehabt, was einen vollständigen Sturm in ihm erregte. Er hatte Mühe ihn zu bewältigen – sich zu sagen: aber Du bist ja ein fürchterlicher Thor – Max kam ja wie von Deinem guten Genius gesandt, just im rechten Augenblick, um Dich daran zu erinnern, daß Du ein Thor bist, ein lächerlicher alter Thor! –

Leider hilft es in gewissen Situationen und gewissen Stimmungen sehr wenig, wenn man sich vorsagt: Du bist ein Thor. Es liegt dann weder der Trost, noch die schmerzstillende Beruhigung darin, welche man erwartet, indem man sich diesen Ehrennamen beilegt; und alle Beiwörter, die man zur Verstärkung der calmirenden Wirkung hinzufügt, machen die Sache nicht besser!

Auch Markholm empfand dies, und indem er einmal wieder in seinem Salon auf- und abrannte, gestand er sich, daß der Mensch doch das seltsamste dualistisch gespaltene Wesen sei, welches gedacht werden könne.

Ich sage mir da die klarsten, handgreiflichsten, unumstößlichsten Gründe vor, weshalb ich ein Narr bin, dachte er, und dennoch bleibe ich ein Narr; doch gelingt es mir nicht, meine Gedanken und alles Weben und Spinnen und Dichten und Trachten meiner innersten Seele von diesem Mädchen loszureißen – von einem Mädchen, das meinen Neffen liebt, und das, auch wenn es ihn nicht liebte, nicht im Traum an mich alten Büchermenschen denken würde; und die Verzweiflung darüber macht mich unglücklich, so tief wie das Meer ist, und mein ganzes Leben liegt jetzt vor mir, so dunkel, wie die Nacht ist … und das Alles trotzdem mir die Vernunft sagt, welch grenzenlose Narrheit das ist, und daß das, was mich bestrickt hat, ein Weib ist, mit dem ich, wenn sie mein würde, vielleicht in ewigem Hader läge – die mir in Allem widerspräche, die mich beherrschen wollte bis in mein letztes Heiligthum, mein Schaffen und mein Arbeiten hinein; die mir mit ihren Ansprüchen, mit ihren Salonbedürfnissen jeden freien Augenblick zum Denken und Schaffen raubte; die mich durch ihre Schwatzhaftigkeit außer mich brächte, wenn ich ruhen, und durch stummes Schmollen, wenn ich plaudern möchte; die mir Lärm, Leidenschaften, Intriguen, fremde Menschen in mein stilles Haus brächte und weiß Gott, was Alles … Aber all’ diese Betrachtungen helfen mir nichts, mag die Vernunft sich mir zehnmal vorhalten – mit frechem Widerspruchsgeist sagt die Seele: und es ist Alles nicht wahr, nichts von Alledem würde sein, sie würde Dir ein Engel von einem Weibe sein und Dir eine Unendlichkeit von Glück bringen! – Welcher unerklärliche Dualismus – Vernunft und Seele, Verstand und Herz streiten sich in mir, sie reißen sich förmlich bei den Haaren, sie liefern sich eine Schlacht in meiner Brust, und ich bin der Unglückliche, der die Wunden der einen wie der andern empfinden, daraus bluten muß! Unselige Begegnung … dämonisches Schicksal! –

(Fortsetzung folgt.)




Eine Thüringer Natur.
Von Friedrich Hofmann.

Im Schützenhofsaale zu Eisfeld, einem Meiningischen Städtchen, vor welchem jetzt der Dampfwagen auf der Fahrt zwischen Hildburghausen und Coburg eine Station hat, war im Winter ein Liebhaber-Theater aufgebaut. Auf der Bühne stehen die Gruppen der Mitspieler, Sänger und Sängerinnen, vor den Notenpulten die Stadtmusikanten, durch Dilettanten zu einem ansehnlichen Orchester verstärkt. Da sind schier alle Stände vertreten: Förster, die das Waldhorn, Doctoren, welche die Trompete, Maler, welche die Flöte, Lehrer, welche andere Instrumente blasen, die Violine ist mächtig besetzt, das Cello handhabt der alte Pfarrer von Stelzen meisterhaft, an jedem Pulte stehen neben den Musikanten von Profession Freiwillige, die für ihr Instrument ihren Mann stellen, bis zu den Pauken, die ein langer Amtschirurg bearbeitet, der allemal behauptet „die Stimm’ ist net richtig“, wenn er falsch eingefallen ist, und bis zum „Brummbaß, der alle zusammenhält.“ Jetzt tritt der Director an sein Dirigentenpult. Seht ihn euch ordentlich an: es ist ein bildschöner Mann von vierundzwanzig Jahren. Das dunkelbraune Haar bedeckt, schlicht und lang zu beiden Seiten niederhangend, die hohe Stirn, zwischen den vollen, gesundheitstrotzenden Wangen tritt eine wahre Herrschernase hervor, unter der ein wohlgeformter Mund so gutmüthig und herzig zu lächeln versteht, wie das braune Augenpaar oben, das aber auch Blitze schießen kann, wenn der Mund donnert, denn hinter der Sanftmuth thront eine Energie, welche nach großen Zielen ringt.

„Was das für ein Mensch ist, der Otto!“ – erzählt dir ein Nachbar. „Dem ist nicht nur jedes Kind, dem sind auch die Thiere gut. Ich hab’s selbst gesehen, wenn er im Sommer in seinem Garten im Grase liegt und so tief nachdenkt, so kommen Molche und Eidechsen aus den Spalten der nahen Felsen am Wasserloch zu ihm herangelaufen. Eine alte Eidechse hat er ordentlich dressirt; sie setzt sich auf seine bloße Brust und läßt sich vom Otto ruhig betrachten, der auf ihrem Schwanze Hieroglyphen entdeckt haben will, die er da eifrig studirt. Und dabei [293] hat er wieder eine Muskelstärke, die wahrhaft unglaublich ist. Erst neulich, ich hab’s zwar nicht gesehen, aber es ist mir erzählt worden, da soll er einem herumziehenden Hercules, der sich hier für Geld sehen ließ, die schwersten Stücke nachgemacht haben, so daß Der endlich ausgelacht worden und auf und davon gegangen wäre. Ja, es steckt Alles in dem Otto, er ist an Güte und Sanftmuth ein Kind und an Leib und Seele ein Löwe. Aber jetzt geht’s an. –“

Der jugendliche Director pocht, die Probe, und zwar die Hauptprobe, die letzte vor der Aufführung, beginnt. Wir staunen über das Zusammenspiel eines derartig zusammengesetzten Orchesters. Da ist Tact und Zug und Seele! Wahrlich, so Etwas ist nur in Thüringen möglich, wo den Kindern die Musik schon in der Wiege in Ohr und Herz dringt. Keine fürstliche Capelle kann mehr Eifer entfalten, als diese Männer, die hier der reinen Liebe zur Kunst und zu „ihrem Otto“ die mancherlei Beschwerden und die viele Zeit zum Opfer bringen, welche die Einübung einer ganzen großen Oper erfordert. Noch mehr finden wir Ursache, den jungen Director selbst zu bewundern. Er ist nicht nur Dichter und Componist des Stücks und Musikdirector dazu, er ist zugleich Regisseur des Schauspiels; er übt nicht nur jedes einzelne Instrument, er übt jeden einzelnen Gesang, jede einzelne Stimme der Chöre, er studirt jede einzelne Rolle ein, sieht auf gute Deklamation, auf richtiges Spiel, auf die Gruppirung und Scenerie, kurz, er ist der leitende und ordnende Geist des Ganzen, mit Aug’ und Ohr, Mund und Hand überall, wo noch Nachhülfe nöthig erscheint. Die Ouverture ist gelungen, das Stück geht vortrefflich. Manches läßt er sich zur eigenen Freude wiederholen. „Franklin, noch einmal das ‚Treu sei, treu, Tirolerherz!‘“ Und selig lauscht er dem prächtigen Tenor, den er mit heranbilden half und der noch heute die Freude aller Sänger in und um Eisfeld ist. So geht die Probe zu Aller Zufriedenheit zu Ende.

Otto Ludwig.

Unvergeßlich sind Allen diese Stunden und vergessen sind nur die oft so bösen Heimwege im Winter, nach Mitternacht und für Manchen stundenweit in die Thalschluchten und auf die Berge, von denen sie gern und freudig wiederkehrten, wenn ihnen „ihr Otto“ heute noch winken könnte. –

„Unser Otto!“ – so nannte ihn, früher aus Theilnahme für den Strebenden, später aus Stolz auf den Gefeierten, seine ganze Vaterstadt, und ebenso nannte er sich in treuer Anhänglichkeit und Dankbarkeit dafür als Dichter stets Otto Ludwig aus Eisfeld.

Welche Schulen, welche Akademien haben den jungen Mann so bedeutend gefördert, das Talent zu solcher Ausbildung erhoben, daß er den großen Aufgaben, die er sich offenbar gestellt, gewachsen war?

Diese Frage lassen wir erst einmal den Dichter selbst in seiner originellen Weise kurz und bündig beantworten. Im Jahre 1851 eben mit der Redaction von J. Meyer’s großem Conversationslexikon im Buchstaben L beschäftigt, ersuchte ich Otto Ludwig, dessen erste lyrische Gedichte in meinem „Weihnachtsbaum“ abgedruckt worden waren, um Mittheilung einer Skizze über sein Leben.

Er schrieb mir: „Im Jahre 1813 bin ich geboren im Städtchen Eisfeld. Ein kränkliches und verwöhntes Kind, was ich heute noch bin, sog ich mit der Milch der Mutter zugleich ihre Liebe und Begeisterung für Poesie. Etwas später als alle andern Kinder lernte ich den Bröder, aber mit dem Bröder zugleich den Shakespeare kennen: den Bröder hab ich bald bei Seite gelegt, den Shakespeare nicht. Mein ausgezeichneter, allgemein geliebter Lehrer war ein talentvoller Musiker; er weckte meinen Sinn für Musik. Im Jahre 1828, nach dem frühen Tode meines Vaters, bezog ich das Gymnasium zu Hildburghausen, wo ich viel mehr dichtete und viel weniger trachtete (nach dem Reich der Wissenschaft nämlich), als man gut heißen wollte. Auf den stummen, für mich desto lauteren Wunsch meiner Mutter, die nun meines Onkels Wirthschaft führte, kehrte ich 1820 nach Hause zurück und versah meines Onkels Kramladen. Meine Mutter stirbt indessen bald. Die drückende Prosa meines Lebens balancir’ ich nun mit Musik, indem ich Nächte hindurch, im Winter im ungeheizten Zimmer, aufsitze und Opern componiren will, ohne mehr als die ersten Elemente der Musik zu wissen, nachdem ich etwa vier oder fünf Opern, und zwar als Kind, gehört. Hier leg’ ich den Grund zu der später ausbrechenden Nervenkrankheit. Mit meinem Onkel zerfallen, einem originellen Hypochondristen (meinem Lehrer in wunderlichen Sprüngen der Einbildungskraft und den Elementen der Hypochondrie), den ich später leidenschaftlich lieben lernte, geh’ ich 1832 nach Saalfeld auf das Lyceum. Hier körperliche Schmerzen und geistige Erschöpfung bis zum Lebensüberdruß steigernd. Ich verliere den Glauben an meine Begabung für Poesie, ohne Lust zu gewinnen zu anderer Beschäftigung. Ich kann die deprimirenden Verhältnisse nicht ertragen und will mich der Musik in die Arme werfen. Ich kehre zu meinem Onkel zurück, componire, verkaufe Schwefelfaden und habe den ersten Anfall der früher vorbereiteten Nervenkrankheit auszuhalten. In [294] diese Zeit fällt meine Anstellung bei einem Eisfelder Liebhabertheater als Theaterdichter und Capellmeister, welche ich um so leichter erhielt, als ich sie selber zu vergeben hatte und keine Gage damit verbunden war.“

So weit für jetzt Otto Ludwig. Das war der Lebensgang des Dichters bis zu dem Augenblicke, wo wir ihn kennen lernten. Jetzt, wo jede Zeile von solcher Hand eine Reliquie geworden ist, die man zu seinen liebsten Schätzen legt, durften wir diese kurze, von sonnigem Humor erleuchtete Selbstbiographie nicht übergehen; aber genügen kann sie uns ebenso wenig, wie sie unseren Lesern in allen Beziehungen klar sein wird. Versuchen wir denn die von ihm hingeworfenen Contouren seines Lebensbildes nach Möglichkeit auszumalen.

Als Otto Ludwig’s Geburtstag wird von seinen Freunden der 11., von den gedruckten Nachrichten über ihn der 12. Februar genannt; das Kirchenbuch mag das Richtige erweisen. Sein Vaterhaus ist in dem großen Brande, welcher 1822 den größten Theil von Eisfeld in Asche legte, mit zu Grunde gegangen. Desto lebendiger ist dort noch heute das Andenken an Otto’s Eltern. Der Vater war Stadtsyndicus, d. h. erster Justizbeamter der städtischen Obrigkeit, ein gelehrter, begabter und ziemlich wohlhabender Mann, den jedoch Kränklichkeit und wohl noch mehr die viele mit seinem Amte, namentlich während der Kriegszüge, verbundene Aufregung mit einer Verbitterung erfüllte, die ihn wohl oft zu schroffem Auftreten verleitete und auch von der Sorge für die Erziehung des Sohnes abzuwenden schien. Gleichwohl war er edlerer Gefühle fähig; war doch seine liebste Erholung in seinen geschäftsfreien Stunden die Pflege der Dichtkunst; es sind sogar Gedichte von ihm in Druck erschienen. Auch an des Sohnes Zukunft dachte er, aber eben in seiner Weise. Als im Jahre 1818 die Eisfelder Revolution gegen den nachmals sogenannten Flottenfischer[1] ihn, als einen Hauptbetheiligten, ganz besonders in Harnisch gebracht hatte, entschloß er sich seinem Sohne eine ruhigere Lebensstellung zu sichern, als die seine ihm dünkte. Er erwarb Grundeigenthum an Feld und Wiesen, schuf ein steriles Stück Land in einen Garten um, legte Baumpflanzungen an und errichtete ein Landhaus mit Wirtschaftsgebäuden. Mancherlei Ungeschick, das vom Bauherrn, wie von den Bauleuten dabei begangen sein mochte, fraß jedoch arg am Vermögen des allzukühn unternehmenden Mannes, und vielleicht auch mit an seinem Leben. Er starb, seine Schöpfung unvollendet hinterlassend, kaum sechsundvierzig Jahr alt, 1825.

Otto Ludwig’s Mutter, Sophie Christiane geborne Otto, war die Bildnerin ihres Sohnes nach jeder Richtung und eine ebenso und in derselben Weise ausgezeichnete Frau, wie ihr Sohn eine ausgezeichnete Erscheinung als Dichter geworden ist. Mit gleicher Sorge wie den Körper pflegte sie Geist und Gemüth des Knaben vom ersten Keim bis zur ersten Entfaltung der Blüthe. Gebildet und begabt in nicht gewöhnlichem Grade überließ sie nicht einem Lehrer oder der öffentlichen Schule, sondern übernahm selbst den Unterricht des Kindes in den Elementen des Wissens, in Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und den übrigen Schulfächern. Mit dem feinen Auge einer Mutter erkannte sie früh das ungewöhnliche Talent Otto’s, und um so mehr machte sie es sich zu ihrer Lebensaufgabe, einen edlen Menschen aus ihm zu bilden. Deshalb sorgte sie auch für einen Kreis von würdigen Spielcameraden für ihn, und einer derselben, Johannes Recknagel, jetzt einer der tüchtigsten Bürger Eisfelds, der mit Otto bis zu dessen letztem Augenblick in treuer Freundschaft verbunden blieb, erzählt uns über jene Zeit u. A.: „So kann ich mich heute noch erinnern, wie die herrliche Frau, vor der wir, wie die ganze Stadt, die größte Hochachtung hatten, dem Otto und uns, seinen Spielcameraden, fast täglich aus den schönsten Jugendschriften vorgelesen und uns diese Erzählungen so ausgezeichnet schön erklärt hat, daß wir Jungen von sechs bis acht Jahren, und namentlich der kleine Otto, so mächtig ergriffen wurden, daß wir alle diese Märchen und Geschichten theatralisch vorstellen wollten. Das rief natürlich die possierlichsten Austritte hervor; und wenn auch Tische, Stühle und Vorhänge dabei in große Gefahr geriethen, so freute sich die Frau Stadtsyndicus doch herzlich mit uns, zumal wenn Talent sich dabei hervorhob und keine Ausartungen dabei vorkamen. Schon damals konnte Otto sich über gelungene Aeußerungen und Thaten dermaßen aufregen, daß er konvulsivische Muskelzuckungen bekam, ein Uebel, das sich leider später so sehr ausbildete.“

Von der Mutter trefflich vorbereitet, trat Otto 1824, elf Jahre alt, in die Stadtschule ein, zu einer Zeit, wo der allen seinen Schülern unvergeßliche Conrector Morgenroth in derselben waltete; er ist es, von dein Otto Ludwig selbst sagt, daß er seinen Sinn für Musik geweckt habe und der ebendeshalb verdient, daß sein Name in der Lebensbeschreibung seines großen Schülers nicht verschwiegen werde.

In das folgende Jahr fällt der Tod des Vaters. Die Ordnung seines Vermögens-Nachlasses mag zu wenig tröstlichen Resultaten geführt haben. Die Wittwe sah sich genöthigt, zu ihrem Bruder, einem Kaufmann, Christian Otto, zu ziehen, einem alten Junggesellen, dessen Hauswesen sie nun besorgte. Sie lebte in äußerster Zurückgezogenheit und Eingeschränktheit, Alles um ihres Lieblingswunsches willen, dem Sohne eine wissenschaftliche Laufbahn möglich zu machen.

Schon in Otto Ludwig’s letzten Schuljahren schwirrten ihm Hunderte von Ideen und Entwürfen zu Dichtungen, besonders zu dramatischen im Kopfe herum, und schon damals pflegte er die originelle Unordnung – der Franzose nennt’s un beau désordre – in seinen Büchern und Schriften, der er auch später nie ganz untreu geworden. Er schrieb jeden Einfall, jeden ihm neu aufgestiegenen Gedanken, den er für seine dramatischen Pläne oder zur Ausarbeitung in Gedichten benutzen wollte, auf ein besonderes Blatt oder Blättchen; solcher Zettelchen entstanden oft an einem Tage nicht wenige; aber er legte sie nicht je nach dem Stoff, zu dem sie gehörten, zu einander, sondern warf sie auf und durcheinander, so daß er nicht selten nach wenigen Tagen nicht mehr wußte, wozu die einzelnen Theile dieses Reichthums ursprünglich bestimmt waren. Das kümmerte ihn indeß nicht, denn wenn er Gedanken brauchte, hatte er sie auch. – So spielt der glückliche Geist der Jugend mit seinen frischesten Blüthen, – erst wenn der Mensch alt wird, sammelt er und freut sich über sein Herbarium voll dürrer Blätter.

Im Jahre 1827 verließ Otto Ludwig die Stadtschule. Jetzt mußte die Frage über die Zukunft desselben entschieden werden. Verwandte und Freunde riethen vom „Studiren“ ab, für sie sprachen auch die Vermögensverhältnisse; aber das Herz der Mutter konnte es nicht verwinden, das große Talent ihres Lieblings ungepflegt verkümmern zu sehen. Sie that das Aeußerste, opferte was sie konnte, und brachte Otto (1828) nach Hildburghausen. Aber nur zu bald sah sie ein, daß die Opfer ihre Kräfte überstiegen, sie mußte dem Zureden ihres Bruders nachgeben, der seinen Neffen als Lehrling in seinen Laden nehmen wollte, vielleicht mit der versöhnenden Aussicht, einst sein Geschäftsrerbe zu werden. So hing denn Otto Ludwig im Jahre 1829 die grüne Schürze um und verarbeitete die todte Literatur zu Düten, anstatt zur lebendigen sich aufschwingen zu dürfen.

Einen wunderlicheren und ungeschickteren Kaufmannslehrling hat man wohl nie gesehen, erzählt Recknagel. Und da der Onkel ebenfalls einer der wunderlichsten Kauze war, dessen Hagestolzenecken keine weibliche Hand abgeschliffen hatte, so würde Otto ohne die Nähe seiner Mutter das traurige Loos als Pegasus im Joch nicht lange ertragen haben. Die Musik und die Mutter waren sein Trost; letztere litt jedoch unsäglich unter diesen Verhältnissen. Der häßliche Contrast zwischen der hohen geistigen Bestimmung ihres Sohnes und der grünen Schürze drückte sie zu sehr, und daß alle ihre Sorge und Mühe vergeblich war, ihn seinem angeborenen Beruf wieder zu geben, dieser Kummer brach ihr Herz. –

Nach ihrem Tode (1831) fehlte das Auge, das ihn bisher mit einem bittenden Blick von zu ungestümem Wüthen in seine Gesundheit durch langes Nachtarbeiten bewahrt hatte; um so wilder trieb er’s nun, wie er uns oben selbst gesteht. Nach Saalfeld zog ihn der damalige Ruf des Lyceums unter der Heilung des Rectors Reinhard. Nach seiner abermaligen Rückkehr nach Eisfeld emancipirte er sich nach und nach vom Ladendienst, wohnte zwar bei seinem Onkel, warf sich aber ganz auf dichterische und vorzugsweise auf musikalische Arbeiten. Mehrere Sommer verlebte er im Landhause des Gartens, der ihm vom väterlichen Grundbesitz [295] noch erhalten worden war. Diese stille Klause theilte er mit einem Freund (Schaller, jetzt Amtsverwalter in Kranichfeld), von welchem wir über das Leben und Treiben des Dichters in dieser Zeit werthvolle Mittheilungen erwarten dürfen.

Zur Fortsetzung der bereits begonnenen Studien fehlten ihm die Mittel; auch würde er sich schwerlich für ein Fachstudium entschieden haben, seitdem er sich einmal in „das freie ungebundene Wirken und die schöpferische Selbstthätigkeit“ hineingelebt hatte. Seine Vorbildung genügte wenigstens, um ihm den autodidaktischen Weiterbau möglich zu machen, während zugleich die Quelle seiner dichterischen und musikalischen Production nur so sprudelte. Leider hat sich namentlich von den literarischen Versuchen aus jener Zeit wenig erhalten. Sein alter Onkel erzählte oft: „daß sein Neffe ganze Bände voll Gedichte und Novellen, die in ihren Einzelheiten von scharfen Kritikern bewundert wurden, zum Drucke fertig liegen gehabt habe; aber Nichts von alle diesem habe Gnade vor seinen Augen gefunden, wenn er vom Tage und Nächte langen Studium von Shakespeare’s oder Goethe’s Werken zur Prüfung seiner eigenen Arbeiten zurückgekehrt sei.“ Mehr haben seine Freunde von seinen musikalischen Kompositionen gerettet. Vor mir liegt, von seiner Hand geschrieben, ein Heft Liederstudien und Studien zu Schiller’s Taucher, für eine Stimme mit Pianofortebegleitung, beide im November 1839, Ouverture und Anfang zu einer Oper „Romeo und Julie“, ein Requiem, im September 1839 schon in Leipzig componirt, und eine Komposition des Erlkönigs, die von Kennern in einzelnen Zügen der Schubert’schen noch vorgezogen wird; endlich ein Heft „Dramatisch musikalische Studien“, die u. A. eine Parodie in Form einer Ouverture (Il divino Rossini) enthalten. Von den beiden Opern (oder vielmehr Dramen mit Musik und Gesängen), die er in Eisfeld vollendet hatte – „die schöne Müllerin“ und „die Geschwister“ – sollte die letztere ihn zu einem Wendepunkt seines Geschickes führen. Nachdem er die Partitur zur Beurteilung an Stunz in München und dann an Totzauer in Dresden geschickt und von beiden vielbeschäftigten Künstlern, augenscheinlich unausgepackt, zurückerhalten hatte, trieb es ihn, die Wirkung dieses Stückes in seinem Eisfeld gleich selbst zu erproben. Er hatte längst nicht nur ein Gesang-, sondern auch ein Streichquartett aus Dilettanten der Stadt und Umgegend gebildet, die bei den üblichen Concerten sich großen Beifalls erfreuten, ein Liebhabertheater bestand bereits, es galt also nur noch eine Vervollständigung des Orchesters und der Chöre und gründliche Einübung, so mußte es gehen.

Und es ging. Wir wissen bereits, mit welchem Eifer alle Betheiligten zu Werke schritten, und als nun die lang ersehnte Aufführung geschah, da rief sie eine Begeisterung hervor, deren Schwingen diesmal die Kunde und den Namen des Dichter-Componisten über das Weichbild der Stadt hinaustrugen. Auch in Hildburghausen und Meiningen würdigte man plötzlich die Leistungen des jungen Mannes größerer Aufmerksamkeit. Otto Ludwig schreibt hierüber weiter in seiner oben angeführten Selbstbiographie: „Damals sendete die Kesselring’sche Hofbuchhandlung in Hildburghausen einige Compositionen, die ich ihr angeboten, an den Capellmeister Grund in Meiningen zur Beurtheilung, der mich dem Herzoge empfiehlt. Ich erhalte 1839 ein Reisestipendium vom Herzog, ohne darum angehalten zu haben, und eine Empfehlung an Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig.“ – So war denn endlich die Fessel gelöst, die den Genius an die Scholle gebunden hatte. Wie tief und froh da die junge Seele aufgeathmet haben mag, das weiß nur der, dem der Himmel der Jugendsehnsucht eben so hart verschlossen war und ebenso unverhofft sich öffnete.

Otto Ludwig ging nach Leipzig mit dem Entschluß, sich vorzugsweise der Musik zu widmen. Wir wissen, daß er denselben später aufgab, daß zwar die Musik bis an sein Lebensende ihm eine alte Liebe war, der er treu blieb, daß er sich aber später alles früher so leidenschaftlich geübten Componirens enthielt und ausschließlich dichterischer Schöpfung lebte. Man hat die Ursache dieser Wandelung in dem Nervenleiden gesucht, das ihn jetzt öfter und gefährlich niederwarf; daß aber auch tiefer liegende Ursachen ihm das Studium dieser Kunst verleideten, darüber geben Briefe Otto Ludwig’s an seinen Onkel Ausschlüsse. Doch müssen wir die Leser bitten, nicht zu vergessen, daß er diese Briefe nach der ersten überstandenen Krankheit und den anderen Leiden des Winters schrieb, und daß dies vor fünfundzwanzig Jahren geschah. Erklärt dies das hier und da hervortretende Schroffe im Urtheil, so wird das Ganze doch volle Beachtung verdienen als ein direkter Einblick in die geistige Werkstatt des genialen Mannes. Die vergilbten Briefe mit der festen klaren Handschrift sind im März und April geschrieben.

Nachdem er im ersten derselben dem Onkel gesagt, daß dessen Brief ihn mitten im Studium Hegelscher Abstraktion und Negation überrascht und für den ganzen übrigen Tag davon losgerissen habe, fährt er fort:

„Du mußt nämlich wissen, daß ich, um den Geist der modernen Zustände, besonders ihrer Aesthetik halber, die ungeheuer auf die Kunst aller Gattung eingewirkt, beim Schopfe zu fassen, mich einigermaßen in diese berufene Philosophie hineinstudire. Ihr Leute in Eisfeld und Hildburghausen habt gar keinen Begriff von der Richtung der Musik und Poesie der letzten Jahre. Wer mit den Grundsätzen zur Production und Beurtheilung beider nach Leipzig kommt, wie mir geschehen, dem geht es wie einem Landjunkerlein, das nach alter Mode gekleidet nach Paris kommt. Er wundert sich über die Leute, die Leute sich über ihn. Ich muß mein Bischen Aesthetik rein auf den Kopf stellen. Der Unwille, ja Widerwille, mit dem ich daran gehe, die neuen Kleider anzuziehen, entsteht nicht, weil das Alte mir besser gefiel, weil es eben alt und das brütende Element war, sondern weil ich mich nicht dazu bringen kann, das Bessere um das Neuere zu tauschen. Den neuern, ultraromantischen, oder wie man ihn nennen will, Standpunkt der Musik und den, aus dem man sie, um sie sich zu vermitteln, ansehen muß, zu finden, ist so lange vergebens, als man sich nicht begreiflich machen kann, daß sie aus sich selbst heraus in eine Sphäre getreten ist, die ihr nur ein künstliches Dasein erlaubt, daß sie in einem gemietheten Hause lebt, nämlich aus einer Kunst für das Gemüth eine des Verstandes geworden ist. Mir ist namentlich im Anfang beim Anhören von Musiken der neuen und neuesten Schule immer die an Grauen streifende Scheu gegenwärtig gewesen, die mich als Kind in der Nähe eines versteckten mechanischen Triebwerks angewandelt; um ein Bild daher zu nehmen: ich kletterte unter den Glocken des Kirchthurms über die Stangen hin, die das Werk und den Hammer vermitteln, ängstlich vermeidend auf sie zu treten und doch von aller Graulust, diesem Schwindel an den Gemüths-Abgründen gepackt, es zu thun; denn ich wußte, trat ich auf eine diese Stangen, so gellte ein Glockenschlag in mein Ohr, und während ich schwankte zwischen Drang und Abwehr, hob sich die Stange wie von selbst und der Glockenschlag, der ersehnte und gefürchtete, scheuchte meine Nerven in sich selbst zurück. Dieses Drängen und Rückhalten und wieder Drängen und Rückhalten und auf einmal dieser Klageton, wie aus der Brust eines Dämons! Und ich meinte und meine noch, die Musik soll heilen, nicht zerreißen, soll versöhnen, nicht verletzen … Ich kann versichern, daß diese Art Musik mich manchmal zu zerstören drohte. Wahrlich, es ist weit gekommen, daß man Senf als Gemüse ißt … Das ist die politische Revolution von 1789, die jetzt in der Musik nachrebellirt, Metzelei, Verhöhnung des Heiligsten, das sich in die innersten Winkel der Seele zurückflüchtet, Königsmord in Tönen … Und was mich ergötzt und entzückt hätte, die Haydn’schen, Mozart’schen, Beethoven’schen Werke, dienten in der Zusammenstellung mit jenen nur dazu, mich vollends zu zerreißen. Sie waren die Sonnenblicke im Frühjahr, die alle Knospen der Seele mir deshalb herauslockten, daß sie der Frost vernichte.“

Ist hier nicht deutlich genug die Kluft gezeichnet, die Otto Ludwig mehr und mehr von der Ausübung der Tonkunst schied? Und Niemand wird dies beklagen, denn aus dieser Darstellung seines Seelenleidens blickt uns schon der Meister in der Seelenmalerei entgegen, in der er später so Vollendetes leisten sollte.

(Schluß folgt.)



[296]
Wahnsinnig und doch Peitschenhiebe![2]

Mit dem Fortschritt der Cultur ist die Strafrechtspflege von Jahrhundert zu Jahrhundert eine mildere geworden; die Barbarei der Folter hat längst aufgehört, – für die Abschaffung der Todesstrafe hat sich eine mächtige Agitation erhoben, – der Staat verwendet heutzutage bedeutende Mittel auf die Einrichtung gesunder und zweckmäßiger Gefängnisse, mehr und mehr strebt man, besonders in England, dahin, das Besserungs-System in diesen Anstalten zur Geltung zu bringen, den Gefangenen durch Unterricht und Gewöhnung zur Arbeit wieder für die menschliche Gesellschaft nützlich zu machen, gegen deren Ordnung er gefrevelt hatte. Es ist nicht zu leugnen, diese humane Richtung gewinnt immer mehr Boden. Darum macht es einen desto betrübenderen Eindruck, wenn hin und wieder aus dem Leben der Gefängnisse Brutalitäten und Quälereien berichtet werden, die selbst die Willkür der betreffenden Beamten nur mangelhaft zu entschuldigen vermag. Gelingt es nur selten, dergleichen Mißbräuche zu constatiren, so hat die Presse da, wo der Zufall sie an’s Licht bringt, eine um so größere Pflicht, sie an die Oeffentlichkeit zu ziehen und ihr Urtheil darüber nicht zurückzuhalten. Mögen deutsche Volksvertretungen in dem Kampf um politische Rechte und über den glänzenden, oft leider müßigen Debatten über Tagesfragen jene wichtigeren Reformen nicht vergessen, die der Standpunkt der heutigen Bildung unabweislich fordert und deren Aufschub ein trauriges Zeugniß für unsern praktischen Sinn sein würde. Die Möglichkeit auszuschließen, daß solche Fälle, wie sie der nachstehende Bericht schildert, in der Verwaltung einer bedeutenden Strafanstalt eines deutschen Großstaates vorkommen können, ist jedenfalls ein gerechtfertigter Anspruch, in einer Zeit zumal, die sich so lebhaft für die Emancipation der Negersclaven, für die gute Behandlung der Hunde und Katzen u. s. w. interessirt.

Das Material zu diesem Bericht hat uns ein Actenstück: „Acten der Straf-Anstalt R. über Melchior F.“ (Litt. F. 377) gegeben. Dasselbe ist zu Anfang der dreißiger Jahre angelegt und bis in die neueste Zeit fortgeführt. Dieser Melchior F. war zwanzig Jahre alt, als er in’s Zuchthaus wanderte. Er ist bestraft worden:

Durch Urtel vom 3. September 1833 wegen Diebstahls mit sechs Monaten Zuchthaus und dreißig Peitschenhieben;
durch Urtel vom October 1834 wegen fünf verschiedener Diebstähle mit vier Jahren Zuchthaus und sechszig Peitschenhieben;
durch Urtel vom 20. April 1844 wegen großen gemeinen Diebstahls mit drei Jahren Zuchthaus;
durch Urtel vom 3. October 1850 wegen kleinen gemeinen Diebstahls und Beschädigung fremden Vermögens aus Rache und Bosheit mit fünf Monaten Zuchthaus;
durch Urtel vom 30. November 1852 wegen eines kleinen gemeinen und zweier schwerer Diebstähle mit fünfzehn Jahren Zuchthaus und fünfzehn Jahren Polizei-Aufsicht;
endlich wegen vorsätzlicher Brandstiftung mit zwölf Jahren Zuchthaus. (Diese Brandstiftung hatte F. in der Straf-Anstalt zu R. verübt. Gemeinschaftlich mit einigen Mitgefangenen hatte er versucht, das Gebäude in Brand zu stecken. Dieser Versuch wurde aber noch rechtzeitig vereitelt.)

Außerdem hat er verschiedene kleine Strafen erlitten. F. hat eine mangelhafte Erziehung genossen und sein Gemüth hat wenig gute Anlagen gehabt. Im Jahre 1834 stahl er einem blinden Bettler seine aus 17 Silbergroschen 6 Pfennigen bestehende Baarschaft. Kaum hatte er die eine Strafe verbüßt, als er sich schon eine neue zuzog. Die verschiedenen Zuchthausstrafen, die sich nach und nach bis auf zusammen fünfunddreißig Jahre gehäuft hatten, verbüßte F. in R. Wir lassen hier gleich das den Acten vorgeheftete Verzeichniß der gegen ihn in R. verhängten Disciplinar-Strafen folgen. Es lautet wörtlich:

Disciplinar-Strafen gegen F.
25./11. 1834. Wegen Unterhaltung: 2 Tage Wasser und Brod.
5./12. 1834. Nicht erledigtes Arbeitspensum: 1 Tag Wasser und Brod.
9./2. 1835. Unterhaltung: 8 Peitschenhiebe.
4./7. 1835. Eigenmächtiges Abschneiden der Kette: 5 Peitschenhiebe.
7./9. 1835. Unterhaltung: 5 Peitschenhiebe.
10./12. 1835. desgl.      5      "
24./5. 1836. desgl.      5      "
16./6. 1837. Unterhaltung und Ungebührniß: 10 Peitschenhiebe.
29./5. 1844. Ungebührliches Vergreifen an Speiseresten: 1 Tag Wasser und Brod.
27./7. 1844. Unterhaltung: 1 Tag Wasser und Brod.
3./8. 1844. Tabakrauchen: 10 Peitschenhiebe.
3./8. 1844. Raisonnement und Verhöhnung der ihm auferlegten Strafe: 10 Peitschenhiebe.
19./11. 1844. Weil er in fünf Tagen sechs Pfund Garn zu wenig gesponnen: 2 Tage Wasser und Brod.
2./12. 1844. Weil er in zwölf Tagen sechszehn Pfund Garn zu wenig gesponnen: 10 Peitschenhiebe.
3. 12. 1844. Versuchte Verschleppung von Arbeits-Material nach dem Abtritt: 2 Tage Wasser und Brod.
16./12. 1844. Unterhaltung: 1 Tag Wasser und Brod.
23.12. 1844. Weil er in elf Tagen fünfzehn Pfund Leistengarn zu wenig gesponnen: 10 Peitschenhiebe.
14./4. 1845. Schimpfen gegen einen Mitsträfling: 2 Tage Wasser und Brod.
16./2. 1847. Hegung von Ungeziefer: 1 Tag Wasser und Brod.
9./1. 1851. Unterhaltung beim Antreten zum Abendgebet: 1 Tag Wasser und Brod.
16./1. 1851. Unterhaltung im Arbeitssaale: 8 Peitschenhiebe.
1./3. 1853. Suchte seine Augen zu beschädigen: 10 Peitschenhiebe.
September 1853. Hinaussehen aus dem Fenster: 20 Peitschenhiebe.
27./12. 1853. Anzünden von baumwollenem Abgang in seiner Isolir-Zelle, so daß sich Brandgeruch verbreitete: 36 Stunden Latten bei Wasser und Brod.
1.5. 1854. Wegen Entwendung von 2 Blättern weißen Papiers aus seinem Arbeitsbuche: 15 Peitschenhiebe.
2.5. 1854. Garnverwüstung: 10 Peitschenhiebe.
22./5. 1854. desgl. 15      "
13./1. 1855. Weil er in 9 Tagen 40 Ellen Kattun zu wenig gewebt: 15 Peitschenhiebe.
24./7. 1855. Zu wiederholten Malen den Suppenrest in den Urinkübel gegossen: 2 Tage Wasser und Brod.
23./10. 1855. Zu wiederholten Malen raisonnirt, daß die Suppe schlecht ist: 3 Tage Entziehung der Morgen- und Abendsuppe.
16./6. 1856. Raisonnement: 2 Tage Wasser und Brod.
25./8. 1856. Raisonnement über Essen und Beamte: 2 Tage Wasser und Brod.
2./9. 1856. Hat seine Abendsuppe in den Urinkübel gegossen, mit Raisonnement: 2 Tage Wasser und Brod.
7./11. 1856. Hat in 6 Tagen 70 Ellen Kattun zu wenig gewebt: 15 Hiebe.
24./8. 1858. Versuchte Entweichung: 15 Hiebe.
20./9. 1858. Brodkaupelei: 1 Tag Wasser und Brod.

Wegen Verdachts der Brandstiftung und wegen Fluchtversuchs aus der Straf-Anstalt zu Kozmin am 1. December 1852, isolirt.

27./11. 1861. Schlechte Arbeit als Weber: 6 Tage Latten bei Wasser und Brod.
12./6. 1862. Eigenmächtiges Ausschneiden seines Arbeits-Fabricats als Weber und Vernichten des Arbeitsgeräths: 12 Tage Latten bei Wasser und Brod und Entziehung jeder Geldzulage, auch Schadenersatz.
30./9. 1863. Wegen unangemessenen Betragens gegen den Aufseher: 1 Tag Latten.
überhaupt: 25 Tage Wasser und Brod,
3      „      Entziehung der Morgen- und Abendsuppe,
19 Tage und 36 Stunden Latten bei Wasser und Brod,
211 Peitschenhiebe (außer den durch Erkenntniß festgesetzten, siehe oben)!

[297] F. war darüber wahnsinnig geworden. Schon im Jahre 1856 fiel einem Departements-Rath bei Gelegenheit der Revision der Anstalt das eigenthümliche Benehmen des F. auf. Er nahm davon Notiz und die Bezirks-Regierung forderte die Anstalts-Direction auf: den F., der damals schon seit längerer Zeit in der Isolir-Zelle untergebracht war, wenigstens in ein helleres Local unterzubringen. In Folge dessen wurde F. durch den Anstalts-Arzt untersucht. Der letztere bestritt, daß Wahnsinn vorliege; der Director berichtete dies und erklärte sich gleichzeitig „außer Stande“, dem Gefangenen ein anderes Local anzuweisen.

Im Jahre 1857 kam der Departements-Rath wieder zur Revision und fand auch diesmal den Geisteszustand des F. besorgnißerregend. Der Anstaltsarzt, seinerseits zur Erklärung aufgefordert, wollte indeß noch immer nichts davon wissen, behauptete Simulation und versprach nur, den Gefangenen öfter zu beobachten. Nichtsdestoweniger war F. in der That damals schon gemüthskrank und seinen Mitgefangenen, wie auch denjenigen Beamten der Anstalt, die ihn täglich sahen, war dies vollkommen bekannt. Von früherher galt er – das sagen auch die Führungs-Zeugnisse – als ein frecher und verschmitzter Mensch, verrichtete indeß im Allgemeinen seine Arbeit gut und wußte sich in die Disciplin der Anstalt zu finden. Dies Zeugniß wird ihm mehrfach gegeben. Das Strafverzeichniß haben wir gelesen; sehen wir uns seit dem Jahre 1860, wo die Symptome des Irrsinns immer unzweifelhafter hervortraten, die Acten genauer an.

Am 25. Februar 1861 zeigte der Geistliche der Anstalt an:

„Da der inhaftirte Melchior F. durch sein scandalöses Benehmen während des Gottesdienstes nur Aergerniß giebt und trotz meiner vielfachen Ermahnungen keine Besserung zeigt, so beantrage ich, denselben von dem Besuche des Gottesdienstes auszuschließen.“ Z.

Das geschah denn auch. Vom 25. November 1861 befindet sich bei den Acten folgende Anzeige eines Anstalts-Beamten: „Der Strafgefangene Melchior F., als Weber in der Isolir-Zelle beschäftigt, ist zwar ein sehr fleißiger, aber auch sehr flüchtiger Weber. Wenngleich seiner Arbeit Egalität nicht abgesprochen werden kann, so ermangelt sie doch der Qualität, die sie verkäuflich macht, indem sie stets zu leicht ausfällt und nie den vorgeschriebenen Schuß enthält.“

„Mit Rücksicht auf seinen Geisteszustand (!) sind zeither nur Verwarnungen angewandt und ihm nur ein niederes Material zur Verarbeitung verabfolgt, aber auch dieses ist erfolglos geblieben und fortwährend kommen seine Gewebe um vier bis fünf, ja noch darüber unterm Gewichte heraus, wie das gehorsamst beigefügte Arbeitsbuch ergiebt. Da hierüber bereits vielfach vom Fabrikanten geklagt worden ist und der Werkmeister Anstand nimmt, demselben weiter Kattun zu verabreichen, so verfehle Einer königlichen Direction ich nicht, dieses hiermit zur weiteren Bestimmung gehorsamst anzuzeigen.“

K., den 25./11. 1861

Dieser Beamte constatirt also ausdrücklch, daß der Geisteszustand des Gefangenen zweifelhaft sei. Auf seine Anzeige erging folgende Verfügung:

D.

„F. muß, wie sich von selbst versteht, … (unleserlich) für die zeitherige schlechte Arbeit, demselben 6 Tage Latten-Arrest bei Wasser und Brod.

27.11. 1861. M.“

darunter: „demselben publicirt und das Erforderliche veranlaßt etc.“

Am 28. December 1861 zeigte der Werkmeister wieder an, daß F. schlechte Arbeit geliefert habe. Der Arzt bemerkt daneben:

„Der Melchior F. ist züchtigungsfähig bis zu 10 Hieben.“

Darauf empfängt der Wahnsinnige auf Anordnung der Direction 10 Hiebe und muß den verursachten Schaden mit 4 Thaler 25 Silbergroschen ersetzen!

Am 5. Juni 1862 wieder schlechte Arbeit.

Arzt: Züchtigungsfähig bis zu 10 Hieben.
Verfügung: zwölf Tage Latten-Arrest bei Wasser und Brod.

Am 12. November 1863 wurde F. nochmals ärztlich untersucht. Der Anstaltsarzt hält ihn noch immer für einen Simulanten und empfiehlt nur: ihn bei körperlichen Züchtigungen zu berücksichtigen. Latten-Arrest sei zulässig.

Endlich, am 17. Januar 1864, wird der Wahnsinn durch ein Attest des nämlichen Anstaltsarztes anerkannt. Am Schlusse desselben heißt es:

Dabei arbeitet er jedoch fleißig und liefert sogar Ueberpensa. Das Betragen des Kranken ist weder gegen die Sitten anstößig, noch der eigenen oder der Sicherheit Anderer gefährlich.“

F. wurde nun nach der Provincial-Irrenheil-Anstalt in O. gebracht, wo er sich bis auf Weiteres jetzt noch befindet.[3] Dort erklärte man ihn für unheilbar. Die Krankheit wurde festgestellt als hallucinatorischer Wahnsinn, „der schon seit langen Jahren“ sich ausgebildet habe. Die Ursachen waren verschiedener Art. F. hatte noch eine lange Strafzeit vor sich.

Seit dem 15. September 1853 war er in der Isolir-Zelle. Trotz angestrengter Arbeit, trotz des von den Beamten anerkannten Fleißes kam er nicht weiter, wurde oft und hart gezüchtigt und mußte seinen Ueberverdienst sich auf Schadenersatz abziehen lassen. Dabei mag ihn oft der Gedanke an seine heimathlichen Verhältnisse beunruhigt haben. F. war verheirathet; seine Frau hatte eine Bauernwirthschaft in die Ehe gebracht. Als er das erste Mal zu Zuchthaus verurtheilt wurde, kam das Grundstück wegen der schuldigen Gerichtskosten zum öffentlichen Verkauf. Die Frau gerieth in große Noth und wandte sich einige Male an den Mann mit der Bitte, ihr ein paar Gulden von seinem Arbeitsverdienst zu schicken. Zuletzt hörte der Briefwechsel auf, die Frau mußte entweder gestorben oder nach einer andern Gegend verzogen sein.

In seinen verworrenen Phantasieen bezeichnete sich F. als einen Menschen, der von Jugend auf zum Stehlen angeleitet worden sei. Er glaubte sich fortwährend beobachtet, von bösen Geistern umgeben u. s. w. Man denke sich diesen Unglücklichen in der Einsamkeit seiner dunklen Zelle, wie ihm in Groll über seine Wehrlosigkeit, über das rohe Unrecht, das man ihm thut, allmählich die Sinne schwinden. Den Hoffnungslosen umnachtet der Wahnsinn. Er hat sein Schicksal erfüllen müssen. Trotz alljährlicher Revisionen, bei Gelegenheit deren der Wahnsinn des F. schon im Jahre 1856 erkannt wurde, trotz der Gewissenhaftigkeit des Anstaltsarztes, der den Gefangenen hartnäckig als Simulanten bezeichnet und seinen Irrthum erst im Jahre 1864 eingesteht, wird zur Erleichterung des Kranken nichts gethan, ihm nicht einmal eine hellere Zelle gegeben. Die Sache ist für die Verwaltung vollständig in Ordnung – es befindet sich in den Acten, die sonst sehr vollständig sind, nirgends eine Rüge gegen diese Verwaltung, und der Zuchthaus-Director M. hat seiner Zeit, als er jene Direction niederlegte, den Ruf eines sehr tüchtigen Beamten mit sich genommen.

Wohl möchte man wünschen, die Registraturen und die Strafverzeichnisse der deutschen Zuchthäuser einmal durchgehen zu können. Nach diesem einen Fall, in dem nicht einmal eine Regelwidrigkeit gerügt worden ist, scheint die Vermuthung begründet, daß jene stillen Mauern, in denen ein „tüchtiger Verwaltungsbeamter“ die souveräne Peitsche führt, viel geheimes Unrecht bedecken – trotz der wohlwollenden Absichten des Gesetzgebers und der humanen Richtung des Jahrhunderts. Der Schrei der Unglücklichen dringt nicht über ihre Zelle hinaus; ihre Klage hat nur ein beschränktes Recht – für sie giebt es weniger Recht, sondern nur die Disciplin. Beim Wollezupfen siechen sie langsam dahin, mit gebrochener Kraft kehren sie in ihre Heimath zurück; gewöhnlich befreit sie der Tod schon früher, und stärkere Naturen – übermannt nicht selten der Wahnsinn.

Wir brechen die Reflexion ab – die erzählten Thatsachen eines einzigen, zufällig zu unserer Kenntniß gelangten Falles machen sie überflüssig.

* * *



[298]
Der bairische Hiesel.
Volkserzählung aus Baiern.
Von Herman Schmid.

Geschmeichelt verneigte sich die Frau und stieß mit dem artigen Waidmann an, der ihr sein Glas entgegenhielt. „Ja,“ sagte sie „mein Mann ist auch ein prächtiger Mann, sonst wär’ ich ihm wohl auch nicht nachgezogen in die einsame Försterei – denn ich bin nicht im Holz aufgewachsen, ich bin in der Stadt daheim!“

„Und seid Ihr doch eingewöhnt? Und sehnt Euch nicht zurück?“

„Nicht einen Augenblick. Anfangs freilich, da ist’s schwerer gegangen, da ist mir oft das Wasser in die Augen gekommen, aber ich bin gar bald heimisch geworden, und vollends seit der kleine Schlingel in der Wiege gekommen ist, weiß ich gar nicht mehr, daß es eine Stadt giebt!“

Hiesel mußte sich abwenden. „Und fürchtet Ihr Euch nicht, so allein zu sein?“ fragte er.

„Nein – wer soll mir denn was anhaben! Zu holen ist bei uns nicht viel, das wissen die Leut’, und so lassen sie uns wohl in Ruh! Freilich, der bairische Hiesel, wenn der in’s Haus käme, da könnt’ es mir übel gehen, der soll wilder sein und ärger hausen als der leibhaftige!“

„Warum nicht gar!“ rief Hiesel lachend. „Glaubt solche Sachen nicht – der Hiesel thut keinem Kinde was zu leide und hat’s nur mit denen zu thun, die ihn verfolgen!“

„Ihr nehmt Euch ja recht seiner an!“ sagte die Jägerin verwundert. „Das sollte man nicht glauben von einem Jäger und noch dazu von einem, der gerade darauf ausgeht, ihn zu fangen!“

„O, das macht nichts!“ rief Hiesel lachend und stieß mit seinen Gefährten an. „Er mag sich nur vor mir in Acht nehmen – von mir kriegt er gewiß kein Pardon!“

Die Cameraden lachten mit und die Jägerin spottete: „Er wird’s auch nicht nöthig haben … Ihr seid ein wenig spät daran!“

„Das fürcht’ ich nicht, ich verlasse mich auf mein gutes Glück und das weiß ich gewiß, daß sie den Hiesel nit eher fangen, als bis ich dabei bin … Aber die Frau Försterin hat Recht, Cameraden,“ fuhr er, sich erhebend, fort, „es ist doch wohl Zeit, daß wir uns auf den Weg machen …“

Er sah wieder in der Stube umher. „Warum schaut Ihr so herum?“ fragte die Frau.

„Weil es mir so gar gut bei Euch gefällt,“ sagte er herzlich, „mir ist, als wenn ich schon oft bei Euch gewesen wäre …“

„So kommt nur wieder, wenn auch mein Mann daheim ist … Ihr seid wohl noch nicht lang in der Gegend? Ich muß meinem Mann doch Euren Namen sagen und wo Ihr im Dienst seid!“

„Natürlich müßt Ihr das,“ erwiderte Hiesel, an der Thür stehend, „und sollt auch meinen Namen erfahren!“ Damit faßte er die bestürzte Frau rasch um die Mitte und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf die frischen Lippen. Wie mit Purpur übergossen riß die Zürnende sich los und sprang gegen den Tisch zurück. „Was wäre mir denn das?“ stammelte sie fast athemlos.

„Das ist der Dank für das gute Frühstück,“ rief der Wildschütz lachend im Davoneilen, „und ein Kuß vom bairischen Hiesel!“

Die Jägersfrau schrie laut auf, als sie aber sah, daß der Furchtbare mit seinen Genossen schon aus dem Hause war und ruhig über die Wiesen dahin schritt, erholte sie sich von ihrem Schrecken. Bedenklich wischte sie sich den Mund und trat dennoch mit einem verlegenen Lächeln unter die Thür; als der Wildschütz am Waldeingang noch einmal zurück sah und grüßend den Hut schwenkte, da hob sie unwillkürlich die Hand und winkte zum Gegengruß.

Bald war der Ausgang des Waldes erreicht, nahe an demselben lag das Dorf, aber schon von fern tönten den Ankommenden streitende Stimmen entgegen. „Es ist der Sternputzer,“ rief der scharfsichtige Bub, „er hat Händel mit einem Andern,“ und im Laufe waren sie bei den letzten Häusern des Dorfes angelangt. Das äußerste davon hatte ein feineres und städtisches Aussehn; es gehörte einem alten Mauthner an, der sich in das Dorf als seinen Geburtsort zurückgezogen und sich da einen kleinen Ruhesitz gegründet hatte. Den Garten um das Haus hatte er selbst angelegt und schöne Obstbäume gepflanzt, welche kräftig dastanden und schon eine schöne Ernte versprachen; besonders schön stand hart am Zaun ein stattlicher Baum mit herrlichen Frühäpfeln, welche lockend über die Stangen der Umzäunung heraushingen. Der Sternputzer hatte im Dorfe nichts Verdächtiges gefunden, es gehörte einem Landesherrn, dessen Gebiet die Bande noch nicht betreten hatte und von dem ihr daher auch keine Gefahr drohte; die Verfolger mußten blos an der Grenze anhalten und durften sie erst nach langen Verhandlungen überschreiten. So schlenderte er nach gemachter Bestellung bequem durch das Dorf, sah die schönen Frühäpfel aus des Mauthners Gärten hängen und konnte der Lockung nicht widerstehen sie zu versuchen und ein paar zu pflücken. Darüber war der Alte wie ein Wüthender herausgefahren und wollte den Thäter durchaus zum Ortsrichter führen, damit derselbe als Gartendieb bestraft werde. Der Sternputzer weigerte sich die Aepfel zurückzugeben und wollte ebensowenig zum Richter folgen; er versuchte sich loszumachen, aber der Mauthner war ein handfester Mann und hatte ebensoviel Klammern in den Händen als Finger. So rissen sie einander schreiend und schimpfend herum, bis Hiesel herankam.

„Auseinander!“ rief er mit so gebieterischem Ausdruck in Ton und Miene, daß auch der Mauthner, obwohl etwas verdutzt, gehorchte. „Der Erste, der den Andern noch anrührt, hat meinen Büchsenkolben am Kopf.“

„Oho, Herr Jäger!“ rief der Mauthner. „Sei der Herr nicht so oben hinaus, sonst muß Er auch mit zum Richter, es giebt für die Schläger so gut ein Gefängniß, wie für Diebe!“

„Diebe! Wer untersteht sich, zu sagen, daß unter meinen Leuten Diebe seien?“ fuhr Hiesel auf. „Erzähle, Sternputzer, was ist’s gewesen? … Deßwegen,“ fuhr er, als er den Vorfall erfahren hatte, spöttisch fort, „wollen wir den Richter nicht incommodiren … einen solchen Bagatell macht der bairische Hiesel gleich selber ab! Gieb ihm die Aepfel zurück, er ist ein alter Filz, der auch einem Hungrigen, der verschmachtend vorbeikäme, die Erfrischung nicht vergönnte! Glaubst Du, unser Herrgott läßt Dir die Aepfel allein für Deinen gierigen Rachen wachsen? … Für diese schlechte Gesinnung und weil Du Dich an einem von meinen Leuten vergriffen hast, gehört Dir eine Straf’ und die sollst Du haben! … Wo ist der Hirsch, den ich heut geschossen hab’?“

„Dort!“ antwortete der Bub’, „bringen ihn gerade ihrer viere an Stangen auf den Achseln getragen … es ist ein Prachtthier!“

„Sagt ihnen, sie sollen den Hirsch hierher bringen!“ begann Hiesel wieder. „Der Herr da will sich aus seinen Aepfeln ein Aepfelmus machen, dazu ist nichts besser, als ein saftiger Wildbraten … der Herr kauft uns den Hirsch ab!“

„Aber …“ stammelte der Mauthner, dem fast die Stimme versagte.

„Nichts aber! Der Herr will uns durchaus den Hirsch abkaufen und weil ihm doch so gar sehr darum zu thun ist, will ich ein Aug’ zudrücken – er soll ihn um zwanzig Gulden haben! Geb’ sich der Herr keine Müh’,“ fuhr er fort, als der Mauthner noch Einwendungen zu machen versuchte, „ich weiß wohl, der Herr ist splendid und meint, das Thier sei mehr werth … thut nichts, es bleibt bei den zwanzig Gulden, aber meine Schützen schlagen ein paar Gulden nicht aus, als Trägerlohn, weil sie ihm den Braten bis in die Küche bringen…“

Der Zöllner spielte in allen Farben vor Grimm; er rannte in’s Haus, sperrte die Thür zu und kümmerte sich nicht um den Hirsch, den die Schützen im Vorplatz niederplumpen ließen. Mit zornbebender Hand reichte er Kaufpreis und Trinkgeld durch’s Fenster heraus.

Der Zug ging weiter, vergrößert durch Hiesel’s herbeikommende Gefährten und einige Neugierige, die aus den Bauernhäusern [299] herbeigelaufen waren, und bald waren die Schützen im Wirthshause bei dem einfachen, aber ausgiebigen Mahle versammelt und ließen der Bestellung des Sternputzers alle Anerkennung widerfahren. Sie waren lustig und guter Dinge und neckten sich mit den Bauern, die anfangs scheu, dann immer vertraulicher näher kamen. Hiesel entging es nicht, daß sie betrübte Gesichter machten, unter sich beriethen, einander wie ermuthigend anstießen und sich doch nicht zu reden getrauten.

Eben wollte er entgegenkommend sie um ihr Anliegen befragen, als vor dem Wirthshause Lärmen und Gerauf entstand. Alles eilte hinaus.

Als Hiesel hinzukam, traf er den Rothen in den Händen eines Fuhrmannes, der eben mit einem großen Frachtwagen vor dem Hause angefahren und darangegangen war, seine Pferde auszuschirren; da erblickte der Mann den Rothen, der behaglich in der Thür lehnend und mit spöttischem Lachen seiner eigenen Fuhrmannslaufbahn gedachte, und hatte ihn im nächsten Augenblick schon am Kragen gepackt und zu Boden geworfen.

„Was hast Du mit dem Mann?“ rief Hiesel. „Es ist einer von meinen Leuten – laß ihn los!“

„Wer er ist, weiß ich nicht,“ rief der Fuhrmann entgegen, „aber daß er ein Spitzbub’ ist, sag’ ich ihm vor Gott und der Welt in’s Gesicht!“

„Warum nennst Du ihn so? Was hat er gethan?“

„Ah bah, nichts,“ sagte der Rothe lachend, aber man sah ihm an, daß ihm nicht ganz wohl bei der Sache war, „es ist nichts als ein Spaß!“

„Das wär’ mir ein sauberer Spaß!“ rief der Fuhrmann. „Bei Ulm bin ich mit ihm in einer Herberg’ zusammengetroffen, ich hab’ ihn für einen ordentlichen Menschen gehalten und bei mir in der Kammer schlafen lassen – wie ich aber Morgens aufgewacht bin, da ist er fort gewesen und mein Geldbeutel mit ihm und die Brieftasche, worin alle Frachtbriefe steckten, und alle meine Zeugnisse…“

„Ist das wahr?“ rief Hiesel mit flammenden Augen.

„O, das ist noch nicht Alles,“ fuhr der Fuhrmann fort, „mit meinen Zeugnissen ist er nach Ulm zu einem Kaufmann, der hat ihm darauf hin getraut, hat ihn als Fuhrknecht angenommen und ihm einen ganzen großen Frachtwagen nach München übergeben – er aber hat Roß und Wagen in München verkauft und ist mit dem Geld auf und davon …“

Die Wildschützen machten finstere Gesichter, der Rothe war bleich bis in die Lippen, ängstlich schielte er um sich her und versuchte ein halblautes „Nicht wahr“ hervorzustottern.

„Nicht wahr?“ brach Hiesel los. „Du willst auch noch leugnen? Steht es Dir nicht auf dem Gesicht geschrieben? … Nehmt ihm Hut, Stutzen und Hirschfänger ab, Cameraden,“ fuhr er, zu diesen gewendet, fort, „zieht ihm statt des Schützenrocks einen schäbigen Kittel an – gebt ihm zwei Gulden, damit er für die ersten Tage zu leben hat, und dann fort mit ihm! Augenblicklich fort! Der Hiesel kann keinen Dieb brauchen, sondern nur ehrliche Leute, und wenn Du Dich unterstehst und Dich noch einmal in der Näh’ blicken lass’st, wo ich bin, so ist es Dein letzter Augenblick!“

Das Urtheil war wie gesprochen auch vollzogen; der Rothe ließ Alles mit sich geschehen, er war wie erstarrt, nur seine Augen funkelten und hingen grimmerfüllt an Hiesel, der sich abgewendet hatte und in’s Haus zurückkehrte. Einen Augenblick stand er noch unschlüssig, dann war er schnell hinter den Häusern verschwunden, dort kehrte er sich halb um, ballte drohend die Faust und murmelte: „Nur Geduld, wir Zwei kommen doch noch einmal zusammen!“

Die Schützen kehrten zum Essen zurück; den Bauern aber hatte der Vorfall, den sie mit angehört, den Muth gesteigert, daß sie Hiesel den Weg vertraten und ihm ihr Anliegen vortrugen. Sie erzählten dem „Gestrengen Herrn“, wie auch sie vom Wilde so erschrecklich viel zu leiden gehabt, durch den Schaden, den es in den Feldern angerichtet, und durch die Jagden, bei welchen der Herr Reichsbaron gar oft mit Roß und Hund durch die schönsten Saatfelder ziehe, und der Amtmann ihnen in’s Gesicht gelacht, wenn sie um Ersatz gebeten; wie sie über dem Frohntreiben die beste Zeit versäumen und oft die dringendste Arbeit liegen lassen müßten und wie sie um Hülfe sich mündlich und schriftlich an den Reichsbaron gewendet, wie sie bis an den Kaiser gegangen und wie Alles nichts geholfen. Da hatten sie in der Desperation sich entschlossen, sich selber zu helfen; sie hatten das Wild, das auf die Aecker und Aenger gekommen war, erlegt, sich aber wohlweislich gehütet, auch nur das Geringste davon sich anzueignen, sondern hatten Alles getreulich dem Jäger in’s Haus gebracht. Der aber hatte sie doch als Jagdfrevler angezeigt, und so waren sie gestraft worden mit hartem Gefängniß und noch härterer Geldbuße – die letzte Habe mußte hingegeben werden, um die fünfhundert Gulden zusammen zu bringen, welche zu zahlen dem ganzen Dorfe auferlegt worden war; erst am Tage vorher hatte der alte Mauthner, der zugleich die Einnehmerei besorgte, das Geld auf’s Amt gebracht.

„So?“ rief Hiesel, der mit Spannung zugehört. „Hat der alte Neidkragen auch die Hand im Spiel? Wo ist das Amthaus?“

Die Bauern deuteten nach einem schloßähnlichen Gebäude, das in nicht großer Entfernung sich aus einen, ummauerten baumreichen Parke erhob. Der Amtmann sei zu Hause, erzählten sie; er werde eben abgespeist haben und pflege dann im Gartenhaus zu schlafen und Niemand dürfe ihn stören.

„Ho, wir wollen ihn schon munter machen!“ rief Hiesel. „Kommt, Cameraden, es ist Zeit aufzubrechen und es giebt unterwegs noch ein kleines Geschäft abzumachen! Einer von den Bauern soll mit, damit er uns den Weg zeigt und Euch dann sagt, was der Hiesel ausgerichtet hat!“

Man brach auf; die Bauern drängten nach, an der Thür konnte der glänzend bezahlte Wirth kaum fertig werden, seine Bücklinge zu machen und sich zur Wiedereinkehr zu empfehlen. „Ich muß Euch doch ein Andenken dalassen,“ rief Hiesel, als der Zug an der Kirche vorüberkam. „Ihr habt ja da auf Eurem Kirchendach einen blinden Gockel sitzen … wartet einmal, ich will ihn sehend machen!“ Er legte an, drückte los und die Kugel schlug mitten durch den Kopf des blechernen Hahnes, daß das Loch als ein Auge dient und dort noch zu sehen ist bis auf den heutigen Tag.

In kurzer Zeit war das Amthaus erreicht und nach allen Seiten umstellt; Hiesel, von dem Buben und Tiras geleitet, zog die Glocke am Thor. Ein Guckfensterchen öffnete sich und ließ den grauen Kopf eines mürrischen Bedienten erblicken, der darüber zu schelten anfing, daß er nicht eine Viertelstunde Ruhe habe. „Was giebt’s schon wieder?“ rief er. „Jetzt ist keine Amtszeit – wer ist da?“

„Der bairische Hiesel, er will ein Wörtel mit dem Amtmann reden!“

Die Antwort schleuderte den Alten zurück, als ob ihn ein Schlag vor die Stirn getroffen hätte, und das Guckfenster flog zu und zeigte, auch nach längerem Warten, keine Neigung, sich wieder zu öffnen. Hiesel läutete nochmals, stärker und bedeutsamer; da kam hinter dem verschlossenen Thürchen die schüchterne Meldung hervor, der Herr Amtmann lasse für den Besuch danken, er wisse sich nicht zu erinnern, daß er mit dem Herrn Hiesel etwas zu verhandeln hätte.

„Aber ich hab’ mit dem Amtmann zu verhandeln,“ rief Hiesel ungeduldig und stampfte mit dem Fuß, „ich geb’ ihm noch ein Vaterunser lang Zeit, wird dann nicht geöffnet, so spreng’ ich das Thor und dann steh’ ich für nichts …“

In wenig Augenblicken hörte man den Riegel gehen und das Thor that sich auf; zwei Schützen besetzten dasselbe, Hiesel trat ein. Im Hofraume führte eine schöne Freitreppe von rothem Marmor in das prunkende Gebäude, das in allen Theilen von Reichthum und dessen rücksichtsloser Verwendung zeugte. Oben auf den Stufen stand der Amtmann, ein stattlicher, wohlbeleibter Mann mit rothem Gesicht, in welchem die Furcht mit dem Hochmuth rang; hinter ihm die Frau Amtmännin, weinend und die Hände ringend, und eine Schaar Kinder, die angstvoll durcheinander schrieen. „Um aller Heiligen willen,“ rief die Frau, als sie Hiesel erblickte, stürzte die Treppe hinab und warf sich ihm mit aufgehobenen Händen zu Füßen, „habt Barmherzigkeit mit meinen armen Kindern und mit mir – thut meinem Manne nichts zu Leid!“

„Schau, schau,“ sagte Hiesel, indem er das rauschende Seidenkleid und den künstlichen Kopfputz der Knieenden musterte, „wie die Frau Amtmännin so schön bitten und von der Barmherzigkeit reden kann! Schade, daß sie das nit allemal thut … bei den [300] armen Bauern, denen man ihre letzten Blutkreuzer abgepreßt hat unschuldiger Weis’, da hat Sie wohl auf die Barmherzigkeit vergessen? Warum hat Sie bei Ihrem Mann nicht auch für die Bauernkinder gebeten? Sie meint wohl, weil die Bauern keine solchen seidenen Flanken am Leib’ und keinen solchen Kakadu auf dem Kopf haben, sie seien schlechter? Sie meint wohl, um einen Bauernbuben sei weniger schade, als um einen Amtmannssohn? … Aber wer sagt denn, daß ich dem Amtmann was zu Leid’ thun will? Er darf nur thun, was ich verlang’, dann sind wir die besten Freund’!“

„O gern, gern … Alles!“ rief die Frau sich erhebend.

„Was verlangt der Herr?“ fragte der Amtmann, ebenfalls leichter Athem schöpfend.

„Gar nichts, als daß der Herr Amtmann die fünfhundert Gulden Strafgeld wieder herausgiebt, die gestern den Bauern abgenommen worden sind …“

„Das kann und darf ich nicht,“ sagte der Amtmann, „das Geld gehört nicht mir, sondern dem Herrn Reichsbaron …“

„Nein, den Bauern gehört’s, und die sollen’s wieder haben! Mach’ der Herr Amtmann keine Umstände, sonst weiß ich die Casse selber zu finden!“

„Aber,“ rief der Amtmann, sich etwas ermannend, „das ist ja offenbare Gewalt!“

„Gewiß, Herr … mit Gutem geht’s nicht, folglich muß es mit Gewalt gehn! Vorwärts – ich hab’ keine Zeit zu versäumen, also her mit den fünfhundert Gulden, und dann wird der Herr ein Einsehen haben und wird für meine Müh’, für die Zeitversäumniß und den Gang fünfzig Gulden beilegen … ein anderer Advocat thät’ mehr verlangen und doch nichts ausrichten!“

„Himmelschreiend!“ stammelte der Bedrohte.

„Ei was, in dem Haus ist wohl schon mehr geschehen, was gegen den Himmel schreit – da geht’s in einer Rechnung hin! Vorwärts also – wenn die Obrigkeit nicht mehr weiß, was Recht ist, dann muß unsereiner es ihr zeigen! … Schau’ mich der Herr nur an, als wenn Er mich mit den Augen spießen möcht’, ich fürcht’ Ihn nicht: ich bin kein Räuber und kein Dieb! Ich thu’, was die Regierung thun sollt’, wobei sie mir helfen sollt’, wenn Alles nach dem Rechten ging’ … statt dessen verfolgt sie mich wie einen Uebelthäter und zwingt mich, daß ich mich meiner Haut wehren muß … die hat Alles zu verantworten, was geschieht!“

(Fortsetzung folgt.)




Mühlhausen, das Eldorado der Arbeiter.
Von Albert Grün.
I.
Ein Elsässer Landpfarrer und der Pact mit ihm. – Die Villen der Mülhäuser Nabobs. – Die Société Industrielle. – Die Köchlin und die Dollfus. – Deutschland in der Altstadt und Frankreich im „Neuen Viertel“. – Das Aeußere der „Arbeiterstadt“. – Das Innere eines Arbeiterhauses. – Schwester und Brüder. – „Hier ist’s schön!“ – Die Oberstube mit ihren Zeichnungen. – Dr. Martin Luther und der katholische Artillerist. – Der Husten des Pfarrers.


In der elsässischen Stadt Münster machte Napoleon der Dritte vor Jahren einen Besuch bei dem reichen Fabrikanten Hartmann. Die Sache gab den Pariser Zeitungen viel zu reden. Die eine rühmte die Leutseligkeit des Gastes, die andere des Wirthes prachtvolle Zubereitungen; den höheren, den historischen Standpunkt aber wählte eins der gelesensten Blätter, indem es auf die Bedeutsamkeit hinwies, welche die Anwesenheit Napoleon’s an einem Orte habe, wo vor zweihundert Jahren der – westphälische Frieden geschlossen worden!

Ungleich verzeihlicher wäre es, wenn ein Freund der Gartenlaube beim Lesen der Ueberschrift bereits die liebe Unstrut, die sich in die Saale ergießt, sammt der berühmten Marienkirche und der Richtstätte Thomas Münzer’s gewittert hätte, sintemalen das thüringische Mühlhausen ja auch seine Fabriken, mithin auch seine Arbeiter hat. Wir beeilen uns also, zu sagen, daß unser Mülhausen die altehrwürdige Stadt des oberen Elsasses ist, die schon Rudolf von Habsburg zur freien Reichsstadt erhob, die, zu Luther’s Zeit der schweizerischen Eidgenossenschaft beigetreten, zum oberrheinischen Kreise des weiland deutschen Reiches zählte und länger als das ganze übrige Elsaß daran festhielt, da sie sich erst im Verlaufe der großen Revolution mit Frankreich vereinigte. Was aber die Mülhäuser „Arbeiterstadt“ ist, von der die Zeitungen so viel gesprochen, das wußte ich selbst lange nur vom Hörensagen, bis ich mich einmal kurz und gut entschloß, das Ding mit eigenen Augen zu betrachten. Ob es der Mühe verlohnte, mag der geneigte Leser, dem ich meine Fahrt in der zwanglosesten Weise erzählen will, schließlich selbst entscheiden. Für etwelche Blicke nach rechts oder links brauche ich wohl kaum um Entschuldigung zu bitten; hört doch der Deutsche so gern vom Elsässer reden, wie jeder gemüthliche Mensch vom Onkel Carl oder Fritz, der sich zu Olim’s Zeiten in der Fremde angesiedelt.

Es war im letzten Januar, als ich in Straßburg den Baseler Bahnzug bestieg, der den etwa zwölf Meilen langen Weg nach Mülhausen in vier Stunden zurücklegt. In meinem Coupé nahm ein Herr in schwarzem Anzuge Platz, nach Haltung, Miene und Haarscheitelung augenscheinlich ein protestantischer Landgeistlicher. Ich liebe diese Herren im Elsaß, denn, abgesehen von ihrer Gemüthlichkeit und aus dem Herzen stammenden Gastfreiheit, stehen sie fast sammt und sonders für das Deutsche in Kirche und Schule ein. Auch brach ich die erste Gelegenheit vom Zaune, ihn in meiner Muttersprache anzureden, und sah mit Vergnügen, wie er bald so zutraulich wurde, als der gewohnte Kanzelton nur irgend zuließ. Unsere Unterhaltung lenkte sich auf die Zeit und ihre Fragen, und mein Pfarrer hatte sich allmählich in heiligen Eifer geredet, um schließlich in das bekannte Anathema gegen die rein verständige, selbstsüchtige materialistische Richtung auszubrechen, die nun einmal Alles beherrsche.

„Keiner denkt der Andern,“ sagte er. „Hingebung, Selbstverleugnung, Aufopferung, wie sie ein Pfarrer Oberlin im Steinthal, wie sie der blinde Pfeffel“ – wir fuhren eben an dessen Vaterstadt Colmar vorbei – „gekannt und geübt, werden täglich seltener; die ganze Welt ist eben kaufmännisch.“

„Schelten Sie mir,“ unterbrach ich ihn lächelnd, „die Kaufleute nicht, am Wenigsten hier im oberrheinischen Departement. Wie riesig waren nicht die Opfer, die sie noch neuerlich, zur Zeit der höchsten Baumwollnoth, ihren Arbeitern brachten! Und,“ setzte ich schnell hinzu, „kennen Sie die ‚Arbeiterstadt’ in Mülhausen? Und wollen Sie sich dort überzeugen, daß unser heutiger Materialismus wohl im Stande ist dahin zu wirken, daß der Mensch auch ein möglichst geistiges Dasein führen könne?“

Er verneinte es, bezeigte auch kein großes Verlangen, diese neue Welt kennen zu lernen. „Kommen Sie mit mir!“ bat ich, einem plötzlichen Einfalle folgend; „ich bin eben im Begriffe, sie aufzusuchen, und einen Tag haben Sie ja wohl zur Verfügung.“

Er überlegte und fand schließlich die Sache in Wahrheit thunlich. Mit einem entschiedenen „Es sei!“ legte er seine Hand in die meinige. „Aber,“ fügte er warnend bei, „Sie werden einen strengen Kritiker finden.“

„Desto bester,“ erwiderte ich, „auch ich liebe es nicht, die Augen am hellen Tage zu schließen.“

Der Zug brauste weiter, wir schauten uns schweigend, ohne Mißtrauen an, und bald mahnte uns der Ruf „Mulhouse“, der wie ein Pelotonfeuer längs des Zuges hindröhnte, daß wir am Ziele seien.

Wir stiegen aus. Die sonst von Norden nach Süden laufende Bahn macht hier eine so starke Schwenkung, daß sie sich fast westöstlich hinter der Stadt hinzieht. Diese liegt somit nördlich vom Bahnhofe und auf der entgegengesetzten Seite erhebt sich eine Hügelkette, die sich sogleich als den geeignetsten Standpunkt für eine Ueberschau ankündigt. Dem Chemin dit Bergasse (so französirt der Wegweiser Berggasse) folgend, erstiegen wir sie vor Allem. Die ganze Anhöhe ist mit Landhäusern und Luxusgärten voll zierlicher Treppchen, Glorietten und Schweizerhäuschen bedeckt,

[301]

Im Arbeiterviertel in Mühlhausen.
Arbeiterwohnhaus. Restauration. Kleinkinderschule. Bade- und Waschhaus.

[302] die an Pracht und Geschmack selbst die Anlagen in Baden-Baden hinter sich lassen. Die Häuser sind nicht gerade Stylbauten, doch hat jedes seinen eigenthümlichen Charakter, und die gläsernen Vordächer, die von Epheu umrankten Balcons, die mannigfachen Vorsprünge und Eckthürme, Giebel und Giebelchen, deren anstrebende Form sich in den Dachfenstern und Schornsteinen wie neckisch wiederholt, geben ein Bild reichgegliederten Lebens. Ein Blick in die mitten im Winter von Wachsthum strotzenden Treibhäuser, in die reich decorirten Salons mit ihren blitzenden Spiegelscheiben, ja selbst auf die von Spalieren umzogenen Pferdeställe und Remisen belehrt augenblicklich, daß die Herren Dollfus, Köchlin und Schlumberger und wie die großen Fabrikanten Mülhausens weiter heißen, die hier zum Theil das ganze Jahr hindurch hausen, in alle Wege nicht zu den Asketen gehören. Auch hatte mein Pfarrer nicht übel Lust, darin einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner Weltanschauung zu erblicken, als wir just auf einem Punkte ankamen, wo wir die durchaus ebene Stadt frei und offen zu unsern Füßen liegen sahen.

Mülhausen, die zweite Stadt des Elsasses, ist seit 1746, wo Samuel Köchlin hier die erste Baumwollspinnerei anlegte, besonders aber in neuester Zeit erstaunlich gewachsen, also alt und neu zugleich. Vor zwanzig Jahren betrug die Zahl der Einwohner 25,000, jetzt weit über 60,000, was man freilich, um einer Erhöhung des Octrois und der Staatssteuern zu entgehen, bis Dato verschwiegen hat. Aus der von Wald und Baumpflanzungen umstandenen, bald dichter, bald minder dicht gedrängten Häusermasse ragen nicht, wie anderswo, nur die Thürme, sondern vor Allem die Schlote und Schornsteine der zahllosen Fabriken jeder Art empor, aus denen der Dampf in allen Schattirungen zwischen Schwarz und Weiß unablässig emporwirbelt. Man glaubt den Aetna qualmen zu sehen, in dessen Innerem mürrische Cyklopen schüren und hämmern, und ich konnte es meinem Begleiter nicht verdenken, daß er in wehmüthiger Stimmung einen Vergleich anstellte zwischen den Bewohnern der lichten, luftigen Paläste um uns und den von Rädern und Spindeln umsurrten Fröhnern in den schwülen Werkstätten da drunten.

„Nein,“ sagte er, „gehen Sie mir mit Ihren Industriellen; sie opfern das bessere Leben von Tausenden, um sich selbst auf Sammet und Seide zu betten.“

Fast wäre ich mit trübsinnig geworden, denn die weichen Stimmungen sind die ansteckendsten; doch nahm ich mich bei Zeiten zusammen.

„Ein hartes Urtheil!“ erwiderte ich. „Der große Fabrikant bietet nicht nur durch die Billigkeit seiner Waaren auch dem Unbemittelten die Möglichkeit zu bequemerem und vollerem Dasein; er sichert nicht nur den Armen Jahr aus Jahr ein regelmäßige Arbeit und Einnahme, sondern er läßt auch durch Anwendung der Maschinen Kohle, Wasser und Eisen die niedrigen Dienste thun, die sonst alten und neuen Sclaven zufielen. Ich finde es groß und schön, daß der Mensch auf diese Weise nicht mehr als rohe Kraft – nein, mehr und mehr als intelligentes Wesen zu wirken hat, und jene Rauchsäulen, die mit den Thürmen um die Wette gen Himmel steigen, mahnen mich an die uralten Dankopfer. Der Dichter fabelt nicht – ,Auch dieser Dampf ist Opferdampf’.“

„Nun, nun,“ sagte der Pfarrer, „Sie sehen Alles von der Lichtseite, und ich will nicht streiten. Ueberhaupt,“ fügte er wohlwollend hinzu, „verspreche ich Ihnen, von jetzt an meine Bemerkungen höchstens dem Taschenbuche anzuvertrauen – die günstigen auf ein Blatt rechts, die ungünstigen links – bis wir mit unserer Besichtigung zu Ende sind. Aber dann rücke ich heraus, denn geschenkt wird Ihnen nichts!“

Damit nahm er mich am Arme und zog mich auf den Rückweg, denn schon begann es zu dämmern. Ueber den Bahnhof schritten wir dem sogenannten Quartier Nouveau zu, dessen elegante Häuser auch meinem Begleiter nicht mißfielen. Vor Allem imponirte uns ein fast gewaltiger Bau mit der Aufschrift Société Industrielle, die Stiftung des Herrn Nicolaus Köchlin. diese Société Industrielle ist eine Gesellschaft zur Förderung des Gewerbfleißes – wie ihre Statuten besagen – gegründet um bei den Arbeitern die Liebe zum Schaffen, zur Sparsamkeit und zur Selbstbildung allgemein und kräftig zu machen. Zunächst Sparcasse, wirkt sie zwar segensreich, bleibt aber immer nur ein Nothbehelf. Gelöst wäre die Aufgabe, das Loos der Arbeiter wirklich zu verbessern – darüber waren wir bald einig – erst dann, wenn man es dahin gebracht hätte, daß der Arbeiter das gesunde Leben behaglich genießt, an ihm Freude findet, und wenn das – gestand ich offen – durch die „Arbeiterstadt“ nicht erreicht ist, so gebe ich die Partie verloren.

„Wir werden sehen,“ erwiderte mit sichtbarem Unglauben der Pfarrer, und so beruhte die Sache auf sich, bis wir am andern Morgen unsere Entdeckungsreise mit frischen Kräften fortsetzten.

Schien das Quartier Nouveau einen mehr französischen Charakter zu haben, so schwitzt in der Altstadt die ursprüngliche, germanische Natur zu allen Poren der welschen Oberhaut heraus. Schon im Hôtel sprach die Dame du Comptoir, sonst ganz Pariser Schnitt, im vertraulichen Verkehr mit den Kellnern deutsch. Wegweiser und Dienstmänner, mit denen wir heute in Berührung kamen, stotterten anfangs ein Französisch zusammen, bei dem sich der langmüthigste Akademiker im Grabe herumwälzen mußte, und waren glückselig, als sie ihr dem schweizerischen nah verwandtes Alemannisch reden durften; ja, selbst in einer ziemlich bedeutenden Buchhandlung quälte man sich förmlich ab, um seinen Noël und Chapsal nicht allzustark zu mißhandeln. Dagegen spricht die vornehme Welt ihr Französisch leicht und geläufig, und dabei steht ihr selbstredend Alles zur Seite, was an Unternehmern, Beamten und Arbeitern nach und nach aus dem innern Frankreich eingewandert ist. So kommt es denn, daß man hier auf eine deutsche, dort auf eine französische Frage das berühmte „Kannitverstan“ zur Antwort erhält und am Ende kaum noch weiß, mit welchem Volke man zu thun hat. Denselben verwirrenden Eindruck machen die Namen der Straßen; durchweg französisirt bis zu der fast ironisch klingenden Benennung Passage teutonique, müssen sie gleichwohl eine Rue Gerber und Rue Steinbächlein unter sich dulden, und was die Wassergräben betrifft, so haben sich der Oberthorcanal, Dollergraben und Walkenbach gegen jeden Firniß gesträubt, während der Canal du Tränk- und du Mittelbach in dem scheckigen Doppelgewande eines Tannhäuser’schen Liedes dahinfließen.

Statt der Rue du Sauvage entlang an der jeden Deutschen magisch anziehenden Wohnung August Stöber’s, des goldtreuen Hüters deutscher Wissenschaft und Dichtung, vorüber direct auf die Arbeiterstadt loszugehen, wählten wir den kleinen Umweg links über die Place de la Réunion. Die ganze innere Stadt ist ein heillos unschönes Gewirre von elend gepflasterten Straßen oder vielmehr Gassen und Gäßchen, Brücken und Brückchen, formlosen Plätzen und schmutzigen Winkeln, die ein aus Gräben und Canälen aufsteigender Duft sui generis beklemmend durchzieht. Außer dem in Mitte des sechzehnten Jahrhunderts entstandenen Rathhause macht von diesem häßlichen Gewinkel nur der im Bau begriffene protestantische Tempel, sowie die seit einigen Jahren vollendete katholische Kirche, eine wohlthuende Ausnahme. Beide sind in gothischem Style gebaut, diese in älterem, einfacherem, schwererem, jene in späterem, leichterem und reicherem, und beide gewinnen noch in den Augen des Betrachters, wenn er erfährt, daß die bedeutenden Kosten (achtmalhunderttausend Franken für die erstere, etwa eine Million Franken für die letztere) größtentheils durch freiwillige Beiträge gedeckt sind und werden, die hier wie dort am reichlichsten aus der Börse der begüterten Protestanten fließen mußten.

Als man uns erzählte, für das katholische Gotteshaus habe ein einziger Lutheraner, Andreas Köchlin, die Summe von zweimalhunderttausend Franken gegeben, stutzte der Pfarrer einen Augenblick; dann zog er seine Brieftasche und machte schnell eine Notiz auf die rechte Seite. Er war fortan in einer sehr empfänglichen Stimmung, die durch den Anblick des von Jakob Köchlin gegründeten Waisenhauses noch gesteigert wurde, und ich fürchtete seinen Weltschmerz nicht sonderlich mehr, als wir, die Rue du Faubourg de Colmar hinabschreitend, plötzlich am Eingange der Schöpfung des unsterblichen Johann Dollfus, der Arbeiterstadt (Cité Ouvrière) standen.

Wenn je eine reale Erscheinung mich mächtig an den Wahlspruch der Revolution: Liberté, Egalité, Fraternité, gemahnt hat, so ist es diese Arbeiterstadt, die nagelneu und blinkend mit ihren von sechstausend Menschen bewohnten siebenhundert Häusern in dem kurzen Zeitraume von zwölf Jahren aus einer ringsum freien, gesunden und wasserreichen Ebene emporgeschossen ist. Mitten hindurch geht als Hauptpulsader die etwa zwanzig Minuten lange und fürstlich breite, zu beiden Seiten mit Bürgersteigen, eleganten Gaslaternen und Wasserpumpen besetzte Rue Napoleon, [303] die sich im Centrum zu einem großen, von stattlichen Bauten umstandenen Platze erweitert und über den breiten Oberthorcanal hinweg in der Richtung von Dornach für’s Auge verliert. Links und rechts von dieser Kaiserstraße liegen, durch kleine Gärten von ihr getrennt, allerliebste einstöckige Häuschen, gewöhnlich je vier zu einem völlig freistehenden quadratförmigen Pavillon vereinigt, seltener zu längeren Zeilen aneinandergelehnt, deren Axe dann senkrecht auf der Straße steht. Allenthalben bezeichnet die Farbe des Bewurfs, den inneren Scheidewänden entsprechend, die Grenzen der in sich abgeschlossenen Einzelwohnungen, deren röthliche Thüren und grüne Läden gar frisch und freundlich von dem durchweg lichten Maueranstrich abstechen. Diesseit des Canals fast nur aus zwei Reihen von Gebäuden bestehend, geht jenseit desselben die Cité zu einem weiten Rechteck auseinander, das sich erst zu beiden, dann nur noch auf einer Seite der Hauptstraße hinzieht und dessen Seitenstraßen großen Gartenwegen gleichen, wie gemacht zu behaglichem Lustwandeln. Das Ganze liegt da im Angesichte des prächtigen „Tannenwaldes“ mit herrlicher Fernsicht nach allen Seiten so offen und sicher, so luftig frei, wie – ja, wie die Villen der Nabobs auf dem Berge dort, und wir konnten uns einer ernsten Rührung nicht erwehren, als ein Orgelmann, dem die Kupfermünzen reichlich zuströmten, seinem Kasten gerade hier die Melodie: „Freut Euch des Lebens“ entlockte.

Wir waren der Straße bis zum äußersten Ende gefolgt und wieder umgekehrt, ohne auf irgend eine Einzelheit zu achten; höchstens waren uns die freundliche Salle d’Asile und die eleganten größeren Bauten um die Place Napoleon, wie am Ende der Cité mehrere Häusergruppen besonders aufgefallen, die nur aus einem Erdgeschoß bestanden und statt der Gärtchen bloße Höfe hatten. Erst jetzt fühlten wir uns unbefangen genug, das Auge auf etwas Bestimmtes zu heften, und begannen also unsere Wanderung auf’s Neue. Die durch Hartriegelhecken und grüne Lattenzäune von der Straße und von einander getrennten Gärtchen, verschieden gestaltet, aber von gleicher Größe, schienen uns gar zu lieb mit ihren Linden zur Beschattung des Trottoirs und den Obstbäumen im Innern, an denen hier und da Trockenseile mit sehr präsentabler Wäsche hingen. Und was wir bisher ganz übersehen hatten, diese Gärten glichen sich doch nicht allzusehr. Die einen waren so einfach und vortheilhaft wie möglich in rechtwinklige Beete getheilt und dienten offenbar nur zum Gemüsebau; die andern entfalteten bereits den Schiller’schen Spieltrieb in Form von Blumenrondeelen, gewundenen Spazierwegen, zum Sitzen ladenden grünen Bänken, ja in Dauben und Glorietten, in denen sich’s gar heimlich plaudern muß. Und als wir, dadurch aufmerksam gemacht, einen schärferen Blick auf die Häuser richteten, fand sich gar bald, daß auch hier die abstracte Gleichheit Chimäre sei. Nicht nur, daß der Anstrich bald frischer, bald verwitterter auftrat; offenbar hatten manche dieser Häuschen überhaupt mehr Freude am Leben und standen förmlich herausgeputzt, fast kokett da. Farbige Einfassungen um Thüren und Kreuzstöcke, Doppelfenster mit vor Sauberkeit blitzenden Scheiben und wohlgepflegten Blumen im Zwischenraume, dahinter weiße Vorhänge oder bunte Draperien oder gar Beides zugleich – das machte ja nicht nur den Eindruck der Wohnlichkeit, sondern den des Ueberflusses, des Reichthums!

Ich stand entzückt; der Pfarrer schrieb schon wieder rechts.

„Was wetten Sie,“ sagte ich, „daß diese neiderregenden Wohnungen gekauft, die andern blos gemiethet sind?“

„Nichts!“ erwiderte er; „aber gehen wir doch in eine hinein!“

Ueber die Wahl konnten wir nicht lange zweifelhaft bleiben. Vor einem der nettsten Häuser war ein Mädchen damit beschäftigt, die Hausthür von außen abzuwaschen; ohne weitere Verabredung und unbemerkt, da sie uns den Rücken zuwandte, schritten wir durch das entsprechende Gartenthor auf sie zu. Es war eine kräftige Gestalt über Mittelgröße mit reichem, dunkelbraunem Haarwuchs, in sauberem, etwas crinolinirtem Kattunkleide; um den gebräunten Hals war trotz der Winterkälte nur lose ein leichtes Tüchlein geschlungen. Unwillkürlich dachte ich sie mir schön, als sie sich aber umkehrte, um unsern Gruß überrascht zu erwidern, fand ich mich in etwas enttäuscht. Die Stirn war zu niedrig, die Nase zu formlos, Mund und Kinn zu voll, und die einander fast berührenden Augenbrauen vollendeten den Ausdruck derber Sinnlichkeit, der mir unter andern Umständen unbequem gewesen wäre, hier aber als tröstlicher Gegensatz gegen die bleichsüchtig kränkelnden Gesichter der Arbeiterinnen, wie sie uns gewöhnlich in Roman und Wirklichkeit begegnen, wahrhaft wohl that. Und dazu war das Auge so frisch, so frei, so froh! Gleich im ersten Blicke, den sie auf uns warf, lag etwas so schalkhaft Uebermüthiges, daß er uns heiter gemacht hätte, wären wir’s nicht schon gewesen, und jedenfalls der Unterhaltung von vornherein etwas Lachendes gab.

Auf unsere Bitte, sie möge uns das Innere des Hauses zeigen, sprang sie flink von ihrem Schemel, stieß die Thür auf und mahnte uns durch eine Gebehrde, einzutreten. Wir ließen sie vorausgehen und kamen durch die mit ordentlichem Heerde versehene, weil als Küche benutzte Hausflur, an deren Wänden das Porcellan-, Zinn- und Kupfergeschirr blinkend aufgestellt war, in die rechts daranstoßende, mit zwei Fenstern nach verschiedenen Richtungen versehene, geräumige Wohnstube, in der ein Knabe mit einem Canarienvogel spielte, dessen rothlackirter Käfig zwischen Geranien und Heliotropen an einem der Fenster hing. Das rundliche Bürschlein, das sie uns als ihren Taugenichts von Brüderchen vorstellte, hatte sein Erstaunen über unsere Erscheinung rasch verwunden, schlug keck in die ihm entgegengestreckten Hände und schloß sich uns auf unsrer ferneren Wanderung ganz unbefangen an. Wir betrachteten das hinter der Wohnstube liegende Schlafzimmer der Eltern, das neben zwei mächtigen Betten noch Raum zum Auf- und Abgehen hatte, und tauschten, als wir die beiden Räume so überschauten, flüsternd – denn so etwas sagt man nicht gern laut – das Geständniß aus, daß wir schon schlechter gewohnt hätten. In der That war trotz der blos hölzernen Möbel, des einfachen Ofens und der baumwollenen Vorhänge und Bettüberzüge Alles so bequem, so behaglich, so satt, die Luft so rein, das Licht so klar und der Ausblick in den Garten so traulich, daß einem das Herz aufging.

„Hier ist’s schön!“ sagte tief athemholend der Pfarrer.

„Oben gefällt’s mir noch besser,“ meinte das Mädchen, „man sieht dort freier um sich.“

Und damit stand sie schon wieder in der Küche und überließ es uns, ihr die hinter derselbe emporführende Wendeltreppe hinauf zu folgen.

„Da ist der Keller,“ rief der nachstolpernde Bube und zeigte auf den Eingang unter der Treppe.

Wir konnten es uns nicht versagen, die wenigen Stufen rasch hinunterzusteigen und den ebenfalls hellen, trockenen und wohlgedeckten Raum, der zugleich als Vorrathskammer und Holzmagazin diente, mit großer Zufriedenheit zu betrachten; dann erst folgten wir unserer freundlichen Führerin in den ersten Stock, wo sie mittlerweile zwei Thüren sperrangelweit geöffnet hatte.

„Da rechts,“ sagte sie, und zeigte auf das größere Zimmer, dessen Wände mit Maschinen- und architectonischen Zeichnungen bedeckt waren, schlafen meine Brüder: der Gamin da (dem sie zugleich die Wange tätschelte) und unser Niklas, der in der Ecole industrielle ist. Er soll Mechanicus werden,“ setzte sie sich aufreckend hinzu.

Ich wollte fragen, ob denn der Vater vermögend sei, um das so einrichten zu können, fürchtete aber, sie durch die Nothwendigkeit, eine verneinende Antwort zu geben, in Verlegenheit zu setzen. Ich folgte also meinem Gefährten zwischen den musterhaft gemachten Betten durch an eines der Fenster und fand den früheren Ausspruch des Mädchens reichlich bestätigt. Nach Schwarzwald und Vogesen hin schweifte der Blick fessellos über eine unermeßliche, reich bebaute und mannigfach wechselnde Ebene, die sich nach Norden in einem rosig angehauchten Dufte verlor. Wandelnde Menschen, in der Sonne glitzernde Fenster, dampfende Kamine, fließende Wasser und ein leichter Wind, der die Bäume schaukelte, verbreiteten Leben überall, und doch war wieder Alles still, geräuschlos, feierlich.

Da müsse sich dichten lassen, meinte ich, aber der Pfarrer hörte mich nicht; er schrieb hastig drauf los, immer rechts, und trat dann schweigend in das zweite Gemach, das unsere Führerin als das ihrige bezeichnete. Wenn ich schildern müßte, wie es aussah, würde ich sagen: wie das Mädchen selbst. Nichts Empfindsames, Schwächliches, Weiches; ein robustes Bette, robuste Schränke und Stühle, Alles makellos sauber und lustig gefärbt, und über dem Bette zwei biderbe Bilder: der Dr. Martin Luther mit einem wahren Bullenbeißer-Gesicht und – ein martialischer [304] Artillerist. Daß ich den Letztern am Schärfsten in’s Auge faßte, machte sie keineswegs verlegen.

„Nicht wahr,“ fragte sie zutraulich, „der ist auch schön?“

„Allerdings,“ erwiderte statt meiner kräftig der Pfarrer, „und in trefflicher Gesellschaft. Ihr seid also lutherisch?“

„Wir? Ja,“ entgegnete sie, „aber mein Schatz da ist katholisch.“

„Das muß doch störend sein,“ meinte der Andere. „Warum?“ lachte sie auf, „er ist ja brav und gut, wir haben uns schon lange lieb und der Vater sagt, wir glaubten All’ an Einen Gott, und das Andere wär’ Nebensach’.“

Ich fürchtete, mein Begleiter würde links in die Brieftasche schreiben, aber er bekam blos ein wenig den Husten, und um den Anfall abzukürzen, fragte ich, auf die Speichertreppe zeigend, ob man auch da hinauf dürfe.

Ein Wink mit der Hand lud mich ein, ganz nach Gefallen zu thun, und ich fand einen regelrecht gehaltenen Söller, groß genug, um noch ein Schlafkämmerlein davon abzuschlagen, und durch solide Wände von den Böden der Nachbarn getrennt.




Blätter und Blüthen.

Die Begründung einer neuen himmlischen Herrschaft. Unter der Überschrift „Neue geistliche Hierarchie“ dringt das in Campos (Brasilien) erscheinende Blatt „Regeneração“ im vorigen Jahre folgende interessante Notiz: „Es sind ungefähr zwei Monate, daß durch unsere Stadt ein deutscher Priester kam, in der ausgesprochenen Absicht, nach der Stadt Cantagallo zu reisen, um daselbst eine wichtige päpstliche Mission zu erfüllen. Dieselbe besteht nach seiner Aussage in nichts Geringerem, als in der Ausgabe, für die Verbreitung einer neuen päpstlichen Schöpfung zu wirken. Der glückliche Auserwählte zeigte den Gläubigen ein Breve vor, welches mit dem päpstlichen Wappen und Siegel der Canzlei versehen war, wovon wir eine Copie erhielten, die wir nachstehend veröffentlichen. Das Geld spielt in dieser neuen Hierarchie die hauptsächlichste Rolle und bildet die wunderthätige Leiter, aus der irgendwelche Sünderin sanft und natürlich bis zu den Ehren einer himmlischen, mit der Kirche vermählten Prinzessin gelangen kann; der geringste Vortheil, welcher der frommen Spenderin gewährt wird, besteht in der Heiligsprechung und der Einzeichnung des Namens in die heiligen Bücher des römischen Archives. Zur Erlangung so hoher Gunst genügt es, daß die Aspirantin in die Hände des Delegaten Seiner Heiligkeit die bescheidene Summe von 1000–2000 Milreis (= 800–1000 Thaler) legt. Mittelst dieses Geschenkes kann jedwede gebrechliche Senhora von unbeflecktem Rufe (natürlich nach dem Urtheile des Pater Delegaten) der unaussprechlichcn Freude aller irdischen und ewigen Glückseligkeit theilhaftig werden, und wenn sie zufälliger Weise die Schnüre ihrer Börse etwas weiter öffnet und den Betrag verdoppelt, sieht sie sich heilig gesprochen und ihren Namen in den Kalender der römischen Curie aufgenommen.

Die verheißene Gunst beschränkt sich aber merkwürdiger Weise nur auf das schöne Geschlecht; allem Anscheine nach sind die christlichen Tugenden der Frauen weit über die der Männer erhaben, obgleich diesen das irdische Paradies durch die ersteren verloren ging.

Das Programm der neuen geistlichen Hierarchie, welche die römische Kirche errichtet, lautet folgendermaßen:

„Das unausgesetzte Bestreben, welches sich zur Aufrechthaltung und Förderung unserer heiligen Religion glücklicher Weise immer mehr entwickelt, erfüllt den heiligen Vater mit lebhafter Freude. Seine Heiligkeit hat sich entschlossen zur Belohnung dafür eine himmlische Herrschaft zu stiften, welche die ewige Glückseligkeit von Frauen tadellosen, reinen Rufes und Wandels erleichtern soll. Die verschiedenen Grade der Auszeichnung sind für alle diejenigen erreichbar, welche vorerwähnte Eigenschaft besitzen und mittels eines Beitrags, der je nach der Höhe des zu verleihenden Grades schwankt, die neue Institution unterstützen. Der Beitrag ist folgendermaßen normirt:

Für den Titel einer Fürstin vermählt mit der Kirche 50,000 Milreis[4]

" " " " Marquise " " " " 25,000 "

" " " " Gräfin " " " " 20,000 "

" " " " Bicomtesse " " " " 15,000 "

" " " " Baronin " " " " 10,000 "

Mit der Heiligsprechung, die von allen Strafen befreit, genießt man überdies alle Freiheiten, welche die Kirche gewährt.

Gegen ein Geschenk von 5000 Milreis kann man heilig gesprochen werden und wird der Name der Kanonisirten in die heiligen Bücher der römischen Curie verzeichnet, sowie es ihr freisteht, den Tag der Heiligsprechung öffentlich in einer auf ihre Kosten errichteten Capelle zu feiern.

Ein Geschenk von 2500 Milreis berechtigt zur Heiligsprechung und zu festlichem Begehen des glücklichen Tages im Kreise der Familie. Ein Geschenk von 1000 Milreis giebt das Anrecht auf Eintragung des Namens der Geberin in die heiligen Bücher des römischen Archivs. Die letzteren Gnadenbezeigungen sind jedoch nur titulare und befreien nicht von den Vorschriften der Kirche. Die neue Institution tritt mit Beginn des Jahres 1865 in’s Leben. Ein jeder Bischof wird ein Register führen, worin die Namen der Personen, Wohnung und Nummer des Hauses, sowie der Grad, auf den sie Anspruch machen, verzeichnet werden. Halbjährig werden die damit Beauftragten Seiner Heiligkeit die Sprengel der Bischöfe bereisen, um Anmeldungen entgegenzunehmen, ausgefertigte Diplome zu überreichen und den Betrag dafür einzusammeln. Falls durch irgend ein häusliches oder dienstlichen Hinderniß die ganze Summe auf einmal nicht bezahlt werden kann, wird der Delegat sich mit den Aspirantinnen über die erleichternden Mittel zu deren Realisirung verständigen, ohne die geringste Schwierigkeit zu erheben, wenn irgend ein Verzug eintreten sollte.“ Wir geben, was das brasilianische Journal schreibt, ohne indeß unsererseits die Verantwortlichkeit dafür zu übernehmen.




Die Eisfelder Revolution gegen Hannibal Fischer. Das jetzt, in Folge von Otto Ludwigs Tod und der Nachforschungen nach seinem Leben vielgenannte Eisfeld hat eine Vergangenheit, welche den Charakter seiner Bewohner in der Gegenwart erklärt. In 500 Jahren ist die Stadt zehn Mal zum größten Theil abgebrannt, daher die Eisfelder so oft mit der Gründung ihrer Heerde von vorne wieder anfangen mußten, daß sie ein hartes, derbes, rühriges und sparsames Volk geworden sind, das gern am Alten hängt, weil es um dasselbe schwer genug gerungen hat. Dieses zähe Festhalten an alten Gewohnheiten und Rechten verirrte sich manchmal auch auf Kleinlichkeiten und führte unter anderem den oben bezeichneten Vorfall herbei. Wir erzählen ihn mit den Worten eines der jetzt hervorragendsten Eisfelder Bürger, dem wir noch außerdem für die Besorgung der meisten von uns benutzten Mittheilungen über Otto Ludwig zu Dank verpflichtet sind. Franklin Haertel schreibt: „Nachdem man schon längere Zeit im städtischen Haushalt Unordnungen vermuthet hatte, drang die Eisfelder Bürgerschaft im Jahre 1818 bei der Regierung in Hildburghausen (das damals noch als ein besonderes Herzogthum bestand) auf Einsetzung einer Untersuchungscommission. Diesem Wunsche war willfahrt worden, und mit der Publicirung des Endresultats beauftragt erschien in Eisfeld der damals in Hildburghausen als Landschaftssyndicus fungirende Hannibal Fischer. Derselbe ließ die Bürger auf das Rathhaus berufen und wollte ihnen das hohe Rescript im Hausplatze verlesen, weil die Rathsstube nicht alle Anwesenden faßte. Dies verletzte jedoch das Gefühl der Ehrfurcht der wackern Eisfelder vor dem hohen Rescript, sie sahen darin eine Beleidigung der landesherrlichen Würde und einen Eingriff in ihre Rechte und drangen darauf, daß Fischer zu seinem Vortrage in der Rathsstube Platz nehme. Dagegen brauste jedoch des Herrn Landschaftssyndicus Beamtenstolz auf, er widerstand immer heftiger, immer heftiger wurde aber auch der Tumult, ja endlich bezeigten einige Bürger nicht übel Lust, den widerspenstigen Herrn durch die Fenster des oberen Stockwerks auf die Straße zu setzen. In diesem kritischen Augenblick, ohne Waffen in solch einem Sturm, ergriff Hannibal eine große Papierscheere, brach sich muthig Bahn durch die Bürger, sprang in seinen Wagen und fuhr spornstreichs nach Hildburghausen, um beim Herzog Friedrich eine Militär-Execution gegen das rebellische Eisfeld zu erbitten. Diese rückte auch wirklich an. Die angeblichen Rädelsführer der Revolution wurden auf Wagen gebunden und nach Hildburghausen transportirt, einige Tage daraus jedoch wieder entlassen, weil sich sehr bald der wahre Sachverhalt herausstellte und ohnedies Hannibal Fischer mit seinem theuren Leben glücklich davon gekommen war.“ – Nur für den Vater Otto Ludwig’s endete dies nicht so harmlos, denn in ihm, der ein Hauptbetheiligter auf der Seite seiner Bürger war, steigerte sich nur jene Verbitterung, die das Leben der Familie trübte bis zu seinem Tode.
F. H.




Zur Beachtung. Aus ganz bewährter Quelle wird bezüglich des in Nr. 15 unserer Zeitschrift enthaltenen Artikels „Unter deutschen Officieren in Amerika“ auf das Bündigste und zugleich in sehr warmer Weise versichert, daß das Karl Heinzen gemachte Ansinnen, als ob dessen politische Gesinnung von der Zahl der Abonnenten seiner Zeitschrift beeinflußt werden könne, ein durchaus ungerechtes sei. Man möge über Heinzen’s Anschauung und die Art und Form seiner publicistischen Thätigkeit urtheilen, wie man wolle, – soviel stehe fest, daß ihm Jedermann das treueste Festhalten an seinen politischen Grundsätzen werde zugestehen müssen.




Kleiner Briefkasten.

B. in St–g. Wir haben an bester Quelle Erkundigungen eingezogen und können Ihnen zum Ankaufe eines Pianofortes aus der Fabrik der Herren Hölling und Spangenberg in Zeitz nur rathen. Dies in neuerer Zeit sehr umfänglich gewordene Etablissement, das über hundert Arbeiter beschäftigt, liefert zwar nicht Instrumente wie Erard oder Breitkopf und Härtel oder andere Matadore der Pianofortemanufactur, wohl aber ganz, was Sie gerade wünschen: gute, brauchbare Instrumente zu verhältnißmäßig niedrigen Preisen, wie sie der minderbemittelte Musikfreund sich anschaffen kann.

X. Y. Z. L. Ist Schwindel. Jeder Groschen, den Sie an diese Kräftigungstränke ausgeben, ist weggeworfen.

Den beiden Freundinnen. Ich war leider nicht am 31. Juli in Rathen.
G–r.

  1. Wir erzählen dieselbe unter „Blätter und Blüthen dieser Nummer“ der Gartenlaube.
  2. Wir glauben den vorstehenden Aufsatz, der ganz und gar aus den Acten einer Strafanstalt des benachbarten Großstaates geschöpft ist, der Beachtung unserer Leser um so ausdrücklicher empfehlen zu müssen, als Männer wie Ladendorff, Oelckers und in jüngster zeit auch Röckel etc. von Neuem die öfentliche Aufmerksamkeit auf da Zuchthauswesen und namentlich auf das in dergleichen Strafanstalten herrschende System in der Behandlung der Gefangenen gelenkt haben.
    Die Redaction.
  3. Man stellt jetzt seine Heimathsverhältnisse fest und wird ihn wohl der betreffenden Commune zuschicken, die dann sehen mag, was sie mit ihm anfängt.
  4. Ein Milreis ca. 23 Ngr. 2 Pfge.