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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[657]
Gnade für ein Kind!

Als die Kunde von der sittlichen und geistigen Verirrung des jungen Kober, sowie von dessen Verhaftung vor die Oeffentlichkeit gelangte,[1] wo hätte es einen Vater, wo eine Mutter gegeben, die nicht erschüttert ausgerufen: Gott möge jedwedes Elternherz vor solchem Leid in Gnaden bewahren! Mit wie gerechtem Abscheu aber das religiöse und sittliche Gefühl sich von dem beabsichtigten Verbrechen abwandte – bei näherer Betrachtung der dabei obwaltenden thörichten und kindischen Umstände trat immer wieder der Gedanke in den Vordergrund: Es bleibt schließlich doch nur ein unsinniger Kinderstreich!

Ein Kind an Jahren noch und in der Schwäche seiner physischen Ausbildung liegt indeß der jugendliche sogenannte Hochverräther schon zur Untersuchungshaft mit verwetterten gemeinen Verbrechern zusammen in einem Kerker, zusammen mit Menschen, welche die kaum zur Blüthe gekommene Knospe mit ihrem verderblichen Hauch vergiften und morden.

Das Urtheil erster Instanz wird endlich gesprochen und lautet auf fünfjährigen schweren Kerker in Ketten und in der Züchtlingskleidung. Es kommt uns nicht zu, den Herren Richtern einen Vorwurf zu machen. Sie haben als Männer des Gesetzes nach Pflicht und Gewissen das Urtheil gesprochen; gleichwohl mag aber nicht verschwiegen bleiben, daß namentlich den Nichtösterreichern dieses Urtheil als sehr hart erscheint; zumal man sich im Auslande neuerdings gewöhnt hatte, in dem staatlich neuaufblühenden Oesterreich eine mildere Praxis über starre, veraltete Form sich Bahn brechen zu sehen. Fünf Jahre schwerer Kerker in Ketten, und ein vierzehnjähriges Kind –! Man vergegenwärtige sich in Oesterreich wie außerhalb desselben jedes fühlende Vater- und Mutterherz, wenn es in seiner innersten Kammer die entsetzliche Frage thut: Wie würde Dir sein, wüßtest Du Dein Kind – und im vorliegenden Falle das einzige Kind – dem Du die sorgfältigste Erziehung hast geben lassen, das noch im zarten Lebensalter, Deine Freude, Deine Hoffnung, im Kerker mit Ketten beladen und vielleicht einer Genossenschaft eingereiht, wo sein religiöses Gefühl, seine sittliche Kraft keinen sorgenden Pfleger, keinen liebenden Mahner findet – im Gegentheil –!

Vater und Mutter suchen zu retten! Ihr kennt ja Alle, die Ihr ein Kind habt, Ihr Alle kennt das Mutterherz und die Hochfluth seiner Empfindungen, wenn es sich um Glück und Zukunft eines Kindes handelt. Ihr müßt es fühlen und wissen, wie eine Mutter bittet; wie sie von der Majestät auf dem Throne die Gnade mit Thränen in dem tiefgründigen Auge erfleht; wie sie Alles bietet, Alles, um ihr Kind dem entsetzlichen Kerker, der Moderluft von Verbrechen: zu entreißen und es einer sittlichen Welt, einer sonnigen Zukunft zurück zu erobern. Wer wird nicht mit ihnen flehen? Wer wird diese unglücklichen Eltern allein bitten lassen für ihr unglückliches, für das ganze Leben verlorenes Kind?

Wir kennen die Entscheidung nicht, aber das wissen wir: tausend und abertausend gute Menschen richten mit der Mutter ihre Blicke vertrauend und hoffend nach jenem Kaiserthrone, auf welchen die gütige Vorsehung neben dem sühnenden Schwerte der Gerechtigkeit auch den Oelzweig der Barmherzigkeit niedergelegt hat. Und wenn im vorliegenden Falle Tausende einen Wunsch hegen, so ist es nicht allein der Wunsch von Unterthanen an ihren erhabenen Monarchen, sondern der Wunsch von Elternherzen in und außer den Kaiserstaaten an das liebende und geliebte Elternpaar, das auf Oesterreichs Throne sitzt.

Wie wohlthuend es für das Gemüth schon sein muß, einem abgehärteten Verbrecher, so er reuemüthig wiederkehrt, Gnade angedeihen zu lassen: um wie wohlthuender muß dies bei einem Kinde sein, dessen ganzes Leben noch vor ihm liegt und das durch ein väterliches Gnadenwort vielleicht gerettet, der bürgerlichen Gesellschaft wieder gegeben und ihr als gutes Mitglied erhalten wird!

Gnade denn für das Kind! An den Thron der Habsburger legen wir, die wir weder den unglücklichen Vater noch das bethörte Kind kennen, die flehende Bitte nieder: Gnade für ein Kind – Gnade für ein nur verirrtes Kind, daß es nicht zum Verbrecher werde! Wir, die Leute der Presse, haben das Recht und die Verpflichtung, die geheimsten Gedanken unserer tausend und abertausend Leser laut auszusprechen. Ein Mutterherz, wollte es seinem Gefühle vollkommen Ausdruck leihen, ihm würde das Zittern jedes Nervs das rechte Wort versagen. Ihm werden nichts bleiben als – Thränen; aber Thränen, die vor dem Angesichte Gottes schöner leuchten, als aller Redeglanz der höchsten Leidenschaft es vermöchte.

Gnade also – Gnade für ein Kind!

[658]
Der böse Nachbar
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Der Fischer saß auf einem Steine am Ufer und blickte sehr gedankenvoll in’s Wasser. Horst hielt neben ihm und sah, daß der junge Mann den bessern Ständen angehören mußte, nach seiner Kleidung und dem feinen, ein wenig blassen, aus großen hellblauen Augen sehr ruhig dreinschauenden Gesichte. Er war schlank, groß und mager.

„Ist Allmer dieses Weges geritten?“ fragte Horst den Angler nach einem leichten Gruße.

Der junge Mann erhob sich und höflich die kleine Lederkappe, die er trug, ziehend, sagte er: „Allmer … dieses Weges? … ich weiß es nicht … ich sah ihn nicht. Meinen Sie, daß er dieses Weges geritten sei?“ Der junge Mann fragte dies in einem Tone, in welchem etwas wie Sorge oder Aengstlichkeit durchklang.

„Ob ich es meine? Man sagte es mir. Aber ich bedaure, daß Sie sich durch mich haben stören lassen, es war nicht meine Absicht …“

„Das thut durchaus nichts,“ versetzte der junge Mann, zerstreuten und scheuen Auges den Weg hinauf- und hinabblickend, als ob er fürchte, Allmer unten oder oben um die nächste Bergecke kommen zu sehen, „ich will ohnehin aufhören, ich habe wenig Glück heute; wir müssen anderes Wetter bekommen! Sie sind wohl Baron Horst?“

Horst machte eine leichte Verbeugung. „Und Sie?“ sagte er dabei.

„Ich heiße Florens von Ambotten, ich bin der Vetter von Herrn von Schollbeck.“

„Der Vetter von Herrn von Schollbeck?“ fragte Horst ein wenig überrascht, und nachdem er sich den „spitzbübischen“ Jüngling noch einmal angesehen, setzte er rasch entschlossen hinzu: „es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen; wenn Sie heimgehen wollen, erlauben Sie mir wohl, daß ich Sie eine Strecke begleite?“

„O, Sie sind gar gütig,“ versetzte der Vetter, und seinen im Grase liegenden Rock anziehend, seine Anglergeräthschaft zusammenpackend, machte er sich auf den Heimweg thalaufwärts, während Horst, der abgestiegen war, sein Pferd hinter sich führend neben ihm blieb.

„Sie sind der Verlobte von Fräulein von Schollbeck?“ eröffnete Horst ein wenig brüsk die Unterhaltung.

„Der Verlobte … ja,“ antwortete der junge Mensch mit seiner merkwürdig sanften Stimme und ein wenig erröthend, „ja, Herr von Schollbeck sagt es wohl mal, aber Fräulein Eugenie spricht nie davon, und so kann ich es auch nicht glauben, daß …“

„Nun,“ fiel Horst, ihn betroffen ansehend und dann merkwürdig erleichtert aufathmend, ein, „Fräulein Eugenie erwartet wohl, daß Sie davon zu sprechen beginnen …“

Der Vetter seufzte. „Ach,“ sagte er, „wenn Sie das Fräulein kennten, würden Sie einsehen, daß bei ihr davon zu beginnen nicht leicht ist, und zudem …“

„Zudem?“

„Bin ich auch gar nicht des Vetters Ansicht,“ fuhr der junge Mann fort, „daß ich Eugenie glücklich machen kann, wenn ich ihr Mann werde und ewig mit ihr bei ihm auf Haus Schollbeck sitzen bleibe, was doch die Folge wäre, da ich arm bin … Eugenie gehört in die Welt, in eine große glänzende Welt, da würde sie erst an ihrer Stelle sein – denn sie hat Geist, viel Geist, und hat viel gelernt, viel, viel mehr als andere Damen, und dabei ist sie so überaus schön. Soll sie nun ihr Leben lang in dem einsamen alten Hause bleiben?“

„Das ist ebenso einsichtig als selbstverleugnend von Ihnen bemerkt,“ sagte Horst immer mehr erstaunt über den jungen Mann.

„Nicht wahr, Sie geben mir auch Recht?“ fiel der Vetter sehr lebhaft ein.

„Gewiß,“ versetzte Horst.

„Wann werden Sie zu uns kommen?“ fuhr der junge Mann fort.

„Ich beabsichtigte Ihnen morgen meinen Besuch zu machen, aber Herr Allmer sagte mir, daß Ihr Vetter so wenig eine Störung seiner Einsamkeit liebe, daß ich schon auf die Hoffnung verzichtete, empfangen zu werden …“

„O,“ versetzte Florens von Ambotten mit einem Tone der Verwunderung. „Allmer sagte das? Nun, Allmer weiß es vielleicht … ich meine, der Vetter hätte Sie mit Spannung erwartet, da Sie doch unser nächster und einziger Nachbar hier sind. Eugenie hat sich auch auf Ihr Kommen gefreut, als wir hörten, daß Sie da seien, und Eugenie sich sagen mußte, daß Sie es gewesen, den sie in Falkenrieth getroffen …“

„In der That? – Und Herr von Schollbeck ist durchaus nicht so abgeschlossen?“

„O gewiß nicht … wir haben manchmal Fremde aus der Stadt, und Eugenie wird sich sicherlich freuen, wenn Sie zu uns kommen …“

„Nun, ich bin herzlich erfreut, das zu hören; so hat Allmer mich verkehrt berichtet und umsonst besorgt gemacht!“

„Ja, Allmer!“ sagte der Vetter mit einem eigenthümlichen Tone, dessen Bedeutung Horst völlig entging.

Sie waren an eine Stelle gekommen, wo der Fluß und das Thal mit ihm eine starke Biegung nach links machten. Das Thal zeigte sich nun bedeutend verbreitert; der kleine Fluß zweigte sich in zwei Arme auseinander; und weiter hinauf zwischen diesen Armen, vor einer Reihe hoher Baumwipfel, stand Haus Schollbeck, ein weißübertünchtes großes Gebäude mit grünen Jalousien und einem hoch hinan mit Epheu bewachsenen Eckthurm, der rechts an den Bau stieß, während links unten eine lange Holzbrücke über den einen Flußarm führte. Neben dem Aufgang zur Brücke stand an der einen Seite eine Gruppe Trauerweiden, an der andern ein Pförtnerhaus. Das Terrain vor dem Gebäude bis in die Spitze des Flußdeltas hinein war mit wohlgepflegten Gartenanlagen bedeckt. Das Ganze bildete ein hübsches Landschaftsbild und sah weit freundlicher und wohlerhaltener aus, als Horst’s Residenz. Als der Letztere seine Blicke darüber schweifen ließ, sagte der Vetter:

„Da kommt Allmer!“

„Allmer? Sie haben in der That ein gutes Auge, Herr von Ambotten!“ versetzte Horst den Reiter fixirend, der eben über die Brücke von Haus Schollbeck kam, „ich hätte ihn nicht so weit erkannt … aber er ist es!“

„Nun werden Sie wohl mit ihm heimreiten,“ fuhr Florens von Ambotten in einer Weise zu reden fort, welche offenbar eine gewisse Aufregung verrieth, in die er gekommen war … „und morgen werden wir Sie sehen … wann werden Sie kommen, damit ich sicherlich zu Hause bin?“

„Etwa um elf Uhr, wenn Ihnen die Stunde genehm ist?“

„O gewiß … ich werde Sie auf elf dem Vetter und Eugenien ankündigen – sie werden sich sehr freuen, Sie zu sehen, zweifeln Sie nicht daran.“

Der junge Mann zog sein Lederkäppchen und eilte nun mit langen Schritten davon, als ob er brenne, von Horst los und heim zu kommen. Die Angelruthe schwankte auf seiner Schulter wie ein langes Schilfrohr. Als er Allmer erreicht hatte, sprachen beide zusammen … nicht lange, denn Allmer setzte gleich darauf sein Pferd in Trab und erreichte in wenig Augenblicken seinen Gebieter, der sich unterdeß wieder in den Sattel geschwungen hatte.

„Sie in Schollbeck?“ sagte Horst mit einem Tone der Verwunderung, während Allmer ihn begrüßte und an seine linke Seite ritt.

„Ich bin hingeritten, um dem Schlingel von Wirthschafts-Inspector meine Meinung zu sagen,“ rief Allmer in einem hitzigen Aerger aus. „Es ist eine verrottete Wirthschaft in diesem Schollbeck … ein Schlagbaum zwischen ihrer Weide da drüben und unsern jungen Eichenschlägen ist morsch und zerbrochen, und so sind uns ihre Rinder in das junge Holz gedrungen und haben für mehr als zwanzig Thaler Schaden angerichtet; ich habe dem Inspector gesagt, wenn nicht noch in dieser Nacht der Schlagbaum wieder hergestellt würde, verklagt’ ich ihn morgen am Tage und seine Rinder ließ ich ihm ohne Gnade und Barmherzigkeit pfänden.“

„Sie gehen ja gewaltig scharf mit unsern Nachbarn in’s Gericht.“

„Das muß man leider, das werden Sie bald selbst einsehen lernen, es ist gar kein Auskommen sonst mit diesen Leuten … da heißt es: wie der Herr, so der Knecht …“

[659] „Den Herrn haben Sie mir aber doch wohl in etwas zu dunklen Farben geschildert … den Vetter Florens von Ambotten, der mir ganz und gar nicht wie ein durchtriebener Spitzbube, sondern als die kindlichste und harmloseste Seele von der Welt vorkommt …“

„In der That?“ fiel Allmer mit einem offenbar sehr spöttischen Lächeln ein.

„In der That,“ versetzte Horst nachdrücklich und fast geärgert, „dieser Vetter hat mich versichert, daß mein Besuch in Schollbeck erwartet würde, daß der alte Herr sich freuen werde, mich zu sehen, daß man keineswegs dort so abgeschlossen sei …“

„Dieser Vetter!“ sagte Allmer just mit demselben nicht näher zu deutenden Tone, womit der Vetter früher gesagt hatte: ‚O Allmer!‘ „Nun, es ist ja möglich,“ fuhr er dann kaustisch fort, „daß man in Schollbeck sich gegen Sie anders zeigen wird, als gegen Andere; daß der Alte Ihnen gegenüber seinen Menschenhaß und seine Grämlichkeit ablegt; daß der Vetter seine Eifersucht auf Fräulein Eugenie und seine Neigung zu bösen Streichen und Tücken Ihnen gegenüber verleugnet …“

„Halten Sie ein, Allmer,“ rief hier Horst lachend aus … „dieser Florens von Ambotten sollte Neigung zu Tücken und bösen Streichen hegen, das ist ja ganz unglaublich!“

„Wir werden sehen!“ sagte Allmer ruhig.

Horst schüttelte schweigend den Kopf.

„Es ist unglaublich!“ sägte er noch einmal und ritt dann schweigend neben Allmer her, der diesen Abend die entschiedenste Wortkargheit an den Tag legte.




5.

Es war am andern Tage zwischen elf und Mittag, als Horst, einen zum Groom beförderten Knecht hinter sich, auf die Brücke zuritt, welche den Zugang zum Haus Schollbeck bildete. Als sein Pferd den ersten Schritt auf die Brücke setzte, kam ein großgewachsener Mann, der vor dem Pförtnerhause auf einer Steinbank gesessen und sich mit dem Verfertigen von Krammetsvogeldohnen beschäftigt hatte, herangeschritten, mit der ziemlich barschen Frage: „Wohin wollen Sie?“

„Ich wünsche Herrn von Schollbeck zu sehen!“

„Herr von Schollbeck ist nicht daheim.“

„Nicht daheim?“ wiederholte Horst überrascht.

„Dann wünsche ich dem gnädigen Fräulein gemeldet zu werden.“

„Das gnädige Fräulein ist mit dem gnädigen Herrn … auch nicht daheim!“

„Auch nicht daheim? das ist seltsam; ich habe mich gestern ansagen lassen … gehen Sie doch, um zu sehen, ob sie nicht doch daheim ist, melden Sie Baron Alfred Horst … und wenn das Fräulein wirklich nicht da ist, so melden Sie mich bei Herrn von Ambotten an.“

„Herr von Ambotten ist schon vor einer Stunde mit der Angelruthe ausgegangen …“

„Herr von Ambotten ist mit der Angelruthe ausgegangen?“ rief Horst aus und warf sein Pferd herum … „wahrhaftig, das ist ein wenig überraschend für mich!“

Ein helles Roth des Zornes färbte seine Züge, als er sich zum Heimkehren wendete.

„Gröber,“ sagte er für sich, „kann man freilich nicht abgewiesen werden – wenn man sich ausdrücklich angekündigt hat! Wenn man eingeladen ist, zu kommen! Das Wetter soll diesem heimtückischen, falschen Menschen von Vetter auf den Kopf fahren … so Recht hatte also Allmer, als er mich vor den Leuten warnte und diesen Vetter einen Schelm nannte!“

Horst war in tiefster Seele gekränkt. Es war nicht allein die beleidigende Weise, wie man sein Entgegenkommen aufgenommen, es war mehr als das, es war eine unsägliche Bitterkeit in ihm, daß er von Eugenie’s Schwelle so hochmüthig zurückgewiesen war. Seit er das Mädchen gesehen, hatte er nicht aufgehört, an sie zu denken, er hatte sich in glückliche Träume verloren bei dem Gedanken an sie … er hatte ja ganz allein ihretwegen das kleine Schloß Falkenrieth gekauft, ihretwegen, weil sie seiner gespottet hatte, und noch mehr, weil er sie dort gesehen, weil es für ihn ein auf immer mit dem Gedanken an sie verbundener Gegenstand war. Und jetzt … sagte man ihm bei der ersten Annäherung mit einer fast naiven Rücksichtslosigkeit und Grobheit, daß man ihn nicht sehen und nichts von ihm wissen wolle … es war in der That eine Beleidigung, die sich kaum so ohne Weiteres hinnehmen ließ; es war mehr, als was ein Edelmann vertrug. Horst murmelte einen leisen Fluch zwischen den Zähnen und gelobte sich, wenn er diesem Vetter wieder begegne – nein, er beschloß, diesem Vetter lieber gleich, sobald er zu Hause angekommen, eine Herausforderung zu schicken, auf der Stelle ihm zu zeigen, daß er sich nicht höhnen lasse; und mit der ihm eigenen Raschheit, in der Hitze der Aufregung stachelte er sein Pferd zum Galopp, um nur möglichst bald heimzukommen und seinen Vorsatz ausführen zu können. - -

Eine Stunde später saß die Familie von Schollbeck im Schatten des alten epheuumrankten Thurmes um einen runden Sandsteintisch, umgeben von den blühenden Gesträuchen der Anlagen, die den alten Seitenthurm des Hauses umfingen. Der menschenfeindliche alte Herr von Schollbeck, ein Mann von etwa sechszig Jahren, lag in einem Schaukelstuhl aus leichtem Rohrgeflecht und sah mit gerunzelter Stirn auf seine Tochter Eugenie, die auf einer Bank von Gußeisen Platz genommen hatte und gedankenvoll das Haupt auf den Arm stützte, der auf der Lehne der Bank ruhte. Der Vetter saß ihr gegenüber und zeichnete, wie es schien, eben so nachdenklich mit einer Gerte Figuren in den Sand zu seinen Füßen.

„Du blickst seit einer Viertelstunde vor Dich nieder, Eugenie, und sagst nichts,“ bemerkte der kleine, ziemlich starke und aus seinen hellen Augen unter dichten grauen Brauen her so verdrießliche Blicke werfende alte Herr endlich.

„Was kann ich sagen?“ versetzte Eugenie mit einem traurigen Blicke ihren Vater streifend. „Es ist schlimm, einen bösen Menschen zum Nachbar zu haben … aber was kann man anders thun, als ihm ausweichen? Die Statue ihm ohne Weiteres zurücksenden willst Du nicht …“

„Nein, nein, nein!“ rief Herr von Schollbeck heftig den Kopf schüttelnd aus, „das nicht, das ist unmöglich. Ich bin Allmer schuldig, Alles zu thun, damit Horst nicht erfährt, daß die Statue unter meinen Sammlungen ist … ein Mensch wie er würde Allmer das größte Verbrechen daraus machen, daß er die Statue weggegeben, er würde ihn als ungetreuen Verwalter der Unterschlagung anklagen … ich darf nicht, ich darf nicht!“

Eugenie schwieg. Auf dem Gesichte des Vetters war deutlich zu lesen, daß irgend ein Gedanke in ihm arbeitete, den er nicht aussprach, vielleicht in der Sorge, entschiedenes Fiasco damit zu machen.

„Was willst Du sagen, Florens?“ fragte Eugenie ihn nach einer Pause, in der sie die Züge des Vetters beobachtet hatte.

„Ich meine,“ sagte er jetzt, ein wenig scheu in die Züge des alten Herrn blickend, „wenn wir es heimlich machten …“

„Heimlich – was?“

„Wenn wir heimlich die Statue in Horst’s Haus auf ihre alte Stelle zurückbringen ließen … dann würde er ja zufrieden sein und …“

„Du bist ein Thor, Florens!“ fiel hier Herr von Schollbeck ein; „heimlich … ein Edelmann thut nichts heimlich, und zudem würde das ihn erst recht anstacheln, Nachforschungen anzustellen, und würde Allmer deshalb gefährden!“

„Ja, Allmer!“ sagte der Vetter wieder mit einem ganz eigenthümlichen Tone.

Eugenie legte mit einem freundlichen Lächeln die Hand auf Florens’ Schulter und sah ihn mit einem Blicke an, dessen Sprache der Vetter nicht im geringsten verstand und die in klaren Worten nichts anderes sagte, als: Du Guter, wie wenig ahnst Du, daß die Hauptsache die ist, daß mein Vater lieber sein Leben ließe, als das kostbare Marmorbild, die Perle seiner Kunstschätze oder dessen, was er so nennt!

„Es handelt sich ja auch nicht allein um die Statue,“ fuhr Herr von Schollbeck ärgerlich fort, „es handelt sich um einen Nachbar, der ein böser Mensch ist, der mit Allmer, statt ihm bis an sein Lebensende für das zu danken, was er für die verschuldete Herrschaft gethan, im ersten Zusammentreffen Streit gesucht hat; der dann, sobald er vernommen, daß es Eugeniens und auch mein Lebenswunsch war, Falkenrieth, das unmittelbar an unser Gut stößt, zu erwerben, es uns vor der Nase weggekauft, und der uns endlich um eines Paars verlaufener Rinder willen mit allen möglichen gerichtlichen Chicanen bedroht … um all’ den Verdruß, der uns noch von ihm bevorsteht, handelt es sich …“

[660] „Und mit etwas wie einem neuen kann ich aufwarten,“ sagte in diesem Augenblick die Stimme eines Mannes, der eben um einen Jasminstrauch trat und der Gesellschaft eine leichte Verbeugung machte. Es war Allmer. „Hier,“ fuhr er zu Florens von Ambotten gewendet fort, „lesen Sie das, dies Billetdoux hier!“

Florens nahm mit einem mißtrauisch scheuen Blick das Billet, das Allmer ihm reichte, und erbrach es. Seine Züge verfärbten sich, während er las.

„Um Gott,“ stammelte er, wie hülfeflehend zu Herrn von Schollbeck und zu Eugenien aufblickend, „er hat mich gefordert!“

„Er … Horst?“ fragte Eugenie.

„Horst!“

„Und weshalb?“ rief Herr von Schollbeck aus.

„Weil … weil mein Betragen beleidigend gegen ihn gewesen … da lesen Sie selbst … gefordert auf Pistolen!“

„Das ist ja ein wahrer Türke!“ sagte Herr von Schollbeck.

„Armer Florens!“ flüsterte Eugenie mit einem Blick des Mitleids, wie man ihn auf ein geängstigtes Kind wirft.

Florens war aufgesprungen. Florens von Ambotten war, was selten zu geschehen pflegte, in Aufregung gekommen; er war zornig geworden, … aber sein Zorn äußerte sich in unendlich sanft vorgebrachten Vorwürfen gegen Herrn von Schollbeck.

„Es war aber auch unrecht von Ihnen,“ sagte er, „daß Sie mir nicht früher erklärten, daß Sie ihn nicht empfangen, daß Sie seinen Besuch abweisen und auch mir befehlen würden, ihn abzuweisen. Ich konnte es ja gestern Abend nicht wissen … und jetzt, jetzt hat er mich gefordert …“

„Da machst Du mir sehr ungerechte Vorwürfe,“ unterbrach ihn Herr von Schollbeck ärgerlich, „es wurde ja erst gestern Abend spät beschlossen, daß wir ihn abweisen wollten, nachdem Allmer dagewesen und uns den Kauf von Falkenrieth und seine Drohungen mitgetheilt hatte. …“

„Ja, Allmer!“ rief Florens wieder aus, diesmal mit dem Tone entschiedenen Verdrusses.

„Was willst Du thun? Willst Du Dich mit ihm schießen?“ fragte Herr von Schollbeck.

„Ich, schießen … o mein Gott, das wäre ja fürchterlich! Muß ich das denn?“

„Ich sehe nicht, wie Du ihm ausweichen willst!“

„Was meinst Du, Eugenie?“ sagte der Vetter, wie in der Erwartung, Hülfe in seiner Noth bei dem jungen Mädchen zu finden.

Eugenie sah zu Boden, ohne zu antworten. „Ich, ich würde mich mit ihm schießen,“ sagte sie dann, plötzlich den Kopf erhebend, mit geröthetem Gesichte und zornig die Worte zwischen den Zähnen murmelnd.

„Aber Sie können es nicht, Fräulein Eugenie,“ fiel hier Allmer ein, „und Herr von Ambotten ist zu ungeübt in den Waffen, um es zu können. Ueberlassen Sie mir, den heftigen jungen Mann für den Verdruß zu strafen, den er Ihnen gemacht hat!“

Allmer blickte bei diesen Worten das junge Mädchen mit einem der sprechenden, wie schwer auf ihrem Gegenstande lastenden Blicke aus seinen dunklen Augen an, die sie seit seinem ersten Kommen nicht verlassen hatten.

„Sie wollten …“ fiel Herr von Schollbeck hier ein, „für Florens …?“

„Lassen Sie Herrn von Ambotten erwidern,“ entgegnete langsam und bestimmt Allmer, „er sei ungeübt im Pistolenschießen, es sei wider seine Grundsätze sich zu schlagen, oder was er für gut findet, und statt seiner werde ich die verlangte Genugthuung geben …“

„Aber bei dem Verhältnisse, in welchem Sie zu ihm stehen?“ unterbrach ihn Florens.

„Dies Verhältniß wird bald abgebrochen sein – noch heute. Ich habe nicht die geringste Lust, es nur noch einen Tag lang fortzusetzen. Zudem habe ich für mein eigenes Gut zu sorgen. Sie wissen, daß ich in Unterhandlungen wegen des Ankaufs des Ritterguts zu Flursheim stand – dasselbe ist seit voriger Woche mein!“

„So wünsche ich Glück, von Herzen Glück dazu!“ sagte Herr von Schollbeck.

„Ich danke Ihnen, Herr von Schollbeck,“ versetzte Allmer, immer in derselben Ruhe, welche einen so eigenthümlichen Contrast mit der inneren Aufgeregtheit der Anderen bildete; „ich danke Ihnen, wenn ich auch das Glück – sein Auge lag bei diesen Worten wieder auf Eugenie – nicht von Umständen erwarte, die immer nur die Grundlage für ein darauf zu bauendes Glück bilden können ! Aber zur Sache … werden Sie den Brief schreiben, werden Sie mich zu Ihrem Stellvertreter annehmen, Herr von Ambotten?“

Florens von Ambotten schien in seinem sanften Gemüth am wenigsten für Allmer die Gefühle zu hegen, die ihn geneigt machten, von ihm einen solchen Freundschaftsdienst anzunehmen. Mit einer gewissen Aengstlichkeit hatte er die auf Eugenien liegenden Blicke Allmer’s bewacht. Auf der anderen Seite hatte er noch weniger Lust, sich den Kugeln des bösen Menschen, der ihn zu erschießen drohte, zu stellen, und so sah er mit einem eigenthümlichen Blicke von Rathlosigkeit und Verlegenheit zu Herrn von Schollbeck und Eugenie auf.

„Ist es denn zulässig, kann man denn einem Andern überlassen, eine Ehrensache auszufechten, die uns persönlich angeht?“ sagte er schwankend.

„Herr von Horst verlangt eine Satisfaction,“ fiel Eugenie hier ein, „wenn sie ihm wird, so ist es einerlei, wer sie ihm giebt, ob Du oder ein Freund an Deiner Statt, Florens - – laß sie deshalb ruhig Allmer ihm geben. Ich hoffe, die Belehrung, die dieser böse Mensch dann erhält, wird um so gründlicher sein … es ist wahrhaftig abscheulich, ein, nimm mir’s nicht übel, ein harmloses Kind wie Dich auf Pistolen zu fordern… es gehört so entsetzlich wenig Muth zu dieser Heldenthat … es ist erbärmlich, verächtlich … wenn Allmer ihm entgegentritt, wird er vielleicht Gelegenheit es zu bereuen bekommen!“

„Wenn Du es so auffassest!“ sagte Florens, der bei der Heftigkeit, womit Eugenie gesprochen, gar nicht wagte, gegen die kindliche Harmlosigkeit zu protestiren, die ihm seine Cousine zuschrieb und die ihn doch so verletzte, daß er einen vorwurfsvollen Blick auf Herrn von Schollbeck warf, als ob er sagen wollte: „Du siehst, wie sie mit mir umgeht!“ Dann stand er auf und fügte hinzu: „So will ich gehen und eine solche Antwort an Horst schreiben!“

Damit verließ er die Gesellschaft. Diese letztere blieb eine Weile stumm und schweigend; Eugenie nahm eine Stickerei zu Händen, ihr Vater blickte gedankenvoll auf die nächste grüne Rasenfläche hinaus. Nach einer Weile erhob auch er sich.

„Ich muß doch gehen und schauen, was Florens schreibt … ob er sich in der gehörigen Weise ausdrückt!“ sagte er und ließ Eugenie und Allmer allein.

Eugenie wechselte leicht die Farbe; es zuckte etwas über ihr Gesicht, als sie ihrem Vater nachblickte, und die Finger, womit sie in einem kleinen, auf Papierunterlage genähten Stücke weißen Zeuges Stiche machte, begannen von diesem Augenblicke an zu zittern. Allmer entging diese Bewegung nicht. Er beobachtete sie eine Weile schweigend; dann sagte er: „Fräulein Eugenie, Ihre Hand zittert ein wenig…“

„Sie irren,“ entgegnete sie halblaut; in der That die Finger hatten von diesem Augenblicke an ihre ganze Festigkeit wieder erhalten.

„Ich bewundere die Kraft, welche Sie über sich besitzen. Sie haben eine seltene Gewalt sich zu beherrschen …“

„Sich beherrschen können ist der Anfang aller Weisheit …“

„Und aller Anfang ist schwer, wie bekannt.“

„Man muß nur den Willen haben!“

„Den Willen! Was ist der Wille! Es giebt viel in uns, was den Willen unterjocht, ihn unter die Füße tritt, oder ihn zum Spielzeug macht!“

„Das sagt ein Mann?“

„Ja, ein Mann, ein Mann von starkem, nicht leicht zu beugendem Willen sagt Ihnen, daß sein Wille nichts werden kann als eine Seifenblase, die der Hauch der Leidenschaft schaukelt und hinbläst wohin sie mag.“

„Welch’ kläglicher Wille!“ fiel Eugenie mit spottendem und doch offenbar ängstlichem Tone ein, indem sie einen scheuen Blick in Allmer’s dunkel auf sie niederglühende Augen warf und dann die ihren rasch wieder auf ihre Arbeit senkte.

(Fortsetzung folgt.)
[661]

Der Vogelfreund im Pfarrhause.

Ein Lebensbild von seinem Sohne.

„Der alte Brehm.“.
Nach dem im britischen Museum befindlichen Aquarellbilde von Karl Werner.

Es war ein Kirchenrath und Professor einer Hochschule, welcher alles Ernstes einmal seine Zuhörer und Jünger „vor dergleichen Allotria“ verwarnte, „wie sie der alte Pastor Brehm in Renthendorf treibt, den sie nun sogar zum Ehrendoctor der Medicin creirt haben!“ Der Mann hatte von seinem Standpunkte Recht, denn die Naturwissenschaft ist allerdings fähig, solche Menschen zu schaffen, wie mein Vater einer war, dessen Lebensbild ich den Lesern der Gartenlaube [662] vorführen will, nachdem er selbst vor wenigen Wochen zu den Todten gegangen ist.

Ja, vor wenigen Wochen habe ich meinen geliebten Vater zu Grabe geleitet. Und nicht blos den Vater habe ich hinabsenken sehen in die Gruft: auch den Erzieher, den Lehrer und Rathgeber, den Freund, den Mann, welcher das Samenkorn mir in das Herz gelegt hat, das später aufgegangen, welcher vor und mit mir nach demselben Ziele gestrebt, den Priester, dessen Worten ich in der Jugendzeit ehrfurchtsvoll nachgelebt, mit dem ich als Mann so oft verschiedene Meinungen und Ansichten ausgetauscht und mit dem ich mich immer verständigt!

Sein Lebensbild habe ich mir gerade rücksichtlich des Leserkreises der Gartenlaube nicht nehmen lassen wollen. Von den vielen Freunden des Heimgegangenen an dieser Stelle haben sich mehrere erboten, anstatt meiner von dem Altmeister der deutschen Vogelkundigen zu reden; ich aber habe meinen Freund Keil gebeten, mir die wehmüthige Freude zu gönnen, von ihm Denen zu erzählen, welche mit ihm und mit mir bekannt geworden sind, so wenig ich auch verkenne, daß die Liebe des Sohnes zum Vater wohl befangen machen kann. Ich fürchte jedoch nicht, befangen zu werden; denn ich will weniger von dem Vater, als von dem Priester reden, welcher der Vater war, von dem Priester in doppelter Hinsicht: innerhalb seiner Gemeinde und draußen in der Natur, die er verehrte und liebte, in der er lebte und von der er lehrte, wie Keiner besser.

Ueber das, was man „den Lebenslauf“ eines Menschen nennt, habe ich, wenn ich nicht in die Einzelnheiten des Entwickelungsganges meines Vaters eingehen will, wenig zu sagen. Er, Christian Ludwig Brehm, war am 21. Januar 1784 zu Schönau vor dem Walde, einem thüringischen Dorfe unweit Gotha, geboren. Seine erste geistige Regung verrieth die ihm angeborene Liebe zu den Vögeln, zum Walde, zur Natur. Man möchte sagen, daß der ornithologische Sammeleifer bei ihm von Kindesbeinen an begonnen, denn als vierjähriger Knabe schon trug er alle Vogelfedern zusammen, die er finden konnte, im elften Jahre lernte er das Ausstopfen der Vögel, und von da begründete er eine Sammlung, die auch während seines Aufenthaltes auf der Gelehrtenschule in Gotha wuchs und, als der Jüngling die Universität Jena beziehen sollte, auf 230 Stück angewachsen war, aus deren Verkauf ein Sümmchen gelöst wurde, das die Sorgen des nur an Kindern reichen Großvaters für meinen Vater wenn auch nicht aufhob, so doch milderte. Im Jahre 1810 wurde der Vater Candidat des Predigtamtes, 1812 Pfarrer in Drakendorf bei Jena und am 1. Juni 1813 zog er als Pfarrer nach Renthendorf im Neustädter Kreise des Großherzogthums Sachsen-Weimar, wo er bis an sein Lebensende blieb; also über fünfzig Jahre wirkte und im Sommer 1864 starb.

Es ließe sich Vieles sagen über meines Vaters Wirksamkeit gerade als Geistlicher, wenn wir hier nicht vorzugsweise den Naturforscher hervorzuheben hätten. Das Eine darf hier jedoch nicht unerwähnt bleiben, daß „der alte Pastor Brehm“ weit über sein Kirchspiel hinaus ein geliebter und verehrter Mann war sowohl als Prediger, wie als stets bereiter Helfer in allen Verlegenheiten und Nöthen. „Geh’ zum Renthendorfer, – der hilft, wenn es möglich ist“ – war fast sprüchwörtlich in der ganzen Umgegend. Man wußte: der Mann scheute keine Mühe und keinen Schritt bis zu den Stufen der Gekrönten, wenn ein Bedrängter dessen würdig war. Und wie treu sein Herz im Volke lebt, so stand doch sein Geist über dessen Schwächen, wie er auch tapfer den Schwächen gewisser Glaubensrichtungen der Zeit widerstand. „Ich warte, bis die Modekrankheit vorüber sein wird“ – tröstete er einen vor der Kopfhängerei besorgten Amtsbruder. Und wer das gerechteste Urtheil über des Vaters Predigergabe hören will, dem giebt es ein Bauer aus einem Nachbardorf seines Kirchspiels, welcher äußerte: „der Renthendörf’sche saet in finf Minuten märre, as en Annerer in ehner Stunne.“ Wenn ich dazu bemerke, daß der Vater fast zwei Generationen seiner Beichtkinder getauft, copulirt und zum Theil wieder zu Grabe geleitet hatte, so wird man ein Bild von der Patriarchenwürde haben, mit welcher er in seinen Gemeinden waltete, wie er Jedermann Du nannte, weil er Alle als Kinder gekannt, wie selbst die ältesten Männer es als eine Ehre sich erbaten, von ihm Du genannt zu werden, und welche Liebe und aufrichtige Thränen den Sarg begleiteten, der „den alten Pastor Brehm“ barg.

Gewiß, er war ein treuer Priester der Kirche, aber mehr noch ehren wir in ihm einen hohen Priester der Natur. Den „alten Pastor Brehm“ hat nur die Umgegend seines Wohnortes kennen gelernt, den „alten Brehm“ die Welt. In Spanien, wie in Norwegen sprangen uns, meinem Bruder und mir, die Pforten der Tempel einer herrlichen Wissenschaft auf, wenn wir den Namen nannten, welchen der Vater sich erwarb. Der einfache thüringische Landgeistliche war nicht blos einer der Altmeister deutscher Wissenschaft, sondern auch Einer von Denen, welche das Feld urbar machen halfen, auf welchem jetzt Andere Früchte ernten. Naumann, Thienemann, Gloger[WS 1] und Brehm, diese Vier sind es, welche nach Bechstein als die eigentlichen Begründer der Kunde unserer Vogelwelt angesehen werden müssen. Der Vater war einer der Ersten, welche das Feld bebaueten, und hat seinen Platz am längsten behauptet. Es ist ein kleiner Zweig des Baumes, Naturwissenschaft genannt, welchen die Vier gepflegt haben; aber auch dieser Zweig hat dazu beigetragen, die Blüthe des ganzen Baumes zu zeigen. Dem Vater gebührt wenigstens ein Theil des Verdienstes, die Wissenschaft, welcher er sein Leben widmete, zu der ihr gebührenden Geltung gebracht zu haben. In Hinsicht auf die Mittel, welche ihm zu Gebote standen, hat er Großes geleistet: er hat eben schaffen helfen. Es fehlte ihm die Gelegenheit, sich mit dem einschläglichen Schriftthum so vertraut zu machen, wie er oft, sehr oft gewünscht hat; deshalb wandte er sich unmittelbar an die Natur selber, – und sie hat ihn denn auch nie verlassen. Er hat sich deshalb seinen Meisterruhm bewahrt bis zu seinem Tode.

Als der Vater nach Renthendorf kam, waren die Wälder der Umgegend Urwaldungen zu vergleichen. Das Schrotgewehr, welches er meisterhaft zu handhaben verstand, reichte oft nicht bis zu den Wipfeln der Bäume hinauf. In diesen Wäldern hat er Jahre seines Lebens verlebt. Der „Herr Pastor aus Renthendorf“ war allen Grünröcken der Umgegend eine befreundete Persönlichkeit. Man hegte damals andere Ansichten von der geistlichen Würde, als jetzt: kein Mensch nahm es dem Pfarrer übel, daß er mit dem Gewehr über der Schulter durch die Wälder zog, zumal da man wußte, daß solche Waldgänge weniger der Jagd, als der Wissenschaft galten. Im Kreise der Geistlichen wußte er sich seine Würde zu wahren – im Walde war er ein Waidmann, welchen die Grünröcke als einen der Ihrigen anerkannten, obgleich er an den eigentlichen Jagden nicht theil nahm. Auch die forstamtlichen Behörden kamen ihm freundlich entgegen: in den Thüringer Landen hat kein Privatmann je ein größeres Revier beschossen, als der Vater. Er jagte, wo er wollte, und war in jedem Forsthause der Umgegend eines freundlichen Willkommens im Voraus gewiß. Mit dem Morgengrauen zog der jagende Naturforscher aus, und gar nicht selten kehrte er erst Abends wieder. Aber die Jagd war immer nur eine nebensächliche Beschäftigung meines Vaters: Beobachtung, Belauschung, Erforschung des Lebens seiner Jagdthiere blieb unter allen Umständen die Hauptsache. Er verfolgte den Vogel im Walde durch alle Abschnitte seines Lebens, wie er ihn später, mit Hülfe der Freunde, durch alle Strecken seines Verbreitungskreises verfolgte. Als er die genügende Kunde der deutschen Landvögel erlangt zu haben vermeinte, sandte er seinen Schüler Schilling nach den Gestaden der Ostsee, um dort an seiner Statt das Leben der Meeresvögel zu erforschen, und später ließ er mich hinausziehen nach Süden und Norden hin, ein volles Sechstheil der Erde durchstreifen, damit ihm auch aus ferneren Landen Kunde werde über das Treiben seiner Lieblinge. Man verstehe mich recht, wenn ich sage: „Er ließ mich ziehen“ – denn er hat mich nicht aufgefordert zum Reisen, sondern mir nur seine Genehmigung dazu ertheilt und seine väterlich warmen, frommen Wünsche auf die Reise mitgegeben.

In den Jahren 1820 bis 1822 erschien sein erstes Werk, „Beiträge zur Vögelkunde“. Ich habe es gerade vor mir liegen, nachdem es mir gelungen, dasselbe auf antiquarischem Wege zu erlangen; denn vergriffen ist es schon seit Jahren. Das Buch, welches auch Schilling’s Beobachtungen enthält, beweist, daß der Vater nicht umsonst die Wälder durchstreift. Es ist heute noch als mustergültig anzusehen. Naumann, der berühmteste deutsche Vogelkundige (Ornithologe), der 1857 in Köthen gestorben ist, hat in seiner zwölfbändigen „Naturgeschichte der Vögel Deutschlands“ viele, viele Seiten aus ihm fast wörtlich wiedergegeben, und viele Forscher unserer Tage nehmen, wenn sie es lesen, zu ihrem Erstaunen wahr, daß dieses Buch zum [663] Schatze ihres Wissens den Grund legen half. Es begründete den Ruf des späteren Altmeisters und führte ihn in alle Kreise der damaligen Forscherwelt ein. Das Buch hat aber, meines Erachtens, noch ein weit größeres Verdienst. Es ist bei aller Wissenschaftlichkeit so volksthümlich geschrieben, daß sein Verfasser wohl als einer der Bahnbrecher in dieser Richtung bezeichnet werden darf. Die Beschreibungen der Vögel, zumal die Schilderung ihres Lebens, zeichnen sich namentlich durch eine wohlthuende Kürze aus.

Einem „Lehrbuch der Naturgeschichte aller europäischen Vögel“ und einer Zeitschrift „Ornis“ folgte 1831 das „Handbuch der Naturgeschichte aller Vögel Deutschlands“, in welchen, sich die eigenthümliche Anschauung des Vaters zum ersten Male bekundet, indem es Arten beschreibt, welche in den Augen der meisten Forscher höchstens Abarten sind, und Unterarten (subspecies), mit welchen die Leute gar nichts anzufangen wissen; das Handbuch wird heute noch kopfschüttelnd bei Seite gelegt. Wohlwollende Beurtheiler der Neuzeit meinen, daß es eine andere Auffassung der Darwinschen Lehrsätze bekunde. Wo nämlich mein Vater die geringste Abweichung im Gefieder eines Vogels erkannte und fand, daß solche Verschiedenheiten nicht auf einzelne Vögel sich beschränkten, sondern mehreren gemeinsam waren, so sah er in diesen eine selbstständige Form und diese nannte er „Unterart“ oder „Gattung“, während Andere von „Racen“ sprechen; das ist der ganze Unterschied zwischen ihren und seinen Ansichten. Einer unserer Altmeister der Thierkunde aber, der hochverdiente Reichenbach, urtheilt anders. „Er schöpfte,“ sagt er von meinem Vater, „immer aus ungemein reichen Quellen, und die Summe seiner Beobachtungen gestaltete freilich eine Fülle von Objecten zu specieller Unterscheidung, welche manche seiner Gegner darum nicht begriffen, weil es ihnen an ähnlichem Reichthum von Objecten gebrach.“ Gewiß, so war er. Es mag sein, daß auch der Vater manchmal zu weit gegangen; Folgerichtigkeit, beharrliche Gleichmäßigkeit der Anschauungen und Auffassung, ist ihm aber nicht abzusprechen, und – selbst weil er Widerspruch hervorrief, hat er die Wissenschaft unendlich gefördert.

Außer den genannten und noch einigen andern größeren Werken, führt die „Bibliotheca zoologica“ von Larus und Engelmann noch einige achtzig verschiedene naturwissenschaftliche Aufsätze seiner Feder an, die ungerechnet, welche er für volkstümliche Zeitschriften verfaßte, weil von diesen die Wissenschaft keine Kenntniß nimmt. Diese kleineren Arbeiten verdienen den Ruhm, welchen ihnen Reichenbach zuerkannt hat, in den nachstehenden warmen Worten: „Sein tiefes Gemüth waltete thätig in seinen Beschreibungen mit, und rührend sind seine Schilderungen von der Liebe und Treue der Vögel, von ihrem Familienleben und von ihren Freund- und Feindschaften, von ihrem immer thätigen Treiben in der freien Natur und von ihrer Bedeutung für die große Oekonomie in der Regierung des Weltalls. Sein amtlicher Beruf als geistlicher Lehrer in seiner Gemeinde verlieh auch seinen Berichten aus dem Naturleben jene eigenthümliche Weihe, welche dem selbst beobachtenden und erfahrungsreichen Naturforscher die Ueberzeugung von einer Harmonie des allgemeinen Naturlebens immer gewährt. Seine unablässige Erforschung der Naturgesetze stimmte ihn zu milder Gesinnung, und sein Grundprincip beruhte auf der steten Anschauung einer Veredlung des Menschenlebens durch die Hingabe an die Erforschung der ursprünglich reinen Natur.“ Ja, wahrlich – diese milde Gesinnung, welche ihm eigenthümlich war, er hat sie auch in seinen Schriften stets bewährt. Er ist oft auch angegriffen worden wegen seiner wissenschaftlichen Thätigkeit, und nicht blos von seiner würdigen, sondern auch von seiner unwürdigen Gegnern, der erfahrungsreiche Meister von unreifen Lehrlingen; er aber hat jene Milde nie verleugnen und sich deshalb zwar Gegner, niemals aber Feinde schaffen können!

Mit der schriftstellerischen Wirksamkeit meines Vaters war eine andere Thätigkeit unzertrennlich verbunden, die stete, sorgenvolle Arbeit, welche seine Vögelsammlung beanspruchte. Diese Sammlung ist nicht blos der Theilnahme werth, welche sie bei den Naturforschern aller Länder gefunden hat – sie verdient mehr: sie verdient die Beachtung unseres gesammten Volkes, denn sie ist ein des deutschen Fleißes und der deutschen Gelehrsamkeit würdiges Denkmal; sie hat ihres Gleichen nicht. Wir, die Söhne ihres Gründers, kennen sie von unserer Jugend an, und wir mußten erstaunen immer von neuem, als wir nach des Vaters Tode die traurige Pflicht erfüllten, sie zu ordnen, in der Absicht, sie, dem Wunsche des Verstorbenen gemäß, dem Vaterlande zu erhalten. Diese Vögelsammlung, d. h. der Kern, die „Hauptsammlung“, wie wir sie nennen, enthält siebentausend europäische Vögel, diese aber nicht blos in beiden Geschlechtern, sondern auch in allen Unter-, Ab- und Spielarten, in allen Kleidern und aus allen Ländern, in denen die betreffenden Arten vorkommen. Ich will einige genauere Zahlen geben, um die Gesammtmenge verständlicher zu machen. Die Sammlung wird gebildet durch gegen 700 Raubvögel, ungefähr 400 Würgvögel (Schwalben, Würger), 450 Rabenvögel, über 3000 Singvögel, 300 Tauben und Hühner, 900 Sumpf- und gegen 800 Schwimmvögel. Diese Sammlung ist ein ganz unschätzbarer Stoff für die Wissenschaft; sie ist ein Museum für die Thierkunde der Zukunft, dessen Wichtigkeit erst begriffen wird, nachdem Darwin den alten Sauerteig wieder einmal aufgerührt und die ganze deutsche und englische Forscherwelt in gährende Aufregung versetzt hat. Jetzt, gerade jetzt bedarf die Wissenschaft einer solchen Rüstkammer! Und deshalb ist es unser ernstes Streben, sie dem Vaterlande und zwar, wo möglich, unserer thüringischen Hochschule, dem vom Vater und uns, den Söhnen, gleich warm geliebten Jena zu erhalten. Wir dürfen Hoffnung hegen, daß der alten Ehrenkrone Jenas diese Perle eingereiht werde – und wenn nicht, so würde ich bei allen übrigen deutschen Hochschulen betteln gehen, bevor ich mich entschließen könnte, dem geldreicheren Ausland einen Schatz auszuliefern, den ich mir selbst nun einmal nicht erhalten kann. Außer diesen 7000 Vogelbälgen sind aber noch über 2000 andere vorhanden, welche der Hauptsammlung unmöglich eingereiht werden können, weil sie dieselbe nur beschweren würden. Sie sollen später nach und nach an Schulen abgegeben werden, damit wir dem Manne, welcher unablässig für seines Volkes Bildung arbeitete, in jeder Hinsicht gerecht werden.

Und diese Sammlung von mehr als 9000 Stück hat der Mann, welcher sein beschwerliches Amt treu verwaltete und noch immer Zeit fand, Anderen zu helfen, welcher nebenbei als Schriftsteller thätig war, durch seine eigene Arbeit zusammengebracht – ohne jemals zu kaufen! Er hat weitaus die größere Anzahl dieser Vögel erlegt, zubereitet und durch fünfzig Jahre bewahrt vor dem Verderben; er hat die außerdeutschen Vögel durch deutsche ertauscht. Ein Grundsatz von ihm erklärt seinen späteren Reichthum. Er ließ Nichts „umkommen“ von dem, was er zu wissenschaftlichen Zwecken in seine Hand bekam. Ihm war der von ihm oder von Anderen getödtete Vogel ein heiliger Gegenstand, mit welchem er, wie er sich ausdrückte, nicht freveln durfte. Deshalb saß er oft noch in später Nachtstunde ausstopfend an seinem Arbeitstische, um eine Vogelleiche zu „erretten“, d. h. um sie nicht der natürlichen Zerstörung preiszugeben. Seine Wissenschaft war ihm Gottesdienst: „Ich habe,“ sagte er schon vor nunmehr vierundvierzig Jahren, „in diesen Beiträgen nur da auf den Schöpfer hingewiesen, wo ich dem Drange, dies zu thun, nicht widerstehen konnte. Doch bin ich mir bewußt, bei Abfassung des Ganzen Gott im Herzen gehabt zu haben … und trüge dieses Werkchen etwas dazu bei, unseren Forschungen in der großen Natur die Richtung zu geben, daß man bei ihnen mehr, als bisher, den Einzigen, der Alles erfüllt und belebt, suchte und fände, dann wäre sein höchster Zweck auf das Vollkommenste erreicht!“ Es bedarf keines Wortes weiter, um die „Allotria“, welche der alte Pastor trieb, zu kennzeichnen.

Der Vater arbeitete in seinem Greisenalter, wie er in seiner Jugend gearbeitet hatte, unablässig, unermüdlich. In seinen letzten Lebensjahren vermehrte sich seine Sammlung außerordentlich rasch. Von allen Seiten kamen Geschenke – ganze Kisten voll. Man kannte seine Art zu sammeln, und man ehrte sie und dadurch sich. Wir Beiden, mein Bruder und ich, haben auch das Unsrige beigetragen, dem alten Herrn die Lösung mancher Fragen zu erleichtern. Er wünschte von mir, als ich in Afrika reiste und sammelte, Thurmfalken zu haben, ich brachte ihm 362 Stück derselben mit; er verlangte Schafstelzen, ich sammelte gegen fünfhundert von ihnen. Mit diesen Schätzen erwarb er sich tauschweise neue. Spanien, Norwegen, Lappland brachten ihm auch ihren Zoll. Es war eine Freude für uns, dem geliebten Mann Freude zu bereiten, eine Lust, ihn beim Auspacken einer seiner Kisten zu beobachten, ihn das Neuangekommene prüfen, vergleichen zu sehen. Nicht blos der Sohn, auch der Künstler konnte sich dann an dem Eifer des greisen Forschers begeistern.

Unser Bild ist der Beweis dafür. Karl Werner, der Vielgerühmte, einer unserer größten Architekturmaler, wollte gerade ihn, den forschenden Priester, durch eine seiner Schöpfungen verewigen. In das [664] alte, malerische Zimmer, welches er irgendwo – im Renthendorfer Pfarrhause wahrhaftig nicht! – entdeckt, da hinein zeichnete und malte er den alten Herrn, so wie er leibte und lebte. Eine von Heuglin gesandte Vogelkiste ist angekommen; die in ihr enthaltenen Schätze liegen noch auf den Dielen zerstreut; nur der Balaeniceps Rex hat bereits einen Platz gefunden, ein deutsches Blaukehlchen aber einen Ehrenplatz in seiner Hand. Das Bild, welches jetzt im britischen Museum hängt, ist treu und wahr; – nur das reiche Arbeitszimmer ist eine harmlose Lüge des Künstlers.

Soll ich nach diesem auch noch von dem Vater erzählen? Es bedarf der weiteren Worte nicht.

Ein Mann, welcher ein Priester war, wie er, muß auch als Vater und Gatte ein wahrer, voller, ganzer Mensch gewesen sein. Er hat nach meinem Dafürhalten nur einen Fehler gehabt: er war auch gegen uns so mild, so nachsichtig, wie gegen die übrige Menschheit, vielleicht zu mild, zu nachsichtig. Kommt es mir zu, deshalb mit ihm zu rechten?

Der Vater hat viel Schweres erlebt und ertragen. Er hat sein erstes, geliebtes Weib und acht seiner Kinder verloren; er hat von mir Nachricht erhalten, daß sein in Afrika mit mir forschender Sohn Oskar vor meinen Augen im Nile ertrank; er hat meine einzige Schwester in der Blüthe ihrer Jahre hinabsenken sehen in die kühle Erde; er hat den Schmerz ertragen müssen, daß nicht alle seine Kinder genugsam befähigt sind, um sich selbstständig durch’s Leben zu helfen: er hat das Schwere getragen mit der ihm eigenen Kraft und Geduld. Er hat aber auch große Freuden gehabt: Freude an der Natur und ihren Erzeugnissen, Freuden im Schooße seiner Familie und außerhalb derselben. Er ist beglückt worden durch Freundschaften, wie sie selten sind, und hat Ehren empfangen von nah und fern. Ein gewöhnlicher Maßstab ist nicht an ihn zu legen. Seinen Namen hat er sich selbst eingetragen in den Büchern der Wissenschaft, und uns hat er in diesem Namen ein Erbtheil hinterlassen, welches wir uns erst noch einmal verdienen müssen, bevor wir es als unser Eigenthum ansehen dürfen.

Ich weiß nicht, ob ich den Vater so beurtheilt habe, wie meine Pflicht den Lesern vorstehender Zeilen gegenüber es verlangt. Die, welche den Mann kennen lernten, als Geistlichen wie als Forscher, mögen entscheiden, ob ich zu viel über ihn gesagt. Leicht ist es mir nicht geworden, von ihm zu reden: es schreibt sich schwer, wenn das Auge sich trübt über der Arbeit.
A. Brehm. 




Klopf- und Spukgeister in Sachsen.

Alle redliche Arbeit des deutschen Geistes strebt zum Licht. Aus einsamen Werkstätten und Studirstuben traten die Männer hervor, um sich unter Gottes Sonne die Hände zu dem großen Fortschrittsbunde zu reichen, der in den ewigen Gesetzen der Natur die einzig feste Grundlage alles Menschenglücks erkannt hat. Zu diesem aller Welt offenkundigen Bunde gehörten von je Alle, die wir als Wohlthäter der Menschheit verehren und deren Kampf gegen die Bollwerke und das Rüstzeug der Finsterniß gerichtet war, die den Wahn gebar und hegte und schleichend ausbreitete gerade in jenen dichten Massen der Völker, in welche die Sonne der Bildung so schwer eindringt. – Der Kampf war schwer, aber dennoch ist’s Licht geworden in weiten Länderstrichen der Erde, – und mit hoffnungsfrohem Herzen sieht der Menschenfreund auf den Fortschritt der Zeit, und vor Allem der deutsche Patriot auf die gesunde, jedes Hinderniß kräftig überwindende Entwickelung der einzig wahrhaft menschenbeglückenden Bildung im deutschen Volke.

Da – mitten in diese Freude, in diese Siegesgewißheit der rastlosen Ringer nach dem höchsten Bildungsziel wirft im Lande Sachsen ein Mann mit einem Gelehrtentitel uns ein Stück aus der wüstesten Wucherzeit des Aberglaubens als ein Resultat neuester deutscher wissenschaftlicher Forschung vor die Füße – eine so plumpe Satire, einen so lichthaßtriefenden Hohn auf das Streben der erhabensten Geister unserer Nation und den von allen Völkern geachteten Standpunkt deutscher Cultur, daß sich die Faust von selbst ballt, die den Wisch in den Winkel schleuderte. – Aber lange kann der Zorn nicht dauern, wir blicken wieder und wieder in das blaue Heft, und endlich haben wir’s in das rechte Licht gelegt, in welchem wir es unsern Lesern – nicht zu ihrer Beunruhigung, nicht zu ihrer Empörung, sondern zu ihrer Erheiterung – vor Augen bringen können.

Aus dem heimlicherweise vielbesuchten Schmollwinkel des deutschen Büchermarkts, in welchem neben den alten schielenden Weibern, welche das „wahrhaftige Traumbüchlein, gedruckt in diesem Jahr“ feil bieten, die Tractätleinverkäufer in ihren langen Angströcken stehen, die Augen gen Himmel verdrehend, und hinter schmutzigen Tischen voll „Geheimmitteln“ runde Reclamegesichter lächeln, aus diesem düsteren Schmollwinkel der gruseligen, windigen und lichtscheuen Literatur drängt sich, angethan mit dem Loyalitätsfrack der „Schriftgemäßheit“, der Herr Doctor K. A. Berthelen aus Zittau bis auf des Marktes Mitte, das erste Heft einer Schrift emporhaltend, welche den Titel führt: „Die Klopf- und Spukgeister in Oderwitz und Herwigsdorf bei Zittau, mit ähnlichen Erscheinungen der Vergangenheit und Gegenwart verglichen und ganz einfach erklärt.“ In dem Vorwort zu derselben sagt er wörtlich: „Ich erkläre diese wunderbare Geschichte von meinem eigenthümlichen wissenschaftlichen Standpunkte aus und nach den Erfahrungen und Studien, welche ich mir auf dem Gebiete der Geisterkunde erworben; denn ich bin mir bewußt, daß ich bei der wissenschaftlichen Erforschung dieser geheimnißvollen Geschichte den höchsten und vielseitigsten Standpunkt eingenommen, der sich überhaupt erklimmen läßt!“

Wir lassen ihn nun „die Thatsachen“ – jedoch, um nicht gegen seine Clausel: „Nachdruck und Uebersetzungsrecht ist vorbehalten“ zu verstoßen, nur im Auszuge – selbst erzählen.

„Es war um die Zeit vor der heiligen Weihnacht des Jahres 1863, daß in dem Häuschen des Webers Biehayn zu Nieder-Oderwitz ein heimliches, und eben deshalb unheimliches Klopfen und Pochen sich hören ließ, ohne daß es den Bewohnern des Hauses gelang, zu entdecken, wer oder was es war, das da klopfte, obgleich es sich alltäglich, besonders Abends wiederholte. Weil man nun diese Erscheinung nicht anders als menschlich und von einem Menschen ausgehend sich denken konnte, so warf man den Verdacht auf die sechzehnjährige Louise Steudner aus Herwigsdorf, welche seit einem halben Jahre bei Biehayn als Webermädchen (Wirkmagd) diente. Man traute diesem einfachen Kinde so viel Geschicklichkeit zu, daß, während sie an ihrem Webstuhl wirkte, sie auch das Klopfen zuwege brächte, was bald an die untere, bald an die obere Stubenwand immer wie von außen erfolgte und so laut war, daß es das Geräusch des Wirkstuhles übertönte. So befremdend nun auch dieses sonderbare Klopfen den Hausgenossen anfangs war, so gewöhnten sie sich doch mit der Zeit daran, wie sich der Mensch an Alles gewöhnt, selbst an das Unangenehmste. Dann und wann kam wohl ein neugieriger Nachbar und frug an, ob es denn immer noch klopfe, forderte wohl auch das Klopfeding oder klopfende Wesen durch Klopfen mit dem Finger auf den Tisch gleichsam zur Antwort heraus, was auch wirklich manchmal gelang, dergestalt, daß das Wesen mit derselben Anzahl Schlägen zu antworten pflegte, mit der es gefragt und aufgeweckt wurde. Manchmal antwortete es aber auch gar nicht. Der Wirkmagd war aber dies Klopfen nicht so kurzweilig, wie jenen Leuten, da sie es natürlich verdroß, daß man just sie im Verdacht hatte, als ob sie das Klopfen künstlich erzeuge, während sie sich doch nichts Böses bewußt war, noch darüber Rechenschaft geben konnte, wie es zuging. Klopfte es ja doch, gleichsam um ihre Unschuld zu beweisen, unverändert fort in demselben Hause, während sie einmal wegen einer Halsentzündung nach Hause gegangen und dort zehn Tage geblieben war. Aber auch dieser Umstand änderte die Gedanken der Mißtrauischen nicht, sie verfolgten nun einmal das Mädchen mit ihrem Argwohn. Diesem zu entgehen, floh dasselbe zunächst wieder zu seinen Eltern[2] Da es aber diesmal dort nur einen Tag lang mit der Klopferei verschont blieb, weilte es nur vier Tage daselbst, suchte ein neues Unterkommen als Wirkmagd bei einem Weber Lorenz wieder in Nieder-Oderwitz, und als es auch hier den andern Tag ebenfalls von diesem Spuck heimgesucht ward, nahm es seine Zuflucht wieder zu den Eltern nach Herwigsdorf. Als es nun dort bei dem Klopfen nicht blieb, sondern anderer viel gröberer Unfug sich hinzugesellte, es unter anderm sogar mit Steinen warf, so [665] that Steudtner seine Tochter zu seinem Schwager, dem Gärtner Wunderlich, nach Nieder-Olbersdorf. Dieser ist ein sehr ruhiger, nüchterner Mann, der mir, als ich ihn am 6. Mai kennen lernte, versicherte, daß er das Mädchen in der Voraussetzung bei sich aufgenommen, daß ein böser Mensch hier im Spiel sein müsse, bis er durch die aufmerksamste Beobachtung von dieser Ansicht zurückgekommen sei.“ Der alte Unfug beginnt auch hier, und zwar in verstärktem Maße. „Nun wohnt aber noch ein einundzwanzigjähriger Schmiedegeselle daselbst. Dieser hört auch einmal früh um halb sechs Uhr, als er schon munter ist, unter seinem Fenster draußen das bekannte Klopfen, schleicht sacht an’s Fenster und schaut hinab, um den Thäter zu erspähen, gewahrt aber bei aller Anstrengung seiner Augen nichts als ein kleines graues Wölkchen, das sich vom Hause hinweg über den dicht vorbeiführenden Fußsteig nach einem am jenseitigen Zaune stehenden hohlen Weidenstamme hinbewegt und in diesem spurlos verschwindet. Zweimal trug es sich zu, daß Wunderlich, wenn er früh sechs Uhr auf Arbeit ging, ein Stück alten Strickes, an dessen einem Ende ein Stück Braunkohle, wie solche draußen am Hause lagern, lose angeschleift war, einmal dicht an seinem Hause hin befestigt, das zweite Mal von der einen Ecke des Hauses und seiner Gartenthür weg quer über den Fußsteig bis zu jenem erwähnten Weidenbaume hin an der Erde liegend fand.“

Das arme Mädchen aber, da es sich bald überzeugt, daß es auch hier vor dem Spuk nicht geschützt war, bittet seine Muhme, sie wieder heim zu begleiten, was diese denn auch am Abend des vierten Tages thut. Kaum dorthin zurückgekehrt, verfolgt sie das ärgerliche und grausige Spiel auf’s Neue, worauf ihres Vaters Bruder, August Steudtner, sie in sein Haus aufnimmt.

Der Herr Doctor erzählt weiter, wie in dem neuen Asyl der Unfug immer toller, aus dem einfachen Pochen ein mit Heulen und Pfeifen abwechselndes Kratzen geworden sei, so daß selbst dem frommen Onkel die Geduld ausging und er das Mädchen mit den Worten angefahren: „Sieh, Louise, wenn Du im Stande wärest, so etwas auszuüben, so wäre es das Allerbeste, einen Klotz her und den Kopf herunter!“ – „Diese Drohung,“ fährt der Verfasser fort, „änderte gar nichts an der Sache. Die Ortsgerichte, ihrer Pflicht entsprechend, besuchten endlich auch das Mädchen Abends, als es im Bett lag und daran geklopft wurde, besahen nicht allein ihre Finger und Fußnägel, welche ihnen durch das Klopfen und Kratzen sehr abgenutzt schienen, hielten ihr Hände und Füße mit Gewalt fest (während dem klopfte es zufällig nicht) und untersuchten den Inhalt ihres Bettes bis auf den untersten Grund, fanden aber weder einen lebendigen Klopfer oder Spielmann darin, noch einen verborgenen Mechanismus, wie dergleichen Spieldosen bei reichen Leuten wohl zuweilen in dem Sitzpolster von Lehnsesseln verborgen sind, welche beim Niedersitzen zu spielen beginnen. Die Männer sahen, daß ihr Scharfsinn nicht ausreichte, und machten dem Gensd’armen Anzeige davon, welcher ebenfalls seinen Verdacht nur auf dies Mädchen warf. Und doch geschahen andere wunderbare Dinge, theils in des Mädchens Abwesenheit, theils so, daß es ihre Kräfte menschlicher Weise nicht vermocht hätten. Nicht nur bewegten sich außen am Hause hängende oder lehnende große Stangen, Pfähle, eine Leiter u. a., von unsichtbarer Hand berührt, weit weg, während das Mädchen in der Stube arbeitete, sondern einer seiner Nachbarn erzählte mir auch, er habe einmal mit Steudner in dessen Hausflur gestanden und ein Beil beobachtet, das zwischen ihnen auf einer Bank gelegen. Dasselbe habe sich von freien Stücken um seine Längsachse gedreht, bis er Steudtner gebeten, es wegzunehmen, damit es ihnen kein Unheil zufüge. Aber auch andere Dinge bewegten sich auf wunderbare Weise, „wofern man wunderbar alle die Vorgänge nennen will, wo man die bewegende Kraft nicht sinnlich wahrnimmt, was wir freilich bei den Bewegungen unserer Glieder eben so wenig vermögen, die uns daher immer noch ein Wunder und Räthsel sind, das wir täglich an uns herumtragen“ – sagt der Herr Doctor.

Der Spuk wird immer schlimmer. „Bald fand Louise zu Häupten ihres Bettes einen ganz runden Stein liegen, den sie nicht selbst dahin gelegt haben will, bald war ihre Mutter Augenzeuge, wie ihr Taschenmesser von unsichtbarer Hand ihr aus der Rocktasche herausgenommen, in der Luft geöffnet und ihr mit der Spitze gegen das Gesicht geschleudert wurde, ohne sie zu beschädigen, endlich kam es mehr als ein Mal vor, daß ihr große mehrere Pfund schwere Steine (Ziegel- und Pflastersteine) nachflogen, besonders wenn sie allein die untere Stube verlassen und sich durch die Hausflur hinaufbegeben wollte, oder von da zurückkehrte. Hier nun ist der merkwürdige Umstand auffallend, daß die Nähe August Steudner’s für seine Nichte von sichtlich schützender Kraft und Wirkung war. Denn obgleich es schon wieder ein Wunder ist, daß diese massiven Geschosse, welche noch dazu, wie man aus den Narben an der Stubenthüre schließen kann, mit großer Kraft geschleudert wurden, machtlos an dem Körper des Mädchens niederfielen, so war doch wahrzunehmen, daß das Mädchen diesem Steinhagel weniger ausgesetzt war, wenn sein Oheim es begleitete. So oft er aber fluchte, das beachte man wohl, begann der Steinhagel desto heftiger an die Thür anzuschlagen, ohne daß Steudner mit aller Anstrengung wahrnehmen konnte, wo die Steine herkamen.

„So steigerte sich der Unfug immer mehr bis zum Palmsonntag, wo er seinen Höhepunkt, aber auch seinen Wendepunkt erreichte. Daß das an sich schon schwache Mädchen durch solche täglich wiederkehrende, nun schon ein Vierteljahr unausgesetzt anhaltende Schrecknisse und Vexationen, sowie durch den Aerger über den Spott und Hohn der Welt erschüttert, endlich aufs Krankenlager dahinsank, dies ist kein Wunder. Als es soweit mit ihr gekommen war, rief man den Oderwitzer Arzt, Herrn med. pract. Schniebs, zu Hülfe, der Louise von früher kannte. Dieser besuchte sie nur ein einziges Mal, beobachtete sie auch gerade während eines Hellsehens in schlafwachem Zustande (sagt natürlich Alles der Verfasser), welchen Zustand er leider für Verstellung hielt, und sandte ihr zwar eine Flasche Arzenei, kam aber nicht wieder, weil er hörte, daß sie schnell gesund geworden und nun Ruhe habe, welche plötzliche Genesung er sich dadurch erklärte, daß er dem Mädchen das Zittauer Stadtkrankenhaus in Aussicht gestellt hatte, wo sie unausgesetzt streng beobachtet und bewacht werden würde. Mein College Schniebs, den ich sonst als einen sehr erfahrenen und geschickten Arzt persönlich hochschätze, möge mir es nicht übel deuten, wenn ich nicht umhin kann, es hier um der Wahrheit willen, der ich treu sein will und muß, auszusprechen, daß er sich nach meiner Ansicht in einem doppelten Irrthum befunden oder noch befindet. Weder war jenes Hellsehen Verstellung, noch hat er diese vermeintliche Verstellung durch jene Drohung mit dem Krankenhause so schnell geheilt. Vielmehr hatte es mit der Genesung des Mädchens eine ganz andere höhere, aber auch verborgenere Bewandtniß. Gerade um dieselbe Zeit nämlich, wo der Arzt sie beobachtet, und auch der Ortsgeistliche, Herr Pastor Ludwig, sie auf ihr eigenes dringendes Verlangen einmal besucht und durch Gebet und geistlichen Zuspruch gestärkt und erbaut hatte, waren die äußeren Anfechtungen und Kämpfe zu einem inneren Seelenkampfe umgewandelt. Darum sagte ich oben, daß hier der Wendepunkt, die Krisis des ganzen Handels liege. Da nun ein solcher innerer Seelenkampf kein Kinderspiel ist, auch die Verstellung und Schauspielkunst dabei nichts hilft, im Gegentheil es dabei oft über die Kräfte eines schwachen Menschen geht, so fügt es die Vorsehung Gottes sehr weise, daß sie den Geist eines so Kämpfenden in ein inneres Schauen versetzt, ihn von den Fesseln des Körpers mehr befreit, diesen sammt seinen Sinnen in einen tiefen Schlaf versenkt und für die feindliche Außenwelt unempfindlich macht. Dieser Schlaf scheint allerdings dem unerfahrenen Laien wegen seines plötzlichen Eintrittes sowohl, als auch wegen der lebhaften Gespräche, die darin geführt werden, oder auch wegen der vorkommenden Krämpfe, welche nur ein Abbild der geistigen Kämpfe sind, krankhaft, er ist es aber im Grunde nicht, sondern nur außergewöhnlich und bedarf daher gar nicht der Hülfe des Leibarztes, wohl aber immer und vor allem des einzigen Seelenarztes Jesus Christus. Denn hier nun gilt es, was der Apostel Paulus die Epheser ermahnt 6, 10.

„In solchem Zustande des inneren Schauens sah das Mädchen mit geistigem Auge öfters zwei feindliche schwarze Gestalten seinem Lager nahen, welche nicht allein durch böse Mienen, sondern auch durch die schrecklichsten Drohungen ihm dergestalt zusetzten und es ängstigten, daß es von Schweiß und Thränen gebadet nicht anders glaubte, als sein letztes Stündlein sei gekommen. Der eine jener beiden schwarzen Geister erschien dem Mädchen gerade in derselben thierischen Gestalt, wie die Volkssage den Teufel darstellt. Nachdem es den Bösen mit den Worten von sich gewiesen: „Weiche weg von mir, Satan, denn es steht geschrieben: Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr!“ siehe, so erschien ihm dieser selbst in Person mit seinem himmlisch friedevollen Antlitz, [666] reichte ihm die tröstende Hand und richtete seine leidende Seele mit den Worten empor: „Nun hört es auf mit deinen Klagen!“

Dies geschah aber erst, nachdem noch drei Stürme des Bösen mit dem Beten vieler Lieder des Zittauer Gesangbuchs abgeschlagen waren. Wir kommen nun aber zum Ueberraschendsten aller dieser Wunder.

„Daß (so fährt wieder der Herr Doctor fort) diese Gebete wenigstens nicht alle in der Seele und dem Gedächtniß geschlummert, erhellt deutlich aus folgendem Umstande. Nachdem sie unendlich viele Lieder laut gebetet, die im Zittauer Gesangbuche stehen, das in Herwigsdorf eingeführt ist, erkannten die Umstehenden aus dem Zwiegespräch des Mädchens mit dem Heiland, daß dieser ihm ein zwölf Strophen langes Lied vorsagte, das es beten solle. Verwundert sagte Louise zu dem Herrn: „Dieses Lied finde ich ja nicht in dem Gesangbuch,“ worauf er ihr das Grabebüchlein[3] andeutete, worin sie es auch fand und laut betete. Die fromme Mutter Louisen’s, welche mir dieses Alles erzählte, konnte sich leider nicht entsinnen, ob sie dieses lange Lied mit offenen oder geschlossenen Augen gelesen. Letzteres wäre nicht unmöglich, da, wie bekannt, hellsehende Personen nicht allein offene Bücher, sondern selbst verschlossene Briefe, zumal, wenn diese in die Gegend ihres Herzens gelegt werden, lesen können. Es giebt zwar immer noch Aerzte, z. B. Prof. Dr. Bock in seinem „Buch vom gesunden und kranken Menschen“, welche dies für Fabel halten, weil sie es nicht selbst erlebt haben, allein die Thatsache ist denn doch schon durch zu glaubwürdige Zeugen bestätigt worden, als daß sie sich von Gelehrten bestreiten läßt. Da einmal heute noch Wunder geschehen, d. h. Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit entweder gar nichts träumen läßt, oder die sie nicht ergründen kann, so wird sie es auch bleiben lassen müssen, zu bestimmen, wo die Natur aufhört, wo das Wunder anfängt. Der Herr läßt sich darüber so wenig Vorschriften machen, wie damals, wo Petrus auf Johannes deutend ihn fragte: „Herr, was soll aber dieser?“ und er antwortete ihm: „So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was gehet es dich an? Folge du mir nach! –“

Nach diesem kühnen Citat des Herrn Doctor würden unsere Leser uns wohl gestatten, ihn und den traurigen Gegenstand seiner „wissenschaftlichen“ Ereiferung hier zu verlassen. Wir glauben jedoch, das Thatsächliche kurz zu Ende führen und der haarsträubenden Art, wie der Verfasser die Berechtigung des Geister- und Teufelsglaubeus „wissenschaftlich“ belegt, einigen Raum gönnen zu müssen.

Das Klopfen und Kratzen, Rumoren und Steinwerfen hörte nach jener „Krisis“ auf. Dagegen sah man jetzt Thüren, Tische, Stühle, Bänke, Fensterladen mit Kreide beschrieben, in leserlicher deutscher Handschrift, aber meist so unsaubern Inhalts, daß der Herr Doctor „sich wohl denken kann, daß sie eines Geistes würdig sind, der eben im Pfuhl der Hölle sich wälzt.“ – Noch die sauberste dieser Inschriften lautete: „August Steudner, wenn Du das Luder (nämlich das Mädchen Louise) nicht aus dem Hause schaffst, so zünde ich Dir heute noch das Stroh an der Stallthür an und in der Scheune soll es auch lodern!“ – Diese Kreideschriften sollen sich an einem Tag über zweihundert Male nach jedem Abwischen erneuert und vervielfältigt haben, Alles von unsichtbarer Hand und selbst in streng verschlossenen Gemächern. Nachdem jedoch ein Nachbar eine dieser Inschriften abgeschrieben und dem königl. Gerichtsamte mitgetheilt hatte, – athmeten sie plötzlich einen versöhnlichen Geist und hörten endlich ganz auf. Kurze Zeit nachher (am 13. April) wurde das Mädchen zur Untersuchungshaft gebracht, nach vier Wochen, während welcher es erkrankte und namentlich Krämpfe bekam, zwar straffrei entlassen, jedoch mit der Drohung, daß man es körperlich züchtigen, ja sogar zwei Jahre lang in Hubertusburg einsperren werde, falls der Spuk nach ihrer Heimkehr sich wiederholen sollte. –

Der Spuk in den Häusern hat sich nicht wiederholt; desto ärger tobt er im Kopfe des Herrn Doctor fort und trieb ihn zur Veröffentlichung der vorliegenden Schrift. Wir begnügen uns damit, aus derselben noch folgende Blumenlese mitzutheilen.

„Sehr verbreitet war die Ansicht, daß ein böser Mensch, der etwas von der sogenannten schwarzen Kunst verstehen müsse, es dem Mädchen angethan habe. Insbesondere hatte man einen armen reisenden Handwerksburschen im Verdacht, diesen Zauber an der Louise ausgeübt zu haben, da sie noch bei Biehayn diente. Als dessen Frau ihm Brod statt Geld geboten, habe er dies, wie das oft vorkommt, verschmäht und ihr mit spöttischer Ironie durch die Wirkmagd einen Dreier darreichen lassen, weil sie ärmer zu sein scheine, als er. Da nun Frau Biehayn zu stolz gewesen, von dem Bettler diese Münze anzunehmen, so habe die Magd dieselbe behalten und sei mit diesem behexten Dreier der Spuk und Zauber an ihr haften geblieben. Bestärkt wird dieser Verdacht durch den Umstand, daß jener Mensch beim Fortgehen eine bedeutende Drohung ausgesprochen haben soll. – Obgleich nun das Mädchen mir versichert hat, daß es weder diesen Handwerksburschen gesehen, noch von ihm Geld empfangen habe, so kann ich doch jene Landleute, welche diesen Argwohn hegen, deshalb nicht abergläubisch nennen, wie dies von aufgeklärten Männern geschehen ist, welche geradezu behaupten, die Oderwitzer und Herwigsdorfer müßten trotzdem, daß sie an einer Eisenbahn wohnen, in der Bildung noch um dreihundert Jahre zurück sein. Daß Zauberei eine Kunst ist, die schon im hohen Alterthum von den Heiden geübt worden, sollte doch jeder Christ aus der Bibel wissen. – Daß aber die Kunst der Zauberei auch heute noch nicht ganz ausgestorben ist, sondern selbst in der Christenheit noch ein wenn auch heimliches und kümmerliches Leben fristet, davon habe ich mich in meiner ärztlichen Praxis zu überzeugen oft Gelegenheit gehabt und muß es deshalb aufrichtig beklagen, daß christliche Gesetzgeber neuerer Zeit von dem Vorurtheil befangen, daß eine solche Kunst gar nicht existire, die Strafen der Zaubereisündeu gänzlich aufgehoben haben.“

Mit großer Verehrung citirt er Richard Baxter, „der bis zu seinem Tode (1691) als presbyterianischer Geistlicher in England segensreich gewirkt“ und aus dessen Buch über die „Gewißheit der Geister“ er den zwölffachen Nutzen, den wir aus dem rechten Gebrauch von Geistergeschichten schöpfen können, mittheilt. Uns genügt Nr. 1. „Wir sehen darin eine bewundernswürdige Anordnung Gottes, welcher die verschiedenartigsten Geschöpfe unter seiner Obhut hat und alle zu seinen Zwecken verwendet. Wie Kröten und Schlangen oder Raubthiere nicht umsonst da sind, so sind auch Teufel oder verdammte Seelen nicht umsonst da, sondern Gott verwendet sie zu seinen Zwecken, wenn er gleich nicht will, daß Jemand in diesen Zustand gerathe.“

Und, als ein neuer Beitrag zur Meteorologie, Nr. 8. „Wenn wir durch den Luftraum, der von Teufeln und bösen Geistern bewohnt ist, dahinfahren, werden Engel uns geleiten und Christus wird uns aufnehmen.“

Nachdem der Verfasser endlich nach Baxter „verschiedene geschichtliche Beispiele von Geistererscheinungen, Hexen und wunderbaren überzeugenden Werken der Vorsehung Gottes“ mitgetheilt hat, setzt er seinem Werk die Krone auf durch die Schlußbemerkung:

„Diese alten Geschichten nun werden unsern heutigen Teufelsleugnern, deren Partei in der Christenheit so groß ist (zumal in Norddeutschland, z. B. in Hannover, wo es den Leuten an Phantasie zu fehlen scheint, um sich einen persönlichen Teufel vorstellen zu können), daß ein christlich Familienvater kaum drei Zeugen zu der Taufe eines Kindes auffinden kann, welche unser christliches Glaubensbekenntniß mit einem aufrichtigen ,Ja’ angeloben möchten, sehr anstößig und ein wahrer Gräuel sein. Deshalb halte ich es für nöthig, sie daran zu erinnern, daß die letzte Geschichte (vom Citiren und Erscheinen des Teufels) gerade ebenso im Leben des Dr. Faust wirklich vorgekommen ist und den großen Freigeist, die höchste Blüthe der Aufklärung, unsern Lessing, zu dem Entwurf eines Schauspieles begeistert hat, der nur leider nicht ausgeführt, aber von Goethe neu aufgenommen und durchgeführt worden ist. Würden wohl diese beiden Geister sich mit dem Teufel so befaßt haben, würde auch wohl ein feinfühlendes und gebildetes Publicum Goethe’s Faust heute noch ohne Ekel auf der Bühne sehen können, wenn nicht in dieser Dichtung die tiefste Wahrheit läge, die aber sowohl Lessing als Goethe aus der Bibel, nämlich aus der Geschichte des Hiob geschöpft haben? Da sich aber heutzutage viele in dem Wahne wiegen, als ob jene Dichter uns das Princip des Bösen nur deshalb persönlich dargestellt, weil sie es sonst überhaupt nicht sinnlich darstellen gekonnt hätten, so muß ich diesen Männern es denn doch einmal recht ordentlich zu Gemüthe führen, daß in der ganzen heiligen Schrift die Hauptperson eigentlich der Teufel ist. Dies hat uns ganz [667] treffend und schlagend der evangelische Prediger Wimmer in seiner gediegenen Schrift: ,Adam und sein Geschlecht’ – Versuch einer Geschichte der Menschheit aus ihrer ältesten Urkunde. Bremen 1863 – bewiesen.“

Und so ständen wir denn auf dem Höhepunkt orthodoxdogmatischer Frechheit, denn nachdem man in Gottes Wort den Teufel als Hauptperson gefunden, werden wohl die Wortgläubigen das Höchste geleistet haben.

Bedarfs noch einer Bemerkung? – Ja, denn viele unserer Leser werden fragen: Warum theilt die „Gartenlaube“ uns diesen Blödsinn mit, der sein Unheil sich auf jeder Seite des Schriftchens selbst spricht? – Antwort: Dieses Spuk- und Klopfgeister-Büchlein, im Selbstverlag des Verfassers erschienen, war ganz geeignet, hauptsächlich durch Colportage in den unteren Schichten des Volks verbreitet zu werden, ohne vielleicht von Seiten der Gebildeten und der Kritik Beachtung zu finden. Darin lag das einzige Gefährliche desselben und dies wird dadurch beseitigt, daß man das Machwerk möglichst hoch, recht weit sichtbar, am Pranger der Lächerlichkeit annagelt. Ohne Zweifel wird gerade deshalb mit demselben der Herr Doctor ein besseres Geschäft machen; gönnt es ihm! Die Hauptsache ist, daß dem Aberglauben das Geschäft in unserm Volke verdorben werde.




Charakterköpfe aus der deutschen Liedertafel.
I.

Ich möchte behaupten, daß mit dem Singen genau dieselben Umwandlungen vor sich gegangen sind, wie mit dem Spinnen. Man sang früher allein oder zu zwei, was die Stimmung eingab. In jedem Hause drehte sich lustig das Singrädchen, wie in jedem Hause ein Spinnrad schnurrte, und beide arbeiteten heimlich miteinander an dem Aufbau eines kleinen, reizvollen Himmels im eigenen Herzen, in dessen Kreise jeder Hörer mit stiller Macht gezogen wurde. Und wenn die sorglichen Gedanken, von Lust verwirrt oder von Schmerz übertäubt, das Schließen der Pforte vergaßen, dann leuchtete der helle Sonnenstrahl aus befreundetem Auge mit hinein und ließ tausend goldene Herrlichkeiten aufflimmern und stöberte die kalte Winterluft und den Winterstaub aus den trüben Winkeln, die Jeder im Herzen hat und vor denen die Seele sonst immer scheu und rasch vorübergeht.

Die Rädchen rückten enger zusammen, und es begann ein emsiges Drehen. Bei dem heimlichen Surren sprach sich manches Wort leichter aus, das sonst seinen Weg nicht über die Lippen gefunden hätte. Jetzt verlor es sich mit im allgemeinen Geräusch. Und bei dem oftmaligen Niederbücken, um den Faden zu befeuchten, konnte sich manches nasse Auge verbergen und seinen Tropfen fallen lassen, ohne daß es die Andern merkten. Dann ging man nach Hause über den hartgefrorenen Boden, viel leichter und beruhigter, als man gekommen war. Aus dem verfitzten Werg waren die Spelzen heraus, und mit jeder war ein Zweifel von der Brust herabgefallen. Auf der Spule aber lag das Garn klar und knotenlos, wie ein silberner Faden, – so hatte sich auch das Wirrsal der Gedanken und Gefühle geglättet. Aber nun sind große mechanische Spinnereien entstanden, in denen der Dampf in seinem Kampfe gegen die Hemdennoth allen Flachs der Erde verarbeitet, und das Spinnrad, der alte Freund des Herzens, ist in die Rumpelkammer gewandert. Man hört sein vereinzeltes Summen nicht mehr. Fast so ist es auch mit dem Singen.

Der Associationstrieb, das Princip der Arbeitstheilung, hat sich auch hier geltend gemacht. Ueber die Sänger kam die Einsicht des neunzehnten Jahrhunderts, sie vereinigten sich zu gemeinschaftlichen Gesangsspinnereien, in denen Jeder nach seinen besonderen Fähigkeiten seine Spindel dreht. Die hohen Stimmen wurden von den tiefen, die Tenöre von den Bässen gesondert, und wie in der Uhrenfabrikation der Eine blos Rädchen, der Andere blos Zeiger und wieder ein Anderer blos Zifferblätter macht, so sang von nun an die eine Partei die Melodie, die andere den Grundbaß, und der Rest theilte sich in die harmonische Ausfüllung.

Das wäre nun ganz gut gewesen. Aber wie das Spinnrad noch eine andere Bedeutung hatte, als nur für den Garnmarkt zu arbeiten, so war ursprünglich der Gesang auch mehr für das eigne innere Haus und nicht eine Waare, die in möglichst großer Menge für Andere geliefert werden mußte. Mit der Erfindung der Gesangsfabriken ist das anders geworden; allein es sei ferne von uns, dagegen reden zu wollen, denn der Vortheil liegt ja offenbar auf Seiten des hörenden Publicums, und dieses scheint, wie eine oberflächliche Berechnung ergeben hat, zur Zeit noch in der Majorität zu sein. Eine eigentliche Gesangsnoth – in dem Sinne, wie eine Brodnoth, – kann gar nicht mehr vorkommen. Der gesangshungrigste Mensch muß seine Befriedigung finden, denn wenn er irgend im Stande ist, sich im Sommer mit einem Hendschel’schen Telegraphen und dem nöthigen Fahrgelde auszurüsten, so kann er, im Fall er immer die passenden Züge benutzt und dann und wann eine Nachtfahrt nicht scheut, im Laufe von sechs Wochen mindestens 60,000 ausgewachsene, singende, sonst aber ganz gesunde Männer sehen und hören. Denn es kommt den Orpheusen, Harmonien, Polyhymnias, Arions und was für heidnische Namen jene Associationen noch führen mögen, bisweilen vor, als ob die Versicherung, daß

„die stille Wasserrose vor Liebe und Liebesweh“

zittert, nicht glaubhaft genug erschiene, wenn sie nur von achtzig handfesten Männern in allen erdenklichen Stimmlagen gegeben wird, oder als ob der Wunsch

„Das Liebchen, ach! nur ein einzigsmal zu sehen“

sich gar nicht anders aussprechen ließe, als durch die gleichzeitige Betheuerung einer ganzen Eidgenossenschaft.

Von dem Drange geleitet, diesen ihren Gefühlen einmal einen wirklich entsprechenden Ausdruck zu verleihen, rufen sie dann einander zu gegenseitiger Hülfsleistung zusammen. Es werden förmliche Ausstellungen veranstaltet, gegen welche die Londoner von 1851 ein erbärmliches Kinderspiel ist. Je nach der Betheiligung an diesen Massendemonstrationen kann man die Männergesangvereine in mobile und stabile theilen. Indessen ist der letztere Zustand nur ein vorübergehender, eine Entwickelungsphase, gleichsam die Säuglingszeit. Denn es läßt sich mit Sicherheit behaupten, daß jeder Verein in derselben Zeit auch laufen lernt, wo er anfängt, selbstständig zu lallen, das heißt, ohne am Gängelbande eines ausgespielten Claviers geführt zu werden. Die erste Probe davon erfüllt alle weiblichen Angehörigen mit dem höchsten Entzücken. Im Handumdrehen ist eine Fahne gestickt. Der Posamentier und der Buchdrucker des Vereins entschlagen sich soweit ihrer natürlichen Verpflichtungen gegen Weib und Kind, daß sie begeistert erklären, die Sängerzeichen für den Selbstkostenpreis herstellen zu wollen. Die Polyhymnia geht damit aus dem stabilen Zustande in den mobilen über, denn das Erste ist der einstimmig gefaßte Beschluß, dem nächsten großen Gesangfeste in pleno beizuwohnen. Diesen großen Act hat hauptsächlich der erste Baß bewirkt, der seine gemeinnützige Gesinnung so weit bethätigt, daß er zur Anschaffung eines Trinkhornes sofort die nöthigen Gelder zusammensteuert.

Der erste Baß ist überhaupt in allen innern Angelegenheiten von dem wesentlichsten Einfluß. In ihm befinden sich die eigentlichen Vereinsmenschen. Durch Quantität und Qualität üben sie eine keimende Kraft, welche zwar keine in Drift und Farbenpracht sonderlich auffallenden Blüthen treibt, die aber das Ganze in seinem eigenthümlichen Charakter erhält. Die ersten Bassisten sind der Nährstand, die eigentlichen Bourgeois des Vereines. Denn sie zählen in der Regel ebensoviel Köpfe, wie alle übrigen Stimmen zusammen, und tragen demnach allein die Hälfte aller Lasten mit, während die Einkünfte an öffentlichem Beifall und heimlichen Schwärmereien ihnen nur zum allergeringsten Theile zufließen. Das ist insofern vom nationalökonomischen Standpunkte zu bedauern, als der erste Bassist kraft seiner Körperbeschaffenheit selbst den enthusiastischsten Verehrungen nicht erliegen würde und demnach das „Gefeiertwerden“ für ihn zu einer wirklich naturwüchsigen Industrie werden könnte. „Das vertrage ich nicht,“ steht in keinem seiner Wörterbücher. Die Brauer gehen ihm beschämt aus dem Wege, denn ihre stärksten Producte belächelt er, wie der Matrose die Mandelmilch. Er würde sich an Arsenik gewöhnen, wenn er einen Grund dazu sähe, denn er thut nichts ohne Grund. Und es bedürfte [668] für ihn nur einer geringen Uebung, um selbst von Lindnern sich anreden lassen zu können. Aber man redet ihn eben nicht an. Ueber dem Werke vergißt man den Meister, und nur dieselbe große Charaktereigenthümlichkeit, welche das deutsche Volk zum Träger des patrimonial-monarchischen Princips macht, kann den ersten Bassisten erheben und ihn im Gefühl seines innern Werthes den nie zu erlangenden äußern Erfolg verschmerzen lassen.

Die Ansprüche an seine Leistungen sind die bedeutendsten und können es sein, denn er kennt keine Schwierigkeiten. Er singt und raucht, was ihm vor’s Rohr kommt, und mit unfehlbarer Sicherheit mischt er mit dem zweiten Tenor die Farben zu den Effecten, welche erster Tenor und zweiter Baß ausnutzen. Trotzdem wird ihm auch im Verein kein Dank, er bleibt auch hier der dienende Bruder. Als armer Ritter des Ordens trägt er alle Mühseligkeit des Dienstes, ohne mit dem glänzenden Bande der Capitelherren geschmückt zu werden. Jene bevorzugteren Stimmen behandeln ihn nur als Genus, und es ist nicht zu verwundern, wenn es bisweilen den Anschein gewinnt, als ob er durch diese ewige Unterdrückung endlich wie Aschenbrödel den Muth verloren habe für etwas gelten zu wollen. Dem ist aber in der That nicht so. Seine heißen Gefühle schlummern nur unter der Decke tiefer Philosophie, aber dann und wann, wenn sie auf Verständniß stoßen, zucken sie lodernd hervor. Ich habe einst den unendlich dankbaren Blick beobachtet, der sich von der befreiten Seele eines ersten Bassisten losrang, als bei einem Ständchen die gefeierte schöne Dame des Hauses, nachdem sie sich mit allen übrigen Sängern bereits unterhalten hatte, schließlich zu einem einsam von ferne Stehenden mit der Frage wandte, welche Stimme er denn sänge. Er war offenbar überrascht, daß von Leuten seines Tones Notiz genommen wurde.

„Nun, ich singe eigentlich – ich bin erster Baß,“ klang es förmlich kleinlaut.

„Ah, also Bariton.“

Ich will nicht darauf schwören, aber ich glaube es nicht, daß den also Bezeichneten ein beseligenderer Stolz erfaßt hätte, wenn plötzlich der englische Premierminister zur Thür hereingekommen wäre, vor ihm die Kniee gebeugt und ihn angeredet hätte: „Sir, die graziöseste Königin der Welt hat von Ihren schönen Eigenschaften vernommen, und seit Ihre Majestät Sie, hochedler Lord, voriges Jahr gesehen, vermag sie Ihr Bild nicht aus ihrem Herzen zu bannen. Sie bietet Ihnen Herz und Hand. Sind Sie gleicher Meinung, so bin ich beauftragt, Sie, den Herzog von Cumberland, durch dies Band unter die Zahl der Ritter vom Hosenband-Orden aufzunehmen.“ Er, der haufenweise erste Baß, war von einer schönen Dame „Bariton“ genannt worden, das war ihm in seinem ganzen Leben zum ersten Male passirt; in diesem Wort lagen für ihn alle Standeserhöhungen der Welt. Seit dieser Zeit ging er auch ganz still herum; dann und wann griff er in die Luft nach Händen, die er zu drücken ein unbesiegbares Bedürfniß hatte; kurz über sein Wesen breitete sich ein seliger Friede, wie ihn nur ein Mädchenherz empfinden kann, welches von dem Heißgeliebten zum ersten Male „mein süßes Leben“ oder dergleichen genannt worden ist. Im großen Ganzen unterliegt der erste Baß im spätern Alter erst dem Gott mit verbundenen Augen, und seine ausgedehnten Beziehungen zu dem weiblichen Theile der „kohlensauren Trinkhallen“ haben zur Zeit noch vorwiegend diätetische Beweggründe.

Das ist total anders bei seinem, was Stellung anbelangt, gleich unglücklichen Genossen, dem zweiten Tenor. Bei diesem bleibt das ein ewiger Conflict, was sich bei dem ersten Baß so schön ausgeglichen hat. Der zweite Tenor ist eine in sich zernichtete Lilie, und sein Pflichteifer, sein Gesangsfanatismus müssen Jeden in die tiefste Mitleidenschaft versetzen, der je einen Blick in das Innere eines dieser Armen gethan hat. Bis zur Stellung eines überall gefeierten ersten Hochsängers fehlen demselben, wie er sich fortwährend selber sagt, nur einige wenige Töne, aber diese sind eben unerreichbar. Wenn Jemand in der Lotterie ein Loos gespielt hat, dessen Nummer von der mit dem Hunderttausendthalergewinn gezogenen etwa gerade nur um zehn verschieden war, so kann man sicher sein, in der nächsten Zeit einer Stimmung bei ihm zu begegnen, die mit einem Absud von Seidelbast die größte Verwandtschaft hat. Aber sie legt sich doch allmählich. Nicht so beim zweiten Tenor, der sein ganzes Leben an der Pforte der schönsten Triumphe steht, aber trotz Hängen und Würgen nicht hindurchkommt. Warum nur nicht? Bin ich denn ein zu großer Verbrecher? murrt er täglich gegen sein Schicksal. Trotzdem erreicht er ein hohes Alter, sein ägrirtes Gemüth conservirt ihn wie Holzessig.

Die große Menge hat für ihn keine Aufmunterung, und das ist weiter nichts als der schwärzeste Undank. Auf die genaue Erkenntniß dieser unnatürlichen Verhältnisse stützt sich auch die beim letzten Juristentage von einem unserer berühmtesten Criminalisten verfochtene Ansicht, daß bei der Beurtheilung staatsgefährlicher Verbrechen der beigebrachte Beweis „ist zweiter Tenor“ als ein wesentlicher Milderungsgrund angesehen werden müsse. Es ist ein großes Glück für alle bestehenden Verhältnisse, daß der erste Baß durch seine unmittelbare Nähe den besänftigendsten Einfluß auf seinen Schicksalsgenossen ausüben kann. Seine Wirkung wird aber ganz besonders noch verstärkt durch jene Shakespeareschen „guten Leute“, die hauptsächlich zu Winters Anfang stromweis in die Liedertafel treten, weil sie durch eine gewissenhafte Berechnung zu der Ueberzeugung gekommen sind, daß sie bei einem einigermaßen harten Winter als Sangesgenossen die allerbilligste Calefaction genießen. Sie werden ohne Probe vom Herrn Director in die Mittelstimmen verwiesen, hier können sie nie schaden, denn der Tenorschlüssel verblüfft sie von vornherein wie ein Drudenfuß. Sie erkennen ihre Stellung sehr wohl und betrachten sich als Stipendiaten, welche überall zum Guten zu reden haben. Sie sind das „lindernde Oel“, um welches Hero die Götter bat, so lange nicht Extrasteuern ihren anfänglichen Ueberschlag über den Haufen werfen. In diesem Falle können sie aber plötzlich ihren Austritt anmelden, und dem natürlichen Lauf der Dinge gemäß erfolgte dies früher, wo die großen Gesangfeste noch nicht ihre zauberische Anziehungskraft bewähren konnten, am häufigsten zur Zeit der Frühjahrsäquinoctien.

Sobald die Polyhymnia mit Fahne und Trinkhorn mobil gemacht ist, nennen sich ihre Mitglieder „Sangesbrüder“ – und sie begiebt sich, nachdem mit unsäglichen Mühen von den Eisenbahnverwaltungen ermäßigte Fahrpreise ausgewirkt worden sind, von Thränen und Gebeten der Zurückbleibenden begleitet, auf den Kriegspfad. Die administrative Leitung dieser ersten Unternehmung ist dem sogenannten „Onkel“ übergeben worden, einem alten Garçon, der sich in der kleinen Stadt zur Ruhe gesetzt hat und seine halbofficielle Stellung dem Renommée verdankt, in seinen jungen Jahren bei der Begründung einer Liedertafel betheiligt gewesen zu sein. Er hat sich zwar aus seiner musikalischen Vergangenheit nichts weiter gerettet, als den höchst gefühlvollen Vortrag des Liedes: „Ich lobe mir das Kegelschieben“; allein das genügte vollständig, ihm in Hinblick auf seine im Uebrigen geordneten Vermögensverhältnisse das Amt eines Cassirers zu übertragen. Leider sterben die „Stifter“, jene liebenswürdigen alten Knaben, die auf den Gesangfesten zur Zeit noch eine besondere muntere Classe bilden, nach und nach ganz aus. Für den jungen Verein ist übrigens der erste Zug zu einem allgemeinen Gesangfest ein bängliches Unternehmen. Späterhin erlangen die Einzelnen aber durch häufige Uebung eine virtuose Sicherheit, die jedem Dritten bewundernde Achtung abnöthigt.

Ich besuchte vor mehreren Jahren einen Universitätsfreund. Derselbe war ein beliebter Arzt in einer Stadt, in der gerade ein Gesangfest gefeiert werden sollte. Natürlich war er im Festcomité. Eines Mittags kommt der Mann ganz seelenvergnügt nach Hause: „Frauchen, wir bekommen sechs Sänger – einen aus Wolfenbüttel, zwei aus Ritzebüttel, einen vom Wiener Männergesangverein, den Cantor aus Unterschindmaß, einen aus Heiligenblut und einen aus Heiligenkrenz – Donnerwetter! das sind ja sieben!“

Ich denke doch, die arme Frau rührt bei dieser Freudenbotschaft der Schlag.

„Aber lieber Mann, wie soll ich denn die beherbergen?“

Nun kurz und gut, sie wurden untergebracht, wie bei dergleichen Gelegenheiten Alles untergebracht wird, und einer wurde mir zugetheilt. Wir hatten aber schon auf sein Eintreffen resignirt; denn die übrigen sechs waren längst in ihren Clausen heimisch geworden, als mein Nächster immer noch fehlte. Da klopft es.

„Ganz ergebenster Diener. Wohnt hier der Herr Doctor R.?“ frug es zur Thüre herein und gleichzeitig erschien die persönliche Ursache, die sich ohne alle Ungewißheit sofort an die Wirthin wandte, „mein Name ist so und so, ich bin Sänger und habe diesen Quartierzettel für Sie erhalten. Hoffentlich komme ich Ihnen nicht ungelegen. Ich danke, gefrühstückt habe ich bereits. Ich bitte überhaupt, daß Sie sich so wenig wie möglich meinetwegen geniren. [669] Den Hausschlüssel habe ich mir schon vom Mädchen geben lassen, der Saalschlüssel wird, wie ich höre, auf das Treppenfenster gelegt; damit wäre zunächst das Geschäftliche beendet.“

Zu etwas Außergeschäftlichem schien er entschieden keine Zeit zu haben, denn bis jetzt war es noch nicht möglich gewesen, seinem Redefluß etwas anderes entgegenzusetzen, als einige andeutende Pantomimen: „er möge sich doch setzen und an dem Frühstück betheiligen.“ In aller Geschwindigkeit erklärte er noch, daß er den Frühkaffee schwarz zu trinken pflege, und nachdem er sich unerbittlich den Hausschlüssel eincassirt hatte, griff er ohne jede gemüthliche Erregung wieder nach der Thür.

Der erste Baß.

„Aber wollen Sie nicht erst auf Ihr Zimmer gehen? Sie wünschen sich vielleicht etwas auszuruhen oder umzukleiden.“ Ich wollte ihn führen, er aber schüttelte seltsam das Haupt.

Der zweite Tenor.

„Lieber Herr, ein Gesangfest ist nicht zum Ausruhen, und umgekleidet habe ich mich im Coupé; meinen Koffer habe ich dem Hausmann gegeben, der mag ihn auf das Zimmer schaffen.“ Damit ging er, wie ein Meteor erschienen und wie ein solches wieder verschwunden. Wir sahen ihn den ganzen Tag nicht wieder. In der Nacht aber erwachte ich durch das Gepolter eines fallenden Leuchters. Ich höre Schritte sich meiner Thür nähern; dieselbe wird geöffnet und einzelne etwas undeutliche Solfeggien verrathen mir, daß der biedere Gastfreund doch den Entschluß gefaßt haben mußte, sein Haupt zur Ruhe zu legen. War mir nun schon unerklärlich, wie er, dem Maulthier gleich, im Finstern seinen Weg bis an meine Thür gefunden, so überlief es mich förmlich kalt, als ich ihn, der vorher nie in diesem Zimmer gewesen war, schnurgerade wie Kolter auf sein Bett zusteuern hörte. Er zog sich hier mit einer rapiden Schnelligkeit aus und lag und schlief, ehe ich mich soweit gefaßt hatte, um ihn anreden zu können. Nun frage ich: da es längst ausgemacht ist, daß selbst die Katzen im Finstern nicht sehen können, was in aller Welt lenkte den Schritt dieses Edlen, wenn nicht ein göttlicher Instinct?

Auch eine Mittelstimme.

„Gewohnheit,“ sagte er am andern Morgen und mag Recht haben, wenn er damit jene Schärfung der Sinne bezeichnen will, die den nordamerikanischen Indianer auf dem glatten Felsen die Fußspuren der Feinde erkennen läßt und in Folge deren wohl auch sich der Geruchssinn so auszubilden vermag, daß der Duft eines frisch überzogenen Bettes für ihn eine leitende Kraft bekommt, wie der Faden der Ariadne. Das ist nicht zu leugnen, daß eine solche „Gewohnheit“ den wahren reisenden Sangesbrüdern sehr zu statten kommt. Namentlich aber ist sie für den Herrn Director wünschenswerth, unter dessen „ausgezeichneter Leitung“ das Ganze steht.


Der Herr Direktor.

Wie habe ich immer den Mann mit dem Jupitergesicht bewundert, der auf einem erhöhten Postament abgesondert von den Tausenden steht, die sich auf dem großen, großen Holzbau zusammendrängen. An den Bewegungen seiner Arme hängen alle Glieder des vielköpfigen Mechanismus, wie alle Rädchen an den Regulatorkugeln [670] einer Dampfmaschine hängen. „Meine Herren, ich muß bitten!“ dabei klopft er mit einem Stäbchen auf das kleine Pult und seine Augen schweifen über die Menge. Sind alle vorbereitenden Verrichtungen beendet, dann beginnt er gewisse einsegnende Verbeugungen, die er mit feierlichen Beschwörungsformeln nach den verschiedenen Richtungen der Windrose begleitet.

„Meine Herren, sehen Sie recht genau auf mich. Im ersten Tenor nur das gis recht scharf – um Gotteswillen bei dem Mondesstrahl nicht runterziehen.“ Nun noch ein unendlich ausdrucksvoller Blick, ein Zukneipen der Augen, als ob er von einem der höchsten Thürme in ein tiefes unbekanntes Wasser springen müsse – Unglück, geh Deinen Gang! und er stürzt sich mit seinen Heerschaaren in den Kampf. In diesem letzten Blicke spiegelt sich eine Welt. Man fühlt heraus, daß der Arme alle Brücken hinter sich abgebrochen weiß und daß ihn in diesem Moment die bittersten Vorwürfe zerfleischen, selber die Hand zu einem Werke geboten zu haben, welches allerdings möglicher Weise ihm einige zwanzigtausend jubelnde Menschenherzen vor die Füße legen, möglicherweise aber auch doppelt soviel enttäuscht vorwurfsvoll blickende Augen ihm zurichten kann. Denn man nehme nur den Fall, die fünftausend entschlossenen Männer, welche dreißig, vierzig, sechzig Meilen weit hergereist sind, um unter seiner Aegide dem Publicum die Mittheilung zu machen, daß „sie jetz an’s Brünnele gehe, aber net trinke wolle“, würden an der Ausführung dieses Unternehmens durch irgend einen Umstand gehindert – nein, etwas so Gräßliches läßt sich nicht denken! –




Der Urmensch.
Von Karl Vogt in Genf.
II.
Funde im Trüffellande. – Das Auftreten des Haushunds. – Erste Spuren von Malerei und Skulptur. – Das Liliputanervolk. – Ein Völker-Aërolith. – Die Baskenschädel. – Die Periode von Dänemarks Küchenabfällen. – Geschliffene Instrumente. – Mecklenburger und Südseeinsulaner.

Die Instrumente werden in dieser Rennthier-Periode mannigfaltiger, besser bearbeitet. Die Kieseläxte und Messer werden zum Theil geschliffen, ihre Form wird auch handlicher oder besser zum Einfügen in Griffe von Horn oder Holz zugerüstet. Das Rennthierhorn besonders wird mit großer Sorgfalt bearbeitet. Lanzen- und Pfeilspitzen, Ahle und Nadeln, Glättmesser (vielleicht zum Gerben der Häute) werden zugerichtet; Pfeifchen aus den Fingerknochen gebildet durch Aushöhlung; Zähne von wilden Thieren angebohrt, um sie als Schmuck umhängen zu können, ja man denkt selbst an Verzierung und Ausschmückung des Geräthes, dessen man sich bediente.

In dieser letzteren Beziehung höchst merkwürdige Funde haben die Herren Lartet und Christy im Trüffellande, im alten Périgord, dem heutigen Departement der Dordogne, gemacht. Das Kalkgebirge der dortigen Gegend hat eine Menge von Grotten und Höhlen nachzuweisen, auf deren Boden Knochenanhäufungen liegen, die zuweilen in zwei Schichten getrennt sind, von denen die untere der Periode des Höhlenbären, die obere derjenigen des Rennthiers entspricht. Die Knochenablagerung selbst besteht aus einer schwarzen, muffig riechenden Erde, die offenbar aus der Verwitterung und Fäulniß des Fleisches, welches die Knochen umhüllte, hervorgegangen und durch Infiltration von Tropfsteinmasse eine feste Kruste geworden ist, in welcher die Ueberreste stecken, Alles durcheinander, zerschlagene und ganze Knochen, bearbeitete Hornstücke und Steinäxte, die man dann aus der Masse herausklauben kann. Wagenladungen voll von diesem Fußboden der Grotte von Eyzies, dessen Dicke zwischen einem bis dritthalb Fuß schwankt, haben die Herren Lartet und Christy gefördert und theils den einzelnen Museen geschenkt, theils selbst ein Museum aus ihren Funden zusammengestellt, das vielleicht eines der merkwürdigsten in seiner Art ist.

Wie oft die kleinsten Umstände bei diesen Untersuchungen zu überraschenden Schlüssen Veranlassung geben können, möge aus folgendem Bruchstücke der Abhandlung der Finder hervorgehen, das ich mit ihren eigenen Worten wiedergebe.

„Der erste Anblick der herausgebrochenen Platten zeigte uns, daß zwar alle Röhrenknochen unfehlbar zerbrochen oder der Länge nach gespalten waren, daß aber dennoch die Wirbelreihen in ihrer natürlichen Folge sich aneinandersetzten und daß die mehrfachen Stücke, welche gewisse Gelenke zusammensetzen, wie die Hand- und Fußwurzel, stets in ihrer relativen, anatomischen Lage zu einander sich befanden.

Dies bewies uns, daß jene Ur-Jäger, welche das Mark der Knochen für einen Leckerbissen hielten, nicht die gleiche Vorliebe für die Knorpel der Gelenke zu haben schienen, wie wir dies bei noch früheren Racen zu bemerken geglaubt hatten. Wir finden in diesem Umstände auch einen freilich negativen Beweis für das Nicht-Vorhandensein des Haushundes bei unseren Ahnen aus der Rennthierperiode, denn wenn der Hund an ihrem Essen Theil genommen hätte, so würde er schwerlich die Knorpel des Rennthiers und der anderen Grasfresser verschont haben. Auch sehen wir in der Grotte keine von Fleischfressern angenagten Knochen, und den Vogelknochen fehlen auch die Gelenkköpfe nicht, wie dies in den ‚Küchenabfällen‘ in Dänemark der Fall ist. Bekanntlich hatte Professor Stenstrup in Kopenhagen aus diesem Umstände auf die Gegenwart des Haushundes bei den Eingeborenen der Ostsee geschlossen.“

Die Rennthierjäger des Périgord zeigten offenbar einen künstlerischen Sinn und künstlerische Begabung. Man findet dort schon Steinmesser mit gerundetem Rücken und schmalem Stiele, der in einen Hornstiel befestigt werden konnte; die Instrumente aus Rennthierhorn sind wohlgeformt, oft sehr fein, wie z. B. Nadeln mit ihren Oehren und mit geschlungenen oder gebrochenen Linien im Relief und in Hohlarbeit geziert. Außerdem aber giebt es einige Versuche, auf Schieferplatten und Horninstrumenten Bildnisse von Thieren anzubringen. Die meisten derselben stellen offenbar Wiederkäuer dar, viele allerdings unkenntlich und nicht besser, als wenn ein Kind die Wände beschmiert; in einigen ist das Rennthier unverkennbar. „Das schönste Stück, welches wir besitzen,“ sagen die Herren Lartet und Christy, „stammt aus der Grotte von Laugerie-Basse und ist ein Degen- oder Dolchgriff, der aus der Stange eines Rennthiergeweihes geschnitzt wurde. Der Handwerker oder, besser gesagt, Künstler hat eine gewisse Geschicklichkeit an den Tag gelegt, indem er die Form des Thieres, ohne ihr zu viel Gewalt anzuthun, dem Gebrauch der Waffe anschmiegte. Die Hinterbeine sind in der Längsrichtung der Klinge ausgestreckt; die Vorderbeine unter den Leib gebogen, wie beim Sprunge. Der Kopf ist zurückgebogen und die Schnauze so emporgestreckt, daß die verästelten Geweihe auf die Schultern fallen, wo sie sich anlegen, ohne die Führung der Waffe zu beeinträchtigen. Doch gehört zu dem so gebildeten Griffe eine sehr kleine Hand, weit kleiner, als die der jetzigen europäischen Racen. Die dem Kopf gegebene Lage erlaubte dem Künstler nicht, die für das Rennthier so charakteristischen Augenzinken des Geweihes anzugeben; doch läßt die Kürze der Ohren und die Dicke des Halses schließen, daß er ein Rennthier ausschnitzen wollte. Außerdem hat der Künstler unter dem Halse einen dünnen und zackigen Kamm stehen lassen, der wohl den Haarbüschel vorstellen soll, welchen der männliche Rennhirsch an dieser Stelle trägt und der dem Hirsch selbst fehlt.“

Ich habe diese Waffe selbst in der Hand gehabt und muß sagen, daß mir die Absicht des Künstlers, ein Rennthier darzustellen, in der That unzweifelhaft scheint. Der Griff paßt aber höchstens in die Hand eines zehnjährigen Knaben germanischer Race.

Es waren also wohl kleine Leute, die mit dem Rennthiere, dem wilden Pferde, der Gemse, dem Steinbock, dem Auerochs im Trüffellande zusammenlebten, die sich von dem Ertrage der Jagd und des Fischfanges nährten, in die Felle der erlegten Thiere kleideten, die noch kein Hausthier, selbst den Hund nicht gezähmt hatten, die noch kein Metall und selbst die Politur der Steine nicht kannten, dagegen aber schon sich Zierrathen und Schmuckwaffen verfertigten, welche von einigem Kunstsinn Zeugniß ablegen.

Wer aber sich hinsetzen soll, um mühsam mit einem Steinmesser aus hartem Rennthierhorn eine Figur zu schnitzen, der muß Zeit dazu haben! Erst muß, nach dem alten Homer, das Bedürfniß nach Speise und Trank gestillt sein, ehe der Mensch an etwas [671] Anderes, an die Befriedigung eines höheren Kunsttriebes, gehen kann. Die Rennthierjäger des Périgord müssen also Wild genug zu ihrer Disposition gehabt haben, um einige Stunden dieser Beschäftigung widmen zu können, sie müssen nicht von steten Nahrungssorgen gedrängt gewesen sein.

Dann aber ist die Art dieser Kunstbethätigung höchst merkwürdig. Es ist Nachahmung der Natur. Bei andern Racen tritt diese erst weit später auf. In der Schweiz z. B. findet sich selbst bis in eine weit spätere Periode, in die Zeit der Metalle hinein, keine Spur von Ausschmückung durch Naturnachahmung, sondern einzig und allein durch geometrische Linien, gerade, gebogene, gewellte und zackige Linien. Sollte der Geschmack der Naturnachahmung, die realistische Kunstrichtung, etwas diesem französischen Boden Eigenthümliches sein, während diesseits des Rheines die idealistische Richtung sich in geometrischen Abstractionen kund gäbe? Sollte die Race der Rennthierjäger des Trüffellandes ganz besondere künstlerische Fähigkeiten besessen haben?

Ein französischer Forscher, Herr von Gobineau, behauptete vor einigen Jahren in einem mehrbändigen Werke, das manches Gute, aber auch manches Bizarre enthält, der Kunstsinn nach allen seinen Richtungen sei wesentlich der schwarzen Race eigen und die Bethätigung desselben hänge bei den verschiedenen Stämmen nur von der größeren oder geringeren Menge von Beimischung schwarzen Blutes ab, welches sich bei ihnen finde. Die germanische Race kommt bei dieser Anschauung freilich sehr schlecht weg: trotz Cornelius und Thorwaldsen (wenn es überhaupt erlaubt ist, in unseren Zeiten einen Dänen und einen Deutschen nebeneinander zu nennen), Mozart und Beethoven, verdammt uns Herr von Gobineau zu ewiger Unproductivität in der Kunst, weil wir ursprünglich blonde Haare, blaue Augen und weiße Haut haben, eine Beimischung schwarzen Blutes also nur schwer nachweisbar ist. Vielleicht kommt uns diese schwarze Kunstinfusion nur durch dritte Hand mittels der Romanen, besonders der Franzosen, denen Herr von Gobineau natürlich die bedeutendste Dosis davon zuspricht.

Immerhin mögen dies Träume sein, aber ich wurde doch daran erinnert, als ich die Kunstproducte der Lartet’schen Sammlung in Händen hatte und zugleich an die Schädel dachte, welche man von solchen Rennthierjägern gefunden hat. Die mir bekannten stammen aus der Höhle von Lombrive im südfranzösischen Departement der Arriège. Es sind schöne Schädel mit hochgewölbter Stirn, von mittlerer Länge und bedeutender Hirn-Capacität, ohne vorgewulstete Augenbrauen und überhaupt von sanft gerundeten Linien begrenzt, also offenbar Schädel eines Culturvolkes und von den Schädeln der Höhlenbärenzeit himmelweit verschieden. Genauere Untersuchungen, die Broca in Paris, einer der ausgezeichnetsten Forscher im Gebiete der Menschenkunde, über die Schädel der Basken angestellt hat (Broca war so glücklich, den Kirchhof eines tief in den Pyrenäen liegenden baskischen Dörfchens ausräumen und sechszig Schädel von dort entnehmen zu können), lassen eine große Aehnlichkeit der Schädel von Lombrive mit den Baskenschädeln nicht verkennen. Sie gehören dazu, unterscheiden sich nicht von ihnen. Man würde sie in der Reihe der Baskenschädel aufstellen, ohne sie unterscheiden zu können.

Nun sind aber diese Basken ein gar seltsames Völkchen, eine Völkerinsel mitten im indogermanischen Racen-Ocean, mit einer Sprache, die von allen andern in ihren tiefsten Wurzeln sich entschieden abtrennt, gar nichts mit ihnen gemein hat, gleichsam ein Völker-Aërolith, der auf die Pyrenäen gefallen scheint, ohne daß Spuren vorhanden wären über die Wurfbahn, auf welcher er dahin gelangt ist.

Vielleicht kann die Untersuchung der Baskenschädel selbst hierüber einige Auskunft geben. Broca findet in der That, daß dieselben mit den afrikanischen Langköpfen, nicht aber mit den europäischen Ähnlichkeit haben, und daß man unter den Racen des afrikanischen Mittelmeergürtels ihre Verwandten suchen müsse. Ist dies nicht ein bedeutsamer Fingerzeig auf die anderen Thatsachen entnommene Zusammengehörigkeit dieses Gürtels und auf den Zusammenhang der Säulen des Hercules, zur Zeit, als die Basken den pyrenäischen Theil dieses Gürtels bewohnten und in den Ebenen der Provence und des Périgord das Rennthier jagten?

Einen noch späteren Abschnitt der Zeit des Urmenschen mögen wohl die Küchenabfälle Dänemarks (Kjoekkenmöddinger) bezeichnen, welche in ungeheuren Haufen von Schalen der dort im Meere lebenden Seeschnecken, besonders Austern, Mies- und Herzmuscheln, in Fischgräten, Vögel- und Säugethierknochen, Kohlen, Bruchstücken von Töpferwaaren, Kieselgeräthschaften aller Art bestehen und von einem Strandvolke Zeugniß ablegen, das auch Gräber hinterlassen hat. Alles, was früher, zur Zeit jener Küstenlappen, hier wuchs und lebte, hat sich mehrmals geändert; anstatt der Fichten wuchsen später Eichen, auch diese gedeihen jetzt in Dänemark nicht mehr; der Auerhahn ist verschwunden und der große nordische Taucher ist gänzlich ausgestorben. Der Küstenlappe lebte im Sommer vom Fisch- und Austernfang und von der Jagd, welche sich auf die nächste Umgebung der Lagerplätze beschränkte, denn alle vorgefundenen Thierknochen, von Vögeln wie Säugethieren, weisen auf Geschöpfe hin, die gern Meer und Strand und Tiefgrund besuchten; er weidete seine Heerden vielleicht in einiger Entfernung und nährte sich nur von ihrer Milch, während im Winter das Fleisch und Blut des Rennthieres seine wesentliche Speise abgab.

Die Thierbevölkerung hat sich in dieser Periode der Küchenabfälle schon mehr der jetzigen genähert, wenn auch noch immer einige dieser Thiere, wie Schwan und Taucher, auf die nördlichere Fauna hindeuten. Aber der Fortschritt documentirt sich auch durch andere Thatsachen. Vor allen Dingen durch die Gegenwart des Haushundes, dessen Anwesenheit man zwar zuerst aus den benagten Vogelknochen erschloß, denen stets die verknorpelten Enden, sowie die feineren Knochen des Rumpfes, Wirbel und Rippen fehlten, welche die Hunde so gern zusammenknetschen, und von dem man später auch Knochen fand. Es war eine kleine, aber offenbar intelligente Hunderace mit ziemlich rundem und geräumigem Schädel und mittellanger Schnauze, die zwischen dem Wachtel- und Jagdhunde innestand. Vielleicht benutzten die Küstenlappen diesen Hund ebensowohl zur Jagd wie zur Wacht – vielleicht finden wir die Nachkommen dieser Urrace in den kleinen, struppigen, aber klugen und wachsamen Hunden, die den heutigen Lappen stets begleiten und ohne welche er seine Rennthierheerde nicht führen und zusammenhalten könnte. Die Race ist in der That ganz eigenthümlich langleibig mit kurzen Beinen, meist mit langem Haar, die ihr etwas Aehnliches mit den jetzt so beliebten Griffons giebt, deren Schönheit in ihrer Häßlichkeit besteht – aber die Lappen schätzen sie sehr, und ein guter Hund wird bei ihnen im Verhältniß zehnmal theurer bezahlt, als ein wohldressirter Hühnerhund bei uns. Merkwürdiger Weise war diese kleine Hunderace mit rundem Schädel während der Zeit, wo die Bevölkerung nur Stein, Horn und Holz als Material zu Werkzeugen kannte, über ganz Europa verbreitet und stets in ihren Charakteren identisch, so daß sich also damals keine Spur von jener außerordentlichen Menge von Raritäten, Racen und Arten fand, die wir jetzt in dem Hundegeschlechte gewahren. Erst später, mit der Kenntniß des Metalles, findet man einen großen Wolfshund oder Windhund, von welchem mir neulich ein außerordentlich schöner und wohlerhaltener Schädel zukam, den Professor Jeitteles in Olmütz in den Pfahlbauten am Ufer der March gefunden hat.

Derselbe Fortschritt, welcher sich in der Zähmung des Haushundes erblicken läßt, zeigt sich auch in der Bearbeitung der Instrumente. Zwar bleiben die Kieselmesser und Aexte, die man zum Oeffnen der Muscheln, zum Zerschlagen der Knochen braucht, noch eben so roh und nur durch Spalten der Feuersteine gebildet wie früher, aber daneben finden sich auch wohlpolirte und geschliffene Instrumente von höherem Werth, die offenbar auch der Seltenheit und der Schwierigkeit der Bearbeitung wegen geschont wurden, vielleicht selbst als Zeichen einer socialen Stellung dienten. Wenigstens fand man bei der Entdeckung mancher Südsee-Inseln, daß solche wohlpolirte und geschliffene Steinwaffen von Vater zu Sohn mit einer gewissen Häuptlingswürde sich vererbten.

Ich nannte die austernessenden Steinmenschen Küstenlappen und zwar mit vollem Rechte. Man hat Schädel dieser Race in ziemlicher Anzahl ausgegraben, die unter großen aus zusammengeworfenen Steinen gebildeten Hügeln, in Grabkammern aus rohen Steinblöcken, mit Steinwaffen an ihrer Seite lagen; ja man hat ähnliche Schädel im deutschen Küstenlande, in Mecklenburg, einfach im Sande gefunden, nebst einigen Stein- und Hornwaffen daneben. Diese Schädel sind klein, sehr rund, sehr kurz, die Nasenwurzel tief eingesenkt, die Augenbrauenbogen bei den Männern meist wild vorgetrieben. Es sind entschiedene Kurzköpfe und stehen, den Schädeln von Engis und Neanderthal gegenüber, fast am entgegengesetzten [672] Ende der möglichen Reihe menschlicher Schädelformen. Sie gleichen am meisten denjenigen der heutigen Lappen und Finnen, doch zeigen sie nicht vollständige Uebereinstimmung. Die Charaktere aber, welche sie von den heutigen Lappen trennen, gehören vielleicht zu der Anzahl derjenigen, welche im Laufe der Zeiten durch die Civilisation sich abändern können. Die Aehnlichkeit des Schädelbaues, die Uebereinstimmung in der geringen Körpergröße, der Schmächtigkeit des ganzen Knochenbaues, und die Analogie der Lebensweise, die sich aus den Funden ergiebt, mag also wohl meine Bezeichnung als Küstenlappen rechtfertigen.


Blätter und Blüthen.


Ein technisches Räthsel. Noch giebt es trotz der enormen Leistungen und Fortschritte der Wissenschaft unserer Zeit im Gebiet der Naturwissenschaft und Technik ein ganzes Heer von Aufgaben und Räthseln, deren Lösung dem Uneingeweihten so nahe liegend, so leicht scheint und welche in der That noch ungelöst sind. Ein solches unscheinbares Räthsel ist es, welches hier in Kurzem vorgeführt werden soll – die Sache liegt auch dem gewöhnlichen Menschenverstande so nahe, daß sicherlich mancher Leser der Gartenlaube, auch wenn er kein gelehrter Physiker oder Techniker vom Fach ist, wenn er sich nur für die Sache interessirt, Erfahrungen sammeln kann, die zur Lösung des Problems beitragen. Schon in mehreren Hauptversammlungen des sächsischen Ingenieur-Vereins und des Vereins deutscher Ingenieure ist der Gegenstand besprochen worden; aber eine ausreichende, alle Entgegnungen beseitigende Erklärung der Erscheinung, von welcher die Rede ist, läßt noch immer auf sich warten. Jedermann kann die Beobachtung anstellen, um die es sich hier handelt: er begebe sich um die Zeit, wo gegossen wird, in eine Eisengießerei, werfe ein Stück festes Eisen in die flüssige Eisenmasse, und er wird die sonderbare Bemerkung machen, daß das feste Eisen auf dem flüssigen schwimmt.

„Ist das denn nun etwas so gar Wunderbares?“ wird man sagen; „weiß man doch, daß auch festes Eis auf dem flüssigen Wasser schwimmt, und ist Eis weiter nichts als gefrorenes Wasser, so ist auch festes Eisen weiter nichts, als flüssiges Eisen, welches gefroren ist. Wenn man also eine Erklärung dafür hat, daß Eis auf Wasser schwimmt, so wird dieselbe wohl auch für unsern ganz ähnlichen Fall des auf flüssigem schwimmenden festen Eisens gelten.“ Weit gefehlt! Die Sache verhält sich anders, und zwischen Eis und Eisen ist ein Unterschied. Wir wollen sehen, worin dieser liegt. Eis schwimmt auf Wasser, weil ein Stück Eis weniger wiegt, als ein Quantum Wassers, welches denselben Raum einnimmt. Daraus kann man schließen, daß Wasser, wenn es gefriert, sich ausdehnt, und dies geschieht auch in der That. Allerdings weiß man, daß alle Gegenstände bei sinkender Temperatur sich zusammenziehen;, allein dies Naturgesetz findet nicht ohne Ausnahme statt. Wenn sich heißes Wasser abkühlt, so zieht es sich ebenfalls immer mehr und mehr zusammen, aber nur bis zu einer gewissen Grenze, bei welcher es seine größte Dichtigkeit erreicht; diese Grenze liegt aber noch über dem Gefrierpunkte, und unterhalb dieser Grenze bis zum Gefrierpunkte dehnt sich das Wasser wieder aus. Hier ist also die Erklärung richtig. Eis schwimmt auf kaltem Wasser, weil es wirklich relativ leichter ist, als dieses. Will man nun diese Erklärung auf die Erscheinung des schwimmenden Eisens anwenden, so wird man finden, daß sie nicht genügt. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß kaltes festes Eisen nicht dünner und relativ leichter, sondern wirklich dichter und relativ schwerer ist, als flüssiges. Es ist bekannt, daß das Modell, nach welchem ein Gegenstand in Eisen gegossen wird, um ein Gewisses größer sein muß, als der eiserne Gegenstand selbst werden soll. Da man nun auch weiß, daß das flüssige Eisen die Formen, in welche es gegossen wird, sehr genau ausfüllt – und hiervon kann sich Jedermann an den äußerst fein und sauber ausgeführten Kunstgußgegenständen überzeugen – so muß der Raum, welchen festes Eisen einnimmt, kleiner sein, als der, welchen ein gleiches Gewicht flüssigen Eisens eingenommen hat; d. h. festes Eisen ist wirklich relativ schwerer, als flüssiges. Mit der Erklärung durch „schwer“ und „leicht“ ist es also nichts. Hiernach hat man andere Kräfte zur Erklärung hervorgesucht. Der Eine sagt: Jede Flüssigkeit besitzt einen Zusammenhang seiner Theilchen, welchen ein untersinkender Körper überwinden muß und nur überwinden kann, wenn er um ein Gewisses schwerer ist, als die Flüssigkeit. Aber würde wohl, wenn dies richtig wäre, das feste Stück Eisen wieder emporschnellen, wenn man es in der flüssigen Eisenmasse untertaucht? Ein Anderer führt die Strömungen an, welche in jeder sich abkühlenden heißen Flüssigkeit entstehen dadurch, daß die sich zuerst erkältenden oberen Schichten, welche schwerer sind, untersinken und die heißen unteren emporsteigen; der Strom nach oben in der Mitte des Gefäßes soll nun die tragende Kraft hergeben. Nur schade, daß dieser Erklärung die Beobachtung entgegensteht, daß in flüssigem Eisen die kälteren Schichten die oberen und die wärmeren die unteren sind.

Endlich wird noch angemerkt, daß das feste Eisen ebenso wie alle festen Körper Luft und Wasser einsaugt und beim Erwärmen beides wieder ausströmen läßt; dieser Gasstrom soll nun wiederum die tragende Kraft ausüben. Auch diesem läßt sich entgegnen, daß das feste Eisen sehr bald anfängt, an seiner Oberfläche zu schmelzen, während es immer weiter schwimmt; dann kann aber wohl schwerlich noch von ausströmenden Gasen oder wohl gar von einer sich um den festen Körper bildenden Gashülle die Rede sein. Alles aber, wie es geschehen ist, als die Wirkung der „tragenden Kraft der Wärme“ zu erklären, ist eines Physikers oder Technikers unwürdig; wenigstens liegt in dieser Erklärung weiter nichts, als die Erklärung: „Ich habe keine Erklärung.“ Ebensowenig wie die Physiologie durch die Einführung des Begriffes der Lebenskraft, welche die Erscheinungen des Lebens erklären sollte, bereichert worden ist, ebensowenig ist durch den Begriff der tragenden Kraft der Wärme unser Phänomen aufgeklärt worden. Kurz, die Zukunft erst soll dieses Problems Lösung bringen.

R. H.


Ein deutscher Consul am Cap der guten Hoffnung. Es ist ein altes Lied, welches wir heute singen, das aber leider immer und immer wieder seine Berechtigung hat, – wir meinen die hier und da noch mehr als klägliche Vertretung Deutschlands im Auslande.

„Sehr groß ist die Zahl der Deutschen,“ schreibt der Gartenlaube ein seit Jahren in der Capstadt in Südafrika angesiedelter deutscher Arzt, „welche hier in der Capcolonie leben. Unähnlich ihren Brüdern in Nordamerika, die sich nur zu rasch yankeeisiren, halten sie mit Zähigkeit an ihrer Nationalität fest und sind stolz darauf, Deutsche zu sein. Das wollen wir auch bleiben unter allen Umständen, selbst wenn das Vaterland uns nur eine Stiefmutter ist. Ja, manchmal leider eine arge Stiefmutter! Denn wie steht es hier zum Theil mit unserer Vertretung? Denken Sie, der preußische Consul, der Consul des größten deutschen Staates, versteht kein einziges Wort Deutsch!

Vor etwa zwei Jahren war es, als nahe der Capstadt eine preußische Barke scheiterte. Natürlich wandten sich die armen Schiffbrüchigen zunächst an ihren Consul. Doch, o weh! Sie waren nicht im Stande sich dem Manne verständlich zu machen, und es mußten erst Dolmetscher zusammengeholt werden, damit die armen Landsleute um einen Bissen Brod, um ein Hemd, um einen Rock bitten konnten. Und das in einer Stadt, welche eine beträchtliche und angesehene deutsche Bevölkerung zählt, wo so viele hochachtbare deutsche Geschäfts- und Kaufleute leben, daß sich Preußen aus ihnen zehn Consuln statt eines mit Leichtigkeit auswählen könnte! Aber das geschah leider nicht, – es ernannte einen Stock-Engländer mit antideutschen Gesinnungen und Anschauungen zu seinem Vertreter. Oesterreich und die anderen hier vertretenen deutschen Staaten, sie haben sammt und sonders Deutsche zu Consuln, nur Preußen, das intelligente, große Preußen, findet es für gut, dies für seine Staatsangehörigen so wichtige Amt in die Hände eines steifnackigen John Bull zu legen!

Wohl wissen wir hier, daß die Gartenlaube, die auch bei uns eifrigst gelesen und hochgehalten wird, so hoch, daß wir jedes Dampfboot, welches uns das liebe Blatt bringt, als eine freudige Erscheinung begrüßen, – wir wissen hier recht wohl, daß die Gartenlaube augenblicklich in Preußen als ‚feuergefährliche Waare‘ verboten ist, aber ich glaube doch gerade in ihr, der gelesensten aller deutschen Zeitschriften, die fabelhafte Thatsache veröffentlichen zu müssen, daß Preußen am Cap der guten Hoffnung einen Consul hält und besoldet, welcher den an ihn Gewiesenen, seines Schutzes Bedürftigen keine Sylbe Rath, Trost oder Hülfe zuzusprechen vermag, ohne erst zur Vermittelung von Uebersetzern und Dolmetschern genöthigt zu sein.

Vielleicht dringt diese Mittheilung doch in jene Regionen, von wo aus dem unerhörten Mißstände abgeholfen werden kann.“



Gnade für ein Kind. Für unsere Leser im fernen Auslande bemerken wir, daß das Kind, für welches unsere Ansprache an der Spitze unserer heutigen Nummer die kaiserliche Gnade anruft, der vierzehnjährige Sohn des in weiten Kreisen bekannten und geachteten Buchhändlers Kober in Prag ist. Von den Eltern sorgfältig erzogen, gehörte der Knabe seit dem Herbste des vorigen Jahres einer Privaterziehungsanstalt in Wien an, und hier war es, wo er – Gott weiß wie und wodurch – in kindlicher Ueberspannung zwei seiner Mitschüler mündlich und schriftlich zu einem Geheimbunde aufforderte, dessen Zweck die Ermordung des Kaisers von Oesterreich sein sollte. Der wahnsinnige Plan wurde verrathen, und Karl Kober am 13. September l. J., trotz aller Rettungsversuche der unglücklichen Mutter und trotz der glänzenden Vertheidigung seines Anwalts, vom Gerichtshofe zu fünfjähriger schwerer Kerkerstrafe verurtheilt. Dies das traurige Factum, auf welches sich die erwähnte Ansprache bezieht und das, für sich selbst redend, jedes Wort der Erläuterung und Betrachtung überflüssig macht.


Die Deutschen Blätter, Beilage zur Gartenlaube, welche eine regelmäßige Uebersicht der wichtigsten Tages- und Literaturerscheinungen bringen und vierteljährlich nur 6 Ngr. kosten, enthalten in ihren neuesten Nummern:

Nr. 40. Eine leichte Person. Wiener Erinnerungen von Albert Träger. – Umschau: Eine neue Zeit. – Zur Charakteristik Haynau’s. – Der Reiseverkehr in Deutschland. – Literarische Wochenschau.

Nr. 41. Deutsche Vermächtnisse. – Warum? II. – Umschau: -Ein Vertrag. – Für kleine und kleinste Städte. – Literarische Wochenschau. – Kleiner Briefkasten.


Hierzu eine Extra-Beilage: Die Coburger Lotterie zu Gunsten Nothleidender in Schleswig-Holstein betreffend.


Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Wir setzen den traurigen Vorgang und seine unerquicklichen Details als hinreichend bekannt voraus.
    D. Red.
  2. Dies war am 2. Januar 1864.
  3. So nennen die Landleute dort die „Sammlung alter und neuer Lieder an den Gräbern unsrer Entschlafenen“ von M. K. G. Willkomm, weiland Pfarrer zu Herwigsdorf, herausgegeben. Zittau u. Leipzig 1819.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Glocher