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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[625]
Der böse Nachbar.
Erzählung von Levin Schücking.
1.

Ein junger Mann schritt unfern der Weser durch eine waldreiche Gegend, in welcher die wenig erhobenen Hügelrücken dichtes Laubholz trugen, während die schmalen Thaleinsenkungen dazwischen von saftig grünen Wiesenflächen eingenommen waren. Der Weg des Wanderers, ein gewundener Fußpfad, hielt sich fast immer in wohlthuendem Schatten, und einen anmuthigeren Weg für eine Fußwanderung konnte es nicht geben. Bald durch die grünen Waldeshallen, in welche die Nachmittagssonne schräg ihre Lichter warf; bald an den klaren, hier und da über ein Wehr rauschenden Bächen entlang, welche die Wiesenflächen durchliefen; auch zuweilen über kleine Brücken und Stege, über welche die breiten Aeste sich wölbten wie hohe Lauben. Im Walde pfiff die Goldamsel, und anderes Gevögel zwitscherte und sang in den Zweigen; den starren Waldbäumen, die sich nicht regen und bewegen können, ist ja das beweglichste und beschwingteste Volk in der ganzen Schöpfung zu Gesellen gegeben. Wo die Sonne einen größeren Fleck des Weges beschien, schlängelte sich auch wohl eine behende Eidechse und verschwand raschelnd im vorjährigen Laube. Sonst war alles still. Menschen schienen in dieser romantischen Waldgegend nicht zu hausen, oder, wenn sie da waren, die Hut ihrer Wiesen dem lieben Gott überlassen zu haben, den sie, in grober Holzarbeit ausgeschnitzelt, an braune, neben dem Wege aufgerichtete Kreuze gehangen hatten.

Schloß Falkenrieth.

Der junge Mann, welcher durch diese Gegend schritt, sah am meisten einem wandernden Studenten ähnlich – dann aber jedenfalls einem, der über den Büchern nicht die frische und kecke Lebenszuversicht verloren. Er blickte aus den dunklen Augen sehr scharf und fast herrisch um sich; die Züge waren gebräunt, unter der feingeschnittenen Nase hatte sich ein respectabler blonder Schnurbart entwickelt; blond auch war trotz der dunkelbraunen Augen das lockig gekräuselte Haupthaar; hoch und stark entwickelt die Stirn, auf der ein österreichisches Militärkäppchen mit dem gerade vorstehenden Lederschirm thronte.

Das letztere deutete nun freilich nicht gerade auf den Studenten; aber das Aeußere des jungen Mannes that es, der bestaubte Kittel, der kleine leichte Tornister und, mehr als das, etwas Keckes, Selbstbewußtes und doch Gedankenvolles in seinen Zügen.

Noch einen von Wald überschatteten Hügel hatte unser Wanderer hinter sich und war eben an ein Drehkreuz am Ausgange des Gehölzes gekommen, als er überrascht plötzlich von der Seite her vor diesem Drehkreuze ein lebendes Wesen Halt machen sah, das freilich nicht hindurchkonnte und nun ungeduldig den Kopf aufwarf, sich streckte und heftig schüttelte und dann aus Leibeskräften ungestüm um sich schlug, um das Fliegen- und Bremsenzeug abzuwehren, das sich über ihm versammelt hatte.

Dies neu auftauchende Wesen war ein schönes, kräftig gebautes braunes Pferd, das auf seinem Rücken ein Paar Gurte [626] und unter seinem Bauche einen nicht mehr neuen, nach alter Art construirten Damensattel trug, dessen kurzer Bügel nachschleppte und jeden Augenblick die Hinterhufe des Thieres einzufangen drohte.

Unser junger Mann nahte dem Flüchtling mit möglichst ruhigen Bewegungen; das Pferd blickte ihn mit vorgestrecktem Hals durch die weitgeöffneten Nüstern schnaubend an; in dem Augenblick, wo der Wanderer mit raschem Griff den herabhängenden Zügel faßte, schnellte es den Kopf in die Höhe und wollte die Flucht ergreifen; aber es war zu spät – es war gefangen!

Der junge Mann klopfte und streichelte dem Thiere den Hals, und sprach ihm mit einer weichen eigenthümlich wohllautend klingenden Stimme zu; dann knüpfte er die zerrissenen Zügel aneinander, und nachdem er diese fest um das Drehkreuz geschlungen, begann er den Sattel loszuschnallen und wieder in seine richtige Lage zu bringen. Dies gelang ihm, indem er seine Thätigkeit häufig unterbrach, um die Bremsen abzuwehren, welche augenscheinlich das arme Thier in die Aufregung gebracht, in der es seine leichtsinnige Escapade gemacht hatte. Als er damit zu Stande gekommen und die Zügel wieder gelöst hatte, führte er es eine Strecke weit auf dem Fußpfade hinter sich. Der Weg lief jetzt zwischen dem Gehölz links und einer schmalen Wiesenfläche rechts; die tief in den weichen Wiesengrund eingeschlagenen Hufspuren zeigten, daß das flüchtige Thier von dieser Seite gekommen war. Nach einer Weile blieb der junge Mann stehen, warf dem Pferde die Zügel über den Hals, trat an seine Seite und schwang sich mit großer Leichtigkeit, ohne des fehlenden hülfreichen Männer-Bügels zu bedürfen, auf den Rücken des Pferdes, auf dem er sich leicht und sicher wie eine Dame festsetzte und nun das Thier völlig in seiner Gewalt zeigte.

War unser Wanderer ein Student, so mußte er mit vielem Erfolg, das sah man, die Universitätsreitbahn besucht haben und jedenfalls war er „in allen Sätteln gerecht“.

Der Pfad, dem der Reiter folgte, verließ jetzt das schmale Wiesenthal, zog sich rechts über einen kleinen mit Buchenwald bedeckten Rücken, der eine Verbindung zwischen zwei höheren rechts und links sich erhebenden Waldbergen bildete, und führte, leise niedersteigend, an der anderen Seite des Rückens hinab bis an eine Stelle, wo der Fremde durch ein von den Buchenzweigen gewölbtes dunkles Thor ein von der Sonne grell beschienenes reizendes kleines Landschaftsbild erblickte, welches das Waldthor auf’s schönste umrahmte.




2.

Es war eine Scenerie ganz eigenthümlicher Art. Ein kleines rundumher abgeschlossenes Thal, umgeben von grünen, dicht mit Laubholz bestandenen Bergen, an deren Fuß Wald und Wiese sich um den Raum stritten und in diesem Kampfe kleine Buchten hervorgebracht hatten, jenachdem das eine oder das andere in das Gebiet des Grenznachbars eingedrungen. In der Mitte ein großer ovaler Weiher, dunkel, spiegelglatt, reich besäet mit träumerischen weißen Seerosen und belebt von einer Schaar weißer Enten, und inmitten des Wassers, von seiner Fläche klar gespiegelt, auf starken Grundmauern sich erhebend, ein kleiner eigenthümlicher Schloßbau, über einer Terrasse mit vier kleinen Eckpavillons aufsteigend, gelbgrau, verfallen, aber reizend wie ein Märchenbild, wie ein Traum, wie ein Luftschloß, das eine Poetenphantasie sich baut.

Das braune Damenpferd wieherte, als es des kleinen Schlosses ansichtig ward, und hob sich aus eigenem Antrieb zu einem kurzen Galopp, der den Reiter nach wenigen Augenblicken, an einer verfallenen Gartenmauer entlang, zu einem Wirthschaftsgebäude brachte, in welchem eine offenstehende Thür in einen Stall blicken ließ. Da der Braune vor dieser Thür hielt, so schloß der Fremde daraus, daß das Pferd sich hier heimisch fühle, und sprang auf den Boden. Keine Menschenseele ließ sich blicken. Er rief. Niemand kam. So führte er das Thier selbst in den Stall. An einem Ring in der Krippe hing das Stück des Zaums, das der Flüchtling abgerissen hatte.

„Also von hier aus,“ sagte der Fremde, „hast Du den kleinen Ausflug unternommen, mein Brauner … nun, es war ja auch Niemand da, der Dich hütete, und wenn die Stallthüren so leichtsinnig offen gelassen werden, kommen die Bremsen herein, die so abscheulich stechen, daß ein geduldigerer Gast, als Du bist, darüber den Koller bekommen könnte! Und jetzt erhole Dich,“ setzte er hinzu, nachdem er das Thier auf’s Neue angebunden hatte und indem er ihm einen Schlag auf die Kruppe gab … „und nun will ich sehen, wo wohl Deine Herrin steckt und ob mir denn Niemand dankt, daß ich Dich eingefangen!“

Er schritt, nachdem er die Stallthür hinter sich geschlossen, an dem kleinen Wirtschaftsgebäude entlang einer steinernen Brücke zu, welche mit einer zierlichen auf kleinen Sandsteinsäulen ruhenden Balustrade versehen war. Die Brücke mündete auf die breite mit Steinplatten belegte Terrasse, die ringsumher mit einer gleichen Balustrade versehen war. Dem Ende der Brücke gegenüber stand die Thür, die in das Innere des Gebäudes führte, halb offen.

Das kleine Schloß war ein Bau von einer Hauptetage, mit einem Entresolstock, den runde Fenster, sogenannte Oeils de boeuf andeuteten, darüber; dann kam ein Mansardendach mit schwarzer Schieferbedeckung und hohen breiten Essen; in der Mitte über dem Portal aber sprang aus dem Entresolstock ein Balcon vor, unter welchem in weißer Stuckarbeit ein von mächtigen Sonnenstrahlen umwobenes Phöbushaupt auf die Eintretenden niederblickte; an den Wandflächen zwischen den Fenstern rechts und links waren Jagdtrophäen in Sandstein angebracht; an beiden Seiten des Baues aber erhoben sich zwei schlanke viereckige Thürme mit kleinen Kuppeln und Laternen darauf. Alle Verhältnisse waren edel und schön, das Ganze hätte man in der That kokett nennen mögen, wenn ein Gebäude kokett sein kann … und weshalb sollte es das nicht, wenn es zu gefallen und zu bestricken sucht durch ganz besondere Mittel und … doch von demselben Stein ist wie das Herz einer koketten Frau!

Der junge Mann schritt von der Terrasse durch die halbgeöffnete Glasthür, die ohne Treppenstufe oder Schwellenerhöhung in das Innere führte, und betrat einen ovalen Salon, der in vollkommenster Harmonie mit dem Aeußeren des Gebäudes stand. Er war kunstreich parkettirt, während an der Decke ein großes mythologisches Gemälde prangte, aus dem nackte Amouretten und halbnackte Nymphen Blumen auf den Eintretenden niederwarfen; über den Thüren Süpporten mit Schäferscenen, die Wandfelder von reichen Stuckzierrathen umrahmt – Alles das gehörte einem und demselben Geschmack an und war sehr hübsch, wenn es auch sehr zerfallen und vom Zahn der Zeit benagt war, der mit so leichten Werkzeugen wie Staub und Spinneweben und feuchtem Dunst Steine zerbricht und Wände umwirft.

An den beiden entgegengesetzten Enden befanden sich zwei Nischen angebracht; die eine war mit allerlei Muschelwerk ausgelegt, und oben auf einer kleinen Stufenpyramide stand hier mit hochaufgerecktem Schnabel ein stolzer Schwan, bestimmt das Wasser auszusprudeln, das einst in Cascatellen die Stufen niedergeströmt war; aber leider war der Schwan todt, das Wasser sprudelte, die Cascatellen rauschten nicht mehr … des Fremden Auge flog von der todten staubgeschwärzten Muschelnische der gegenüberliegenden Nische am andern Ende des ovalen Raumes, zu, und hier traf es auf einen Schwan, der lebendig war und athmete.

Der athmete und zwar sehr überrascht hoch auf athmete; ein hochgewachsenes, schlankes junges Mädchen, das auf dem Sockel einer Statue des Meleager saß und bisher in eine Lecture versunken gewesen war – das Buch, welches sie gehalten, entsank ihrer Hand, als sie jetzt auffahrend ein leises: Ah! der Überraschung ausstieß.

Sie war gekleidet in eine weiße Blouse und einen langen dunkelgrünen Reitrock; ihr Reithut mit weißer Feder, Handschuhe und Gerte lagen neben ihr zu Füßen des Meleager, der die zweite Nische ausfüllte.

Der Fremde nahte sich ihr rasch und hob das Buch auf, das sie hatte fallen lassen. Er überreichte es ihr mit einer Verbeugung, nachdem er einen Blick auf den blauen Umschlag geworfen.

„Sie lesen da ein reizendes Buch, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er dabei mit einer gemüthlichen Unbefangenheit, als ob er eine längst Bekannte anrede, ‚das Pferd des Phidias‘,[1] ich freue mich zu sehen, daß es bis in diese Waldgebirge gedrungen, es kann nichts Geistreicheres und Hübscheres geben, als diese Plaudereien à propos d’un cheval – aber man darf nicht ganz das eigene darüber vergessen und in den Wald durchgehen lassen …“

Die junge Dame, die etwa zwei- bis vierundzwanzig Jahre haben konnte und deren feine vornehme Züge sich mit hellem Roth bedeckt hatten, während der Fremde, der ihre völlige Einsamkeit so unvermuthet unterbrochen, sie angeredet, blickte ihn jetzt mit einem [627] Ausdruck an, worin etwas von zurückweisender Kälte lag. Aber zugleich war sie augenscheinlich verlegen und verwirrt durch diese plötzliche Erscheinung, und sie fragte ein wenig stotternd: „Ich verstehe Sie nicht … mein Pferd ist doch nicht …“

„Ist aus Verzweiflung über die Vernachlässigung von Seiten seiner Herrin aus dem Stalle gelaufen und durchgegangen.“

Die Dame sprang auf und machte einen hastigen Schritt der Thür zu.

„Beruhigen Sie sich, mein gnädiges Fräulein, ich habe es eine Viertelstunde von hier im Walde aufgefangen und zurückgebracht. Es steht jetzt an seiner Krippe so ruhig wie das Pferd des Phidias an seinem Fries.“

„Dann muß ich Ihnen in der That dankbar sein,“ sagte die Dame leise und langsam, den Fremden jetzt ruhiger musternd und ein wenig widerstrebend, einem unbekannten Menschen danken zu müssen … „ich hoffe es ist unverletzt?“

„Es ist Alles unverletzt daran bis auf die Zügel, die ich wieder zusammengeknotet habe.“

„Nun, in der That, ich bin Ihnen sehr verbunden,“ wiederholte das junge Mädchen mit einer kurzen Verbeugung und nahm den Hut und die Handschuhe auf, um zu gehen.

„Darf ich Sie nicht bitten, mir eine Auskunft über dies kleine Schloß zu geben?“ fragte der junge Mann, während sie den Hut auf ihren blonden Locken befestigte. „Ich bin fremd hier, fremd geworden wenigstens…“

„Das Schloß heißt Falkenrieth und war ursprünglich ein Jagdhaus der Fürsten von W. Man sagt, einer der Fürsten habe es zur Sommerfrische für seine …“

Das junge Mädchen zog, während sie dies sagte, langsam ihre Handschuhe an und schien bei den letzten Worten plötzlich auf eine Schwierigkeit dabei zu stoßen, so daß sie über dem heftigen Niederstreichen des widerspenstigen gelben Leders vergaß, was sie sagen wollte.

„Falkenrieth? der Name lautet hübsch!“ bemerkte der Fremde.

„Es gehört jetzt zur Concursmasse der gräflichen Familie von Wasenstein, und die sucht es zu verkaufen, weil es nur Erhaltungskosten macht und der kleine Waldbering, der ringsumher dazu gehört, sehr wenig einbringt in dieser entlegenen Gegend …“

„Es ist ganz allerliebst und eine würdige Schöpfung einer verliebten Fürstenphantasie,“ versetzte der junge Mann. „Man sollte es allen Neuvermählten im Lande für ihre Flitterwochen einräumen, wie die Thurmstube auf dem Stephansthurm zu Mainz. Kann man die übrigen Räume sehen?“

„O ja,“ fiel die junge Dame, gesprächiger werdend, ein; und als ob es ihr eine Befriedigung gewähre, die kleine Schöpfung Jemandem, der ein Auge für seine Schönheit verrieth, zu zeigen, ging sie lebhaften Schritts der nächsten Flügelthür zu und öffnete sie.

Der Fremde blickte in ein kleineres, weiß und rosaroth decorirtes Zimmer, dessen Farben sich besser erhalten hatten, als die des ovalen Saales.

„Das reinste Rococo, das man sehen kann,“ bemerkte er; „man kann den Styl Louis Quinze nicht geschmackvoller durchgeführt finden! Es ist nur schade, daß alle Einrichtung fehlt. Welch’ schöne Marmortische auf vergoldeten Löwenklauen und Bockfüßen, welche prächtigen eingelegten Schränke und Boule-Arbeiten würden wir sonst sehen!“

„Das ist Alles längst fortgeschleppt,“ antwortete die Dame, „das Gebäude steht schon lange vollständig leer … Sie sind wohl Künstler?“ wandte sie sich dann plötzlich an den jungen Mann.

„Künstler? … nun ja; aber wer darf sich so nennen? Wer darf von sich sagen, in dem, was seine Hände stümpern, sei von ihm ein Strahl der ewigen Schönheit eingefangen?“

„Ich sah es, weil Sie ein Auge für diese Sachen haben,“ fuhr die junge Dame jetzt, seitdem sie den Fremden in eine bestimmte Lebensstellung eingerückt erblickte, mit weit größerer Unbefangenheit fort. „Sie werden Studien in unserer Waldgegend machen wollen, und es freut mich, daß Sie dies vorhaben. Wir haben so wundervolle Partieen, und doch ist es so selten, daß sich hierher ein Künstler verirrt!“

„Leider komm’ auch ich nicht zu solchen Studien hierher, ich bin, wie gesagt, nicht anmaßend genug mich Künstler zu nennen, und mein Dilettiren beschränkt sich auf Kneten von Thon und Bosseln von Stein – ich pfusche in die Plastik!“

„Plastik?“ wiederholte die junge Dame; „ein seltenes Talent, das am höchsten stehen soll, obwohl ich in seine Geheimnisse nicht recht einzudringen verstehe, die Plastik hat und behält etwas Todtes, Kaltes für mich …“

„Trotz Ihrer Lectüre?“ fragte der Fremde, indem er auf das zu den Füßen des Meleager liegen gebliebene Buch deutete.

„Trotz des Pferdes des Phidias und alles Geistvollen, was darin über die plastische Darstellung eines atheniensischen Gaules gesagt ist … ich bin hier in der romantischen Waldeinsamkeit groß geworden, zwischen einfachen Scenerien, die nur durch Linien und Farben wirken – die Romantik soll sich mit der Plastik nicht vertragen …“

„Sind Sie musikalisch?“

„Auch das nicht!“

„Dann sind Sie für die Plastik nicht verloren!“

„Sonst wäre ich es?“ fiel sie lächelnd ein – „aber,“ sagte sie sich wendend, „der atheniensische Gaul hat mich an den meinen erinnert; es wird Zeit, daß ich heimkehre. Wollen Sie sich noch umschauen in dem Gebäude, so thuen Sie es, aber schließen Sie die Thür und geben Sie den Schlüssel drüben im Wirthschaftsgebäude bei den Wärtersleuten ab.“

„Ich habe genug für heut’ und werde später wohl zurückkehren,“ sagte der Fremde … „ich hätte große Lust, das hübsche Schlößchen zu kaufen. Was wird es kosten?“

„Sie? kaufen?“ rief die junge Dame mit einem Tone wie unangenehme Ueberraschung aus, und mit einer Miene, aus der alle Heiterkeit verschwunden war, zu ihm zurückblickend. Der Blick auf seine äußere Erscheinung aber schien sie zu beruhigen.

„Man fordert mehr als zehntausend Thaler dafür,“ fuhr sie fort, indem sie durch die Thür des Salons schritt und, nachdem der Fremde ihr nachgekommen, zu schließen versuchte, eine Mühe, bei welcher der junge Mann ihr zuvorkam.

Sie gingen schweigend über die Brücke. Am Ende deutete die Dame auf eine kleinere Thür im Wirtschaftsgebäude und sagte: „Geben Sie da den Schlüssel ab. Adieu, mein Herr!“

Sie wandte sich mit einem halb freundlichen, halb stolzen Nicken des Hauptes von ihm ab und ging zu ihrem Pferde. Der junge Mann öffnete die ihm bezeichnete Thür und trat in eine kleine Küche; es war Niemand darin, auch in der hinterliegenden Kammer nicht. Er legte deshalb den Schlüssel auf den Tisch und kehrte zurück.

„Es ist Niemand da,“ sagte er, der Dame nacheilend, „Niemand, der Ihnen behülflich sein kann, und Sie müssen sich deshalb schon meine Dienste gefallen lassen.“

Ohne ihre Einwilligung abzuwarten, holte er das Pferd aus dem Stalle, zog die Sattelgurte an und führte das Thier an einen daliegenden kurzen Holzblock, der das Aufsteigen erleichtern konnte. Die Dame sprang darauf, aber bevor sie aufstieg, untersuchte sie die kleine Satteltasche.

„Mein Gott, nun ist das Tuch und das Taschenbuch, das ich hineingesteckt hatte, verloren!“ rief sie klagend aus.

„Wenn Sie es darin gelassen haben, so ist es freilich herausgefallen, der Sattel hing unter dem Bauch des Thieres … hatte das Taschenbuch Werth für Sie?“

„Gewiß, großen … ich möchte es um Vieles nicht missen –“

„So will ich suchen, den Spuren des Pferdes nach, die es bei seinem Ausbrechen hinterlassen hat …“

„O nein, nein, nein, das sollen Sie nicht,“ fiel die Dame geängstigt und erschrocken vor dieser neuen Verpflichtung gegen den Fremden ein.

„Aber wenn es Werth für Sie hat … und da Niemand anders da ist …“

„Doch, doch, da kommt schon Jemand!“

In der That hörte man Schritte, die Schritte eines eilig Laufenden; im nächsten Augenblick kam ein Bauernbursche von etwa fünfzehn Jahren um die Ecke des Wirthschaftsgebäudes gelaufen, über dessen geröthetes Gesicht die hellen Tropfen Schweißes niederperlten. Er hielt ein feines gesticktes Taschentuch und das Buch in der Hand.

„Gnädiges Fräulein, ist das Ihres?“ rief er athemlos aus.

„Ja, ja,“ sagte sie hocherfreut, „das ist brav von Dir, mein Junge!“

„Ich fand es auf der Wiese drüben im Sundern,“ sagte der Junge luftschöpfend … „und da dacht’ ich’s gleich, daß es [628] Ihr’s sein müsse, und gab mich auf den Lauf, um’s Ihnen zu bringen, weil ich Sie nach Tisch hatte auf Falkenrieth zureiten sehen …“

„Ich danke Dir in der That … wie heißt Du?“

„Ich bin des Waldkaspars Franz … geben Sie mir etwas, gnädiges Fräulein!“

Das gnädige Fräulein griff in eine Falte ihres Reitrockes, und roth werdend zog sie die Hand leer wieder heraus, einen verlegenen Seitenblick auf den Fremden werfend.

„Wir sind so arm,“ sagte der Junge, sich zu dem fremden Herrn wendend.

Der Fremde zog eine Börse hervor, öffnete sie und mit einem unbefangenen Lächeln sagte er: „Mein Junge, ich habe nicht einen rothen Pfennig!“

Die junge Dame sah mit einem Blick, worin etwas von Verwunderung und etwas von Schadenfreude lag, den Käufer von Schloß Falkenrieth an; dann sagte sie mit spöttischem Ton: „Nun, Sie werden Falkenrieth wohl nicht theurer machen.“ Und zu dem Jungen sich wendend: „Mein guter Bursche, willst Du morgen Nachmittag wieder hier sein? Dann werd’ ich Dir einen Gulden mitbringen, hörst Du?“

„Es ist gut!“ sagte der Bursche ein wenig verdrossen und ging, um hinter der Ecke des Gebäudes wieder zu verschwinden.

Sie schwang sich jetzt in den Sattel, während der Fremde das Pferd hielt. Als sie die Zügel genommen hatte, blickte sie auf den jungen Mann mit einer Miene herab, in welcher sich jetzt ein Ausdruck verlegenen Zweifels malte, sie bewegte die Lippe, als ob sie sprechen wolle, und schwieg doch und erröthete dann, als ob sie etwas gesagt, was sie verlegen mache, endlich sagte sie halblaut: „Wie werden Sie denn weiterreisen können, wenn …“

„Wenn Sie Ihren letzten Groschen schon vor zwei Stunden einem Bettler geschenkt haben?“ fiel der junge Mann ein, da sie sich unterbrach; „ich danke Ihnen für Ihre Sorge, mein gnädiges Fräulein; in einer Stunde werde ich daheim sein!“

„Dann leben Sie wohl, ich danke Ihnen für Alles, was Sie an mir und meinem Pferde gethan!“

Mit einem huldvollen Lächeln neigte sie den Kopf und ritt davon. Der Fremde schaute ihr eine Weile nach, als ob seine Blicke ihr magnetisch angezogen folgten; dann, wie aus einem Traum erwachend, sagte er: „Was mag sie von mir denken – keinen Pfennig Geld in der Tasche und große Reden führen – Schloß Falkenrieth kaufen! Welch ein Renommist! Wie boshaft sie mir’s vorwarf! Wie sarkastisch!– Es war abscheulich!“ Er lachte auf, dann fuhr er mit einem tiefen Seufzer sehr ernst fort: „Ach, es ist oft sehr hart, keinen Pfennig zu haben … wir kennen das ja!“

Er schritt voran, den Fußsteig, den er gekommen, nach rechts hin weiter verfolgend, während die Dame einen Fahrweg nach links eingeschlagen hatte. Bevor sie hinter den Waldbäumen, die sie jetzt erreicht hatte, verschwand, blickte sie noch einmal nach dem Wandernden um; er grüßte lebhaft winkend und erröthete dann über das, was er gethan.




3.

Der Weg, den der junge Mann verfolgte, führte aus den Bergen heraus in ebnere Gegend, worin der Anbau vorherrschte. Hier und da lagen kleine Gehöfte; nach einer halben Stunde hatte er einen Weiler erreicht, und durch die einzige breite Gasse desselben schreitend, kam er an ein altes verfallenes eisernes Gitterthor, hinter welchem eine dunkle Ulmenallee auf einen hohen stattlichen Edelhof zuleitete. Das Gitterthor war verschlossen, aber die kleineren Einlässe rechts und links daneben standen offen, und unser Wanderer schritt durch einen derselben und dann unter den dunkeln Wipfeln der Allee dahin. Am Ende derselben lagen zwei kleine Gebäude, achteckig, mit schindelbedeckten Kuppeln versehen; eine brusthohe Mauer verband sie und schloß so einen Hof ab, in dessen Hintergrunde ein altes Herrenhaus mit doppelfluchtiger Treppe und großem Portal sich erhob.

Als der junge Mann durch das Staketthor in jener Mauer den Hof betreten hatte, hielt er seine Schritte an und überschaute mit einem ernsten, sinnenden Blick die Scene. Sein Auge glitt über das Ganze, als ob er längst Gesehenes wiederzuerkennen suche, oder als ob seine Erinnerung den abendstillen, verlassenen Hof mit entschwundenen Gestalten bevölkern wollte. Dann trat er an eines der achteckigen Gebäude und blickte durch ein vergittertes Fenster in das Innere. Es war zu einer Kapelle eingerichtet; sein Auge haftete auf dem im Schatten liegenden Altar, auf den Stufen, wie das eines Mannes, der die Stelle erblickt, wo er vor Jahren gekniet und die ersten Gebete seiner kindlich gläubigen und reinen Seele gesprochen. Dann wandte er sich ab und näherte sich dem Herrenhause. Aus dem Portal trat eine Magd und kam ihm die Treppe niedersteigend entgegen; hinter ihr aus der geöffneten Hausthüre stürzte ein großer Hühnerhund hervor und bellte den Fremdling an.

Die Magd hatte Mühe, das Thier zu besänftigen, und die Frage des Fremdlings nach dem Herrn Administrator beantwortete sie dahin, der Herr sei nicht daheim, auf den Feldern irgendwo, aber er werde gleich heimkehren, da es Zeit zum Abendessen sei.

„Ich will auf ihn warten,“ sagte der junge Mann und schritt in’s Innere des Hauses. In dem Corridor, der ihn umfing, öffnete das Mädchen eine Seitenthür, die in das Empfangzimmer des Herrn führte.

Der Fremde warf seinen leichten Tornister vom Rücken und auf den runden Tisch inmitten des Zimmers; dann setzte er sich auf ein hartes Roßhaarkanapee und überblickte die Einrichtung des Gemachs: altfränkische Möbel, schlechte Lithographien in schwarzen Rahmen an den Wänden und schäbige werthlose Nippsachen auf der geschweiften Commode unter einem großen venetianischen Spiegel. Nachdem der junge Mann eine Weile ausgeruht, sprang er, wie unruhig bewegt, wieder auf. Er suchte aus einem Bündel Cigarren, das auf der Commode lag, die bestgearbeitete heraus, entzündete sie mit dem Feuerzeug, das daneben stand und ging dann hinaus, um im gegenüberliegenden Raume das Mädchen wieder aufzusuchen, das darin verschwunden war; es war eine große dunkle Küche, die er betrat, das Mädchen stand neben einem andern am Heerd und hantirte mit Teller und Schüsseln.

„Du kannst auf einen Gast mehr zählen,“ sagte er zu der ländlichen Schönen, „aber jetzt komm mit mir und schließ mir den oberen Stock auf, ich will die herrschaftlichen Zimmer sehen.“

Das Mädchen warf ihm einen erstaunten, ihrer Küchencollegin einen fragenden Blick zu; in der Annahme, daß der Fremde, der so befehlend auftrat, ein genauer Freund des Herrn sei, gehorchte sie jedoch. Sie nahm ein Schlüsselbund von der Wand und schritt voran.

(Fortsetzung folgt.)




Behüt Dich Gott!

Das ist im Leben häßlich eingerichtet,
Daß bei den Rosen gleich die Dornen steh’n,
Und was das arme Herz auch sehnt und dichtet,
Zum Schlusse kommt das Voneinandergeh’n.

5
In Deinen Augen hab’ ich einst gelesen,

Es blitzte drin von Liebe, Glück und Schein:
Behüt Dich Gott! es wär’ zu schön gewesen,
Behüt Dich Gott, es hat nicht sollen sein.

Leid, Neid und Haß, auch ich hab’ sie empfunden,

10
Ein sturmgeprüfter müder Wandersmann.

Ich träumt’ von Frieden dann und stillen Stunden,
Da führte mich der Weg zu Dir hinan.
In Deinen Armen wollt’ ich ganz genesen,
Zum Danke Dir mein junges Leben weih’n:

15
Behüt Dich Gott! es wär’ zu schön gewesen,

Behüt Dich Gott, es hat nicht sollen sein.

Die Wolken flieh’n, der Wind saust durch die Blätter,
Ein Regenschauer zieht durch Wald und Feld,
Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter,

20
Grau wie der Himmel steht vor mir die Welt;

Doch wend’ es sich zum Guten oder Bösen,
Du schlanke Maid, in Treuen denk’ ich Dein!
Behüt Dich Gott! es wär’ zu schön gewesen,
Behüt Dich Gott, es hat nicht sollen sein.
Behüt Dich Gott, es hat nicht sollen sein.Victor Scheffel.

[629]
Schiller’s Räuber auf ihrer ersten Bühne.

v. Hoven.       Heideloff.       Dannecker.             Schiller.       Kapf.       Schlotterbeck.
Schiller liest fünf Mitschülern die „Räuber“ im Walde bei Stuttgart vor.
Nach der Originalskizze von Victor Peter Heideloff auf Holz gezeichnet von Paul Thumann.

An einem Sonntage des Sommers 1778 begab sich in Stuttgart am Thor der Militär-Akademie das Ungewöhnliche, daß bereits am frühen Morgen eine große Zahl Eleven hinausmarschirte. Sie waren schon in der sonntäglich blanken Montirung, die Degen an der Seite, wohlfrisirt unter ihren Uniformhütchen; sie mußten also dispensirt sein sowohl von dem Rangiren der Abtheilungen zum Frühstück, der Toilette-Revision und Stellung nach demselben, als auch vom Kirchgange. Sie gingen paarweise in gleichem Tritt, mit Aufsehern und Dienern zur Seite, auch der führende Hauptmann fehlte nicht, aber an ihren belebten Mienen konnte man doch merken, daß sie diesmal nicht von der Dienstuhr in Gang gesetzt wurden. Auch nahm der Hauptmann den Weg nach der Weinsteig hinaus, und als sie auf dieser zwischen Baumgeländen und Weinbergen anwärts rückten, löste sich die Colonne in freiere Wandergruppen [630] auf. Sie genossen der frischen Morgenluft, der Aussichten über die Stadt und auf das liebliche Thal von Häslach, der ungezwungenen Bewegung und des Gesprächs nach Wahl und Laune. Denn dieser Auszug war ein Spaziergang, keiner der allgemeinen, zu welchen die Akademie bisweilen nach der Vesper in’s Freie geführt wurde, auch keine Excursion in Folge gnädigster Einladung des Herzogs, um eine seiner großen Jagden mit anzusehen, aber ebensowenig ein Spaziergang, wie ihn gewöhnliche Menschenkinder sich in einer freien Stunde erlauben, sondern ein – ärztlich verordneter Spaziergang.

In die Karlsschule war eine epidemische Krankheit eingedrungen und hatte nach und nach die Mehrzahl der Schüler ergriffen. Nun das Uebel endlich besiegt war, zog die letzte Abtheilung der in der Genesung begriffenen Karlsschüler aus, um die ihnen vom Hofmedicus Reuß verordnete Waldpromenade abzumachen.

Unter diesen Reconvalescenten waren auch die beiden Eleven von Hoven und Schiller, welche in diesem dritten Jahr ihres Studiums der Medicin schon einigen Theil an der praktischen Behandlung von Patienten, die nach ihnen von der Epidemie befallen worden waren, genommen hatten. Vier andere Eleven aus verschiedenen Abtheilungen, welche aber in der letzten Zeit sich mit Schiller und von Hoven im Krankenzimmer vereint gefunden, hielten sich auch jetzt bei dem gemächlichen Ansteigen und fröhlichen Gewimmel des Trupps meistens in der Nähe dieser beiden Freunde.

Die einzelnen Glieder dieser Jünglingsgruppe müssen wir uns näher betrachten, ehe wir sie zu ihrem heutigen geheimen Ziel weiter verfolgen. Einige von ihnen hob der Glücksstern ihres Lebens hoch genug, um ihre Namen in das Ehrenbuch der Nation zu schreiben. Nicht blos im Widerschein von Schiller’s Ruhm glänzen die drei Künstler unter ihnen: Dannecker, der große Bildhauer, der einer der fruchtbarsten Künstler seines Fachs wurde, dem wir die gefeierte Kolossalbüste Schiller’s und die bekannte Ariadne im Bethmann’schen Garten zu Frankfurt a. M. verdanken und der, nachdem er bis 1839 die Stuttgarter Kunstschule geleitet, 1841 als Dreiundachtzigjähriger starb; ferner Victor Peter Heideloff, der Stuttgarter, der sich als Bildhauer, Maler und Architekt auszeichnete und besonders die Theaterdecorationsmalerei zu einer gepriesenen Kunst erhob; er ist schon 1816 gestorben, hat aber in seinem Sohne Karl Alexander einen Träger seines Namens hinterlassen, der auch den des Vaters nie vergessen läßt; endlich Jacob Schlotterbeck, gestorben um 1820, als Kupferstecher und Maler einer der geachtetsten Künstler seiner Zeit. Von den beiden Anderen der fünf Krankenzimmer- und Waldgenossen des „Eleven Schiller“ erreichte Friedrich Wilhelm von Hoven, der 1838 als Ober-Medicinalrath zu Nürnberg gestorben ist, als akademischer Lehrer (in Würzburg) und als Schriftsteller seines Fachs s. Z. hohen Ruf; der fünfte der Jünglinge, der „Chevalier“ Kapf, wird in allen Erinnerungen aus der Karlsschule als „nachheriger Lieutenant“ bezeichnet.

Eilen wir nun der hoffnungsreichen Schaar nach. Wir sehen, wie von den Fünfen eben Heinrich Dannecker, dermalen Schüler der Académie des Arts, der, vor sieben Jahren vom Herzog zum Tänzer bestimmt, bald jedoch den Professoren der bildenden Kunst sein Talent zur Plastik verrathen und rasch entwickelt hatte, mit seinen offenen blauen Augen an Schiller’s Lippen hing, den er zu Bemerkungen aus dem Bereich seiner anatomischen Auffassung des menschlichen Körpers veranlaßt hatte, und so angeregt aufmerksam war, daß er kaum die zustimmenden Worte hörte, die von seiner andern Seite Jakob Schlotterbeck dazwischen warf.

Nach der auch gedankenspringlustigen Weise der Jugend hatten die erregten Geister der Kunstjünger sich plötzlich im Lobe ihres Lieblingslehrers, des Professor Guibal, festgehakt. Dies veranlaßte wieder den Maler-Eleven Heideloff die hohe Mission der Nadel des Stechers zu preisen, der für die Verbindung der Künste wirke und deren durch Zeit und Ort getrennte Leistungen in reiche Uebersicht sammle – und ebenso rasch sprang er auf die nothwendige Verbindung der Poesie und der Malerei über und war eben daran, erst recht in’s Feuer zu kommen, als er von einem Zeichen, das ihm Hoven gab, plötzlich verstummte: die zwanglosen Gruppen zogen sich wieder in eine knappere Ordnung und gleichen Takt der Schritte zusammen, denn der Hauptmann ließ defiliren, während die Aufseher zur Wendung von der Steig in das Gehölz des Bopsers lenkten. Die Einrückenden begrüßten den Wald mit freudigen Blicken und Lauten, die der Hauptmann mit wohlwollendem Lächeln bemerkte, und indem er nun wieder voran durch die Gebüsche ging, folgten die Gefährten in ihrer Bewegung und Zueinandergesellung auf’s Neue der Bequemlichkeit und Neigung.

Die drei Kunst-Eleven umgaben mit sichtlicher Anhänglichkeit den still hinschreitenden Schiller, der in Gedanken verloren schien. Hoven zog den Chevalier Kapf heran, weil er Heideloff gar aushören müsse. Unter Schiller’s Cameraden war Victor Heideloff derjenige, der auf Schiller bei seinem ersten dramatischen Versuche bezüglich der theatralisch-technischen Gestaltung desselben vorzugsweise einwirkte. Es muß hier nachgeholt werden, daß Schiller während seines dreiwöchentlichen Krankenlagers – gegen das ausdrückliche strenge Verbot jeder geistigen Arbeit im Krankenzimmer – so oft als möglich unter der Bettdecke an seinen „Räubern“ schrieb. Das Verbot fand später einige Milderung in der Nachsicht eines Krankenwärters, der aus Rücksicht für Heideloff, in dessen elterlichem Hause er bekannt war, Schiller’s Arbeiten stillschweigend gestattete, weil die Freunde sie für medicinische ausgaben. – Heideloff, Schiller’s Bettnachbar im Krankenzimmer, war damals Schüler der Theater- und Dekorationsmalerei und der Theaterbaukunst und in seiner Ausbildung soweit fortgeschritten, daß nicht nur der Herzog ihn häufig bei seinen prachtvollen Theatervorstellungen in Anspruch nahm, sondern auch die Cameraden ihm die Besorgung des theatralischen Theils ihrer dramatischen Aufführungen in der Karlsschule ausschließlich übergaben. Dagegen benutzte Heideloff ebenso eifrig die ausgezeichnete Dichtergabe seines Freunds Schiller, er munterte ihn auf, sein Talent dem akademischen Theater zuzuwenden, Prologe, Monologe, Epiloge dafür zu fertigen und selbst vorzutragen, und als von Beiden das erste deutsche Schauspiel in der Karlsschule eingeführt wurde, darin die Hauptrolle selbst zu übernehmen. – Es war daher sehr natürlich, daß Schiller sich auch enger an Heideloff anschloß und ihn bei seinen Kunstschöpfungen stets zu Rathe zog. Auch die übrigen Vier nahmen oft an diesen Unterhaltungen, die meist die „Räuber“ betrafen, Theil. Da jedoch solche ästhetische Besprechungen im Krankenzimmer zu beschränkt und kärglich waren, so beschloß Schiller, die Gelegenheit des nächsten Genesungs-Spaziergangs zu benutzen, um an einem ruhigen und ungestörten Orte sein Stück zur Beurtheilung und zum Genuß, wie er es so gern that, vorzutragen.

Dieser Augenblick stand den Jünglingen bevor, das wußte Heideloff, und darum zielte er schon in dem Gespräche darauf hin, zu welchem Kapf und Hoven ihn, auf Guibal’s Wirksamkeit für das Kunstleben der Karlsschule zurückkommend, von Neuem angeregt hatten. „Was,“ rief er – „was würde man hier mit all dem Aufwand für Musik und Ballet in der Oper ausrichten, was würden die Verse unsers gekrönten Poeten Haug helfen, wenn nicht Guibal mit Costümen und Attributen und mit seinen Decorationen die unmittelbaren Reize und Contraste der Darstellung, die Scenen und Tempel der festlichen Handlungen erschüfe? Er wird auch wieder für das Festspiel, das Haug schon jetzt auf den Januar zur Geburtsfeier der Frau Reichsgräfin von Hohenheim vorbereitet, den zauberisch geschmückten Schloßsaal und für den Schluß der Vorstellung den brillanten Parnaß mit seiner Phantasie ausstatten. Für die Decoration des mittleren Acts hab’ ich gestern die Baumflur bei dem neuen Dorfe und Perspective auf Schloß Hohenheim an Ort und Stelle aufgenommen. Und Schlotterbeck wird fleißig sein, Euch Akademisten zu Bauern und Cyklopen, Schäfern und Göttern harmonisch bunt herauszustaffiren und die Demoiselles von der Ecole als Musen und Nymphen idealisch zu drapiren. Seht, das ist das Feld, wo wir zusammengehören, Ihr Studirenden und wir Kunstschüler, wo wir einander helfen und im Schönen uns höher heben sollen: ein Theater, wo die geistige Bildung durch den Verein aller Künste mit hinreißender Macht sich offenbart und die ganze Gesellschaft begeistert.“

„Läßt sich aushalten,“ versetzte Kapf trocken, „mit der geistigen Bildung bei diesen Maskeraden. Für den Augenblick kann der Spectakel unterhalten, wenn die Beleuchtung glänzend ist, hübsche Gesichter darunter sind und die Schminke nicht zu grob aufgetragen ist auf den Backen und in den Versen. Aber es ist doch Jahr aus Jahr ein dieselbe Garderobe von ländlichen und olympischen Figuranten und dieselbe alte Leier von überhimmlischer Herablassung und Tugend wie Heu.“

[631] Ein Lachen ließ rechts und links sich hören in dem Gedränge der Freunde, die auf dem Waldpfade nicht ohne Mühe mit Umgehung von Wurzeln, Sträuchern, Stämmen einander nahe blieben. „Ei, erfreut Dich dieser Rasen und das Laubgehölz nicht?“ fragte Heideloff, „weil sie Jahr für Jahr immer wieder dieselben sind? So sind die Ideale der Kunst freilich alt, aber unsterblich. Nur muß es ein Frühling, ein jugendwarmer Geist sein, der sie zum Blühen hervorruft. Sind Euch die hergebrachten Schauspiele nicht geistreich genug, bietet Euer eigenes Feuer auf, Ihr beredten, witzigen Denker. Nichts ist so sympathetisch, als neuentstehende Poesie! Wenn ich eine Schulaufgabe bekomme, eine Art Ornament auszuzeichnen oder einen Gartenplan, da hängt der Alltagsgeist über meinem Reißbret. Hör’ ich aber den Entwurf einer dramatischen Dichtung, wie unlängst von Dir, Schiller, das Scenar des ‚Jahrmarkts‘, der ein Vorspiel werden soll für das Geburtsfest des Herzogs, gleich sind meine Sinne in Bewegung, Vor- und Hintergründe steigen mir auf, ich sehe Figuren und Gruppen mit einem Leben der Motive und einer Kraft der Farben, die durch das Mitgefühl mit der Bildungslust des Dichters, durch den Reiz der Erwartung, ich kann nicht sagen wie, gehoben sind!“

„Glaubt mir,“ rief Schlotterbeck, „die Tage vorigen Monats auf dem Krankenzimmer waren die glücklichsten, seit ich hier bin.

Was helfen uns alle Mittel, zu zeichnen, zu schraffiren, zu malen, wenn unsere Empfindung nicht erregt ist? Die quillt auf, wenn uns der Dichter die Welt interessant macht. Als ich im Bett zu hören bekam, woran Schiller schrieb und was er unter der Decke hielt, wenn der Inspector hereinkam, war’s mir nicht anders, als wüchs’ ich inwendig und auswendig und säh’ über die Berge in neue Länder. Nun verstand ich, warum Dannecker zu ihm springt, so oft er kann. Und Hoven mußte ich glücklich preisen, der seit Jahren solche keimende und steigende Phantasieen mit Schiller theilt. Diesen neuesten großen Stoff – nicht wahr, Du, Hoven, hast ihn auf die Idee gebracht? Wir hören doch bald mehr davon …?“

Da Hoven’s Augen dem Fragenden Geduld winkten, ergriff wieder Heideloff das Wort: „Nein, sage selbst, Schiller, hab’ ich nicht Recht, daß das erst eine Akademie wird, wenn wir so zusammen, Ihr Dichter voran, große Gebilde zur Reife bringen, nicht verschnörkelte Recepte, sondern wahre Pflanzungen der schönen Kunst, daß wirklich Griechenland in Deutschland neu wird, Poesie und Geschmack in unserm Schwabenland heimisch werden und es verherrlichen!“

„Aber seht,“ rief Hoven, „hier ist’s prächtig, hier wird’s gut!“

Man war auf einem freieren Platz des Wäldchens angekommen, wo zwischen den Bäumen die Aussicht auf jenseitige Hügel sich öffnete und der lehne Rasen unter den Büschen, erwärmt von der steigenden Sonne, angenehme Ruheplätze bot. Der Hauptmann lud ein, sich hier zu lagern und die leichten Erfrischungen zu genießen, die von den Bedienten gereicht wurden. Er selbst machte sich’s in der Mitte des Kreises bequem, etwas erhöht an einer kleinen Böschung, von wo er alle übersehen konnte. Seine Blicke waren jedoch so wenig gespannt, daß sich merken ließ, er wollte die jungen Leute in ihren Unterhaltungen ungestört gewähren lassen. Sie saßen, lagen und schwatzten denn auch nach Herzenslust in verschiedenen kleinen Cirkeln umher.

Schiller’s Freunde hatten sich am äußersten Ende des Platzes um einen Buchenstamm gesetzt, und man konnte erkennen, daß der Hauptmann dieses Grüppchen mit etwas mehr Freiheit begünstigte, als die anderen. Hier hielt endlich Heideloff sich nicht länger. „Nun heraus damit, Schiller! Ich brenne darauf schon den ganzen Weg her! Ich hoffe, Du hast Dein Versprechen nicht vergessen.“

„Ich dachte mir auch schon,“ sagte Dannecker mit herzlichem Ton, „daß Du es bei Dir hast.“

Schlotterbeck sah bittend, Kapf erwartend her, und Hoven bemerkte: „Höre, Fritz, der Augenblick ist wirklich geschickt dazu. Da drüben spielen Einige Fangens, Andere botanisiren in der Nähe herum, die Aufseher trinken; der Hauptmann läßt uns Zeit, ein wenig tiefer in’s Dickicht zu gehen und in Ruhe Dich lesen zu hören.“

„Wenn Ihr mögt –“ sagte Schiller, sich rasch erhebend, indem eine Röthe seine Wangen überflog.

Sie bogen ein in den Wald und schweigend gingen sie dem Holzweg eine Strecke’ nach. Unter einer Buchengruppe machte Schiller Halt. Er lehnte sich stehend an einen mächtigen Stamm und zog sofort das Manuskript seiner Räuber hervor. Rechts vor ihm stellte sich Dannecker vor einen anderen Baum, an dessen Seite sich Hoven und neben diesem Heideloff niederließ. Zur Linken von Schiller stimmte sich Schlotterbeck hinter ihm gegen denselben breiten Stamm, der des Dichters Rückenwand machte, und weiter vorn saß hier Kapf auf den Wurzeln einer Fichte, gegenüber von Heideloff.

Augenblicks war dieser Kreis geschlossen, und Schiller begann ruhig mit Erinnerung an das, was er den Cameraden schon mitgetheilt und theilweise vorgelesen. Dann trug er weitere Scenen vor, zwischen welchen er wieder Manches kurz erzählend ergänzte, das noch nicht ausgeführt war. Die Freunde folgten der Darstellung mit solcher Begierde, daß kein Laut sie unterbrach, wo nicht etwa Kapf sich von einem kühnen Witz oder einem drastischen Auftritt einen kurzen Ausruf entlocken ließ. Im Fortschritt zum vierten Act nahm Schiller’s Feuer im Lesen und die Spannung der Hörer zu. Es kam zu der nächtlichen Scene, wo Räuber Moor den Alten aus dem Gefängniß des Thurms hervorzieht und in dem schauerlichen Greis den todtgeglaubten Vater erkennt. Als Schiller die Anrede an ihn, die sich aus der furchtbar aufgewühlten Brust des Sohnes hervorkämpft, mit leidenschaftlicher Gewalt über seine glühenden Lippen dröhnen ließ, da zuckte unglaubliche Erschütterung durch die hingerissenen Freunde, und nach einem Augenblick des Entsetzens brachen unaufhaltsam die Ergüsse ihrer Bewunderung los.

„Kerl,“ rief Kapf, „Du hast in Deinem Papier Orkane, die einen umwerfen.“

„Aber,“ fuhr Hoven darein, „wie im Sturm der Blitz mit eins die ganze Landschaft in Gründen und Kanten erhellt, so flackt in diesen erschreckenden Handlungen eine hohe Schärfe der Wahrheit auf.“

„Ja,“ stammelte Dannecker, „groß, unwiderstehlich groß!“

Schiller stand anscheinend ruhig da, aber das Hämmern in seiner Brust verrieth die kochende Aufregung, in die sein eigenes Werk ihn hineingerissen. Gewiß labte sich sein Herz am Anblick der erschütterten Freunde, und wer weiß, ob je wieder ein Dichterlohn ihn so hoch erhoben, als der in diesem Waldwinkel. Dennoch war er der Erste, der vom herrlichen Augenblick der göttlichen Freude zum raschen Abschied rief. „Aber nun, Freunde, leise zurück,“ sagte er, „damit nicht auch Andere, als der Hauptmann, uns vermissen.“

„Da hab’ ich wahrhaftig,“ rief Schlotterbeck, „ganz vergessen, wo ich bin, und ich werde wie im Traum zurückkommen. Aber Du, Victor, hast Dein Taschenbuch auf dem Kniee gehabt. Hast Dir wohl Notizen gemacht für die Scene und skizzirst schon eine Dekoration?“

„Doch nicht,“ antwortete Heideloff, indem er sich vom Wurzelboden erhob; „denn so viel hab’ ich gemerkt: Das läßt sich mit keiner Decoratwn von Guibal, Scotti und Colomba in’s kleine Komödienhaus des Herzogs hineinbringen, es würde Wände und Decken, Bühne und Baldachinloge auseinandersprengen wie eine Bombe. Um so weniger kann ich diese Vorstellung im Walde, unsern engen schmelzend heißen Ring in dieser großen freien Scene vergessen, und darum hab’ ich mir geschwind mit zitternder Hand diesen Platz und Schiller in unserer Mitte stehend hier skizzirt.“

Alle, auch Schiller mit blinzenden Augen, steckten die erhitzten Köpfe über dem Blatt zusammen, über demselben Blatte, das jetzt vor den Augen unserer Leser liegt. Es ist eine theure Reliquie des Mannes, der damals als Jüngling für die Verbindung der Poesie und der Malerei schwärmte. Es ward mit rührender Pietät als ein Heiligthum bewahrt vom glücklichen Sohne eines solchen Vaters; es wird nicht entweiht dadurch, daß es endlich durch die Gartenlaube ein Eigenthum und ein Erinnerungsblatt an die stille kleine Wiege unserer großen Literatur für die ganze deutsche Nation wird.



[632]
Uebertünchte Ruinen.
Aus der neuesten Aera lm Lande Homer’s.

Die Besichtigung der zahlreichen Ruinen der griechischen Hauptstadt war beendet, – die üblichen Ausflüge in Athen’s Umgegend sollten unsern dortigen Aufenthalt beschließen. Wir gingen daher zu Herrn Theophilus, einem neben unserm Hôtel wohnenden Fuhrherrn, und sagten ihm, wir wünschten zu morgen früh um neun Uhr einen zweispännigen Wagen nach Eleusis.

„Wie steht es denn mit der Bedeckung?“ fragte der Fuhrherr, der durch langjährigen Umgang mit den in Athen lebenden Deutschen unsere Sprache ziemlich geläufig sprach.

„Sie können einen halben Wagen schicken,“ gaben wir zur Antwort, „dessen Verdeck sich aufschlagen läßt, wenn es zu warm wird.“

„Ganz wohl,“ bemerkte der Fuhrherr lächelnd; „von einem Verdeck ist aber nicht die Rede. Ich meine die Militär-Bedeckung.“

Wir sahen ihn verwundert an.

„Sie scheinen nicht zu wissen,“ fuhr Herr Theophilus fort, „daß man seit dem Thronwechsel nicht die Nase aus den Thoren von Athen stecken kann, ohne von Räubern angefallen zu werden, und daß zu einer Fahrt nach Eleusis, sowie nach jedem andern Orte, nicht einmal den Piräus ausgenommen, eine militärische Escorte erforderlich ist, deren Bezahlung dem Reisenden den Beutel nicht weniger leicht macht, als ein räuberischer Anfall.“

Jetzt lachten wir. Der Aermste hatte wahrscheinlich unter der Regierung des Königs Otto die Kundschaft der Hof-Cavaliere besessen und durch den Thronwechsel Einbuße erlitten.

„Wir sehen wohl,“ bemerkten wir daher spöttisch, „für morgen sind bei Ihnen keine Pferde mehr disponibel.“

„Sie glauben mir nicht?“ rief er mit zornblitzenden Augen.

„Sehen Sie sich um! Und wenn Sie morgen ohne Bedeckung nach Eleusis fahren, so werden Sie den Cameraden jener fünf Galgenvögel dort einen großen Gefallen thun.“

Unsere Blicke folgten seiner Hand, die auf die Straße deuteten. Was sahen wir? Fünf wüste Männergestalten, umringt von reitenden Gensdarmen, die theils den blanken Säbel, theils den Karabiner mit gespanntem Hahn in der Hand trugen und ihren Fang einem sichern Gewahrsam zuführten. An Neugierigen, die bei dergleichen Anlässen schreiend nebenher laufen, fehlte es hier gänzlich; das Publicum schien in Bezug auf Räubertransporte bereits blasirt zu sein. Einige von den Räubern waren ohne Kopfbedeckung, die sie wohl bei der Verfolgung verloren hatten. Alle gingen barfuß, trugen die bei den griechischen Landleuten übliche „Flockusta“, einen kurzen zottigen Mantel aus grober Schafwolle, dessen glatte Seite im Sommer, und dessen zottige im Winter nach innen gekehrt wird; Alle blickten scheu und trotzig umher wie Eulen, die bei Tage aus ihrem Schlupfwinkel vertrieben und von Sperlingen umschrieen sind.

„Ja, ja!“ triumphirte der Fuhrherr, als er unsere betretenen Mienen sah. „Das ist in dieser Woche der dritte Fang, den die Gensdarmen in der Umgegend gemacht haben, und dennoch ist vorgestern Abend auf dem Wege von hier nach dem Piräus die Post angefallen und des Geldes, das sie mit sich führte, beraubt worden. Die Passagiere aber, drei Matrosen, die keinen Heller in der Tasche hatten, sind mit einer Tracht Prügel davongekommen, deren Verdoppelung die Räuber in Aussicht gestellt, wenn die Seeleute sich abermals auf der Landstraße ohne Geld betreten ließen. Damit Sie aber sehen,“ schloß der Fuhrherr, „daß über meine Pferde noch nicht disponirt ist, soll der Wagen morgen früh um neun Uhr vor Ihrer Thür sein.“

„Wir danken für Ihre Güte,“ riefen wir eifrig, „unter den obwaltenden Umständen leisten wir auf Eleusis Verzicht.“

„Das glaub’ ich, ohne daß Sie darauf schwören,“ höhnte Theophilus. „Von Eleusis rede ich nicht mehr. Der Wagen soll Sie nach dem Champ de Mars, dem Exercirplatz, eine Viertelstunde von der Stadt, führen, wo Sie morgen ganz Athen versammelt finden.“

„Was giebt es dort zu schauen?“

„Allerlei! Den jungen König, unsere ganze Armee, alle Schönen der Stadt in ausgesuchter Toilette.“

„Und die Veranlassung?“

„Sie wissen, daß England uns die ionischen Inseln abgetreten hat. Um nun diese neue Eroberung besetzen zu können, – denn was man besitzen will, muß man bekanntlich besetzen, – ist ein neues Regiment Gensdarmen errichtet worden, denen der König morgen vor ihrem Aufbruche nach den Inseln die Fahne übergiebt. Bei dieser Gelegenheit ist für die übrigen Truppen große Parade und Vorbeimarsch.“

Wir gingen auf den Vorschlag des Fuhrherrn mit Vergnügen ein; denn wo die Bewohner des Landes zusammenströmen – sei die Veranlassung, welche sie wolle – darf der Fremde nicht fehlen. Am nächsten Morgen war es sehr lebendig auf dem Schloßplatze, an welchem wir wohnten. Truppen mit klingendem Spiele kreuzten ihn, Equipagen mit Damen in glänzender Toilette rollten darüber hin, zahlreiche Bewohner der Stadt und Umgegend bildeten Gruppen auf demselben, die in jedem Augenblick wechselten. Wir warteten auf unsern Wagen, – er kam nicht. Voller Ungeduld und um auch nicht die geringste Minute zu verlieren, gingen wir hinunter vor die Thür unseres Hôtels und vertrieben uns die Zeit damit, die graziösen Pfefferbäume vor demselben zu betrachten und den feinen, hellgrünen Blättern durch Zerreiben den auffallend starken Gewürzgeruch zu entlocken. Da der Wagen nicht erschien, klagten wir unsere Noth unserm Wirthe, der seine Mußestunden, d. h. seine ganze Zeit mit Ausnahme der Schlaf- und Eßstunden, im Schatten der erwähnten Pfefferbäume zuzubringen pflegt.

„Theophilus ist ein Mann von Wort,“ entgegnete er. „Aber man kann nicht wissen, was man ihm heut für Ihren Wagen geboten hat. Sie mögen getrost den meinigen nehmen. Anastasius!“ rief er dann, und als Anastasius, der Kellner, erschien, befahl er: „Anspannen für den Effendi!“

Der Wirth hatte die Kunst, Fremden die Heimath zu ersetzen, in Constantinopel studirt und nannte, um dies zu zeigen, einen Jeden Effendi. Bald erschien der auffallend anständige, einer Privat-Equipage ähnliche Wagen unseres Hôtels, und wir fuhren zur Stadt hinaus.

Wohl in keinem Orte der Welt kommt man so schnell zur Stadt hinaus, als in Athen; denn von dieser Capitale ist bis jetzt so wenig vorhanden, daß man sich fast an jedem Punkt innerhalb zugleich außerhalb derselben befindet. Mit Ausnahme der Aeolus-Straße, die zum „Thurm der Winde“ und zur Akropolis führt, und der Hermes-Straße, welche die vorige senkrecht durchschneidet, findet man fast noch nichts, was man in älteren Städten eine Straße zu nennen pflegt. Athen existirt für jetzt nur in seinem Grundrisse, die Straßen sind ausgesteckt und getauft, aber die Häuser fehlen noch. Dagegen wird an vielen Stellen rüstig gebaut, und das bereits Vollendete wird sauber gehalten. Fertig sind bis jetzt an öffentlichen Gebäuden hauptsächlich das kasernenartige Schloß, welches das neue Athen ebenso beherrscht, wie das alte von der Akropolis dominirt wurde; die Kathedrale, äußerlich sehr frappant im byzantinischen Styl, innen bunt, prächtig und phantastisch; endlich mehrere palastartige Gasthöfe, in denen die schöne Kunst blüht, Rechnungen zu schreiben, und zwar solche, die sich bisher ein Versehen zu Gunsten des Fremden nicht haben zu Schulden kommen lassen.

Wenn sich der Reisende nicht schon durch die herrlichen, an den Meißel des Phidias erinnernden Menschengestalten, die krystallreine Luft und die Schönheit der scharf in sie hineingezeichneten Umrisse der die Stadt umgebenden Höhen des Hymettus und des Lykabettus belohnt genug fühlt, so wäre es wohl der dem Publicum geöffnete Schloßgarten, eine Schöpfung der Königin Amalie, was ihn für so manche Täuschung in und über Athen entschädigen könnte. Die unvergleichlichen und hochphantastischen Gartenanlagen vor dem neuen Orangeriehause in Potsdam; die aus der Mode gekommenen Spielereien zu Wörlitz, Schwetzingen und Hellbrunn bei Salzburg; die unter der Scheere gehaltenen Heckenwände von Versailles und Schönbrunn, die Hesperiden- und Blumengärten der Villa Butera und ihrer Nachbarin, der Villa Serra di Falco in der goldenen Muschel bei Palermo, – diese alle sind uns bekannt und wir wissen ihre Reize zu würdigen; aber über den Garten hinter dem Schlosse von Athen geht doch nichts!

Mag das wüste, dürre Ansehen, welches die griechischen Inseln, [633] mit Ausnahme von Chios, die griechischen Küsten, der Weg vom Piräus nach Athen und die Umgebungen dieser Stadt selbst haben, freilich viel dazu beitragen, den Reiz des Schloßgartens zu erhöhen, dennoch bleibt er an und für sich eine Schöpfung, die dem Geiste und dem Geschmack der vorigen Königin die höchste Ehre macht. Der Garten ist wie die Offenbarung eines reichen, schönen Frauengemüths, welches sich einzig und allein dem geliebten Freunde erschließt. Je mehr man in ihm herumwandelt, desto mehr Reize entdeckt man, desto mehr fühlt man sich beglückt. Der Fremde hat in einem Lande, dessen Sprache er nicht versteht, das Gefühl der Isolirtheit; fangen aber die Nachtigallen im Schloßgarten an zu schlagen, dann glaubt er sich in seine Heimath versetzt, denn sie reden eine ihm und aller Welt verständliche Sprache. Was ihn aber stets in den Süden zurückführt, das sind die vielen großen Palmen, welche die Königin, so kühn im Versetzen großer Bäume wie der geistreiche Fürst Pückler, von den griechischen Inseln hierher verpflanzen ließ und die alle gut fortgekommen sind. Die Rosenpracht des Gartens erreicht zwar nicht die der Terrasse vor dem erwähnten Orangeriehause bei Potsdam, dafür glüht aber diese „Blume der Liebe“ unter dem griechischen Himmel weit tiefer und leidenschaftlicher, als im Norden.

Aus einer langen Veranda blickt man über das Thal des beinahe wasserlosen Ilissus auf die Säulenreste des von Hadrian erbauten Jupitertempels. Eine der Säulen ist vor einiger Zeit vom Sturmwind umgeworfen und gleichsam in einzelne runde Scheiben zerlegt worden; da sieht man nun die riesigen Verhältnisse des Capitäls und die Stärke der Eisenzapfen, welche die cannelirten Säulenstücke zusammenhielten. Zwei oben miteinander verbundene Säulen dieses Tempels wurden uns als der fünfzehnjährige Aufenthaltsort eines „Säulen-Heiligen“ bezeichnet. Nichts indeß geht über die Anmuth des ziemlich in der Nähe des Schlosses befindlichen Laubsaales, dessen Dach auf Wänden von blühenden Rankgewächsen schwebt und dessen Fußboden mit einem Teppich in matten, stillen Farben bedeckt zu sein scheint. Es ist dieser vermeintliche Teppich indeß ein in der Umgegend aufgefundener antiker Mosaik-Fußboden mit einem so geschmackvollen Muster, daß unsere Teppichfabriken ihn gern als Modell nehmen würden.

Athen leidet Mangel an Wasser. Die Königin aber nahm für die Bewässerung ihres Gartens einen großen Theil des vorhandenen unentbehrlichen Elements in Anspruch. Dies soll ein Grund mit zu der Unzufriedenheit gewesen sein, die zu dem Thronwechsel geführt hat. Die Anhänger der früheren Zustände, deren Zahl, wie behauptet wird, Legion ist, haben der Königin zu ihrem letzten Geburtstage einen Blumenstrauß aus dem geliebten Garten gesendet, – ein sinnreiches, feingefühltes Geschenk, das aber wohl mehr Kummer als Freude bereitet haben dürfte. Das Schloß, in dessen großen Sälen es seit dem Thronwechsel ziemlich still geworden ist, beginnt den Ausdruck von Verlassenheit anzunehmen. In seinem Innern ist es öde und leer, denn die Kunst- und Werthsachen, die es schmückten, sind dem Könige Otto, dessen Eigenthum sie waren, verabfolgt worden, und man sieht nur kahle Wände. Aber „unfühlend ist die Natur“; um das Schloß herum grünt und blüht es, als wäre nichts im Lande vorgefallen. Da jedoch von den 60,000 Drachmen, welche die Königin jährlich auf den Garten verwendete, von der neuen Regierung 40,000 gestrichen sind, so dürfte auch mit dem Grünen und Blühen bald eine Veränderung vor sich gehen.

Warum man nach der Befreiung Griechenlands vom türkischen Joche die Hauptstadt nicht zum Hafen Piräus hinab verlegt hat, ist schwer zu begreifen; das fabelhaft schnelle Aufblühen von Syra hätte als Fingerzeig dienen können. Freilich ist eine Eisenbahn von Athen nach dem Piräus in Aussicht genommen, aber die Ausführung des Projects kann auf sich warten lassen.

Inzwischen ist unser Wagen beim Champ de Mars angelangt. Wir biegen rechts von der sogenannten Promenade ab, die – ohne Bäume, folglich ohne Schatten – eine Zukunfts-Promenade ist, und verlängern die bereits vorhandene Reihe der Wagen um den unsrigen. Vorläufig sehen wir vor lauter Staub so gut wie nichts. Dann wird eine dichte Wand von Zuschauern sichtbar, die drei Seiten eines offenen Carre’s umgeben, dessen vierte Seite von Truppen in zwei Treffen gebildet wird. Lanzenreiter verhindern die Zuschauer, in das Carré einzudringen oder es zu verengen. In der Mitte des auf diese Weise freigehaltenen Raumes erhebt sich ein bescheidener kleiner Pavillon von Holz, zu dem drei Stufen hinaufführen. Er ist nach allen Seiten offen und besteht aus vier schlichten Säulen, die ein Dach tragen. Dieser Pavillon ist mit den höchsten Würdenträgern der griechischen Kirche angefüllt. Ihre ehrwürdigen Gesichter mit den langen, oft silbergrauen Bärten und ihre Gewänder – die Dalmatiken von weißer oder violetter Seide mit reicher Goldstickerei – erinnern an die Apostel, die man in alten byzantinischen Kirchen auf Goldgrund dargestellt findet. Wenn die Priester auseinander treten, zeigt sich ein mit drap d’argent überdeckter Altar, auf welchem kostbare silberne und vergoldete Kirchengefäße blitzen. Einer der Geistlichen hält die neue Fahne in der Hand; man sieht der Ankunft des Königs entgegen.

Während wir uns die Augen eines Argus wünschen, um Alles zu betrachten, was uns umgiebt: die beispiellos schönen Frauen in den Wagen neben uns, die schlanken Männergestalten in der rothen, hellblauen und gelben gestickten Nationaltracht zur weißen, faltenreichen Fustanella und ihre Begleiterinnen mit dem Feß auf den schwarzen Locken vor uns, tritt ein junger griechischer Officier zu uns heran, den wir von Berlin her kennen, woselbst er seine Studien auf der Artillerie- und Ingenieur-Schule gemacht und etwas Deutsch gelernt hat.

„Schlechte Plätze Sie haben,“ rief er, „laßt sorgen mich für bessere.“

Damit verläßt er uns, um bald darauf, begleitet von dem die Lanzenreiter befehligenden Officier, der einen herrlichen arabischen Grauschimmel reitet, zu uns zurückzukehren.

„Aussteigen Sie, bitte!“ sagt unser Freund. „Wir gehen in Pavillon, ist abgemacht Alles!“

Dabei deutet er auf den Schimmelreiter, welcher, des Deutschen nicht mächtig, zur Bestätigung dessen, was uns verkündet worden, freundlich grüßt, mit der Hand auf den Pavillon deutet und sein Pferd, dessen Fell im Sonnenschein wie Atlas glänzt, anmuthig stallmeistert. Wir sträubten uns mit Hand und Fuß gegen dies freundliche Anerbieten, denn wir befanden uns sämmtlich, Damen sowohl wie Herren, in den einfachsten Reiseanzügen. Aber es half kein Widerstreben.

„Hat zu sagen nichts,“ rief unser Freund, indem er den Wagenschlag öffnete; „aussteigen Sie schnell, ich durchführe Sie.“

Kaum hatten wir den kleinen Pavillon erreicht, wo die Priester unsern Gruß dadurch erwiderten, daß sie die Hand auf’s Herz legten, als eine Staubwolke von der Stadt her die Ankunft des Königs und seines Gefolges verkündete. Er kam in Generals-Uniform, geschmückt mit dem himmelblauen, gewässerten Cordon seines Hausordens, auf einem hellbraunen Vollblutspferde von großer Schönheit herangesprengt. In seiner zahlreichen Suite befanden sich der Kriegsminister in Uniform, der bekannte vierundachtzigjährige General Hadgi Petros im goldgestickten National-Costüm, die Adjutanten des Königs, berittene Diener, Ordonnanzen etc. Vor dem Pavillon anlangend, sprang der junge König rüstig vom Pferde, dieses den Dienern überlassend; die Suite folgte mit Blitzesschnelle seinem Beispiel, wobei der betagte Hadgi Petros seinen jüngeren Cameraden an Behendigkeit nichts nachgab. Die Truppen präsentirten unter Hurrahruf, und die Musik ertönte.

Der König erstieg die Stufen des Pavillons, erwiderte von hier aus den Waffengruß, indem er die Hand an den Hut legte. Sodann wendete er sich nach dem Innern des Pavillons, entblößte sein Haupt und verneigte sich ehrerbietig vor den Geistlichen. Unmittelbar darauf begann die Ceremonie der Fahnenweihe. Sie war für einen mit den Gebräuchen der griechischen Kirche Unbekannten fremdartig und sonderbar genug. Ein Priester goß aus einer kostbar gearbeiteten silbernen Kanne Wasser in ein silbernes Becken, in welchem ein großer Strauß der schönsten Blumen lag. Auf dem Altar standen keine Kerzen; dagegen trug ein junger, schöner Priester in violettem Seidengewande einen wunderlich geformten silbernen Leuchter in der Hand. Dieser bestand aus drei nach unten hin durch drei Arme verbundenen Leuchterknechten, die sich so zu einander neigten, daß die darin steckenden langen Wachskerzen sich in einem Punkte über ihnen kreuzten. In dem Kreuzungspunkte waren sie von einem hellfarbigen Seidenbande umschlungen. Diese drei Kerzen wurden angezündet. Endlich stellte sich vor den Priester, welcher die bunte Dalmatika trug, ein schwarzer, untergeordneter Geistlicher, schlug ein mit Gold und Edelsteinen geschmücktes Kirchenbuch auf und hielt es Jenem vor. Sodann trat der alte Erzbischof an den Altar, der König und alle Anwesenden entblößten ihr Haupt, und die rothseidene Fahne, die bisher zusammengerollt [634] geblieben, wurde entfaltet. Inzwischen hatte sich auch der Oberst des neuen Regiments im Pavillon eingefunden, gefolgt von einem Fahnenjunker und einigen Unterofficieren, die außen an den Stufen harrten, um die Fahne später in Empfang zu nehmen.

Was hätte ein Maler für den Anblick gegeben, der sich in diesem Augenblick uns darbot! Das schönste Bild war gestellt, da brauchte weder etwas hinzugethan, noch etwas hinweggenommen zu werden. Die Ceremonie im Pavillon, die byzantinischen Costüme der Geistlichen, die Uniformen der Officiere, die Kirchengefäße, die Waffen, sie wären des Pinsels eines Paul Veronese würdig gewesen. Die zahlreichen Diener, ungeduldige Rosse an goldenen Zügeln haltend, und das bunte Zuschauer-Publicum, welch’ ein Vordergrund! Das Militär, die Akropolis und die Höhenzüge des Hymettus – was für ein Hintergrund!

Bei der krystallreinen Luft Griechenlands hat man auch die entferntesten Gegenstände immer fast dicht vor den Augen; und so schien es denn, als hätten die Akropolis, der Lykabettus, der Hymettus und der Pentelikon sich persönlich zur Fahnenweihe eingefunden. Der Erzbischof fing nun an zu psalmodiren, die Priester antworteten durch ein Gemurmel. Mitunter erhob seine Stimme sich zum schwachen Gesange, dann tönte auch die Antwort der Priester im vollen harmonischen Chor. Dabei neigten, beugten und bekreuzigten sie sich mit großer Würde. Endlich breitete der Erzbischof beide Hände über das Wasser und sprach unter lautloser Stille seiner Umgebung ein Gebet dazu. Nachdem er so das Wasser geweiht, nahm er aus demselben den Blumenstrauß, küßte ihn feierlich dreimal und bespritzte damit zuerst die Fahne, dann die Geistlichkeit und zuletzt die übrigen im Pavillon Anwesenden. Sodann tauchte er den Strauß abermals ein, und nachdem er ihn wiederholt bekreuzt und an die Lippen geführt, nahte er sich unter dem vollen Gesänge der Priester dem jungen Könige und benetzte ihm damit die Stirn. Hiermit war der geistliche Act der Fahnenweihe beendet.

Der König, welcher weder der griechischen Kirche angehört, noch der griechischen Sprache mächtig ist, zog sein Taschentuch hervor, trocknete sich damit Stirn und Gesicht und bedeckte sich. Hierauf überreichte ihm einer der Adjutanten ein beschriebenes Blatt, von welchem er – zum Obersten gewendet – mit lauter, volltönender Stimme eine kurze griechische Rede ablas. Am Schluß derselben nahm er die Fahne aus der Hand des Priesters und übergab sie dem Befehlshaber des neuen Regiments. Dieser hob sie hoch empor, daß sie – Allen sichtbar – im Winde flatterte, und beantwortete die Rede des Königs durch Angelobung von Treue und Gehorsam, indem er scharf betonte, die Griechen würden solche stets einer constitutionellen Regierung halten. Dazu präsentirten die Truppen, die Musik spielte und die Kanonen donnerten. Endlich übergab der Oberst das neue Panier dem Fahnenjunker, der damit in Begleitung der vier Unterofficiere zur Front des Regiments zurückkehrte. Als Musik und Kanonendonner schwiegen und die Truppen das Gewehr geschultert hatten, entstand innerhalb und außerhalb des Pavillons eine lebhafte Bewegung. Der König warf sich mit seinem Gefolge zu Pferde und sprengte davon, um das neue Regiment und die übrigen Truppen zu mustern. Dabei gaben die Fustanellen, welche sich bei jedem Galoppsprunge hoben und senkten, den Pferden das Ansehen von Flügelrossen. Die Priester legten ihre glänzenden Dalmatiken ab und vertauschten sie gegen die gewöhnliche schwarze Kleidung; die Kerzen wurden ausgelöscht, die Altartücher zusammengelegt und die kostbaren Gefäße eingepackt. Bald waren wir mit unserm griechischen Freunde die Einzigen im Pavillon.

Nachdem die Truppen vor dem Könige mehrere Evolutionen ausgeführt hatten, nahm dieser vor dem Pavillon Platz und ließ sie vorbeimarschiren. Was uns dabei am meisten interessirte, war die mit Maulthieren bespannte Gebirgs-Artillerie. Sie kann ihre kleinen Geschütze auseinandernehmen, die einzelnen Stücke auf die mit Packsätteln versehenen Maulthiere laden, also überall hingelangen und im schwierigsten Terrain agiren. Haltung, Armirung und Bekleidung der Truppen konnte man nur loben.

Ein junger Mann in reicher Nationaltracht ging an unserm Pavillon vorüber, ohne daß ihn die Lanzenreiter zurückhielten.

„Wer ist der junge Mann?“ fragten wir unsern Freund.

„Ist Diener des Obersten vom neuen Regiment; – war Räuber.“

Diese letztere, für uns höchst bedenkliche Mittheilung machte der griechische Officier mit einer so gleichgültigen Miene, als wenn er erzählt hätte, der junge Mann sei früher Schneider oder Schuster gewesen.

Der König galoppirte nach der Stadt zurück, die bunte Menge, welche sich äußerst ruhig und anständig verhalten hatte, verlief sich, wir aber suchten und fanden unseren Wagen, in welchem wir unserm Freunde einen Platz anboten. Er nahm ihn an. Wir machten gegen ihn unserm Herzen Luft in Bezug auf die Unsicherheit der Umgegend.

„Ist alles richtig,“ sagte er, „sollen aber Eleusis dennoch sehen und zwar noch heut. König giebt Nachmittags neuem Regiment großen Schmaus in Daphne, auf halbem Weg nach Eleusis; dann schwärmt ganze Gegend von Soldaten und ist überall sicher. Kommen dann auch an allerletzten Ausgrabungen dicht vor Stadt links vom Wege nach Eleusis vorüber. Da aber Nachmittag nicht viel Zeit ist, sie zu betrachten, ist ‚guter‘, gleich zu fahren hin.“

Wir erklärten uns mit dem Vorschlage einverstanden; der Freund ertheilte daher dem Kutscher den nöthigen Befehl, und wir rollten davon. Unterwegs hielt unser Begleiter es für seine Pflicht, uns auf eine Brauerei aufmerksam zu machen, woselbst ein Baier vortreffliches baierisches Bier fabricirt. Wir stiegen aus und erquickten uns dergestalt an dem deutschen Getränk, sowie an Käse und grobem Brod, als hätte man uns Nektar und Ambrosia vorgesetzt.

Die griechischen Weine sind nämlich Geschwisterkind mit Vitriol und Scheidewasser, der griechische Kaffee fängt bereits an in die türkische Kaffeesuppe überzugehen, und die griechische Küche ist der Art für einen deutschen Gaumen, daß man glaubt, die Speisen werden im Irrenhause bereitet. Die Gewürze sind geradezu ätzend, alles Fleisch ist zähe wie Schuhsohle, jeder Fisch trocken zum Ersticken, das Gebäck säuerlich, von einer schmackhaften Sauce niemals die Rede, und verlangt man Butter, so erhält man ein widriges Product aus Ziegenmilch. Wie froh waren wir daher, als uns mit deutscher Freundlichkeit und deutschem Zuspruch das vaterländische Getränk vorgesetzt wurde, die einzige Flüssigkeit, welche uns in Griechenland gemundet hat.

„O schöner Brunnen, der uns fließt!“ jubelten wir.

Wie bedauerlich, daß wir diesen Brunnen erst kurz vor unserer Abreise entdeckten! In der vortrefflichsten Laune und sehr disponirt „zur Beschauung der Antike“ setzten wir unsern Weg fort zu den Ausgrabungen der letzten Tage. Wir fanden dicht bei der Stadt links vom Wege nach Eleusis einen langen Graben. Die ausgehobene Erde war nach einer Seite geworfen, und auf der Sohle des Grabens standen zahlreiche Grabsteine, so neu und so wohl erhalten, als wären die Monumente erst gestern gesetzt worden.

Man hatte einen Haupt-Begräbnißplatz des alten Athen entdeckt, und gedenkt fleißig mit den Ausgrabungen fortzufahren. Eine reiche Beute aber verspricht man sich von dem Inhalte der Gräber. In der That findet man in und um Athen fast bei jedem Spatenstich einen Schatz. Den besten aber dürfte seiner Zeit wohl Herodes – freilich vor langen, langen Jahren – hier gefunden haben. Bei dem römischen Kaiserhofe, der die frühere Herrscherfamilie des unterjochten Palästina mit Eifersucht betrachtete und im Stillen beobachten ließ, in Ungnade gefallen, sah sich Herodes – wie die Sage erzählt – endlich genöthigt, bei Nacht und Nebel zu entfliehen, um gedungenen Meuchelmördern zu entrinnen. Arm und unbekannt, dem Aeußern nach ein zerlumpter Bettler, kam er nach Athen. Geld, um ein Nachtlager zu bezahlen, besaß er nicht; er setzte sich daher am Fuße der Akropolis hinter einem Felsenvorsprung nieder und beschloß, hier die Nacht zuzubringen. Den Unglücklichen flieht der Schlaf, auch wenn sein Körper todmüde ist. Bei dem Ueberdenken seiner verzweifelten Lage stieß Herodes vor Unmuth mit seinem Wanderstabe auf die Erde. Was war das? Ein sonderbarer Klang tönte ihm entgegen. Er scharrte die Erde bei Seite und kam bald auf den Deckel eines großen ehernen Gefäßes. Wohl Hunderte von Jahren mußte es hier gestanden haben, denn es war vom Roste so zernagt, daß Herodes geringe Mühe hatte, es zu erbrechen. Aber wer malt sein Erstaunen, seine Bestürzung, als Gold und Edelsteine ihm entgegenleuchteten.

„Sollten diese Reichthümer zu dem Tempelschätzen des Parthenons gehören, welche die Athener zur Zeit der Perserkriege an vielen Orten vergruben?“ so fragt er sich, während er fortfährt, das Gefäß mehr und mehr vom Schutt zu befreien. Aber je weiter er den Deckel öffnet, je mehr Gold und Geschmeide findet er.

[635] Am nächsten Morgen sendet er einen Boten nach Rom, an den Kaiser Nerva, mit einem Schreiben des Inhaltes: „Herr! Ich habe zu Athen einen Schatz gefunden. Befiehl in Gnaden, was Dein Knecht damit beginne.“

Der Kaiser antwortete kurz und kaiserlich: „Brauch’ ihn.“

Herodes, der inzwischen die Größe des Schatzes näher kennen gelernt und ihn unerschöpflich gefunden hatte, glaubte sich bei dieser Antwort noch nicht beruhigen zu dürfen. Er schrieb abermals an den Kaiser: „Herr! Der Schatz ist unermeßlich. Sende in Gnaden Deine Befehle.“

Der Kaiser antwortete: „Mißbrauch’ ihn.“

Da glaubte Herodes seiner Pflicht genügt zu haben. Er wurde der Wohlthäter seiner neuen Heimath. An der Stelle, wo er den Schatz gefunden hatte, an der Südwestseite der Akropolis, ließ er das jetzt wieder ausgegrabene sogenannte Theater des Herodes Atticus aufführen; für sich selbst aber erbaute er in Athen einen herrlichen Wohnsitz und zu Kephissia, zwei Meilen davon, einen Sommerpalast. Die Athener jedoch ertheilten ihrem Wohlthäter den Beinamen Atticus und errichteten ihm ein Denkmal, von dem noch Spuren vorhanden sind.

Als wir in die Stadt hineinfuhren, begegneten wir bereits Soldaten, die nach Daphne hinausmarschirten. Wir säumten daher nicht, ihnen bald nachzufolgen. Zuerst führte der staubige Weg durch unangebautes, ödes Land. Als wir auf jegliche Vegetation zu verzichten anfingen, zeigten sich einige alte, melancholische Oelbäume. Endlich wurden wir durch den Anblick des botanischen Gartens erquickt, einer schattigen Oase in der grauen Wüste. Bald hinter dieser hob sich der Weg zu einem Bergrücken empor, von dem aus wir ein verfallenes Gemäuer, von einem ziemlich ausgedehnten Walde umgeben, erblickten. Es war das alte Frauenkloster Daphne, errichtet auf den Trümmern eines Tempels des daphnischen Apollo. Von ihm her ertönte verworrene Musik, Gesang und Jubelgeschrei; es waren die Soldaten, welche im Walde rechts vom Wege an langen, improvisirten Tischen aßen und tranken.

Bald war das kleine Gasthaus neben dem Kloster erreicht. Wir ließen uns Rachat Lukum (zu deutsch: Mund voll Glück), eine aus feinem Mehl, Zucker und Fruchtsaft bereitete und in Würfelform gebrachte türkische Leckerei geben, die wir – wie alle türkische Leckereien – vor Uebersüßigkeit fast nicht genießen konnten. Substantieller nährten sich die Soldaten; aber wir beneideten sie weder um ihre griechische Kost, noch um ihren harzigen, nach dem Bocksschlauch schmeckenden Wein. Der junge König war nicht persönlich, sondern nur in einer Gypsbüste anwesend, die auf einem von Zweigen errichteten Postament an dem oberen Ende der Tafel prangte. Die Soldaten wurden nicht müde, auf seine Gesundheit zu trinken. Einer derselben, welcher die Aufrichtigkeit seiner Gefühle besonders an den Tag legen wollte, ergriff ein an der Erde liegendes Weinfaß, führte es mit herkulischer Kraft an den Mund und that unter dem rauschenden Beifall seiner Cameraden einen langen Zug aus dem Spuntloch. Ein anderer Soldat, um ihn zu überbieten, sprang auf, hob die Büste des Königs von ihrem Postament und bedeckte sie mit Küssen.

Unsere Weiterfahrt, die vor Anbruch der Dämmerung beendet sein mußte, führte in der That durch eine wie für Raubanfälle gemachte Gegend, nämlich durch einen Wald mit unzähligen bemoosten Felsblöcken, die Gelegenheit zum Hinterhalt boten, und so steil bergan, daß Schritt gefahren werden mußte. Aber im Bereich der Stimmen der jubelnden Soldaten, die jetzt sogar anfingen ihre Gewehre abzuschießen, fürchteten wir nichts. Auch zeigte unser Kutscher unter den obwaltenden Umständen eine große „Courage“ und sagte wiederholt: „sie möchten nur kommen, er fürchte sich vor dem Lumpengesindel nicht.“

Als wir die Höhe erstiegen hatten, erblickten wir das Meer, und zwar den blauen Golf von Aegina. Zur Rechten an seinem Gestade zeigte sich Eleusis, zur Linken die Insel Salamis; hinter dem Golf aber stiegen die Höhenzüge von Megara bis nach Korinth und dem Golf von Lepanto in einer Beleuchtung, Durchsichtigkeit und in einem Dufte empor, wie sie nur einem Maiabende in Griechenland eigen sind. Deutlich markirte sich der Hügel, auf welchem Xerxes vor der Schlacht bei Salamis seinen Thron errichten ließ, um von ihm aus mit anzusehen, wie Themistokles im saronischen Busen der Insel mit 380 griechischen Schiffen die aus 2000 Fahrzeugen bestehende persische Flotte in die Flucht schlug. Die Beute war unermeßlich. Zu dem Siege gesellte sich für die Griechen ein zweites Glück: es fand sich ein Perikles, der die Beute mit Hülfe eines Phidias zum Ruhme Athens verwendete.

Wir wollten uns mit der Aussicht – der großartigsten und schönsten, die uns in Griechenland zu Theil geworden – begnügen, der muthige Kutscher bestand aber darauf, uns bis zum Meeresstrande hinab und wo möglich bis nach Eleusis selbst zu fahren. Wir ließen ihn gewähren, kehrten aber bald um, ohne Eleusis erreicht zu haben, da die Dämmerung anbrach und die Feldarbeiter, welche das hier im Mai bereits reife Getreide den Tag über gemäht hatten, die Fluren verließen.

Ohne den geringsten Unfall, nur von den Wagen dann und wann behindert, welche die zu dem Militär-Schmause hinausgeschafften Utensilien nach der Stadt zurückbrachten, erreichten wir unser Hotel.




Eine Felsencolonie deutscher Winzer in Ungarn.

Die zehn Minuten der Ueberfahrt von Pesth nach Ofen sind im Strome verrauscht. Wir steigen an das Ufer der Stadt mit ihren krummen Berggäßchen, mit ihren Hütten und freundlichen Landhäusern. Ein jüdischer Wagenbesitzer bietet sich zu einer Fahrt an. Wir schließen den üblichen Handel ab, besteigen das Fragment von Kutsche und fahren dem Thore zu, das uns in’s Freie führen soll. Immer kleiner werden die Häuser und immer origineller die Schilder der zahllosen Wirthshäuser. Hier zum rothen Ochsen, dort zum grünen Esel. Eine Hebamme benutzt ein altes Muttergottesbild als Firma für ihre Function, und jene Kneipe, die mit einem bunten Ungeheuer bemalt ist, heißt „zum polnischen Freiwilligen“. Jetzt kommen wir an den letzten Häusern vorüber. Hier lehnt der bärtige Pandur in bunt beschnürter Uniform lässig am Schlagbaum, und drüben lungern die Finanzler vor ihrer Wachtstube umher. Endlich sind wir im Freien.

Vor unsern Blicken breitet sich die herrlichste Landschaft aus. Links die Donau, die sich gerade hier theilt, um die große Csepel-Insel zu bilden, die neun Dörfer und einen Marktflecken umfaßt. Rechts, unmittelbar neben uns aufsteigend, liegt das liebliche Ofner Gebirge mit seinen Weinbergen und Villen, und in der Mitte an den felsigen Ausläufern des Gebirges zeigt sich, noch eine ziemliche Strecke vor uns, das Dorf Promontor.

Hier ist das Ziel unseres heutigen Ausfluges, das wir auf der ziemlich geraden Chaussee, auf welcher städtische Fuhrwerke mit Kutschern in reicher Nationaltracht, Bauernwagen von den kleinen ungarischen Pferden gezogen, große Heerden weißer Ochsen und die hier unvermeidliche wandernde Zigeunerbande den Staffagenreichthum lebender Bilder boten, nach manchem schweren Augenblick unseres müden Magyarenrosses erreichten.

Schon beim Anblick der ersten Häuser des Dorfes leuchten uns aus den blitzenden Fenstern mit ihren Blumentöpfen deutsche Sitte und deutsche Gemüthlichkeit entgegen. Dafür befinden wir uns auch in einem deutschen oder, wie der Ungar sagt, in einem schwäbischen Dorfe, wie es deren so viele in Ungarn giebt, und wie es sich sogleich durch das Deutsch kennzeichnet, mit dem man zu uns spricht, freilich einen Dialekt, der verstanden sein will, aber doch Deutsch.

Vor einem freundlichen Gasthofe machten wir Halt, bedeuteten unsern Kutscher, hier zu warten und derzeit eine Halbe Wein zu trinken, und erkundigten uns nach dem Wege zu den Felsencolonien. Da erhob sich aus den Gruppen von Gästen ein runder behäbiger alter Mann und bot sich uns zur Begleitung an, was wir natürlich mit Dank annahmen.

Wir waren hinter dem herrschaftlichen Gute einen steilen Weg hinangestiegen, den wir uns durch Unterhaltung verkürzten. Plötzlich standen wir vor dem modernen Wunder, das wir schauen wollten. Mitten zwischen den Weinbergen empfängt uns ein Felsenthor, wir durchschreiten es, und vor uns öffnet sich der Eingang [636] in ein halb unterirdisches Winzerdorf: in unregelmäßigen Windungen und Ecken dringen eine Menge von Gäßchen und Schluchten in den Berg hinein, augenscheinlich ohne irgendwelchen Plan angelegt, im Schooße der Erde Felsenwohnungen und oben als Dach die schönsten Weingärten. Jeder Winzer hat hier nach seiner Bequemlichkeit sich seine Wohnung im Felsen ausgebrochen, unbekümmert um alle Symmetrie. Ehe wir das Innere betraten, standen wir einen Augenblick still, und ich konnte mich eines Gefühls sonderbarer Rührung nicht erwehren. Hier also wohnten die Leute, die mit ihrer Arbeit den glänzenden Tafeln reicher Leute den schönsten Schmuck verleihen! Hier in den Winkeln und Felsenecken stehen die einfachen Geräthe, die den herrlichsten Saft der Traube zu Tage fördern! Dort vor den Höhlen sitzen die armen Leutchen, die im Schweiße ihres Angesichts Jahr aus Jahr ein an den sonnigen Berghalden für kümmerlichen Lohn schaffen! Während ihre Erzeugnisse über die Feste der Mächtigsten ihr begeisterndes Licht ausstreuen, müssen die armen Winzer ihre Stätte aufschlagen unter der Erde, entsagen sie um wenige Gulden Ersparniß den sonnigen Freuden der Welt!

Der alte Bauer sah uns bedeutungsvoll an, er schien zu errathen, was wir im Augenblicke dachten. „Ja, ja, arme Leute sein’s freilich, aber sie wohnen doch gerne hier und alle Jahre werden neue Häuser gebaut.“ Er hatte Recht, man bricht noch immer neue Höhlen aus, weil sie doppelten Vortheil gewähren, denn nicht nur werden neue Wohnungen dadurch geschaffen, sondern man treibt mit den hier oben ausgebrochenen Steinen einen einträglichen Handel nach Pesth, wo sie das trefflichste Material zu den Prachtbauten der schönen Stadt liefern. „Aber nun kommen’s, meine Herrn,“ sagte ungeduldig der Alte, als wir noch immer am Eingänge standen. „Sie müssen noch Vieles sehen.“ Und so führte er uns denn hinein in die eigentlichen Gassen. Wie malerisch lagen die einzelnen Hütten dort! Hier steigen wir herunter, dort müssen wir wieder hinaufklettern, unten zwischen menschlichen Wohnungen, oben zwischen Weingärten. Dort zieht sich ein schlecht gehaltener Friedhof auf der Hochebene entlang, oben die Todten und unten die Lebenden; auch unser Führer zieht uns hinauf auf den Friedhof. Wir sind seine Freunde geworden, und nun will er uns auch seine lieben Todten zeigen. „Da liegt mein einziger Sohn,“ sagt er, indem er auf einen kleinen Hügel zeigt.

„Woran ist er denn gestorben?“

„Am Ungrischen,“ war die räthselhafte Antwort. „Ja, ja, am Ungrischen,“ wiederholte er, als wir ihn fragend anblickten. Wir sind hier deutsche Leute und Keiner kann ein Wort Ungrisch, aber jetzt wollen’s doch Alles wieder ungrisch machen, und da mußte ich mein Kind auch fortschicken in ein andres Dorf, wo eine ungrische Schule ist, und dabei hat sich der Bube in dem kalten Winter auf dem Wege eine Krankheit zugezogen, und nun liegt er da, und ich und mein Weib sind wieder ganz allein.“ Wir standen eine Weile still und fühlten das Leid des Mannes mit, und das schien ihm wohl zu thun.

Wieder steigen wir hinab, und ein neues Wunder überrascht uns: die Steine, die wir erst für Leichensteine ansahen, sind Schornsteine, der Rauch des Kaffeefeuers dringt ja daraus hervor, und tief unter den Todten sitzen die Lebenden vor ihren Wohnungen, halbnackte Kinder spielen auf den Steinen umher, während sich die Erwachsenen ernster beschäftigen. Unser Erscheinen macht einiges Aufsehen, und unser guter Alter hat eine Menge neugieriger Fragen zu beantworten, als z. B. daß wir Ausländer und noch weit hinter Böhmen zu Hause seien, daß wir durchaus nicht gekommen wären, um neue Vermessungen vorzunehmen und neue Steuern auszuschreiben, wir seien nur gekommen, um uns Alles einmal anzusehen. Dann wurden die Leutchen zutraulicher; freundlich wurden wir eingeladen näher zu treten, und bereitwillig führten sie uns in das Innere ihrer Wohnungen. Hier fanden wir Alles, oben, unten und an den Seiten, Stein und nichts als Stein, aber weiß getüncht, zuweilen sogar gemalt. Ueberhaupt machten die Zimmerchen, die im Ganzen sehr reinlich gehalten waren, lange nicht einen so trüben Anblick, als man von draußen vermuthen mußte. „Das hätten’s wohl nicht glaubt, daß es hier bei uns so ausschaut?“ sagte unser Alter, als er sich mit uns an den einfachen Tisch einer solchen Wohnung setzte. „Ja, ja, es giebt noch bessere hier, wir sein ja Deutsche.“

Damit wollte er sagen, daß die Deutschen in Ungarn sich immer vor allen Anderen durch häusliche und wirthschaftliche Ordnung auszeichnen. Wahrhaft rührend ist die Anhänglichkeit, mit welcher die Leutchen noch vom alten Vaterlande sprechen, wie sie bei ihren sonst so beschränkten Lebensansichten doch das Interesse an den Vorgängen in demselben nicht verlieren. Wie freudig lauschten sie, als wir ihnen von dem Kriege erzählten, den jüngst die Deutschen für ihre bedrängten Brüder im Norden gegen die Dänen führten! Die ganze Liebe zur Heimath, zu dem schönen Schwabenlande, wo ihre Vorfahren gewohnt, schien in ihnen wieder zu erwachen, und während wir so plauderten, zog ein Trupp von jungen Burschen und Mädeln vorüber und sang eines jener lieblichen oberösterreichischen Volkslieder, die aus der gemüthlich sprudelnden Heiterkeit des süddeutschen Volkslebens so keck emporgewachsen sind.

Unser Führer drängt abermals weiter, er will uns noch mehr zeigen. Wieder durchwandern wir die Schluchten, jeder Punkt eine Studie für den Maler. Es gehört wahrlich kein geringes Orientirungsvermögen dazu, sich beim Herabsteigen in den Gäßchen zurecht zu finden, die wie eine Guirlande den Fuß des Berges umschlingen. Hütten, Gehöfte, nette Steinhäuschen, zerfallene Brunnen, wüste Plätze und Baracken wechseln in bunter Reihenfolge mit einander ab. Nichts von der Behaglichkeit der deutschen Dörfer; das Meiste scheint Nothbau oder Verfall zu sein, da es jedoch Sonntag ist und die Leute in ihrem Sonntagsstaate erscheinen, so fällt ein Schimmer von idyllischer Heiterkeit auf das Ganze.

Wir kommen jetzt an einem Wirthshause vorüber; wie lieblich und einladend sieht das aus! Vor dem Eingänge sitzen unter weit hervorspringendem Dache die älteren Bauern und sehen vergnügt dem lustigen Treiben der Jugend zu, die nach den grellen Strichen der Zigeuner-Geigen munter umherspringt. Wir wollten hier einen Augenblick verweilen, aber unser Führer zieht uns vorüber, er hat noch etwas Wichtiges für uns bereit. Wir folgen ihm, und bald gähnt uns der gewaltige Bogen einer mächtigen Felsenhöhle entgegen, welche die Natur geschaffen hat. Ergriffen von dem interessanten Anblick starrten wir in die Finsterniß, in diesen Eingang zur Unterwelt hinein? Welche malerische Zusammenstellung von Baracken, Felsstücken, Arbeitsgeräthschaften aller Art, Wagen, Leitern etc. scheint sich dort in der Höhle zu verlieren; wie bunt ist die Staffage, welche die halbnackten Kinder und größeren Bewohner dieser Höhle bilden! Die wildeste Phantasie könnte es sich nicht kühner zusammenstellen. Aber treten wir ein, die Höhle ist ja nur erst der Eingang zu einem jener berühmten Promontorer Weinkeller, die so große Mengen des flüssigen Goldes verbergen. Dort hinten aus der Finsterniß schimmert uns ein Licht entgegen, und darauf lossteuernd kommen wir vor den Eingang des Kellers. Ein alter Mann nebst Frau und ein jüngeres Paar waren eben mit dem Proben eines alten Fasses beschäftigt. Einen Moment sahen uns die Leute ob der Seltenheit eines solchen Besuchs an, dann aber, als wir nach Kräften uns entschuldigten, wurden wir um so herzlicher aufgenommen, und namentlich die hübsche junge Frau verstand es, die so gerühmte ungarische Gastfreundschaft mit vieler Liebenswürdigkeit zu üben. Schnell wurden noch ein Paar Gläser hergebracht, und schon nach einigen Augenblicken sprachen und tranken wir, als wären wir alte Bekannte.

Der Keller, in dem wir uns befanden, war einer jener alten Riesenkeller von Promontor, die, wie man uns versichere, oft 40–50,000 österreichische Eimer Weins enthalten und Jahrhunderte schon die riesigen Fässer beherbergen. Viele Generationen der besitzenden Familie haben sie erlebt und immer noch bergen sie den flüssigen Schatz. Mit sichtbarem Stolze zeigte uns der junge Mann dieses und jenes Faß und machte uns genau mit dem Alter und der Herkunft des Weines bekannt, während er uns von den verschiedenen Sorten zu kosten gab. Ein Stündchen später, und wir waren wieder auf der Oberwelt, die eben von der untergehenden Sonne beleuchtet wurde.

Unser alter Bauer war sichtlich gerührt, als wir ihm mit der aufrichtigsten Herzensfreude für die Ueberraschungen dankten, die er uns bereitet hatte. Er erwiderte, stolz und verschämt zugleich: „Es habe ihm selbst Freude gemacht, fremden Herren einmal so Etwas zu zeigen, es komme ja so selten ein Fremder hierher.“

Wir stiegen nun vollends zum Ufer der Donau hinab, um auch den untern Theil des Dorfes zu sehen, das hier zwischen üppigen Obstgärten sich lang am Ufer hinzieht. Heerden kamen nach Haus und brüllten fröhlich ihren Ställen entgegen. Wagen

[637]

Das unterirdische deutsche Winzerdorf Promontor in Ungarn.

[638] mit Landleuten, die von Pesth kamen, fuhren im schnellen Trabe daher, daß die bunten Bänder und weiten Aermel der Nationaltracht gar lustig flatterten, kurz wir waren jetzt wieder in einer andern Welt und mitten in einem üppigen Dorfleben, das hier so unmittelbar an die Armuth der Winzer angrenzt.

„Leben Sie wohl!“ sagte, in der Nähe des Gasthauses wieder angelangt, unser lieber Führer, „und wenn’s mal wieder hinaus kommen nach Deutschland, dann erzählen’s etwas von uns hier. Das ist mein Haus, vergessen Sie nicht, daß ich hier wohne, wenn Sie Promontor einmal wieder sehen wollen.“

Wir versprachen es, bestiegen unser Ofener Geschirr und fuhren frohgemuth von dannen, um in der deutschen Heimath zur lieben Gartenlaube zu eilen und ihr für ihren Leserkreis, d. h. für unsere lieben Landsleute rings um den Erdkreis, die Nachricht zu bringen von unseren deutschen Winzern in den Felsen des ungarischen Weinparadieses.


Der Urmensch.

Von Karl Vogt in Genf.
I.
Schule und Geschichte. – Die redenden Steine. – Der Urzustand des Menschengeschlechts. – Eiszeit. – Höhlenbärperiode. – Die drei fossilen Menschenschädel. – Der Affenmensch. – Rennthierperiode.

Sollte die Geschichte davon schweigen,
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die man aus dem Schooß der Erde gräbt.

Der Reim ist zwar keiner der besten (obgleich, wenn ich nicht irre, von einem großen Dichter[WS 1]), die Sache aber darum nicht minder wahr.

Wenn ich noch an die älteste Geschichte denke, die wir als Gymnasiasten aufgetischt erhielten und bei den Prüfungen herplappern mußten, so graut mir zuweilen: Einerseits hatten wir einen bibelgläubigen Theologen als Religionslehrer, der uns auch kein Titelchen von den haarsträubenden Familiengeschichten des jüdischen Stammes nachließ, und andererseits einen im etymologischen Wurzelsuchen aufgegangenen Geschichtsprofessor, der uns unwiderleglich bewies, daß die Griechen ägyptisch und die Deutschen griechisch gesprochen hätten, daß Chinesen und Hindus und Altperser ein Volk seien und auch nur eine gemeinschaftliche Historie besäßen, die zwar leider verloren gegangen sei, aber wieder construirt werden könne. Sprach der Eine von Moses, so fabelte der Andere von Wischnu – berief sich Jener auf die Bibel, so baute Dieser Häuser auf die Vedas, und in Mitten saßen wir armen Kerle über den kleinen Bredow gebeugt und schwitzten hinter den drei Brezeln (333), wie wir die reducirte Jahreszahl Alexander’s des Großen, oder den drei Roßnägeln, wie wir die Zahl Solon’s (666) nannten. Daß wir noch einigen Verstand aus dem Zusammenstoß der beiden unser Gehirn ackernden und säenden Lehrmaschinen retteten, daran sind diese selbst wahrhaftig nicht schuld. Und wenn nun gar der Professor der classischen Philologie dazu kam (ich glaube gar, er hieß Geist, weil er keinen hatte) und uns mit eben so voller Ueberzeugung das goldene, silberne, eherne und eiserne Zeitalter demonstrirte, so geriethen die verschiedenen Paradiese und Stammörter des Urmenschengeschlechtes in eine solche Verwirrung in unseren Köpfen, daß wir vorzogen, auf Mord auswendig zu lernen, aber schließlich gar nichts von dem Gelernten zu glauben.

Ob wohl unsere Jungen jetzt, nach der Ausgrabung der Urmenschen und der von ihnen redenden Steine, noch immer auf den Schulbänken in ähnlicher Weise wie ihre Väter bearbeitet werden? Fast möchte ich es glauben – die meinen wenigstens bringen zuweilen seltsame Bruchstücke aus der Schule heim. Um so mehr aber dürfte es geboten sein, von Zeit zu Zeit die Funde zusammenzustellen, welche Mythen und Traditionen, religiöse Sagen und poetische Fiktionen wirklich mit Steinen todtschlagen und einer gesunderen, naturgemäßeren Auffassung der menschlichen Entwicklung von Urbeginn an die Thür öffnen.

Nichts giebt in der That eine großartigere Anschauung des Entwicklungsganges unseres Geschlechtes, als jene mühsamen Untersuchungen, welche aus Sandgruben und Höhlen, aus Torfmooren und Seegründen, aus Steinhaufen und Gräbern die Zeugnisse vom Urzustande des Menschen zu Tage fördern. Mit welch’ harter Mühseligkeit kämpfte ein armseliges Volk, das hinsichtlich seiner Geistesfähigkeiten, seiner Hülfsmittel weit unter den niedrigsten Wilden stehen mußte, welche uns überhaupt unter den mitlebenden Völkern bekannt wurden, den Kampf um das Dasein! Wie elend mußten die Zustände sein, wo man einen gespaltenen Kiesel für das non plus ultra einer Waffe, das Mark eines halbverkohlten und gespaltenen Knochen für den größten aller Leckerbissen hielt; wo man mit dem Bären um seine Beute ringen und mit dem Eichhörnchen um seine Nüsse klettern mußte; wo der Mensch und des Menschen Sohn in der That nicht hatte, wo sein Haupt hinlegen, und der Gorilla in seinem Urwalde und seiner Hütte aus Baumzweigen fast auf derselben Stufe stand, wie der Mensch, der noch obenein vielleicht in einem kälteren Klima ausdauern mußte!

Wenn wir aber nun sehen und an der Hand der Thatsachen nachweisen können, wie diese kaum über die Thierstufe erhabenen Geschöpfe sich allmählich aus der Wildheit hervorarbeiten, wie sie feste Wohnsitze sich gründen, den Nahrungsschatz, den wilde Pflanzen und wilde Thiere ihnen bieten können, durch Anbauung des Bodens und Zähmung der Thiere vermehren, wie sie also Ackerbau und Viehzucht sich gründen und nun, stets weiter und weiter gehend, sogar zu dem Punkte kommen, neben dem Bedürfnisse der Noth auch dem Gefühle der Schönheit Genüge leisten zu können; wenn wir sehen, wie sie dies Alles aus dem eigenen Nachdenken schöpfen und sich zugleich auf stets höhere Stufen der Intelligenz schwingen, indem sie die Hindernisse bekämpfen, die ihnen im Wege stehen, und die Mittel erfinden, sie zu besiegen – wenn wir so, indem wir die Producte der schöpferischen Kraft, die diesen Wesen innewohnt, kennen lernen, zugleich eine stets größere und weitere Vorstellung von dieser schöpferischen Kraft und der unendlichen Sphäre gewinnen, welche der Menschengeist sich nach und nach erobert und dienstbar gemacht hat: so meine ich, sollte uns das Alles weit mehr erheben, stärken und erfreuen, als alle noch so tiefsinnigen Dichtungen oder wunderbaren Erzählungen, die man uns als das letzte Wort selbst eines über den menschlichen erhabenen Geistes anrühmen möchte. Die in Stein, Horn oder Metall ausgeprägten Zeugnisse des Urzustandes des Menschengeschlechtes, welche uns die Forschung in die Hand legt, reden lauter in der That, vernehmlicher und überzeugender von der steten Vervollkommnung des Menschen, von der beständigen Verbesserung seiner Lage, der unablässigen Veredlung seiner Sitten, der unausgesetzten Fortbildung seines Wesens, als hundert philosophische Deduktionen oder tausend langweilige Predigten. Man staunt über das Gewaltige, was Menschen, die von Allem entblößt zu sein schienen, zu leisten vermochten – man fragt sich zögernd, ob man werth sei, solchen Vorgängern nachzueifern – aber man fühlt sich zugleich gehoben durch das Bewußtsein, daß die Verbesserungen des Menschen eigenes Werk und der Zustand, in dem sich der Mensch und die menschliche Gesellschaft befindet, nur ihm und der Gesellschaft selber zuzuschreiben ist.

Die Erde war durchaus nicht wüste noch leer, sondern wohl besetzt mit Pflanzen und Thieren zur Zeit, in welcher bis jetzt die ersten Spuren des Menschen in Europa gefunden worden sind. Die Organismen waren fast in gleicher Weise vertheilt, wie jetzt, dieselben Verbreitungszonen mögen etwa existirt haben, nur mit dem Unterschiede, daß kurz vorher die Zonen weiter nach Süden herabgedrückt und etwas früher noch weiter gegen den Norden hin vorgerückt waren.

Es war eine Kälteperiode vorhergegangen, deren Spuren sich nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika, ja auf der ganzen nördlichen Hälfte des Erdballs deutlich nachweisen lassen. Von den Gebirgen, welche heute noch Gletscher tragen, waren die Eisströme weiter herabgedrungen in die Thäler, hatten die ebene Schweiz bis zu den Gipfeln des Jura selbst erfüllt, ganz Scandinavien überzogen mit Finnland als Beigabe und waren selbst bis unter den Wasserspiegel der jetzigen Ostsee hinabgerückt. Gebirgszüge, [639] die heute keine Gletscher mehr tragen, wie die schottischen Gipfel, die Ketten der Vogesen und des Schwarzwalds, waren damals ebenso mit Gletschern gekrönt, wie heute die Alpen. Gewaltige Ströme entsprangen aus diesen Eismeeren und führten den feinen Gletscherschlamm, den Löß, durch die Thäler hinab dem Meere zu. Die Umgrenzung des Festlandes und der Meere war damals eine andere. Die Wüste Sahara war ein Meer, das wahrscheinlich direct mit dem rothen Meere zusammenhing; die Säulen des Herkules dagegen und wahrscheinlich auch die Dardanellen waren geschlossen, während das schwarze Meer weithin die russischen Steppen überfluthete und jedenfalls mit dem kaspischen Meere bei Astrachan, vielleicht selbst mit dem Aralsee zusammenhing. Die Küstenketten, welche heute das Mittelmeer umgeben, bildeten also einen geschlossenen Ring, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der Landenge von Suez, über welche hinaus die Wasser des Mittelmeeres mit denjenigen des rothen Meeres zusammenflossen. Dieser Küstenring des Mittelmeeres war also nach Süden durch die Wüstenmeere, nach Norden durch die Steppenmeere, nach Nordwesten durch die Gletscher der Pyrenäen und Alpen von allem übrigen Lande abgeschlossen und bildete so ein zusammenhängendes Ganze mit eigenthümlicher Fauna und Flora. Schon längst ist es den Naturforschern aufgefallen, daß die Begrenzung des Mittelmeeres eine ganz eigene, ihr zukommende organische Bevölkerung besitzt, gleich weit verschieden von der transalpinischen in Mitteleuropa, wie von der eigentlich afrikanischen im Süden. Noch neulich erst hat mein Freund, Professor Martius in Montpellier, darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die Pflanzen und Thiere der Provence und Italiens mit denen Algeriens übereinstimmen, und wen die Sache interessirt, der mag die näheren Belege dieses Satzes in der Revue des deux mondes nachlesen, wo die charakteristischen Züge des nördlichen Küstenlandes von Algerien mit denen der Provence zusammengehalten und denen der Sahara gegenüber gestellt werden. Der Löwe war früher in Griechenland heimisch, die Hyäne in Sicilien, der Makakea-Affe lebt noch auf dem Felsen Gibraltars, und selbst bis auf den Menschen erstreckt sich die Scheidung in Afrika, indem der Neger im Küstenlande nur eingeführt, aber erst südlich von der Sahara eigentlich heimisch ist.

Wie im Süden unseres Continentes, so zeigten sich aber auch im Norden desselben bedeutende Verschiedenheiten. England bildete eine Halbinsel und hing mit der Bretagne zusammen – ein großer Theil Nordfrankreichs, Belgiens und Hollands so wie der norddeutschen Ebene stand dagegen unter Wasser. Dänemark hing mit Schweden zusammen, so daß die Ostsee nach Westen hin vollkommen geschlossen war, während sie durch ein breites Meer um Finnland herum mit dem weißen Meere zusammenhing und also nur einen Arm des Eismeeres darstellte – selbst ein wahres Eismeer, indem überall von Norwegen, Schweden und Finnland her die Gletscher bis in dieses Meer hinein durch die Thäler sich ergossen. Scandinavien mit Finnland bildete also damals eine Art Spitzbergen oder Grönland und die früheren Theile Deutschlands mit einem Theile Frankreichs und Ost-Europas eine rings umfluthete Insel, die aber freilich mit England direct durch die französischen Westgebiete zusammenhing.

Diese Eiszeit, sagen wir, ging zurück; der Canal, der Sand, die Meerengen von Gibraltar und den Dardanellen brachen durch, die Landenge von Suez, die Wüsten, Steppen und Ebenen hoben sich aus den Wellen, und die Gletscher zogen sich allmählich in ihre jetzigen Grenzen zurück. Zu den Bildungen aber, welche diese Rückzugspenode bezeichnen, in den Schwemmgebilden, welche man auch als Ablagerungen der Diluvial-Periode bezeichnete (ohne daß diese Bezeichnung im Sinne der heutigen Geologen die mindeste Beziehung zu der rein hypothetischen, niemals stattgefunden habenden Sündfluth hätte, in diesen Schwemmgebilden und in den Höhlen, welche zu dieser Zeit ausgefüllt wurden, finden sich die ersten Spuren des Menschen auf europäischem Boden.

Sehen wir zuerst nach, in welcher Gesellschaft.

Theils mit ausgestorbenen, theils mit noch lebenden Thierarten, die aber häufig auch von dem Orte ausgewandert sind, an welchem jetzt ihre Knochen gefunden werden, stößt man auf menschliche Ueberreste. Da giebt es Arten, welche man als Höhlen-Arten bezeichnet hat, weil ihre Knochen bis jetzt vorzugsweise oder einzig in Höhlen und Grotten gefunden wurden – mehrere Bären, worunter besonders der gewaltige Höhlenbär – die Hyäne, der Tiger, der Panther der Höhlen – Alles von den jetzigen Arten verschieden und, wie es scheint, vollkommen ausgestorben. Aber mit den ausgestorbenen Raubthieren lebten auch noch fest im Norden vorkommende, der Luchs, der Vielfraß, der Wolf, oder bei uns noch einheimische, wie der Fuchs, der Igel, der Maulwurf. Alle diese Raubthiere nährten sich von Nagern, Wiederkäuern, Dickhäutern, bei welchen ähnliche Verhältnisse vorkommen, indem einige Arten ganz ausgestorben, andere nur ausgewandert, andere noch an denselben Orten wohnhaft und einheimisch sind. Ausgestorben sind Arten von Biber, Hase, Eichhorn, Wühlmaus; der irische Riesenhirsch, von welchem man in einzelnen Torfmooren ganze Skelete fand, als sei das Thier dort eingesunken; der Riesendamhirsch, Antilopen, Steinböcke, Ochsenarten, Elephanten, Nashörner, Flußpferde und Mastodonten, während das Rennthier, der Lemming, der Auerochs, das Elen ausgewandert sind und Gemse, Steinbock, Murmelthier, Mufflon, Stachelschwein und andere Arten noch in unseren Gegenden wohnen, aber theilweise sich auf hohe Gebirge zurückgezogen haben, deren Klima dem der nordischen Länder entspricht.

Man kann diese Periode die Periode des Höhlenbären nennen, da dieser wohl am häufigsten vorkommt und seine Zähne besonders leicht kenntlich sind.

Der Mensch fand also eine mit Wild reich besetzte Tafel vor, sobald er sich nur der Thiere bemächtigen konnte.

Es ist in der That wahrscheinlich, daß er sich vorzugsweise von Fleisch nährte, denn man hat nur sehr wenige Pflanzenreste, die ihm zur Nahrung gedient haben könnten, gefunden. Das Feuer kannte er jedenfalls, Asche und Kohlen haben sich überall an seinen Nahrungsstellen gezeigt, zuweilen mochte wohl ein platter Stein als Heerd dienen. Er kratzte das Fleisch sorgfältig von den Knochen, die häufig Spuren dieses Abkratzens tragen; er nagte an den jungen Knochen die Gelenkknorpel ab bis auf das Bein; er spaltete die langen Knochen, um das darin enthaltene Mark zu genießen, er öffnete den Schädel, um das darin enthaltene Gehirn zu verzehren. Also ein Jägerleben. Das Fleisch wurde wohl auf heißen Steinen geröstet oder auch an Spießen gebraten; gewiß aber nur in geringem Grade, denn es finden sich kaum Knochen, welche einigermaßen vom Feuer ergriffen oder verkohlt wären. Das Jagdthier zu erlegen und mit höchst mangelhaften Werkzeugen zuzubereiten, kostete gewiß zu viel Mühe und Anstrengung, als daß der Mensch nicht im äußersten Grade sparsam mit der schwer erbeuteten Nahrung hätte umgehen sollen.

Die Instrumente und Waffen, deren sich der Mensch in dieser ersten Zeit bediente, waren äußerst mangelhaft. Feuersteinkiesel und Knollen wurden mit anderen Steinen so gespalten und dann später langsam und mühselig durch leichtes Behauen zugeschärft, daß sie eine unregelmäßige Schneide erhielten und nun theils als Waffen, theils als Messer benutzt werden konnten. Je nach der Form und Größe haben die Alterthumsforscher diese bearbeiteten Steine Aexte oder Messer genannt. Außerdem dienten noch Bärenkiefer mit abgebrochenem Ende und vorstehenden Backzähnen als Waffen, vielleicht auch als Instrumente zum Bearbeiten der Erde; Geweihstücke der Hirsche, besonders die Augenzinken, die mit dem daran befindlichen Stamme einen Haken oder sonst eine Waffe darstellten; endlich zugespitzte Holzstücke, die wohl als Piken dienen konnten. Bis jetzt hat man keine Spur von Wohnungen oder Gräbern aus dieser Periode gesunden; die Knochen liegen kunterbunt zwischen den Thierknochen und in den Anschwemmungen; die Steinäxte an den Orten, wo sie aus den Kieseln der Kreide und den Feuersteinknollen herausgeschlagen wurden. Die Steinäxte und Messer haben offenbar mehr zufällige Formen, die aus der Spaltbarkeit des benutzten Kiesels hervorgingen; man suchte ihnen dann eine Schneide oder Spitze zu geben, indem man an den geeigneten Rändern kleine Stücke absprengte. Niemals zeigen die Aexte aus dieser Periode eine weitere Bearbeitung, Schleifung oder Politur, wie später, sie sind nur roh ausgeschlagen. Auch Bruchstücke eines rohen Töpfergeschirrs, Thon mit Sand und kleinen Kieselstückchen zusammengeknetet und an der Sonne oder im Feuer getrocknet, aber nicht gebrannt, findet man hier und da. Offenbar konnten diese porösen Gefäße höchstens zum Auffangen von Flüssigkeiten, nicht aber zum Kochen dienen.

Sie waren also ärmer als Robinson, diese Menschen, ärmer in doppelter Beziehung, weil sie niemals etwas Besseres gekannt hatten, und dann, weil Robinson doch einige Bruchstücke der Cultur aus seinem gestrandeten Schiffe gerettet hatte.

Außer ihren rohen Instrumenten haben diese Menschen auch [640] ihre Knochen in den Ablagerungen zurückgelassen, deren Zahl freilich noch sehr gering ist, nämlich außer einer gewissen Menge von Kiefern, Zähnen, Schenkel- und Armbeinen nur drei Schädel, von denen einer in der Höhle von Engis bei Lüttich, ein zweiter in einer Grotte des Neanderthales bei Düsseldorf und der dritte am 17. Juni 1864 in den Schwemmgebilden von Moulin-Quignon bei Abbeville in Frankreich gefunden wurde. An letzterem Orte entdeckte man vor zwei Jahren eine menschliche Kinnlade, über deren Authenticität sogar ein wissenschaftlicher Congreß zusammenberufen wurde, der trotz englischer, auf biblische Vorstellungen gegründeter Einsprüche endlich doch die Echtheit des Fundes und das hohe Alter der Kinnlade anerkannte – heute, wo man an derselben Fundstätte noch viele andere Knochenreste entdeckt hat, die von über alle Zweifel erhabenen Forschern selbst aus dem Lager gezogen wurden, dürfte ein solcher Congreß wohl gar nicht mehr zusammenberufen werden.

Der Schädel von Moulin-Quignon ist noch nicht genauer untersucht worden; aus der Beschaffenheit der Kinnlade schloß Quatrefages, ein bekanntes Mitglied der französischen Akademie, daß es ein Volksstamm von kleiner Statur mit wahrscheinlich rundem Kopfe gewesen sein müsse, vielleicht den heutigen Lappen ähnlich, eine vorläufige Untersuchung der neulich gefundenen Reste scheint seine damaligen Schlüsse bestätigen zu wollen.

Ich habe in meinen „Vorlesungen über den Menschen“ im zweiten Bande die Resultate der bis jetzt bekannten Untersuchungen über die beiden Schädel von Engis und Neanderthal zusammengestellt und nachgewiesen, daß sie keiner jetzt bekannten europäischen Race, wohl aber den Australiern am nächsten stehen, indem sie bei großer Länge eine nur sehr geringe Breite besitzen, wozu noch außerdem eine Menge anderer Eigenthümlichkeiten kommen; daß der Schädel von Engis vielleicht einem Weibe angehörte, während der vom Neanderthal, wie auch die dabei gefundenen sonstigen Knochen bestätigten, der eines großen und starken Mannes gewesen und der wildeste und affenähnlichste Schädel ist, der uns überhaupt bis jetzt bekannt. Einem normalen deutschen Schädel gegenüber gehalten, bietet dieser Schädel aus der Bärenzeit eine so furchtbare Degradation dar, daß man sich eines gelinden Schauders nicht erwehren kann. Die entsetzlich aufgewulsteten Lagen der Augenbrauen, ähnlich den Ringen, welche die Augen des erwachsenen Gorill oder Orang umgeben; die tiefe Einbuchtung dahinter, die sich in ein flaches Gewölbe fortsetzt, so daß man bei horizontaler Stellung der Schädeldecke über den Augenbrauen gar keine Stirne mehr sieht; der flache Scheitel und die ungeheure Dicke der Schädelknochen selbst – Alles das läßt eher den Gedanken an eine wilde Bestie als an einen Menschen aufkommen, und erst eine genauere Untersuchung läßt uns erkennen, daß dies doch ein menschlicher Schädel war und das darin eingeschlossene Gehirn einen menschlichen Typus hatte.

Aber dieser Affenmensch, denn anders können wir ihn wohl kaum nennen, hat doch einen Funken in sich, der ihn über seine nächsten Verwandten erhebt; er sinnt darauf, seine Lage zu verbessern und sich das Uebergewicht über die ihn umgebende Thierwelt zu verschaffen. Diese wird nicht durch irgend einen Machtbefehl in seine Hand gegeben, sondern er selbst muß sich die Mittel schaffen, sie zu überwältigen. Zugleich ändern sich nach und nach auch die umgebenden Verhältnisse. Der Höhlenbär wird seltener und macht seinem weniger kolossalen Vetter, dem gewöhnlichen braunen Bär, Platz. Höhlentiger und Hyänen verschwinden ebenfalls nach und nach, ebenso die großen Dickhäuter, Flußpferd, Nashorn und Mammuth, während dagegen Auerochsen, Pferde und namentlich Rennthiere im südlichen Frankreich häufig sind und die gewöhnliche Nahrung des Menschen zu bilden scheinen. Man kann diese Epoche füglich die Periode des Rennthiers nennen, da dieses das charakteristischste Thier ist, dessen Knochen auch am häufigsten ihrer Härte wegen verarbeitet werden, woraus man fast schließen könnte, daß der Mensch damals ein Leben führte, ähnlich den wandernden Lappen, denen früher auch das Rennthier Alles war. Jetzt freilich, seit die Civilisation in die Finnmarken gedrungen ist, weiß auch der wandernde Lappe die Producte derselben zu schätzen, und Kaffee und Zucker, Wollengewebe und ähnliche Dinge gegen seine Rennthierhäute und Zungen einzutauschen. Es ist also diese Periode die Aussterbezeit der untergegangenen Thierarten und zugleich die Rückzugszeit der nordischen Thiere, die noch im Süden hausten, gegen höhere Breiten hin.




Blätter und Blüthen.


Karl August und der Oberförsterssohn. Ein Oberförster, der seit langen Jahren treu und redlich gedient, wurde einst bei der Holzrevision beschuldigt und überführt, daß mehrere Klaftern Holz auf seinem Schlage fehlten. „Da weiß der Himmel, wie das zugegangen,“ entschuldigt sich der alte Mann, „ich hab’ sie nicht; auch weiß ich nicht, wer hier etwa der Thäter ist.“

Mit dieser Entschuldigung waren das großherzogl. Oberforstamt und Kammercollegium natürlich nicht zufrieden; es wurde eine gerichtliche Untersuchung über den Armen verhängt, in Folge deren der Oberförster seines Dienstes entsetzt werden sollte. Das Haus des Oberförsters war seitdem ein Haus der tiefsten Trauer, nicht sowohl über den bevorstehenden Verlust des Amtes und Brodes, als vielmehr über den Verlust der bürgerlichen Ehre.

Da macht sich der älteste Sohn des Oberförsters, dem der Schmerz und das Elend seiner Familie auch zu Herzen ging, in aller Stille auf, eilt in die Residenz und meldet sich bei dem Oberforstamte freiwillig als denjenigen, der als Forstgehilfe seines Vaters das fehlende Holz auf dem Schlage heimlich verkauft und das Geld dafür verthan habe. Der Thäter wird bestraft, seines Amtes als Jagd- und Forstgehülfe entsetzt und muß – was am meisten schmerzte – für alle Zukunft jeglichem etwaigen Anspruche auf eine Anstellung als Förster im Großherzogthume feierlich und förmlich entsagen.

Was nun zu thun? Der junge Mann wählte das Beste für damalige Zeiten, er wurde Soldat und als Oberjäger eingestellt. Nach beendigtem Kriege kehrte er in sein Vaterland und Vaterhaus zurück, aber mit welchen Aussichten, welchen Hoffnungen? Der Vater redet ihm zu, sich vor der Hand wieder um eine Anstellung als Jägerbursche auf irgend einem Reviere des Großherzogthums zu bewerben. Mit schwachem Glauben, daß man über seinen mehrjährigen, treuen Soldatendiensten sein früheres Vergehen vergessen haben werde, begiebt sich der Sohn in die Residenz und meldet sich. Jedoch vergebens. Der greise Vater selber verwendet sich für ihn, umsonst. Es bleibt sonach dem Armen nichts anderes übrig, als irgend einen andern Lebensberuf zu wählen, was auch geschah; er wurde Großknecht auf einem Gute.

Da wird nach Jahresfrist fast durch Zufall der wahre Thäter jenes Holzdiebstahls entdeckt. Es wird dem Großherzoge sogleich gemeldet, und dieser läßt den Großknecht zu sich bescheiden.

„Sie sind der Sohn des Oberförsters S.?“ fragt Karl August streng, als der junge Mann in das Zimmer des Großherzogs tritt.

„Zu Befehl, Hoheit.“

„Wie kommen Sie dazu meine Justizbehörde zu belügen und sich als den Dieb und Verkäufer von gestohlenen Hölzern auszugeben?“

Der junge Mann trat einen Schritt näher. Hoheit kennen meinen alten Vater,“ sagte er leise. „Er hatte nichts als seine Kinder und seine Ehre, er war uns stets ein lieber Vater, und da dachte ich denn, es sei Schuldigkeit des Kindes, die Ehre …“

Der Großherzog, der am Tische stand, unterbrach ihn. Als der junge Missethäter so einfach und ohne alle Ruhmrederei seine edle That entschudigen wollte, packte es den Fürsten, und er pochte, um seine Rührung und die aufperlenden Thränen zu verbergen, unwillkürlich auf den Tisch. Hastig ging er dann auf den Erschrockenen zu, und indem er ihn mit zornigen Blicken ansah, sagte er mit erhobener Stimme:

„Und da dachten Sie die Ehre Ihres Vaters mit einer Lüge zu retten? Wissen Sie, was Sie verdienen, junger Mann? … Die Oberförsterstelle in T. (es war die Stelle seines Vaters), und damit der wackere Sohn des wackern Vaters die bösen Tage vergessen kann – hier eine Anweisung auf meine Kammer zum Bau eines neuen Hauses und für den alten Vater den vollen Gehalt als Pension. Gehen Sie – gehen Sie, lieber S.,“ rief er, als der junge Mann weinend zu seinen Füßen stürzte und danken wollte, „gehen Sie – und Gott schenke in meinem Lande allen Vätern solche Söhne!“ –

In einem der hübschesten Forsthäuser des weimarischen Landes wird heute noch von den Kindern des ehemaligen vermeintlichen Diebes am 3. September das Bild des „alten Herrn“ bekränzt, der es verstand in so echt fürstlicher Weise lang getragenes Unrecht wieder gut zu machen und Kindesliebe zu belohnen.




Struve’s Weltgeschichte (jetzt bei Streit in Coburg) scheint sich, nachdem das Buch in Tausenden von Exemplaren in Amerika verbreitet wurde, in neuer Zeit auch in Deutschland Bahn zu brechen. Gottfried Kinkel schreibt darüber: „Es ist die erste ganz frei geschriebene und dabei volksthümliche Geschichte, die es giebt. Im Kerker zu Rastatt begonnen, ist es ein Triumph des freien Geistes geworden, dessen Ueberzeugung keine Fessel beugt. Die Sprache ist einfach, der Sinn ist rund und nett, die Sätze, was für ein populäres Werk unschätzbar ist, kurz und treffend, die Beurtheilung vergangener Völker und Reiche klar, scharf und radical. Es thut einem wohl unter den deutschen officiellen Redensarten, einmal auf einen Schriftsteller zu stoßen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Ganz vortrefflich sind am Schlusse der längeren Abschnitte die Rückblicke auf den Fortschritt der menschlichen Bildung während jeder einzelnen Periode. Die Folgen der Zeit zwischen der Reformation und dem westphälischen Frieden sind hier z. B. treuer und vollständiger entwickelt, als ich sie in irgend einem anderen Buche gefunden habe. Ich wundere mich nicht, zu hören, daß dieses Buch in Amerika sich eine so breite Bahn gebrochen hat. Allen Landsleuten im Vaterlande sollte die Verbreitung desselben am Herzen liegen.“


  1. Plaudereien aus Athen von B. Cherbuliez. Jena, 1861.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Friedrich Schiller: An die Freunde. „Könnte die Geschichte …“