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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[353]
Der Zeuge.
Von J. D. H. Temme.


1. Ein eifersüchtiger Ehemann.

„Es giebt viele unglückliche Herzen,“ sagte die schöne Frau.

„Geschöpfe, liebe Emilie,“ unterbrach sie ein kleiner dicker Herr, der Gemahl der schönen Frau.

Sie blickte unwillkürlich auf seine wohlgenährte Gestalt und ein Lächeln wollte spöttisch über ihre schönen Lippen gleiten; es wurde schmerzlich. „Nicht jedes Geschöpf fühlt,“ sagte sie, „aber jedes Herz und besonders den –“

„Den Schmerz, wolltest Du sagen, Emchen,“ lachte der kleine Herr. „Es hätte sich gereimt, aber richtig wäre es doch kaum in allen Fällen gewesen, mein Engel.“

„Wir wollen darüber nicht streiten, Arthur,“ erwiderte die Frau. Der kleine dicke Herr hieß Arthur. Die Frau wandte sich wieder an den Domherrn, zu dem sie die Worte gesprochen hatte: „Es giebt viele unglückliche Herzen.“ „Aber wie wenige,“ sagte sie jetzt, „wissen ihr Unglück zu tragen!“

„Wie viele müssen es dennoch tragen!“ sprach der Domherr.

„Dann sind sie nicht mehr unglücklich.“

„Auch jenes arme Herz nicht, von dem unser Gespräch ausging?“

Der Domherr zeigte auf eine schöne, blasse junge Frau. Sie saßen Alle unter einer geräumigen Veranda. Der Domherr, die schöne Frau, mit welcher er sprach, und ihr Mann hatten einen kleinen Tisch in der Mitte eingenommen. Entfernter von ihnen saßen andere Gäste des Hotels. Ganz hinten in einem Winkel war die schöne, blasse junge Frau, auf die der Domherr gezeigt hatte. Die Dame, mit welcher der Domherr sich unterhielt, war nicht mehr jung, sie konnte stark über die Mitte der dreißiger Jahre hinaus sein. Um so frischer hatte ihre Schönheit sich erhalten. Auch der Domherr war kein junger Mann mehr; er hatte die vierziger Jahre sicherlich angetreten. Der kleine, dicke Gemahl der Dame – bei ihm kam es wohl auf das Alter gar nicht an – sah frisch und blühend aus, denn von tiefen Auf- und Erregungen wußte er ja nichts.

Die Veranda befand sich zur Seite des großen, eleganten Gasthofes, der eine reizende Lage an dem Abhänge eines Hügels hatte. Von der Veranda aus genoß man einer wundervollen Aussicht über ein weites Thal, über einen klaren, breiten Fluß, der es durchströmte, über Dörfer und Landhäuser an seinen Ufern, in die waldigen und zackigen Berge jenseits des Thales, und auf die Dörfer und Landhäuser, die auch an und auf ihnen angebaut waren. Ganz hinten links auf einem hohen Felsenvorsprung des Gebirges lag eine Festung.

In das Thal, über den Strom, der es durchschnitt, auf die Berge jenseits waren die Blicke der blassen jungen Frau gerichtet. Da hinten auf den Mauern und Zinnen und Thürmen der Bergveste blieben die Augen haften, welche trüber und trüber wurden, je länger sie dahin blickten, und die zuletzt nichts mehr sahen, als die hohen Mauern, die kantigen Zinnen, die spitzen Thürme.

Sie war so schön, die blasse Frau mit den prächtigen, dunklen Augen, aus denen die Thränen sich hervordrängen wollten und nicht durften; sie war so schön mit ihrem Schmerz zwischen dem rothen Flieder und dem bunten Geisblatt, die das Geländer der Veranda durchzogen.

Plötzlich fuhr sie erschreckt auf. Ein junger, hübscher Officier war in den Raum eingetreten, hatte sie bemerkt, und war im Begriffe, auf sie zuzuschreiten. Wie sie sich von ihm abwenden wollte, sah sie einen zweiten Mann ihm folgen; vor ihm war sie erschrocken. Er war ein Mann in der Mitte der dreißiger Jahre, groß, wohlgewachsen, die Gesichtszüge regelmäßig, aber die Miene finster, der Blick der großen, schwarzen Augen unheimlich lauernd und stechend, die Farbe des Gesichtes grau. Er hatte die blasse Frau gesehen, wie sie plötzlich ihn erblickte und zusammenfuhr, wie sie in demselben Moment von dem Officier sich abwandte; er hatte gesehen, wie der Officier sich ihr nahen wollte. Er biß die schmalen grauen Lippen zusammen und in den dunklen Augen zuckte ein wildes Feuer auf, welches die tief und dicht herunterhängenden schwarzen Augenbrauen nur halb verbargen. Er schritt langsam, gemessen auf die Frau zu. Er wollte vor den Anwesenden ganz verbergen, was in seinem Innern vorging; er hatte dazu vollständig die Gewalt über sich. Allen konnte er es dennoch aber nicht verbergen.

„O,“ sagte die schöne frische Frau zu dem Domherrn, „o, sie ist doch ein armes, unglückliches Herz.“

„Ja, das ist sie,“ erwiderte der Domherr.

„Und was wird daraus werden?“

„Das Ende aller Dinge.“

„Der Tod?“

„Kann sie leben?“

„Ja. Muß nicht –“

Die schöne Frau sah sich nach ihrem Manne um, der zur Seite gegangen war.

„Muß nicht so manches Herz leben?“ sagte sie dann, aber leise, und durch die frischen Rosen ihrer Wangen zuckte ein schmerzliches Lächeln.

[354] Der Domherr fuhr schweigend mit der Hand über die Stirn, und es war ein trüber Blick, mit dem er auf das geistliche Kreuz auf seiner Brust hinuntersah.

Der kleine, dicke Herr kam zurück. Er war ein neugieriger Herr. „Hast Du unseren Reisegefährten gesehen, Emchen?“

„Er geht dort.“

„Zu seiner Frau! Na, an deren Stelle möchte ich auch nicht sein. Der ist ja ein wahrer Despot, Tyrann der Eifersucht. Sahest Du seine Blicke – nein, die Blitze seiner Augen?“

Der kleine Herr lachte über das Wortspiel oder den Witz, den er gemacht haben wollte. Er erhielt keine Antwort und hatte auch wohl auf keine gerechnet. Er fuhr fort: „Und die Frau hatte nicht einmal nach dem Lieutenant hingeblickt. Und was hätte sie auch an ihm zu sehen gehabt? Seine Uniform? Sie ist das einzige Hübsche an ihm. Ja, liebes Emchen, Du mußt es zugestehen, Ihr Frauen seht die Officiere gern; doch ohne die Uniform – du lieber Himmel, was sähet Ihr an den Herren! Aber ich meine das nicht von Dir, liebes Emchen, Du bist eine ganz andere Frau, als die anderen, und sodann, ich bin Gott Lob nichts weniger als eifersüchtig, das mußt Du zugeben.“

Er erhielt wieder keine Antwort; er hatte auch wieder auf keine gerechnet. Was soll auch eine Frau antworten auf die Frage des Mannes, ob er eifersüchtig sei? Er wandte sich an den Domherrn.

„Aber wer mag der Mensch nur sein, Herr Domherr? Haben Sie gar keine Ahnung davon?“

„Lieber Herr Milden,“ sagte der Domherr, „wir haben ihn Beide gestern zum ersten Male gesehen. Er schloß sich an mich nicht näher an, als an Sie. Ich kenne ihn nicht mehr, als Sie ihn kennen.“

„Ja, ja, Herr Domherr. Aber auch wir haben uns erst seit wenigen Tagen gesehen, und Jeder von uns weiß doch schon, wer der Andere ist.“

„Wir sind mittheilsame Naturen, Herr Milden. Jenes Mannes finsteres, verschlossenes Wesen kann sich wohl an keinen Menschen anschließen.“

„Er möchte ihn denn verderben wollen,“ sagte die Frau Milden. „Muß nicht das Herz der armen Frau in solchen Händen brechen? Wie waren wir ihr ein Rettungsanker, als der Zufall sie gestern mit uns zusammenführte! Mit welcher Angst lauschte sie der Entscheidung des Mannes, ob sie gemeinschaftlich mit uns die Reise fortsetzen würden! Er mußte, denn sie war erschöpft von dem Bergsteigen; zu Fuße konnte sie nicht weiter und einen Wagen hatten sie nicht bei sich. Wir boten ihnen einen Platz in dem unsrigen an. Er konnte, er durfte es nicht ausschlagen. Wie war sie glücklich, nicht mehr mir ihm allein sein zu müssen!“

„Wie liebenswürdig,“ sagte Herr Milden, „nahmst Du auch Dich ihrer an! Du wußtest den finsteren Mann zu halten, der gern schon in der nächsten Stunde die drückende Fessel, die unsere Gesellschaft seiner Tyrannei auslegte, von sich geworfen hätte.“

„Und,“ fuhr die Frau fort, „sie ist ein edles Herz. Mit keiner Sylbe, mit keiner Miene hat sie mir das Leid ihrer Brust geklagt. Nicht das leiseste Wort eines Vorwurfs gegen ihren Mann ist über ihre Lippen gekommen. Und ich war allein mit ihr; sie war vertrauungsvoll gegen mich, wie eine Tochter gegen ihre Mutter.“

„Du wärst nur etwa ihre ältere Schwester, Emchen,“ sagte galant Herr Milden. Dann wurde er ernst. „Aber wahrhaftig, ich fürchte. Du hast Recht, Emilie. Der Mensch ruinirt die arme Frau, nur nicht in der Art, wie Du es meintest. Mich überfällt ordentlich eine Angst, wenn ich ihn mir so recht ansehe und mir ihn dann mit der Frau allein denke. Ich meine, ich sehe einen Mörder und sein Schlachtopfer.“

„Milden!“ verwies ihn die Frau.

„Was willst Du, Emilie?“ fuhr er eifrig fort, „sieh ihn Dir einmal an. Sieh sie Beide an, wie sie schon vor allen den Leuten dasitzen. Sind das nicht tödtende Blicke, die seine großen, unheimlichen Augen auf die Arme werfen? Droht er ihr nicht jetzt schon Vernichtung? Und sie wagt nicht, zu ihm aufzublicken. Sie zittert, sie ist blaß, schon blaß wie der Tod. Doch halt, da sieht sie zu ihm auf, aber bittend, flehend, als wenn sie ihn um das Leben bitte, daß er sie doch nur hier vor den Leuten nicht tödten möge; nachher wolle sie ja gern sterben, wenn es sein müsse, so jung sie auch noch sei; es sei ja doch am Ende besser, jung zu sterben, als länger ein solches Leben zu führen. Ach, Emilie –!“

Herr Milden war plötzlich aufgefahren. Er schien eine dringende Aufforderung an seine Frau aussprechen zu wollen, wurde aber darin unterbrochen. Es war ein gutmüthiger Herr, der Herr Milden, daher aber auch ein Mann, der aller Welt gern hätte helfen mögen und deshalb freilich niemals recht zum Helfen kam.

„Tante,“ sagte auf einmal eine allerliebste Mädchenstimme in einem halb weinenden Tone, „der Gustav ist unausstehlich, er ist wieder eifersüchtig.“

„Was?“ fuhr Herr Milden auf, „Junge, Du unterstehst Dich? Auch Du? Sieh dahin! Nimm Dir ein Exempel daran.“

Es war nicht jenes Auffahren des kleinen dicken Herrn, mit dem er weiter zu seiner Frau hatte sprechen wollen; darin war er durch dieses zweite gestört worden.

Ein junges Paar war in die Veranda, an den runden Tisch getreten. Ein allerliebstes, frisches Mädchen, halb sanfte Taube, halb großer Schelm. Ein hübscher, frischer junger Mann, der aber in diesem Augenblicke nicht halb, sondern ganz sauertöpfisch aussah und dadurch seine anderen guten oder bösen Eigenschaften im Verborgenen ließ. Schon nach dieser Sauertöpfigkeit auf der einen und jener Schelmerei auf der anderen Seite mußten die Beiden Brautleute sein. Der junge Mann wollte auf die Worte, mit denen Herr Milden ihn anließ, etwas erwidern. Er kam nicht dazu, wie Frau Milden zu keiner Antwort auf die Worte des Mädchens gekommen war.

„Schweig Du!“ wurde er noch einmal angefahren, diesmal von dem jungen Mädchen. „Ich will der Tante erzählen, denn Du würdest wieder Alles verdrehen.“

Er schwieg gehorsam. Die Beiden waren sicher Brautleute.

Zu der Tante fuhr das junge Mädchen fort: „Siehst Du den reizenden Studenten da, Tante?“

Da konnte der junge Mann doch schon nicht mehr schweigen.

„Aber das ist doch zu arg, Ida!“

Das Mädchen aber sagte: „Tante, brauche ich Dir nun noch ein Wort zu erzählen? Ich darf einen Studenten nicht einmal mehr reizend finden? Bin ich nicht das unglücklichste Geschöpf von der Welt?“

Dabei weinte sie – keine Thränen, aber mit ihren klarsten Augen, die nicht schelmischer lachen konnten. Die Tante konnte nochmals nicht zum Antworten kommen. Der junge Mann war zornig geworden, daß er sich die Haare hätte ausreißen mögen. Herr Milden nahm ihn sehr ernst vor, strenge, wenn der brave Mann hätte strenge sein können.

„Gustav, Gustav, das ist nicht die Art und Weise, wie man sich benehmen, wie ein Bräutigam seine Braut behandeln muß. Brautleute müssen vor Allem verträglich sein, und der Bräutigam muß immer bedenken, daß er der stärkere Theil ist, also großmüthig sein und nachgeben muß. Und was nun sogar die Eifersucht betrifft, diese nichtswürdige Leidenschaft, dieses abscheuliche Laster –“

„Ach!“ rief die weinende Braut, „siehst Du, Gustav, daß Du ein abscheulicher Mensch bist? So recht, lieber Onkel, bringen Sie ihm Vernunft bei, treiben Sie ihm den Teufel seiner Eifersucht aus, machen –“

Herr Milden hielt sich die Ohren zu, er wußte nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er sah sich nach Hülfe um. Sein Auge fiel mechanisch auf den finsteren, unheimlichen Mann, den er dem Neffen als ein abschreckendes Exempel hatte zeigen wollen. Da fiel ihm auch mechanisch das damals unmittelbar Vorhergegangene ein, als er seine Frau um etwas hatte bitten wollen.

„Alle Tausend!“ rief er. „Der Mensch sieht wahrhaftig aus wie ein Unglück! Und die arme Frau – sie muß Hülfe haben. Wir müssen sie ihr bringen. Hin zu ihnen!“ Dann zögerte er doch. „Aber was soll man ihm sagen? Sie sind Mann und Frau! Was hat ein Dritter zwischen ihnen zu schaffen? Und doch, die arme Frau jammert mich, und den Menschen muß man vor einem Verbrechen bewahren.“

„Gehen wir zu ihnen,“ sagte Frau Milden zu ihrem Mann, indem sie aufgestanden war. „Zuerst nur wir Zwei. Sie, Herr Domherr, folgen uns nach einer Weile? Mit dem Brautpaar da, wenn es ausgeschmollt hat?“

Der Domherr verbeugte sich bejahend. Die schöne Frau nahm den Arm ihres Gatten.

[355] „Ah, ah, Emilie,“ sagte Herr Milden vergnügt, „ich wußte, daß Dein feiner Verstand das Richtige finden würde. Ich konnte es nicht. Mein Emchen ist eine ausgezeichnete Frau! Ausgezeichnet durch ihre Schönheit, durch ihr Herz, durch ihren Verstand. Wie stolz bin ich auf Dich! Was wirst Du ihnen sagen, Emilie?“

„Ich werde es ja sehen,“ antwortete die Frau mit einem Seufzer. Aber sie seufzte leise; der Mann, der so stolz auf sie war, hörte es nicht.

Sie gingen zu dem Winkel der Veranda, in dem die blasse junge Frau allein gesessen und mit den schönen dunklen Augen so traurig durch den rothen Flieder und das bunte Geisblatt nach den Bergen jenseits des Thales und nach den Mauern und Zinnen und Thürmen der fernen Bergfestung geblickt hatte.

In dem Winkel hatte sich unterdeß Folgendes begeben. Die blasse Frau war tief erschrocken, als auf einmal ihr Blick dem ihres Mannes begegnet war. Der Mann war mit seinem finsteren, unheimlichen Gesichte zu ihr geschritten.

„Warum hast Du Dich in diesen Winkel zurückgezogen?“

„Es ist hier so heimlich still und einsam,“ erwiderte die Frau schüchtern.

„Still, einsam! Warum suchst Du immer die Einsamkeit auf?“

„Ich liebe nun einmal das laute Geräusch nicht.“

„Und warum liebst Du es nicht?“

„Ich habe es nie geliebt.“

„Ich will Dir sagen, warum Du die Einsamkeit aufsuchst, Dich vor den Menschen zurückziehst, sie fliehest. Du fühlst Dich unglücklich, Du bist unglücklich bei mir, und Du willst den Leuten zeigen, daß Du es bist.“

„Emil, warum immer diese ungerechten Vorwürfe?“

„Vorwürfe? Ja, ja, jedes Wort, das ich zu Dir spreche, ist in Deinen Augen ein Vorwurf, eine Ungerechtigkeit. Mit Allem, was ich thue, bist Du unzufrieden. Nichts kann ich Dir recht machen! Aber Du liebst mich nicht!“

„Emil, drehest Du nicht geradezu Thatsachen und Verhältnisse um?“

„Auch das noch! Ich liebe Dich also wohl nicht? Und Du liebst mich!“

Er sprach immer hart, mit finsterer Stirn, die dichten schwarzen Augenbrauen über dem drohenden Blick der Augen zusammengezogen. Die Frau hatte mit ihrer sanften, weichen Stimme nur bittend gesprochen. Nicht der leiseste Ton eines Vorwurfes war über ihre Lippen gekommen. Seine letzten Worte schienen doch in ihrem Innern das Bewußtsein der Würde der Frau geweckt zu haben.

„Emil,“ sagte sie mit ruhiger und sicherer Stimme, „zeigen die immerwährenden Vorwürfe, die Du nur für mich hast, eine Liebe Deines Herzens zu mir? Und habe ich Dir je ein anderes Gefühl gezeigt, als das der treuesten und hingebendsten Zuneigung der Gattin?“

„Ha, da warst Du aufrichtig!“ fuhr der finstere Mann auf. „Das Wort Liebe, Deiner Liebe, wagtest Du nicht auszusprechen. Zuneigung! Zuneigung –“ Er war laut geworden.

„Laß uns das Gespräch abbrechen,“ bat ihn die Frau. „Man sieht auf uns.“

Der Mann bemerkte es. Er zog die Brauen tiefer über die zornigen Augen. Noch ein paar Worte mußte er leise sprechen: „Ja, man sieht auf uns! Du wirst mich zum Gespötte der Menschen machen. In meiner Stellung!“

Die Frau antwortete nicht. Sie wandte das blasse Gesicht zur Seite, damit die Menschen in der Veranda es nicht mehr beobachten sollten, nach den Blüthen des Flieders, des Geisblattes. Auch der Mann schwieg. Auch er sah durch das Geländer der Veranda. Aber nicht zu den bunten Blumen; sein finsterer, unruhiger Blick mußte weiter schweifen, in das Thal zu den Füßen des Hügels, über den Strom, der es durchschnitt, auf die Berge jenseits, in die Ferne. Plötzlich zuckte er heftig auf. „Ha!“ rief er. Seine Augen starrten nach einem Punkte, hinten links in die Ferne hinein, nach dem Felsenvorsprung des Gebirges, nach den Mauern und Zinnen und Thürmen der Festung darauf. Eine dunkle Röthe zog sich durch sein fahles Gesicht; dann war es von tiefer Blässe bedeckt. Er sah sich um nach der Gesellschaft in der Veranda, ob er beobachtet werde. Er sah die Blicke nicht mehr auf sich gerichtet, wandte sich zu der Frau und sprach mit gedämpfter, bebender Stimme:

„Ha, darum hattest Du diesen heimlich stillen und einsamen Platz ausgesucht! Dorthin, dorthin konnten in diesem verborgener Winkel Deine Augen unbeachtet und ungestört Deine Gedanken und Dein Herz tragen, und dorthin auch Deine Liebe, die Liebe, die Du dem Gatten entziehst, für den Du nur kalte, ergebene Zuneigung hast. Zuneigung noch? Bin ich Dir nicht sein Mörder? Ja, ja, ich bin es. Denn er ist ein Todter! Und er wird es bleiben, für Dich, für alle Welt. Deine Wünsche, Deine Thränen, Deine Gebete, sie werden ihn nicht wieder unter die Lebenden bringen; nie! Harre nicht vergebens darauf. Er bleibt dort in seinem Grabe. Auch die Pforten dieses Grabes werden sich nicht öffnen; er wird sie nicht sprengen. Ich schwöre es Dir. Und nun fort von hier! Woran hatte ich gedacht, als ich mich hierher verlocken ließ? Ich Thor! Fort! Keinen Augenblick länger hier! – Doch, noch drei Minuten, damit ich, damit Du Dich sammeln kannst, damit wir, damit ich nicht doch noch zum Gespött der Welt werde. Ich wäre verloren. Uns kennt zwar Niemand hier. Aber man würde nach uns fragen, man würde meinen Namen erfahren –“

Er schwieg und starrte in stiller Wuth vor sich hin. Die Frau hatte sich nicht erst sammeln müssen. Sie hatte mit dem Bewußtsein ihres reinen Herzens, mit der Größe ihrer edlen Seele ruhig die Vorwürfe des finsteren, leidenschaftlichen, wild leidenschaftlichen Mannes anhören können. Aber erwidern mußte sie ihm etwas darauf, und wenn es auch mehr war, als sie gern sprach. Eben ihr reines Herz, ihre edle Seele forderten es.

„Emil,“ sagte sie eben so würdig, wie sie ruhig war, „Niemand hat Dich hierher gelockt, am allerwenigsten ich. Du kannst die Veranlassung und den Zweck unserer Reise nicht vergessen haben Ich kränkelte schon seit längerer Zeit, Du bedurftest des Ausruhens von mühvoller und angreifender Arbeit. So sollte die Zerstreuung einer kleinen Erholungsreise in das schöne Gebirge uns Beiden zu Gute kommen. Du schlugst die Reise vor; ich war Dir dankbar dafür, was meinen Theil anging. Ich dachte auch, das Herausreißen aus Deinen Arbeiten, der Verkehr mit anderen Menschen, das Einathmen der frischen Luft, die Schönheiten der Natur, das Alles würde Dich frischer und heiterer stimmen und freundlicher und liebevoller gegen mich. So reisten wir und kamen hierher, ohne mein Zuthun. Ich folgte lediglich Dir. Ob Du zu dem Punkte, auf dem wir uns gerade in diesem Augenblicke befinden, jener Familie, mit der wir gestern zusammentrafen, und der auch ich mich gern anschloß, gefolgt bist, das weiß ich nicht. Ich habe mich nicht darum gekümmert. Ich folgte nur Dir. Damit wäre die eine falsche Beschuldigung abgemacht, die Du auf mich werfen wolltest. Was dann den Vorwurf betrifft, daß ich einen Mörder in Dir sähe, so ist davon kein Gedanke in meine Seele und kein Wort über meine Lippen gekommen. Es konnte auch nicht anders sein. Ich habe kein Urtheil über das, was Du zu thun oder nicht zu thun hast; Deine Pflicht und Dein Gewissen sind darüber Deine einzigen Richter. Wenn Du mir endlich vorwirfst, daß ich den Wunsch hätte, jenes Grab möge sich öffnen, – ja, Emil, den Wunsch habe ich; ich habe ihn als Christin, ich habe ihn in meinem Herzen, das Mitleid mit jedem leidenden Menschen fühlt, ich habe ihn selbst für Dich, denn das meine ich, daß Deine Pflicht, sei sie eine noch so streng gebotene, Dir eine schwere, drückendn sein müsse. – Und nun bin ich bereit, mit Dir zu gehen. Dir zu folgen, wohin Du auch jetzt wieder mich führen wirst. Gehen wir, Du siehst, ich bin vollkommen ruhig.“

Sie war es, aber sie gingen dennoch nicht. Der finstere Mann war desto unruhiger geworden. Ihre Worte, ihre Ruhe, ihre Würde hatten die Gluth in seinem Innern doppelt angefacht. Er war in großer Aufregung, und mußte alle seine Kraft aufbieten, um sie vor den Anwesenden zu verbergen. Er hätte sich nicht erheben können, ohne sie durch jede seiner Mienen zu verrathen. Er konnte sie dennoch nicht ganz verbergen. Er warf tödtlich feindliche Blicke auf seine Frau; die tödtlichen Blicke flogen in der Veranda umher, ob man sie beobachte, ob man sie sehe.

Einen dieser Blicke hatte Herr Milden bemerkt. Der gutmüthige kleine dicke Herr hatte sich heftig erschreckt. Er hatte seine Frau nach dem Winkel, zu den beiden unglücklichen Ehegatten gezogen und kam mit ihr bei diesen an.

„Ah, ah!“ begann Herr Milden.

Er hatte nicht gewußt, was er den Beiden sagen solle. Seine Frau hatte ihn deshalb begleiten müssen, damit sie spreche. Er [356] war dennoch sofort und der Erste mit seinen Worten da. Die schöne Frau Emilie hatte noch keine; der Anblick der blassen, unglücklichen Frau schnürte ihr wohl das Herz zu, rief so manche andern Gefühle und Gedanken in ihr wach.

„Ah, ah, verehrter Herr Reisegefährte, Sie haben ja hier ein reizendes Plätzchen gewählt – die schönste Aussicht in die herrliche Gegend.“

„O ja, es ist hier schön,“ sagte der finstere Reisegefährte kalt, sich sammelnd.

„Und da darf ich Ihnen ja wohl einen Vorschlag machen, Herr Reisegefährte, oder vielmehr geradezu eine Bitte an Sie richten. Wir beabsichtigen, zum Abend eine Partie nach dem Weißen Steine drüben zu machen. Man hat dort eine der schönsten Aussichten der Gegend, und da oben die Sonne untergehen zu sehen – ich versichere Sie, es giebt keinen köstlichern Genuß. Ich war schon mehrere Male zum Sonnenuntergang oben. Ja, und da wollten wir Sie und Ihre Frau Gemahlin nun bitten, die Partie gemeinschaftlich mit uns zu machen. Für einen Wagen habe ich schon gesorgt. Es ist ein großer Leiterwagen, wie man sie hier zu solchen Fahrten hat, und wir haben Alle Platz darauf. In einer starken halben Stunde fahren wir ab. Nicht wahr, Sie machen uns die Freude?“

Man sah dem finstern Manne an, wie ihm der Vorschlag ungelegen kam, er suchte nach passenden Worten, ihn abzulehnen.

„Von unserer Seite,“ sagte schnell, um der Ablehnung zuvorzukommen, Herr Milden, „fährt Niemand mit, als meine Frau und ich, der Domherr und mein Neffe mit seiner Braut, also nur unsere alte Reisegesellschaft, die Sie schon kennen.“

Der kleine Herr sagte es so gutmüthig, und es war doch ein so scharfer Stich in die Brust des finsteren Mannes, der so empfindlich gegen das Urtheil der Leute über sich war, der selbst in heftigen Ausbrüchen seiner Leidenschaft darauf bedacht blieb, seiner Stellung nichts zu vergeben; er durfte nicht zeigen, wie er getroffen war, wie sehr er sich getroffen fühlte. Die schöne Frau des Herrn Milden war vor Verlegenheit roth geworden, und doch war ihr Mann ein so feiner Psycholog gewesen, freilich wie das blinde Huhn, das auch wohl zuweilen ein Körnchen findet.

„Es wird mir ein Vergnügen sein,“ antwortete der finstere Mann, „vorausgesetzt, daß auch meine Frau einverstanden ist; sie ist heute so besonders leidend. – Was meinst Du, liebe Julie?“

Die beiden Frauen waren sich nur mit einem einzigen Blicke begegnet. Sie hatten sich verstanden. Frauen wissen in ihre Blicke ihr ganzes Herz zu legen, und Herzen, die nicht glücklich sind, verstehen sich auf den ersten Blick der Augen.

„Ah, gnädige Frau,“ rief der kleine Herr galant, „Ihre schönen Lippen werden mir doch keinen Korb geben?“

„Da die Partie meinem Manne Vergnügen macht,“ antwortete die blasse Frau, „so wird es mir eine doppelte Freude sein, den Abend in Ihrer lieben Gesellschaft zubringen zu können.“

„Vortrefflich! Herrlich!“ klatschte Herr Milden in seine runden Hände. „Machen wir uns gleich zur Abreise fertig, damit wir die beste Zeit nicht verpassen. Das wird ein reizender Abend werden. Komm, Emilie. Auf Wiedersehen, gnädige Frau! A revoir, Herr Reisegefährte!“

Sie wollten sich trennen. Die Frau des kleinen Herrn, die das Wort hatte führen sollen, hatte dazu nicht kommen können.

Sie sollte doch noch sprechen müssen. Hinten im Gebirge, auf der andern Seite des Thales, fiel plötzlich ein Kanonenschuß.

„Ah, ah,“ rief der vergnügte Herr Milden, „das ist ja ein Freudenschuß zu unserer Lustfahrt.“

Er lachte wieder über seinen Einfall. Aber der finstere Mann stand erschrocken da, horchte gespannt in der Richtung, in welcher der Schuß gefallen war. Und die blasse Frau zitterte. Der Schuß war in der Gegend der Bergfestung gefallen. Ein zweiter Schuß fiel. Er kam aus der Festung; man hörte es deutlich. Er zog sich donnernd durch das Gebirge fort, verlor sich im Thale. Die ganze Gesellschaft der Veranda hatte ihm gelauscht, war dem Donner gefolgt.

„Ah, ah,“ sagte der kleine Herr, „in der Festung sitzen ja auch wohl Gefangene? Gar Staatsgefangene, wenn ich nicht irre?“

Er hatte sich an seinen finstern Reisegefährten gewandt, erhielt aber keine Antwort. Der finstere Mann hatte fest seine Lippen zusammengepreßt. Herr Milden sah es wohl nicht.

„Ja, ja,“ fuhr er vergnügter fort, „ich weiß es, und die beiden Kanonenschüsse zeigen an, daß ein Gefangener aus der Festung entwichen ist. Und – und – es ist noch ein zweiter entkommen. Hören Sie, da fällt der dritte Schuß!“

Ein dritter Schuß war gefallen. Der brave Herr Milden wurde immer vergnügter.

„Lassen Sie uns horchen, ob nicht ein vierter fällt. Sie wissen es doch, die zwei ersten Schüsse bedeuten einen Entsprungenen; für jeden weiter Entkommenen wird nur ein Schuß abgefeuert. Ah, aber der vierte fällt nicht. Es ist also nur Zweien geglückt, zu entkommen. Es ist schade, daß ihrer nicht mehr sind. Nun, stehe der liebe Gott den Beiden bei, daß sie nicht wieder eingefangen werden, daß sie ihren Verfolgern entrinnen. Die armen Menschen –“

Der kleine dicke Herr stockte. Er sah endlich die zusammengekniffenen Lippen seines Reisegefährten, sie waren fast blutig gepreßt, sah in den großen dunklen Augen des finstern Mannes einen furchtbaren Haß, einen tiefen Groll auflodern. Er wollte sich verwundern; er mußte sich entsetzen.

„Hm, hm, alle Tausend –!“ Er kam nicht zum Ende.

„Arme Unglückliche!“ hörte er leise seine Frau sprechen.

Er sah sich nach ihr um. Sie hielt in ihren Armen die ohnmächtige Frau des finsteren Mannes.

„Wasser!“ rief sie den beiden Männern zu.

Der finstere Mann ging; der kleine Herr war schon fortgerannt. Die Ohnmächtige kam wieder zu sich.

„Seien Sie stark, meine arme Freundin!“ flüsterte Frau Milden ihr zu.

„Beschützen Sie mich!“ flehte die Arme.

„Ich werde Ihre Mutter sein. Aber seien Sie stark, zeigen Sie keine Angst.“

Wie klar mußten die beiden Frauen die Lage erkannt, mit welcher Angst mußte die Erkenntniß ihre Herzen erfüllt haben!

Herr Milden kam mit einem Glase Wasser zurückgestürzt. Der finstere Mann folgte ihm mit gemessenem Schritt.

„Es ist schon vorüber,“ sagte Frau Milden zu den Männern.

„Ein plötzlicher Kanonenschuß kann stärkere Nerven erschüttern.“

„Und unsere Partie?“ fragte Herr Milden.

„Es bleibt bei ihr,“ erwiderte entschieden seine Frau. „Machen wir uns Alle fertig.“

Sie sagte es zu der blassen Frau, zu den beiden Männern, zu dem Domherrn, der eben mit dem Brautpaar ankam. Sie gingen Alle, sich zur Fahrt zu rüsten.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Rest deutschen Urwaldes.

Wer den Böhmerwald bereist, die große Gebirgskette, welche Böhmen von Baiern abgrenzt, wird vielfache Generationen des Waldes um sich erblicken. Im Schatten halb mächtiger Buchen und Fichten wächst ein jüngeres Geschlecht in die Höhe, das sich als muntere Knabenwelt mit seinen Häuptern an die Brust der starken Männer anschmiegt. Alle diese Männer und Jünglinge und auch die der Zukunft entgegenrauschenden Kinder wurzeln aber erst auf den Trümmern einer untergegangenen Greisenwelt. Unzählige junge Nadelholzstämmchen sieht man auf langgestreckten Moderhaufen und vermorschten Stöcken neben einander emporwachsen, von denen freilich die größte Zahl wieder zu Grunde gehen muß. Nur die kräftigsten überdauern den nie rastenden Kampf, und man kennt sie später an der eigenthümlichen Gestalt ihrer Wurzeln. Wie auf vielfüßigem Piedestal erhebt sich der großmächtige Stamm; die Wurzeln haben sich über den alten Strunk, auf welchem das Samenkorn die erste Nahrung fand, hinabgesenkt, bis sie den Boden erreichten, und bilden nun, nachdem Fäulniß und Moder ihre erste Unterlage zerstört, einen säulenartigen

[357]

Holzschlitter im Böhmerwalde.

[358] Bau, der dem nachgewachsenen Stamme zur Stütze dient. So wächst und stirbt hier noch der Wald, der in dieser Ursprünglichkeit und Unberührtheit einzig in Deutschland dasteht. Die unermeßlichen Holzschätze auf einem Gebiete, das größer ist, als manches Königreich, sind alles Gaben einer freispendenden Natur. Heute noch triffst Du hier Urwald in seiner von keiner Axt durchklungenen Stille.

Keine andere Macht, als elementare Naturereignisse, stürzt die riesenhafte Edeltanne, deren Höhe man erst ermißt, wenn sie auf dem Boden liegt. Bäume von 150–200 Fuß, mit einem Durchmesser von 4–7 Fuß, kommen selbst auf Culturstrecken noch häufig vor, und es ist etwas fast Gewöhnliches, daß aus einem solchen ohne Ast und Gipfelholz 12–15 Klaftern geschlagen werden, ja in früheren Jahren hat man 25 Klaftern aus einzelnen Bäumen gewinnen können.

Generation um Generation wächst auf und fällt wieder nieder. Oft bilden diese Leichen, sich weit in die Tiefe erstreckend, den alleinigen Grund. Die große Feuchtigkeit begünstigt das Wachsthum kleiner Wasserpflanzen, Spagnum, welche das Wasser wie Schwämme in sich aufsaugen und sich weit verbreiten und Auen und Moore, mit Seen in der Mitte, entstehen lassen. Bei der Austrocknung einer Moorstrecke bei Eleonorenstein fand man in senkrechter Richtung übereinander fünf Lagen gewaltiger Wurzelstöcke, die folgende immer auf der untergegangenen gewachsen. Nicht überall, aber auf vielen meilenweiten Strecken, wird dieser Urproceß der Stoffumwandlung noch sichtbar, in andern Gegenden ist er bereits überwunden, und man begegnet auf den ausgedehnten Besitzungen österreichischer Grundherren den rationellsten Forstculturen, dazwischen bilden weite Wiesenthäler, ausgedehnte Filze einerseits, dann die der Ackerung allmählich zugeführten Culturen und die großartigen Aushaue und Lichtungen andrerseits die natürlichen und künstlichen Unterbrechungen des Waldes.

Bei solchem Reichthum an Holz ist es in der That von hohem Interesse, darnach zu forschen, wie dasselbe verwerthet werde und welche Erwerbsarten unmittelbar oder mittelbar sich aus dem Walde herausgebildet haben.

Lange Zeit kannten die guten deutschen zähen und stämmigen Bewohner des Böhmerwaldes – so fest und knorrig wie seine Stämme, und so voll mystischer Bräuche und Sitten, wie der dunkle, vom Zwielicht durchzitterte Waldesschatten – den Werth nicht, der im Walde stak. Sie wähnten, dieser sei eben nur geschaffen, um localen Bedürfnissen zu entsprechen. Der Wald war für sie eine Schutzstätte, ein Deckmantel für den Schmuggel, das Zeug, aus dem sie Wohnung und Stadel bereitet, das Wärmematerial für ihre Heerde und Oefen, der Stoff für die Einrichtung der Stube, sowie für ihre einfachen Geräthschaften, Aexte und Schaufeln, Schlitten und Wagen.

Dieses tägliche Bedürfniß gebar auch gar bald ein ganz eigenthümliches Rechtsverhältniß zwischen dem Ober- und Grundherrn auf der einen und dem Waldhäusler auf der andern Seite. Gegen Verabreichung des Klaubholzes, der Dörrlinge, der Waldstreu und des Astholzes von Windbrüchen leistete stillschweigender Weise der Häusler dem Grundherrn sein Stück sauerer Arbeit im Walde, und so entstanden allmählich die Waldservituten, die später mit Mühe und Noth abgelöst worden sind. Im Uebrigen galt die allgemein beliebte Anschauung, daß das Holz für Alle gewachsen sei, und Holzdiebstahl und Schmuggelei durchflochten das einsame Leben des Wäldlers mit manchem traurig romantischen Ereignisse.

Hebung des Wohlstandes, bessere Schulbildung haben auch diese Rechtsverletzungen gemindert. Witz und Anstrengung gegen Gefahr einzusetzen, erscheint bei den erniedrigten Zollsätzen nicht mehr so lohnend, wie sonst, und die blutigen Kämpfe bewaffneter Schmugglerhorden mit Grenzwächtern und Soldatenabtheilungen werden nur in sagenhafter Erinnerung noch gefeiert. Damit indeß die Romantik nicht ganz aussterbe, schleicht sich dann und wann ein Wilderer noch hinaus, und die noble Passion des Jägers, die früher häufig gegen Wölfe und Bären geübt werden mußte, bringt manchem feisten Rehbocke ein ungesetzlich frühes Ende.

Die Wölfe sind im Böhmerwalde bereits zu Fabelthieren geworden. Länger erhielt sich daselbst das Bärengeschlecht. Der vorletzte Bär wurde im Jahre 1835 und der letzte im Jahre 1856 erlegt. Dieser letzte, ein sogenannter Honigbär, war den Forstleuten lange schon, gegen fünfzehn Jahre, bekannt. Man stellte ihm schon lange nach, nicht gerade, um ihn auszurotten, denn er betrug sich gegen das im Walde weidende Vieh sehr artig, sondern um ihn in brauchbarem Zustande für das Museum des Fürsten Schwarzenberg, des größten Grundherrn im Böhmerwalde, zu gewinnen. Als in der Nacht vom 7. zum 8. November 1856 frischer Schnee gefallen war, wurde sein engerer Aufenthalt umstellt, man fand aber erst nach zwei Tagen die Spur und scheuchte das Thier am 11. November auf. Das erste Mal leicht verwundet, rettete sich Petz noch einmal, aber nur, um Tags darauf in regelmäßigem Treibjagen von über hundert Schützen und Treibern seinen Verfolgern in die Hände zu fallen. Es war eine alte Bärin, welche über 250 Pfund wog. Ob dieser letzte Petz noch ein rechtschaffener eingeborener Böhmerwäldler gewesen oder von den Alpen herübergekommen war, dürfte schwer zu bestimmen sein, aber daß im Böhmerwalde noch in den vierziger Jahren Bärenfamilien gehaust, ist eine unbestreitbare Thatsache. Luchse, Füchse, Dachse und wilde Katzen nebst dem Rothwild sind jetzt noch die nicht allzuhäufigen vierfüßigen Bewohner unseres Gebirges.

Die Hauptbeschäftigung der Böhmerwäldler und die ehrlichste war und bleibt die des Holzhauers und des Holzknechtes. In gewissen Gegenden gehört ihr fast jeder Jüngling und jeder Mann an. Haue, Axt, Säge und Hammer führt ein jeder Wäldler mit Virtuosität, und tagaus, tagein werden diese Instrumente am grünen und am trockenen, am gefällten und am gesägten Holze geübt.

Der Holzhauer des Böhmerlandes führt seine Wohnung mit sich, wie die Gartenschnecke ihr Haus. Nichts Primitiveres kann aber auch leicht gedacht werden, als diese niedrige Hütte, zusammengefügt aus vier Wänden und darum so transportabel. Schlafstelle, Werkstätte, Heerd, Alles ist darin improvisirt. Alles geschieht an einer und derselben Stelle unweit der Hütte: die Zersägung der gefällten Stämme in Klötze, die Zerspaltung der letzteren und die Zerlegung in Scheite. Nicht weit davon hat der stolze Riese noch vor Kurzem sein erhabenes Haupt im Lichte gebadet und seine Wurzeln in den dicht bemoosten, kräuterbewachsenen Boden gestreckt, wie für die Ewigkeit geschaffen. Rasch ist durch den Holzschlag eine Lichtung entstanden, in der die Sonnenstrahlen gar herrlich spielen und auf welcher das Holz der gefällten Bäume, harzigen Duft rings verbreitend, bald in Klaftern geschichtet liegt. Mit dem Winterschnee heben nun die Schlittenfahrten des Scheitholzes an. Ein mit einwärts gekrümmten Kufen versehener Schlitten wird, nachdem das Holz darauf mittelst Ketten befestigt ward, über den schneebedeckten Abhang nach den Gebirgsbächen hinabgetrieben. Der Lenker des Schlittens, der vorn auf seinem Fahrzeug sitzt, hält eine eisenbeschlagene Holzstange, den „Krall“, in der Hand, ihn in den gefrorenen Schneeboden stoßend und so als Ruder gebrauchend, während er mit den Schenkeln die Kufen drückt und die Absätze seiner Stiefeln in den Schnee bohrt. Gefährlich ist diese Fahrt, und mancher kühne und geschickte Fuhrmann ist schon ihr Opfer geworden.

So ist das Holz an die in der Regel steinhart gefrorenen Bäche gebracht worden. Erst im Frühjahre, wenn die Fessel des Eises bricht, der Schnee schmilzt und der Gießbach gewaltig in die Schlucht schießt, kann es weiter geschafft werden. Die Schwemme nimmt ihren interessanten Beginn und Fortgang. Die von mehreren in der Höhe gelegenen Gebirgsseen hernieder stürzenden Wässer werden, indem man die künstlichen Schleußen an der Mündung der Gießbäche öffnete, mit ihrer ganzen Gewalt losgelassen, und nun werfen Schaaren von Holzknechten die an den abschüssigen Ufern gelagerten Scheite in die brausende Fluth. Für Auge und Ohr ein mächtiger Eindruck! Stundenweit vernimmt man das furchtbare Brausen und Poltern der von dem Wogengischt über die Felsklippen fortgeschleuderten Scheite. Die längs des ganzen Schwemmterrains aufgestellten Holzknechte halten abermals ihren „Krall“ in der Hand, um die aufgestauten oder in die Klemme gerathenen Scheite von Neuem flott zu machen. In den unteren Partien der Gebirgsbäche sind an gewissen Stellen sogenannte „Rechen“ angebracht. In denselben setzt sich der größte Theil, mit Ausnahme des hie und da verschlemmten oder vertragenen Holzes, fest, und hier wird es herausgefischt und zu unübersehbaren Niederlagen zusammengestellt. Ursprünglich hatte die Spedition damit ihr Ende erreicht, jetzt aber hat die Industrie dem Holztransporte neue weitgreifende Arme geschaffen. Die Großbesitzer, begünstigt durch großartige Mittel, brachen hierbei zuerst die Bahn, indem [359] sie dem Holztransporte durch die fürstlich Schwarzenberg’schen Schwemmcanäle und die Floß- und Schwemmbarmachung der Moldau und ihrer Nebenflüsse Hauptadern eröffneten.

Die kühne Idee, die Moldau mit der Donau durch einen Canal zu verbinden, stammt schon aus einer Zeit, wo es noch nicht so viele Heizmittel gab, wie jetzt, und wo dem Weitersehenden die ungeheure Bedeutung des Böhmerwaldes als Holzproducenten aufgehen mußte. Diese sieben Meilen lange künstliche Wasserstraße für die Holzschwemme ist aber um so merkwürdiger, als sie zum ersten Tunnelbaue führte, den Böhmen besaß, viele Jahrzehnte vor den kleinen Tunnelbauten der das Land nun durchziehenden Schienenwege errichtet. Der durch den Fels getriebene Tunnel ist acht Schuh breit und acht Schuh hoch, ihn durchfurcht eine mächtige Wasserriefe. Ein Forstingenieur, Namens Rosenauer, hat diesen Bau bewerkstelligt und damit im Jahre 1789 begonnen. Bereits als Jägerbursche hatte er den kühnen Plan erfaßt und später dem Fürsten Schwarzenberg vorgelegt, welcher die Mittel zur Ausführung bewilligte. Wien wird schon jahrelang mit dem Scheitholze des Böhmerwaldes beschickt. Auf dem Schwarzenberg’schen Canale allein werden jährlich einige 20.000 Klaftern verflößt. Welche Ausbeute aber manche Besitzungen ihren Eigenthümern gewähren, zeigt, daß blos die jetzige Herrschaft Krumau jährlich gegen 75.000 Klaftern Holz in den Handel liefert.

Kein geringeres Verdienst für die Verwerthung des Böhmerwaldes in die fernsten Gegenden hat einer von Böhmens bedeutendsten Industriellen, Adalbert Lanna, der „Moldaukönig“, wie die Menge den bescheidenen Mann nennt. Schon als Knabe trieb er auf einem Flosse von Budweis nach Hamburg. Das Project der Schiffbarmachung der untern Moldau ließ den jungen Mann nicht ruhen, der, obgleich schon wohlhabend, wie der letzte Diener seines Vaters, eines Schiffmeisters in Budweis, das Ruder in seine kräftige Hand nahm und dessen kühner Geist die Fahrbarmachung der Moldau sich zur Lebensaufgabe stellte. Seine Energie bewirkte in einem geringen Zeitraum, daß die Moldau schon in ihren ersten Anfängen sogar an Stellen flößbar gemacht worden war, welche dieser Absicht durch ihre Klemmen und Klippen die unübersteiglichsten Hemmnisse in den Weg warfen. Nun das Böhmerwaldholz in den Holzhöfen von Prag und weiter hinab in denen an der Elbe zu jeder Stunde berghoch aufgeschichtet steht, blickt man nach dem überwundenen Werke der Flößung wie nach einem Kinderspiele zurück.

Im Böhmerwalde selbst aber haben sich mit der Zeit einige Holz-Industrien herausgebildet, welche zum Theil überall da emporblühen, wo große Waldgebiete eigenthümliche Lebensweise und Beschäftigung bedingen, zum Theil aber auch in der besonderen Beschaffenheit mancher erzeugten Holzsorten ihren Ursprung haben. Ein mit den Bäumen im Böhmerwalde gewachsenes Gewerbe ist die Holzschnitzerei. Sie beschickt die Märkte mit dem gewöhnlichsten Hausbedürfniß, wie mit der zierlichsten Luxusarbeit. Jedes Zündhölzchen, das in Westböhmen weitum seine Dienste leistet, ist aus dem Holze des Böhmerwaldes geschnitten. Siebreife, Stoß- und Falzschindeln, Holzschuhe, Pantoffeln, dann allerhand Küchengeräthe (unter dem Sammelnamen „Waldwaare“ begriffen) werden ebenso hier erzeugt, wie die reichornamentirten Spiegelrahmen, die wir in den Schlössern der Schwarzenberg’s und Bouguri’s gewahren und die ohne Weiteres in das Fach der Kunst eingereiht werden können.

Auf eine noch ganz andere und zwar auf die kostbarste Weise verwerthet man aber seit vielen Jahren, zum Theil in bedeutenden Etablissements, wie das von Strunz in Außergefield und das der Bienerts in den Maderhäusern und in Tusset, das feinste Holz, indem man es zu Instrumentholz, für Resonanzböden und Streichinstrumente verarbeitet. Das Resonanzbodenholz wird aus den am regelmäßigsten gewachsenen Stämmen gewonnen. Die Bäume müssen langsam gewachsen sein, damit die Elasticität der Fasern überall gleich groß ist. Man hat auf einem Stamme, dessen Durchmesser nur 17 Zoll war, 375 Jahresringe gezählt. Die Lagen sind dann nicht stärker als feines Papier. Oft findet sich das schönste Resonanzholz in gestürzten und von der Oberfläche herein bereits vermoderten Stämmen, sogenannten Rannen oder Rohnen, die wohl hundert Jahre schon am Boden liegen. Wenn auch die Oberfläche schon ganz mürbe und zerfallen ist, so daß starke Bäume von 70–80 Jahren darauf gewachsen sind, das Innere ist noch ganz gesund und dann wunderschön weiß und dicht.

Die jüngsten Jahre haben den Holztransport auf eine weitaus andere Basis gestellt. Durch eine Reihe von Jahren ging das Holz zwar schon an den Rhein und nach den Niederlanden – nach manchen beschwerlichen Unterbrechungen durch die Achse – auf der Wasserstraße. Die böhmische Westbahn und die mit ihr fast gleichzeitig in’s Leben getretene Strecke der baierischen Ostbahn von Schwandorf nach Fürth aber haben dem Böhmerwaldsholze andere raschere Straßen, andere Stapelplätze eröffnet und hierdurch einen bedeutenden Umschwung des Holzgeschäftes herbeigeführt. Mit dem gesteigerten Absatz und dem raschen Transport ist die Gewinnung des Holzes plötzlich eine andere geworden. Unglaublich rasch hat sich auch die Dampfbretsäge in den waldeinsamen Gebirgen eingestellt.

Früher wurden die schönsten Fichten des Hochwaldes bei Bischofteinitz zu Kohlenmeilern geschichtet und zur Holzkohle umgewandelt. Diese letztere wanderte wieder nach den Eisenwerken der benachbarten Oberpfalz. Jetzt erhebt die stattliche Friedrichs-Dampfsäge ihre Rauchsäule hoch in die Luft und verscheucht mit ihrem Gepuste die niedrigen Geister einer jämmerlichen localen Industrie. Unzählige prachtvolle Stämme gingen ehedem als ein durch Surrogate kaum zu ersetzender Brennstoff lediglich in die vielen Spiegelglashütten, die als Colonien längs des Böhmerwaldes verbreitet liegen, und wenn auch seit zwanzig Jahren im Böhmerwalde bereits Floßbreter geschnitten werden, so mußten sie doch einen weit beschwerlicheren Weg auf der Achse bis an die Ufer des Main zurücklegen. Alle jene altgewohnte Verwerthung des Holzes ist nun untergeordnet gegen die Consumtion nach den fernsten Ländern in der Ausdehnung, wie sie eben jetzt Platz greift.

Ein interessantes nationalökonomisches Moment ist die durch den gesteigerten Absatz herbeigeführte Umwandlung der Holzpreise. Noch vor zehn Jahren standen diese so niedrig, daß mancher schöne Forst in seinem Erträgniß nicht viel Höheres bot, als was Grundsteuer und Waldwirthschaft wieder verschlangen. Nun haben sich die Preise auf das Fünffache gesteigert, und der Arbeitslohn ging um das Doppelte in die Höhe. Der arme Gebirgsbauer, der sonst freudig lächelte, wenn man ihm im Winter mit seinem Ochsengespann im Tage einen Gulden zu verdienen gab, schüttelt jetzt bedenklich oder gar verdrießlich den Kopf, wenn er nicht mit demselben Gespann mindestens drei Gulden erwirbt. Diese Umwandlung bereiteten zum größten Theile jene Bretsägen, denen man in neuester Zeit die Flügel des Dampfes aufgesetzt. Die dies zuerst mit Glück unternahmen, sind die Gebrüder Kröber aus der Rheinpfalz. Sie übernahmen die erste Dampfbretsäge, von einem Großbesitzer 1859 errichtet, und bauten eine neue, die erwähnte Friedrichsdampfsäge in Hochwald. Solche Colonien zu gründen, ist übrigens auch im Böhmerwalde nicht allzuleicht. Die Baulichkeiten, insbesondere die Arbeiten des Maurers, waren in der Waldeinsamkeit theuer und schwer zu erzielen. Unsere Colonisten überwanden indeß manche Schwierigkeit rasch und fast spielend. Der Wald wurde schnell umgelegt, der Bauplatz geräumt, und schnell wuchsen die Gebäulichkeiten in die Höhe. Maschinen von dreißig Pferdekraft setzen mittelst Transmission und Riemen vier Gattern zu je sechs Sägen und nebstdem zwei Kreissägen in unaufhörliche Bewegung, welche durchschnittlich des Tags 800–1000 Wiener Kubikfuß Holz zu Bretern schneiden. Die Sägespäne und Rinden, durch die Sägen zerrieben, müssen ihren Quälern bald dienstbar werden, indem man sie als Heizmaterial für die Dampfkessel wieder verwendet. Was früher das Verfolgte, wird nun, obgleich scheinbar noch dienstbar, das Verfolgende. Was ist also aus den geheimnißvollen Stellen dieser heiligen Wildniß geworden? – Scheu wirft der Edelhirsch seine verwunderten Blicke auf das neue, geräuschvolle Werk, mit welchem sich der Mensch in sein unbestrittenes Revier gedrängt, und ihr mächtighohen Baumgreise, zittert vor eurem baldigen Untergang! Sonst kämpftet ihr auf verlassener Höhe mit den Elementargewalten, jetzt mit den Elementen der erwachten Industrie. Wenn ihr eure 150 Jahre einmal auf dem Rücken habt und euer Nacken von der Last des Schnees so vieler Winter gebeugt ist, verfallt ihr nun erst unbarmherzig dem Wuthschnauben des Dampfes und dem knirschenden Zahne der Säge.

So ist das alte „tempora mutantur et nos mutamur in illis“ auch auf die Baumpatriarchen des Böhmerwalds anwendbar, von denen wir uns mit diesem Epitaphium für jetzt verabschieden wollen.

[360]
Aus den letzten Stunden einer Monarchie.
Von Johannes Scherr.

Die Uhr des zu den Tuilerien gehörenden Pavillon de l’Horloge schlägt ein Uhr, die erste Stunde des 24. Februar 1848. Die Nacht ist frostig und finster, aber der Widerschein ihrer Myriaden von Gaslichtern macht die über der Riesenstadt hängende Dunstmasse weißlich schimmern. Der alte Königspalast, welcher schon so viele Schicksalswechsel gesehen, diese Tuilerien, in denen Marie Antoinette intriguirt, der Convent vulcanisirt und Napoleon despotisirt hatte, sie zeigen auch zu dieser Stunde in ihrem Innern, wie in ihrer Umgebung, jenes unbeschreibliche Ungewöhnliche, Unruhige, Hastvolle und Bängliche, welches Katastrophen von Herrschern und Staaten vorauszugehen pflegt, wie der Staubwirbel aufwühlende Windstrom dem Gewitter voranwallt. Die Wachtposten sind überall verdoppelt, verdreifacht. Das Gitter des großen Hofes ist geschlossen. Die ganze Vorder- und Hinterfront des Schlosses entlang ist in allen Stockwerken eine Masse von Fenstern erhellt, und man sieht in den Corridoren des Erdgeschosses, wie droben in den Mansardengängen eilende Lichter kommen, verschwinden und wiederkommen. Auf den Treppen, in den Vorhallen und Vorzimmern ein summendes Getöse, nur noch mühselig gedämpft durch den aufgehobenen Finger der Aja Etikette, ein Kommen und Gehen von Staatsmännern und Generalen, Hofherren und Hofdamen, Lakaien und Zofen. Ueberall in’s Längliche oder auch schon in’s Lange gezogene Gesichter, aufgeregte Mienen, Frageblicke, Geflüster und Gewisper. Ein Unheimliches schreitet durch das ungeheure, prächtige Haus. Noch ist dieses Schreiten nur ein Schlürfen, aber binnen etlichen Stunden wird es ein Dröhnen sein.

Kriegerische Zurüstungen ringsher um den Palast. Längs der Rue Rivoli eine Colonne Infanterie unter den Waffen. In den Zwischenräumen reitende Artillerie mit ihren Stücken. Starke Cavalleriepikets in die Rue St. Honoré und bis zum Palais Royal vorgeschoben. Der Quai entlang der Seine, soweit die Tuilerien- und Louvrebauten reichen, ebenfalls wohlbesetzt. Auch hier zwischen dem Fußvolk Artillerie, besonders an den Punkten, wo sich die drei Brücken, Pont Royal, Pont du Carrousel und Pont des Arts, auf das linke Stromufer hinüberlegen. Bei näherem Zusehen wäre in der Haltung der Truppen eine gewisse Schlaffheit und Verdrossenheit bemerkbar geworden: sie hatten schon seit nahezu zweimal 24 Stunden in Wind und Wetter ermüdenden und unliebsamen Dienst gethan. Aber drinnen auf dem Carrouselplatz geht es laut und lebhaft her. Lodernde Pechpfannenfeuer werfen ihren rothen Schein über den weiten Raum, der nach allen vier Seiten mit Truppen sämmtlicher Waffengattungen garnirt ist. In der Mitte ein dichtstehender Halbkreis von Stabs- und Subalternofficieren. Vor der Fronte desselben eine Gruppe von Generalen. Auf der Sehne des Bogens ein Mann von martialischer Figur, Haltung und Gebehrde. Sein von den breiten Schultern zurückgeschlagener Mantel läßt eine reich gestickte Uniform sehen, und auf dem Kopfe trägt er den an den aufgeklappten Rändern mit weißem Federnbesatz eingefaßten Hut eines Marschalls von Frankreich. Ihm zur Seite hält sich ein schlanker Mann in der Uniform eines Generallieutenants, dessen aristokratisch feine, kühle und etwas hochmüthige, aber feste und gescheidte Züge den Herzog von Nemours, Zweitältesten Sohn Louis Philipp’s, erkennen lassen. Hinter dem Marschall erblickt man zwei in Mäntel und Pelze sattsam eingewickelte Civilmänner, zwei soeben, man weiß nicht recht, halb oder ganz entministerte Säulen des „Systems der Corruption“, Guizot und Duchâtel. Der Zweite mag immerhin das Gesicht in den Pelzkragen verstecken: es lohnt sich nicht der Mühe, ihn anzusehen. Schade aber, daß man von Herrn François Guizot nicht mehr zu sehen bekommt. Denn der Mann verdiente wohl näher betrachtet zu werden, als der zu Fleisch und Blut gewordene Doctrinarismus des constitutionellen Systems, als die Verkörperung des zur höchsten Potenz erhobenen Schulmeisterthums der parlamentarischen Fiction.

„Messieurs“, sagt der Marschall Bugeaud mit knapper Hutlüftung kurz und barsch, „der König hat mich mit dem Oberbefehl über die gesammte bewaffnete Macht von Paris, Linie und Nationalgarde, betraut. Man muß ein Ende machen mit den Rebellen. Ihr wißt, wenn ich mich mit ihnen schlug, bin ich niemals geschlagen worden. Habt Acht, daß Ihr mich diesmal meine Jungferschaft nicht verlieren macht.“

Beifälliges Lachen belohnt den Kasernenspaß des Herzogs von Isly, bekannter noch unter seinen populären Titeln: „Kerkermeister von Blaye“ und „Schlächter von der Rue Transnonain“. Aber horch, was trägt der Nachtwind für ein dumpfes Geräusch den Strom herunter, von der Cité-Insel her und herüber aus den volkreichen Quartieren, die sich zur Linken der Seine um das Pantheon zusammenballen und zur Rechten zwischen dem Hôtel de Ville, der Place de la Bastille und den Boulevards gelagert sind? Ein Rauschen und Brausen, bald sinkend, bald schwellend; ein tausendfältig Gemisch von Tönen und Klängen, zersplitternd jetzt in Hunderte von grellen Mißlauten, dann wieder zusammenschlagend in ein Aechzen und Stöhnen und Donnern, als hörte man den atlantischen Ocean wüthend an die Kuppen der Bretagne prallen. Und wiederum, horch, reißen sich aus dem monotonen Gesause einzelne articulirte Töne los: „Allons enfants!“ und antwortet es drüben: „Le jour de gloire est arrivé!“ und wie ein Bündel feuriger Klangraketen zischt zum mächtigen Himmel empor der unsterbliche Refrain: „Aux armes, citoyens!

Der Marschall zieht sich den Mantel dichter um die Schultern und sagt: „Wir werden ein Wort mit den Herren von den Barrikaden sprechen. Doppelte Ladung in die Gewehre! Ihr sollt alsbald meine Befehle haben, Messieurs. Ich gehe, die Dispositionen zur Niederwerfung der Emeute festzustellen.“

Während er, siegessicher, im Etat-Major (Generalstabsgebäude) seinen Plan entwirft, arbeiten sich zwei Männer mühsam und oft angerufen zum Eingang des Palasthofs und von dort zur Hinterpforte des Pavillon de l’Horloge durch. Der eine ist in der Uniform der Adjutanten des Königs, der andere in Civil, – ein Mann weit unter Mittelgröße. Aus dem hinaufgeschlagenen Kragen seines Pelzüberrocks ragt ein ungewöhnlich großer Schädel hervor. Nachdem er sich aus seinen Einhüllungen herausgewickelt, stellt sich der Kleine als ein ziemlich altes Männchen dar mit einem sehr wenig schönen Gesicht, welchem jedoch die Augen viel „Esprit“ verleihen würden, so sie nicht durch große runde Brillengläser verdeckt wären. Er nimmt seinen Hut ab und wischt sich den Schweiß von seiner Stirn, denn er hat unterwegs mit seinen armen kurzen Beinen verschiedene Barrikaden überklettern und so zu sagen ein „Rennen mit Hindernissen“ mühselig bestehen müssen. Dann folgt er seinem Führer, Herrn de Berthois, zum Arbeitscabinet des Königs. Auf dem Wege dahin streifen, von dorther kommend, zwei Herren an ihm vorüber, fast Ellenbogen an Ellenbogen, Messieurs Guizot und Duchâtel, und wie der Kleine sie erkennt, gleitet flüchtig ein sardonisches Lächeln über sein Gesicht. Im Vorzimmer eilt dem Kleinen Herr de Montalivet entgegen, Intendant der Civilliste, eine Person, welche ganz genau einem durch ein Vergrößerungsglas betrachteten Knaben gleicht. Im Uebrigen ein beflissenster Diener des vielgepriesenen „Systems“, dessen logische Consequenz der heutige „Dies irae“. Der geschmeidige Höfling ist deshalb nicht zu tadeln. Hat doch das gesammte „officielle“ Europa das „System“ des Bürgerkönigs als die Quintessenz politischer Weisheit lobgepriesen und zwar mit Recht. Denn es hatte beinahe achtzehn Jahre lang Erfolg gehabt, und der Erfolg ist das göttliche goldene Kalb, um welches schon lange nicht mehr nur die „Kinder Israel“, sondern auch die „Gojim“ vom Aufgang bis zum Niedergang wetteifernd den Ringelreigen tanzen.

„Ah, Monsieur Thiers,“ sagt Herr de Montalivet, „wir sind höchlich erfreut, Sie hier zu sehen. Freilich, der König erwartete nicht weniger von Ihrer Hingebung. Aber schonen Sie den König.“

„Den König schonen? Meine erste Pflicht ist, ihm die Wahrheit zu sagen,“ versetzte der kleine Nothhelfer, in welchem man zu dieser Stunde einen großen sieht. Was doch Alles die Menschen sich einbilden! Thiers, der Verfasser einer napoleonischen Mythologie in zwanzig dicken Bänden, ein „Wahrheitssager“! …

Wenige Minuten darauf – um 21/2 Uhr – stand der napoleonische Mythograph und orleanistische Staatsmann vor dem Sohn Egalité’s, welchem der Königstraum, den er vor Zeiten mit Dumouriez in den Feldlagern an der belgischen Grenze geträumt hatte, im Juli von 1830 zur Wirklichkeit geworden war, zu einer [361] Wirklichkeit, die heute wieder zerrinnen sollte wie ein Traum. Der alte feine Herr, in dessen mit einer wohlfrisirten Perücke bedecktem „Birnenkopf“ eine ganze Rotte von Reineken ihr Malepartus gegraben hatte, war zu dieser Stunde weit entfernt, zu ahnen, daß, lange bevor der Tag zu Ende, seines „Bürgerkönigthums“ ganze Macht und Pracht, in einen schlichten Fiaker verpackt, kläglich-flüchtig davongestoben sein würde. Der vielerfahrene Odysseus des Constitulionalismus hatte doch zuletzt den Wirkungen des Taumelkelchs, welchen Circe Gewalt ihm kredenzte, nicht widerstehen können, und die boshafte Zauberin hatte sich demgemäß beeilt, den Reineke der Reineken in ein – es ist hart und respectwidrig zu sagen, aber wahr – in einen obstinaten anderen Vierfüßler zu verwandeln. Die Ereignisse der zwei letzten Tage hatten zwar dem nahezu Fünfundsiebzigjährigen körperlich tüchtig zugesetzt – er lag überwacht und schachmatt, ganz in Flanell gewickelt, in einem Fauteuil – aber sie hatten ihn vom Rausche des Besitzes der Macht keineswegs ernüchtert. Die Berufung von Thiers, wozu er sich um Mitternacht entschlossen, war ein seinem Stolze schwer abgerungenes Zugeständniß, und als der Gerufene jetzt gemeldet und eingeführt wurde, gab dem Greise sein gekränkter Stolz und seine üble Laune die Kraft, rasch aufzustehen und den kleinen Nothhelfer mit den barschen Worten zu empfangen: „Sie kennen die Sachlage. Ich ließ Herrn Molé rufen. Er will nicht. Ich sah mich also genöthigt, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Haben Sie ein Ministerium parat? Ich brauche auf der Stelle ein solches.“

„Sire, ich erwartete nicht, gerufen zu werden, und habe daher keine Ministerliste bereit.“

„Ah so! Ja, man sagt, daß Sie nicht mehr in’s Cabinet treten wollten.“

„Allerdings, Sire, war das meine Absicht.“

„Sie müssen sich unverweilt nach Collegen umsehen. Sie kennen das Unliebsame, was sich vor dem Ministerium des Auswärtigen begeben hat. Die Regierung kann Nichts dafür, es war ein Zufall, aber die Wirkung eine sehr unglückliche. Ich muß also ein Ministerium aus der Opposition nehmen. Was für Leute werden Sie mir geben? Ich errathe, daß Sie Barrot fordern werden, und habe Nichts dagegen. Er ist ein guter Mensch, obzwar ein schlechter Musikant, will sagen Politiker. Aber die Präsidentschaft des Cabinets müssen Sie und darf nicht Barrot übernehmen. Es bedarf der Festigkeit, ich zähle nur auf Sie.“

„Herr de Remusat?“

„Einverstanden.“

„Herr Duvergier de Hauranne?“

„Ah, Duvergier?“

„Das ist ein Mann von Festigkeit.“

„Von Festigkeit, ja, auf meine Kosten. Doch sei es. Die Herren sind Ihre Freunde, lassen Sie dieselben kommen. Wir wären also hinsichtlich des Persönlichen im Reinen. Was verlangen Sie in Betreff des Sachlichen?“

„Die Wahlgesetz- und Parlamentsreform ist eine unumgängliche Nothwendigkeit. Ich zwar für meine Person war für die Reform des Wahlgesetzes nie sehr eingenommen. Indessen muß man gestehen, daß der Kreis der Wahlfähigkeit und der Wählbarkeit wirklich ein etwas zu enge gezogener ist. Er gestattet einer allzu kleinen Anzahl von Leuten, die Vortheile der Verwaltung auszubeuten.“

„Wie, Sie wollen mir also eine enorm große Kammer und eine enorme Wählerschaft geben?“

„Behüte, fünfzig Deputirte mehr und 150.000 Wähler mehr werden vollkommen genügen.“ (Und das nannte Herr Thiers dem Könige „die Wahrheit sagen“!)

„Nun, wir wollen sehen.“

„Das ist noch nicht Alles.“

„Was denn sonst noch?“

„Mit der gegenwärtigen Kammer können ich und meine Freunde nicht regieren.“

„Ach, Sie wollen die Auflösung der Kammer? Niemals! Nein, niemals werde ich dazu meine Einwilligung geben. Niemals! Um keinen Preis!“ Und dies sagend ging der König in höchster Aufregung im Zimmer hin und her. Mühsam sich beherrschend äußerte er dann: „Was ich für den Augenblick brauche, sind Minister. Suchen Sie mir welche. Wir werden uns später wohl verständigen. Ich willige in alle Ihre Forderungen, die Kammerauflösung ausgenommen.“

„Diese gerade aber ist das, worauf meine Freunde entschieden bestehen werden.“

„Jedenfalls will ich im Moniteur anzeigen, daß ich Sie berufen habe.“

„Es wäre zweckdienlich, meinem Namen den von Barrot beizugesellen.“

„Gut.“ Und der König setzte sich an seinen Schreibtisch und ließ sich von Thiers Folgendes dictiren: „Der König hat Herrn Thiers berufen und mit der Bildung eines neuen Cabinets beauftragt. Herr Thiers hat verlangt, sich Herrn Barrot beigesellen zu dürfen, und der König diesem Wunsch entsprochen.“ Soweit war man, als es 3 Uhr schlug.

„Wann werden Sie zurückkommen?“ fragte Louis Philipp.

„Sire, ich mache mich auf, Minister für Sie zu suchen, und hoffe bis zum Tagesanbruch welche zu finden.“

„Wohl, bis dahin will ich schlafen. Also zwischen 8 und 9 Uhr?“

„Wir sind noch nicht einig über den Hauptpunkt.“

„Das weiß ich.“

„Selbstverständlich werden wir, falls wir uns nicht mit Ihnen verständigen können, nicht in’s Cabinet treten. Wir haben dann freie Hand.“

„Freilich, freilich, und auch ich habe dann freie Hand.“ Er zog die Klingel, befahl die geschriebene Note in die Druckerei des Moniteur zu senden, und sprach hierauf zu Herrn Thiers, der seine Abschiedsverbeugung machte: „Warten Sie, ich muß Ihnen noch sagen, daß ich Bugeaud zum Oberbefehlshaber der bewaffneten Macht ernannt habe. Gehen Sie zu ihm, er befindet sich im Generalstabsquartier. Sie werden sich, da er Ihr intimer Freund ist, leicht mit ihm verständigen.“

Thiers schwieg verlegen.

„Was haben Sie denn? Man sollte glauben, die Ernennung Bugeaud’s mißfiele Ihnen.“

„Sire, ich liebe den Marschall sehr und halte ihn für den ersten Krieger unserer Zeit. Aber, aber … die Ernennung Bugeaud’s ist ein schroffer Widerspruch gegen Ihre durch die Berufung eines Ministeriums aus den Reihen der Opposition angezeigte Absicht, die aufgeregte öffentliche Meinung beruhigen zu wollen.“

„Sie werden mich doch in einem so kritischen Augenblick nicht meines Degens berauben wollen?“

„Nein. Ich will versuchen, den Marschall meinen Collegen annehmlich zu machen.“




Beim Weggehen aus dem Schlosse sprach Herr Thiers im Generalstabsquartier vor, welches sich in dem Pavillon der Tuilerien befand, der, damals noch nicht völlig ausgebaut, an die Rue Rivoli stößt. Der halbe Premierminister – denn er war noch weit entfernt, ein ganzer zu sein – vernahm aus Bugeaud’s Munde Klagen über die Unzulänglichkeit der Streitkräfte und die Unausgiebigkeit der zur Verfügung stehenden Munition. Dessenungeachtet war jedoch der Marschall voll Zuversicht und traf seine Anordnungen mit Sicherheit und Bestimmtheit. Sein guter Muth ermuthigte auch Herrn Thiers, so daß der kleine Nothhelfer ziemlich beruhigt auf die Ministersuche ging.

Die Zahl der Truppen, über welche Bugeaud verfügte, betrug in runder Summe 25.000 Mann, die Nationalgarde nicht mitgerechnet. Der Marschall, welchem die Stimmung der Bürgerwehr von Paris nicht unbekannt war, rechnete auch gar nicht auf dieselbe, sondern verließ sich nur auf die Linie, für welche mittelst Telegrammen Verstärkungen aus dem der Hauptstadt naheliegenden Garnisonen herbeigerufen wurden. Zur Stunde, als Bugeaud in der Nacht den Oberbefehl übernahm, war die Hauptmasse seiner Streitkräfte in den Höfen und Umgebungen der Tuilerien und des Louvre vereinigt, während schwächere Abtheilungen den Platz der Bastille, das Hôtel de Ville, die Polizeipräfectur und das Pantheon besetzt hielten. Das ganze Centrum der Stadt, der Raum zwischen der Rue de la Paix, den Boulevards, der Rue St. Honoré, der Rue Rambuteau und dem Bastilleplatz, befand sich in den Händen des Aufstands, welcher seit der verhängnißvollen Abendstunde des 23. Februars, wo auf dem Boulevard des Capucines vor dem Hôtel Guizot’s (Ministerium des Auswärtigen) das eine Reform-Demonstration in eine Revolution verwandelnde Blutbad stattgefunden, an Umfang, Energie und Rüstung unermeßlich gewonnen hatte.

[362] Ah, sie hatten sich’s Mühe kosten lassen diese Nacht über, die anstelligen, falkenäugigen, flinkhändigen Barrikadenkünstler der alten Lutetia, der „ultima ratio regum“ die „ultima ratio populi“ entgegenzustellen: – 1512 nach allen Regeln der Kunst erbaue Barrikaden, wozu, andere Materialien ungerechnet, 4013 Baumstämme und 1.277.000 Pflastersteine verwandt worden waren. Im Besitze dieser Hunderte von improvisirten Citadellen, schickte das Volk von Paris sich an, die ihm vom Schicksal zugewiesene Rolle, den Nationen vorzuturnen auf dem Turnplatz der Weltgeschichte, wieder einmal mit Anstand, Virtuosität und Grazie durchzuführen. Die Riesenarbeit der Nacht hatte, weit entfernt, die Körper zu ermüden und die Gemüther zu beruhigen, in den Reihen der Insurgenten den Argwohn, den Zorn, die Kampflust nur gesteigert. Das Erscheinen des Moniteur am Morgen war nicht geeignet, diese Stimmung zu beschwichtigen. Das Regierungsblatt brachte nämlich in seinem nichtamtlichen Theile die vage Notiz von der bevorstehenden Einsetzung eines Ministeriums Thiers-Barrot, in seinem amtlichen dagegen die Anzeige, daß der Oberbefehl über die Linie und die Nationalgarde dem Marschall Herzog von Isly gegeben worden sei. „Was?“ schrieen die Barrikadenmänner, „Bugeaud? Der Kartätscher von der Rue Transnonain, der das Blut des Volkes wie Wasser vergossen hat, der Henkersknecht des Systems, dessen Sophist und Jesuit Guizot ist? Daran erkennen wir, was an allen den Reformverheißungen ist. Weg damit und „aux armes, citoyens!“ Noch erhob sich nirgends der Ruf: „Vive la république!“ und es unterliegt keinem Zweifel, daß noch am Morgen des 24. Februars die Massen durch etliche zeitgemäße und ehrliche Zugeständnisse im Sinne der Reform zu beschwichtigen, zu befriedigen und zu gewinnen gewesen wären. Aber mit jeder in diesem Sinne unbenützt verfließenden Stunde, Viertelstunde, Minute wurde die Haltung des Volkes eine drohendere, wurde eine zum Aeußersten entschlossene. Sehende Augen und hörende Ohren merkten das Herannahen einer gewaltigen Katastrophe. Auf den Stirnen republikanischer Führer glänzte Heiterkeit und um ihre Lippen spielte ein Hoffnungslächeln: sie spürten in allen Fibern, daß dieser Tag die Möglichkeit bringen könnte, vielleicht bringen müßte, den großen Würfelwurf zu wagen.

Derweil war Bugeaud auch nicht müßig gewesen, das Feld, auf welchem er dem Volke die voraussichtlich bevorstehende Schlacht liefern wollte, zu prüfen und die Stellungen seiner Streitkräfte darauf zu bezeichnen. Zwei große Linien markirten sein strategisches Terrain: die Boulevards und die Seinequais. Auf dem rechten Ufer des Stroms mußten als wichtige Punkte im Auge behalten werden das Schloß, das Hôtel de Ville, die Bank, die Place des Victoires und weiterhin der Concordeplatz und Bastilleplatz, in der Mitte der Boulevardsbogenlinie durch die Porte Saint-Denis mitsammen verbunden; auf dem linken Ufer ebenso der Invalidenpalast und die Militärschule, das Palais Bourbon (Sitzungslocal der Deputirtenkammer), die Polizeipräfectur und das Pantheon. Der Marschall hatte beschlossen, einen Angriff von Seiten der Insurrection nicht abzuwarten, sondern demselben durch agressives Vorgehen zuvorzukommen. Demzufolge organisirte er vier Marschcolonnen. Die erste derselben sollte, geführt vom General Sebastiani, durch die Straßen Saint-Honoré, des Prouvaires und Rambuteau zum Hôtel de Ville vordringen, wohin sie auch, um fünf Uhr vom Carrouselplatz abmarschirend, um sieben Uhr wirklich gelangte. Die zweite Colonne marschirte unter Führung des Generals Bedeau um halb sechs Uhr von den Tuilerien ab und hatte die Aufgabe, durch die Straßen Richelieu, Vivienne, Feydeau, Montmartre nach den Boulevards und diese entlang auf den Bastilleplatz zu gelangen. Die dritte Colonne setzte sich, befehligt vom Oberst Brunet, gegen sechs Uhr in Bewegung, um, durch die Straßen Saints-Pères, Jakob, de Seine, Tournon und Saint-Dominique marschirend, den beim Pantheon stehenden General Renault zu verstärken. Die Führer dieser Angriffscolonnen hatten Befehl, die Barrikaden auf ihrem Wege mit Sturm zu nehmen und jeden ihnen begegnenden Widerstand energisch niederzuschlagen. Eine vierte Colonne behielt Bugeaud unter seiner eigenen Hand. Er wollte damit im Rücken der zwei ersten operiren, um jede Wiederherstellung der genommenen und zerstörten Barrikaden zu verhindern. Ein fünftes Geschwader endlich sollte unter dem Befehl des Generals Rulhières als Reserve auf dem Carrouselplatze zurückbleiben. Von der Nationalgarde glaubte der Marschall bei seinen Anordnungen ganz absehen zu dürfen. Ein schwerer Irrthum! Denn die Reformstimmung der überwiegenden Mehrheit der Bürgerwehr machte die „Bärenmützen“ mit den „Blousen“ sympathisiren, und das Erscheinen der ersteren an der Seite der letzteren verdoppelte und verdreifachte die Unlust der Soldaten, ausdauernd und rücksichtslos für das Julikönigthum sich zu schlagen. Für dieses wurden, wie so oft für stürzende Gewalten, jetzt sogar seine guten Seiten zu Untergangsmotiven. Unter diesen guten Seiten hatte Louis Philipp’s standhafte-Friedensliebe die erste Rolle eingenommen, eine Tugend, in welcher die Gloire-, Beute- und Avancementssucht der Armee nur ein Laster sah. In ihren Reihen war der „Bürgerkönig“ längst entpopularisirt und, Alles zusammengehalten, war demnach zum energischen Schlagen für das Bestehende von der ganzen bewaffneten Macht nur die „Municipalgarde“ entschlossen, ein aus Unterofficieren gebildetes Corps, die Blüthe der straffen Militärsubordinaten.

Trotz alledem wiegte sich Bugeaud, den Grad der Entschlossenheit, Thatkraft und Rücksichtslosigkeit Anderer, namentlich des Königs, an dem seiner eigenen messend, in der trügerischen Hoffnung eines Triumphs, dessen er zum Voraus genoß. Denn nachdem er seine Angriffscolonnen in Marsch gebracht hatte, setzte er sich hin und schrieb an Herrn Thiers: „Schon lange hab’ ich vorhergesehen, mein Freund, daß wir Beide berufen werden würden, die Monarchie zu retten. Mein Entschluß ist gefaßt, ich habe meine Schiffe verbrannt. Sowie ich die Emeute besiegt haben werde – und wir werden sie besiegen, denn die Lässigkeit der Nationalgarde und der Mangel an Unterstützung von dieser Seite sollen mich nicht aufhalten – will ich gern als Kriegsminister in das von Ihnen gebildete neue Ministerium eintreten, falls meine angebliche Unpopularität kein unübersteigliches Hinderniß ausmacht….“ Eine fast in’s Komische fallende Probe menschlicher Selbsttäuschung fürwahr! Längstens zwei Stunden nach Niederschreibung dieser Zeilen war die „Emeute“ entschieden obenauf und in unwiderstehlichem Vorschritt zum Siegesziel begriffen. Zu dieser Stunde geschah auch ein Zeichen, welches in den Straßenkämpfen von Paris stets als eines der Ausschlag gebenden gegolten hat. Die Zöglinge der polytechnischen Schule erklärten dem Chef der Anstalt, daß sie sich an dem Aufstand betheiligen wollten und würden, zogen ihre Uniformen an, bewaffneten sich und eilten schaarenweise nach den verschiedenen Kampfplätzen, um sich in die Bewegung zu werfen, deren Wogen von Minute zu Minute höher und höher gingen. Schon befanden sich wichtige strategische Punkte, z. B. die Porte Saint-Denis, der Siegesplatz, fünf Kasernen und außerdem die Mehrzahl der Mairien, in den Händen des kämpfenden Volkes, andere waren dicht von demselben eingeengt. Mehr und mehr sahen sich die operirendcn Truppenkörper voneinander abgeschnitten und, ermattet, hungrig und kampfunlustig, wie sie waren, immer hülfloser in das ungeheure Straßennetz verstrickt, dessen Maschenknoten die Barrikaden bildeten.
(Fortsetzung folgt.)




Ein unenthülltes Staatsgeheimniß.
Historische Skizze von Georg Hiltl.


Die Parks und Salons des berühmten Schlosses zu Versailles hatten schon mancherlei wunderbare und eigenthümliche, merkwürdige und berüchtigte Persönlichkeiten zwischen ihren Bäumen wandeln sehen und in ihren Mauern beherbergt. Was war seit der Erbauung des mächtigen Königssitzes Alles daselbst verhandelt? Von dort aus entschied sich fast ein Jahrhundert lang das Geschick Europa’s, in jenen dunklen Laubgängen, an jenen blitzenden Cascaden und großartigen Springbrunnen entspannen sich die verwickelten, tausendfachen Fäden bedeutungsvoller Palastintriguen. Dort schürzten die schönen Hände ehrsüchtiger, genialer Frauen die Maschen zu den einen Welttheil umstrickenden Netzen. Versailles war es bekanntlich, dessen schiefangelegte Fenster in einer Schloßbeamtenwohnung den unheilvollen Krieg Frankreichs gegen die Pfalz entzündeten; um eines allzu schräg eingesetzten Fensters willen ward das herrliche Schloß zu Heidelberg eine Ruine.

Und noch gar manche ähnliche Dinge lassen sich aus Versailles [363] berichten. Es war ein großes, offenes, zugängliches Haus! Man hätte meinen sollen, dort seien keine Geheimnisse vorhanden, und doch gab es deren genug. Vieles zog dort aus und ein, was den Besuchern ein Räthsel blieb; sie sahen die Person, sie sprachen mit ihr – aber ihre Wirksamkeit verstanden sie nicht, ihr geheimnißvolles Treiben barg sich unter glänzender Hülle, genialer Leichtfertigkeit oder stummer Unterwürfigkeit. Der Sieur d’Artagnan, Herr v. Saint Mars, Griffet, Fouquet; dann die Mitwisser des gräßlichen Geheimnisses der eisernen Maske etc., welch’ eine Fülle von Mysterien bargen sie in ihrer Brust!

Als der sittenreine Ludwig XVI. den Thron bestiegen hatte, wurden die räthselhaften Persönlichkeiten seltner. Der König war kein Freund von solchen historischen Raritäten. Um so größer war die Neugierde des Hofpersonals, als im Jahre 1777 eine Erscheinung auftauchte, welche ganz geeignet war, ein Heer von Vermuthungen auszurüsten und die sonderbarsten Vorstellungen zu erzeugen, eine bisher noch nicht dagewesene Erscheinung.

An einem Tage im Augustmonate war die Einfahrt zu dem großen Hofe förmlich belagert von Hofleuten beiderlei Geschlechts. Man raunte einander in die Ohren, man tuschelte, man reckte die Hälse. Der König war mit seiner ganzen Familie anwesend. Er hatte schon seit dem frühen Morgen es sehr mißfällig bemerkt, daß sich verschiedene Unberufene eingefunden hatten. Diese waren aus keinem andern Grunde gekommen, als um das räthselhafte Geschöpf zu sehen, dessen Ankunft Ludwig XVI. erwartete.

Sehr bitter wurden die Gaffer enttäuscht. Nach langem Harren erblickten sie zwar die ersehnte Kutsche, welche das Wunder barg, aber die Fenster dieser Kutsche waren durch grünseidene Vorhänge dicht geschlossen. Die Pferde wurden durch den Kutscher zu rasender Eile getrieben, und zum großen Verdruß des schaulustigen Publicums fuhr der Wagen nicht in den großen Hof, sondern bog dicht vor dem Gitter links ab, lenkte in den Seitenhof ein und hielt dann am Fuße der kleinen Treppe, von welcher aus man direct in die königlichen Zimmer gelangte und auf deren letzter Stufe Ludwig XV. den Messerstich von Damiens’ Mörderhand empfing. Zu diesem gleichfalls vergitterten Vorplatze erhielt aber Niemand Zutritt, wenn der König nicht Empfangtag anbefohlen hatte, und so mußten die Getäuschten mit langer Nase abziehen.

Der auf dem Wagenschlage stehende Lakai öffnete und half einer reichgekleideten Dame aus dem Wagen. Die Dame war tief verschleiert. Sie stieg die Stufen hinan, ging langsam, aber fest auftretend, durch den Corridor bis in das Vorzimmer des Königs und blieb dort stehen, während der dienstthuende Kammerherr die Meldung von ihrer Ankunft machte. Nach kurzem Harren öffnete sich die Thüre zu den Zimmern des Königs. Derjenige, der sie öffnete, war der Monarch selbst. Er winkte der Verschleierten sehr artig hereinzukommen und sprach die einer Dame gegenüber allerdings seltsamen Worte: „Treten Sie näher, mein Herr Chevalier!“

Die große Gesellschaft im Hofe hatte nun freilich nicht Gelegenheit bekommen, das seltsame Geschöpf in der Nähe zu betrachten, allein die wenigen, die sich im Vorzimmer des Monarchen befanden, waren um so schneller bereit, ihre Bemerkungen mitzutheilen. Das Wunderbarste an der ganzen Sache war aber, daß alle Welt die Person selbst kannte, daß man von ihrem früheren Leben ziemlich genau unterrichtet war, nur die Verwandlung des Costüms blieb das Räthselhafte.

Jene Dame nämlich, welche der König Ludwig XVI. am 19. August 1777 so artig empfing, war Niemand Anderes, als der Chevalier Timothée d’Eon de Beaumont, bekannt in der Welt der Höfe unter dem Namen Chevalier d’Eon.

Aber dieser Chevalier trug Weiberkleidung. Wie war er in diese gekommen? D’Eon war bekannt als tüchtiger Soldat, gewandter Staatsmann, unerschrockener Duellant und Mann von gediegener Bildung. Am 5. October 1728 zu Tonnerre in Burgund geboren, hatte er nach vollendeten Studien durch den Prinzen Conti eine Anstellung bei der Gesandtschaft in Rußland erhalten. Der verschlagene junge Mann leitete nun fünf Jahre lang die geheime Correspondenz der Kaiserin Elisabeth mit Ludwig XV. Er war eine der stärksten Federn, welche den mächtigen Bestuscheff in die Lüfte schnellten. 1758 trat der Chevalier in die Reihen der französischen Armee als Rittmeister des zweiten Dragonerregiments. Hier war er einer der unerschrockensten Kämpfer, bei jeder Veranlassung war sein Degen blank, und vielleicht ist hierin die einzige Erklärung zu suchen, warum einem bedeutenden Diplomaten, einem bewährten Officier, einem Soldaten, dessen Brust viele Orden zierten, einem Gelehrten und einem mit den wichtigsten Geschäften beauftragten Agenten der Regierung durch zwei Monarchen der Befehl werden konnte, zeitlebens Weiberkleider zu tragen und sein Geschlecht zu verleugnen.

D’Eon war in der That ein Räthsel während seines Lebens. Die zahllosen Scenen, welche er schon vor der sonderbaren Metamorphose seiner äußern Erscheinung veranlaßte, würden ein ziemlich umfangreiches Buch füllen. Hier einige, welche verhängnißvoll für ihn wurden.

Während des Herbstes 1770 erfüllten ganz London die Berichte eines fast pöbelhaften Auftrittes, welcher sich zwischen angesehenen Beamten der französischen Gesandtschaft ereignet hatte. An dem Vormittage des 29. August 1770 lag der Gesandtschaftssecretair Chevalier d’Eon nachlässig auf seinem Sopha ausgestreckt. Er hielt ein Buch in der Hand und wollte sein Haupt soeben in die Kissen senken, als der eintretende Diener einen Herrn von Vergy anmeldete. Der Chevalier nahm den Besuch an, hieß den Eintretenden freundlich niedersetzen und fragte nach seinem Begehr.

„Ich bin ein Mann der Feder,“ entgegnete der Herr von Vergy. „Ich wünsche England den Franzosen bekannter zu machen, als es bisher geschehen, und möchte, daß die Franzosen in England besser gekannt würden. Ihr Name, Herr Chevalier, ist ein so geachteter, daß ich bei meinen Bestrebungen gern auf Ihre Beihülfe zählen möchte.

„Sie besitzen Empfehlungsschreiben?“ fragte d’Eon mit leichter Verbeugung.

„Männer wie ich bedürfen derselben nicht, sonst könnte ich hundert für eines aufzeigen.“

„Es wäre aber doch vortheilhaft für Sie, mein Herr, wenn Sie Briefe an den Gesandten Frankreichs, Herrn von Guerchy, mitgebracht hätten.“

„Ich brauche keine Briefe. Mit dem Grafen Guerchy habe ich so häufig soupirt und mich mit ihm in Gesellschaft der Marquise Villeroy und Frau von Lirré amüsirt, daß ich in ihm einen Freund finde, der mich mit offenen Armen, mit dem Rufe: ‚Willkommen, mein Vergy!‘ empfangen und mir die Wange küssen wird.“

Dies war der Anfang einer Unterhaltung, die sich bald um gleichgültigere Dinge drehte. Oeftere Besuche des Herrn v. Vergy bei dem Chevalier d’Eon fanden statt. Endlich versuchte Herr von Vergy, durch Vermittelung des Chevaliers Briefe nach Frankreich zu befördern. D’Eon, mißtrauisch gemacht, öffnet die Briefe und findet eine sehr frivole Correspondenz zwischen Vergy und einer berüchtigten Dame, gleichwohl waren die Briefe mit der Adresse des Herzogs von Choiseul versehen. Welchen Antheil der Herzog an dieser Intrigue gehabt, das ist nie klar geworden.

Kurze Zeit darauf schickte Herr von Vergy einen Aufsatz über England zur Prüfung an d’Eon ein, der ihm das Manuscript zurücksendete. Der Aufsatz enthielt nur Scandalosa. Der Chevalier, der während des erledigten Gesandtschaftspostens in London die Geschäfte Frankreichs geführt hatte, war durch das Erscheinen des Herrn von Guerchy entschieden beleidigt. Man hatte einen Mann mit der Würde des Gesandten betraut, der nicht so in die Geheimnisse des Staates eingeweiht war, wie d’Eon. Die Folge davon mußte eine Gereiztheit sein, der sich Mißtrauen zugesellte, und so betrachtete denn der Chevalier den mystischen Herrn von Vergy auch bald als ein Werkzeug seiner Feinde, wenigstens konnte er nicht daran zweifeln, daß er einen Abenteurer vor sich habe.

D’Eon war freilich eine in gewissem Sinne gefährliche Person. Er besaß eine große Menge von Briefschaften und Papieren der wichtigsten Art. Seine Beziehungen zu dem russischen Hofe einer- und dem französischen Hofe andrerseits müssen sehr vertrauter Natur gewesen sein. Indessen bleibt es immerhin räthselhaft, weshalb man nicht zu dem unter Ludwig XV. so sehr beliebten Mittel der Einsperrung in die Bastille griff, sondern ein anderes wählte, das an Bizarrerie seines Gleichen suchte: den Chevalier d’Eon in ein Weib zu verwandeln. Hierzu eben scheint die Person de Vergy’s benutzt worden zu sein.

Nicht lange nämlich nach diesen räthselhaften Besuchen bei d’Eon, deren Zweck nie ganz aufgeklärt worden ist, erschien de Vergy in den Salons des Gesandten, Grafen Guerchy. Der [364] Chevalier, dem die Anwesenheit Vergy’s unbekannt war, reichte seinen Arm der Gesandtin, um sie in das Gesellschaftszimmer zu führen.

„Kennen Sie einen Herrn von Vergy?“ fragt die Dame.

„Nein, Madame. Ich habe keine Bekanntschaft mit Lumpen und Aufschneidern.“

„Aber, mein Gott, er rühmt sich Ihrer Freundschaft.“

„Er ist ein Lump, Frau Gräfin, der sich ein Ansehen geben und Jedermann glauben machen will, er verkehre mit den ersten Leuten des Staates. Ich verleugne seine Bekanntschaft.“

„Halten Sie wenigstens Frieden.“

Man trat in das Gesellschaftszimmer. Hier war die auserlesenste diplomatische Versammlung zu finden, und d’Eon bemerkte mit Erstaunen, daß Vergy ganz vertraulich in eifriger Unterhaltung mit dem Grafen Guerchy begriffen war.

„Die Herren kennen sich?“ fragte der Graf, dem Chevalier den Gast vorstellend.

„Ich kenne diesen Herrn nicht,“ betonte d’Eon. „Ich erwarte seine Empfehlungsbriefe.“

„Sie kennen mich nicht, Chevalier?“

„Nein, mein Herr. Auch der Herr Gesandte küßt Ihnen die Wangen nicht, obwohl er mit Ihnen bei der Herzogin von Villeroy und Frau von Lirré soupirt hat.“

Die ganze Versammlung durchtönte ein Gemurmel des Erstaunens. Vergy war ihnen Allen nur eine ganz gewöhnliche Persönlichkeit, wie sie hundertweise in den Salons auftauchten. Hatte der Gesandte irgend einen Grund, seine Beziehungen zu Vergy zu verheimlichen?

„Ich habe nie mit Herrn de Vergy soupirt, und lerne ihn heute zum ersten Male kennen,“ sagte der Gesandte ruhig.

„Dann hat Herr de Vergy gelogen,“ entgegnete d’Eon mit gleicher Mäßigung.

„Diese Unverschämtheit, mein Herr, fordert Genugthuung,“ schrie Vergy wüthend.

„Ich könnte Ihnen eine solche geben, Herr von Vergy, wenn wir uns nicht in den Salons des Gesandten befänden. Ob ich den Degen dazu anwenden würde, ist eine andere Frage,“ sagte d’Eon.

Man sollte nun glauben, der Gesandte müsse einem Manne, den er in so beleidigender Weise desavouirte, die Thür gewiesen haben – keineswegs. Er begnügte sich, die Herren um Ruhe zu bitten, und Herr von Vergy blieb im Salon, woselbst er sich auf das Unbefangenste in die Conversation mischte.

Am folgenden Tage, als der Chevalier d’Eon von einem Spaziergange in seine Wohnung zurückkehrte, meldete sein Kammerdiener: „Herr von Vergy war hier. Er fragte nach dem Herrn Chevalier, und da ich ihm sagte, Sie seien um 9 Uhr zu finden, entgegnete er in hochfahrendem Tone: ‚Morgen um 10 Uhr bin ich hier. Sagt nur Eurem Herrn, ich hoffe er werde sich nicht verleugnen lassen?‘“

„Aha! ein Duell,“ dachte der Chevalier. Er war bei Lord Halifax zum Diner geladen. Bei seinem Eintritt in den Speisesaal fand er die Gesellschaft schon versammelt. Plötzlich trat der Gesandte, Graf Guerchy, auf ihn zu und fragte mit lauter Stimme: „Sie sind noch in London, Herr Chevalier? weshalb haben Sie nicht gestern schon Ihre Abschiedsbesuche bei Sr. britannischen Majestät gemacht?“

Der Chevalier glaubte zu träumen. Er wies jedoch bald den Gesandten mit kurzen Worten zurecht und erklärte, daß er nur dem directen Befehle des Königs nachkommen werde. Man ging zu Tische. Graf Guerchy, Lord Sandwich und Mr. Grenville baten den Chevalier, jeden Groll gegen Vergy zu vergessen und namentlich kein Duell anzunehmen. D’Eon weigerte sich. Halifax aber zog eine Schrift hervor, welche er dem Chevalier vorlegte und die er von demselben unterschrieben haben wollte. Die Schrift enthielt das Versprechen, niemals sich an Vergy’s Person mit den Waffen in der Hand rächen zu wollen.

Das war sehr auffällig. Welche Gründe hatte man, den Abenteurer zu schützen? D’Eon weigerte die Unterschrift. „Ich habe ein Billet für heute Abend zur Oper genommen. Es ist Zeit, daß ich gehe.“ Mit diesen Worten schritt der Chevalier zur Thür. Sie war verschlossen. „Eine Falle für den Bevollmächtigten der französischen Krone?“ rief d’Eon den Degen ziehend.

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür. Ein Gefreiter und acht Mann Gardesoldaten traten ein. Sie hatten die Bajonnete aufgepflanzt und besetzten den Eingang. „Unterschreiben Sie,“ rief Guerchy, „oder man wird Sie diesen Herren anvertrauen.“

„Das ist schreiende Gewalt, Herr Graf. Aber gerade diese Maßregel reizt meinen Widerstand. In Gegenwart der Soldaten unterschreibe ich nicht.“

Es entstand eine sehr bewegte Scene. Der Wortwechsel ward so heftig, daß die Leute auf der Straße stehen blieben und vor Halifax’s Hotel, in der Great George Street, sich zahlreiche Gruppen bildeten. Zwei Herren wurden von d’Eon mit Ohrfeigen tractirt, und endlich mußte die Wache abtreten. Nachdem Ruhe geworden, zog Guerchy eine königliche Ordre aus der Tasche, welche dem Chevalier d’Eon befahl, jene Schrift zu unterschreiben. Guerchy mußte die Ordre also schon für alle Fälle sich früher verschafft haben. D’Eon unterzeichnete.

Am folgenden Tage erschien Herr von Vergy um 10 Uhr und war sehr großmäulig. Ohne Zweifel sollte er d’Eon bis zum Aeußersten reizen und ihn zum Bruche seines schriftlichen Ehrenwortes bringen. Der Chevalier war jedoch zu sehr auf seiner Hut. Er unterdrückte den Dragoner und ließ den Diplomaten erscheinen. Er führte den Herrn von Vergy in sein Cabinet, worin verschiedene Säbel und Pistolen hingen. Hier zeigte sich die Feigheit des Abenteurers. Er glaubte nichts Anderes, als d’Eon wolle ihn tödten. Diese Aengstlichkeit benutzte der Chevalier. Vergy mußte ein Billet unterschreiben, in welchem er versprach: „Sich binnen vierzehn Tagen von dem Verdachte, ein Spion oder Aventurier zu sein, zu reinigen, widrigenfalls Jedermann das Recht haben solle, ihn einen ehrlosen Menschen zu nennen.“ Er hat sich nie von diesem Verdachte gereinigt. D’Eon schickte eine Copie des Briefes an Guerchy mit folgenden Zeilen:

„Ew … sende ich die Copie des Briefes, den Herr von Vergy mir geschrieben. Er wird zu thun haben sich zu reinigen.

Mit Ihnen, Herr Graf, rechne ich später ab.  d’Eon.“

Hier endete vorläufig die eigenthümliche Geschichte, deren Gang, Zusammenhang und Fäden niemals beleuchtet oder bloßgelegt worden sind. Was aber nun erfolgte, war noch weit eigenthümlicher. Graf Guerchy berichtete sofort nach Paris und verhehlte nicht, wie sehr er von dem leidenschaftlichen Charakter d’Eon’s Alles zu fürchten habe; außerdem habe sein Sohn, der junge Graf Guerchy, geschworen, dem Chevalier, wo er ihn finde, den Degen durch den Leib zu rennen. Zur Verhütung großen Unheils werde es daher sehr gut sein, den Chevalier d’Eon aus London abzuberufen.

Hier beginnen neue und größere Mysterien ihre Schleier auszubreiten. Ludwig XV. ließ den Chevalier zurückrufen. Zugleich aber erfolgte eine Sendung von 12.000 Livres an d’Eon, „damit er anständig in London auftreten könne.“ D’Eon blieb.

Plötzlich tauchten in allen Salons, in allen Clubs, sogar in einigen Zeitungen, wie Daily Advertiser, Gerüchte auf, welche den in Scandale mit den Guerchys verwickelten Chevalier d’Eon in ein Weib verwandelten. Man erzählte sich als ausgemachte Sache: d’Eon sei eine Frau, sie habe lange Zeit alle Welt getäuscht, sei in Dragonertracht in’s Feld gezogen, bei Minden verwundet worden, wobei man ihr Geschlecht entdeckt und sie nur durch vieles Bitten und großen Einfluß wieder die Erlaubniß erhalten habe, Männerkleider zu tragen.

Man wies auf die weibischen Züge, die runden Körperformen der Amazone hin, auf den unbedeutenden Schimmer eines Bartes, und die feine, fast melodisch klingende Stimme. Letztere Behauptung war noch die schlagendste, denn der Chevalier sprach in der That sehr fein, und nur im Zorne nahm sein Ton eine etwas tiefere Klangfarbe an. Wer diese Gerüchte in Schwang gebracht, mit wessen Hülfe sie in die Massen gelangten, das ist schwer zu beweisen. Daß sie von dem Hotel der französischen Gesandtschaft ausgingen, unterliegt keinem Zweifel. Am auffälligsten mußte das hartnäckige Schweigen des Chevaliers erscheinen. Er konnte durch eine Erklärung die Gerüchte zerstreuen – er schwieg nicht nur, er ließ sogar hier und da Reden fallen, in denen er selbst sein Geschlecht zu verleugnen schien. Die sprüchwörtliche Verrücktheit der Engländer machte sich wieder bei dieser Gelegenheit bemerkbar. Man ging ungeheure Wetten bezüglich des Chevaliers ein, man suchte sich an ihn zu drängen, und bald war die Meinung feststehend, daß d’Eon ein Weib sei.

Aller Zweifel, den Einer oder der Andere hegen mochte, schwand

[365]

Chevalier Timothée d’Eon de Beaumont,
Doctor beider Rechte, französischer Dragoner-Capitain und Adjutant des Marschalls Herzog von Broglie etc. etc. etc.[1]

aber vollständig, als eines Abends der Chevalier in die Loge des Opernhauses in Weiberkleidung trat. Die Sensation war ungeheuer. Man denke sich: ein Diplomat, Soldat, Duellant, Gelehrter, Lebemann, Raucher, Spieler - plötzlich als Dame vor das scandalsüchtige Publicum tretend! Ueber 30 Jahre hatte also die Täuschung gedauert.

Tags darauf empfing die Chevalière zwei Heirathsanträge von hohen, für die Irrenanstalt reifen Lords.

Der Befehl, Weiberkleider zu tragen, war dem Chevalier vom französischen Hofe aus zugegangen. Aus welchem Grunde? weshalb nahm d’Eon diesen Befehl willig und gehorsam hin? Die Meinung Derjenigen, welche ihn nicht für ein Frauenzimmer, sondern für einen verkappten Mann hielten, war: „daß man dem Chevalier die Tracht eines Geschlechtes anbefohlen, dem man Alles verzeiht, weil man ein Duell mit Guerchy oder dessen Sohn gefürchtet habe.“ Sollte aber dafür die Regierung nicht weniger auffallende Mittel gewußt haben? Würde der leidenschaftliche d’Eon so ohne Weiteres auf die scandalöse Vermummung eingegangen sein, nur um ein Duell zu verhindern? Weshalb fügte er sich willig und nährte sogar die Zweifel? Die Verleumdung und ihr Organ, die Chronique scandaleuse, säumten denn auch nicht, recht bald einen triftigen Grund für die Verwandlung des Chevaliers herauszufinden.

„Sie wissen jetzt noch nicht,“ fragte Einer den Andern, „weshalb d’Eon Weiberkleider tragen muß?“

„Nein! Woher denn Ihre Kenntniß in der Sache?“

„Bah! Oeffentliches Geheimniß. Die Gattin Georg’s III., Sophie Charlotte, hat die zärtlichste Neigung für den Chevalier gefühlt. Der König überraschte eines Tages ein Rendez-vous, und der Leibarzt der Königin, um deren Ehre zu retten, gab vor, d’Eon sei ein Frauenzimmer. Georg III. erkundigte sich bei Ludwig XV., worauf dieser, um die Schmach seines königlichen Freundes zu verbergen, sofort die Aussage des Arztes bestätigte; damit aber der Ausspruch Ludwig’s volles Gewicht habe, mußte der Chevalier fortan Weiberkleider anziehen.“

Die Ungereimtheit dieser Behauptungen liegt auf der Hand. Ludwig XV. als Ehrenretter des englischen Hofes –! Uebrigens war die Tugend Sophie Charlotte’s stets über jeden Zweifel erhaben.

Die politischen Begebenheiten ließen den Chevalier d’Eon bald [366] wieder in Vergessenheit kommen. Erst beim Tode Ludwig’s XV. erinnerte man sich seiner. Würde Ludwig XVI., dem Nichts verhaßter war als Scandal und Auffälligkeiten, den Chevalier dennoch zwingen seine Weiberrolle fortzuspielen? Man glaubte es nicht. Allein man täuschte sich.

In London erschien einer der gefürchtetsten und genialsten Männer seiner Zeit, Beaumarchais, um im Auftrage des Königs mit d’Eon zu unterhandeln. Der Chevalier besaß Papiere von höchster Wichtigkeit. Ludwig mußte sie in Händen haben. Beaumarchais begann Unterhandlungen mit d’Eon. Sehr wunderbarer Weise hat selbst ein Mann von Beaumarchais’ Verschlagenheit getäuscht werden können. Er scheint d’Eon wirklich für ein Frauenzimmer gehalten zu haben und dazu für ein solches, dessen Neigung er gewonnen zu haben glaubte. Wahrscheinlich hat der Chevalier, auf die Eitelkeit Beaumarchais’ ein wenig speculirend, Neigung geheuchelt, um für die in seinem Besitze befindlichen Papiere eine größere Kaufsumme zu erhalten. Zugleich aber mit dieser Summe händigte Beaumarchais dem Chevalier auch den Befehl des Königs ein: Nie wieder die Weiberkleidung abzulegen und öffentlich anzuerkennen, daß er ein Frauenzimmer sei.

Das war den Neugierigen zu viel. Wenn selbst Ludwig XVI. solche Befehle ertheilte, dann mußte es seine ganz absonderlichen Ursachen haben und immer dichter zog sich der Schleier, der das Geheimniß verhüllte. Beaumarchais ging nach Paris, mit sich führte er den eisernen Kasten, welcher die gekauften Papiere enthielt. Wie vieles lag verborgen in diesen Schriften? in welchen Verhältnissen mußte die rätselhafte Person zu dem Hofe von Frankreich gestanden haben, die im Besitze solcher Geheimnisse war, deren Körper nun die langen Gewänder der Frauenkleidung bedeckten, ein Befehl, der sie den Ungelegenheiten lästiger Neugierde und dem Spotte frivoler Müßiggänger jeden Standes aussetzte? Alle Combinationen wurden zu Schanden.

Neues Erstaunen! der Chevalier erhielt 1777 die Erlaubniß, nach Frankreich zu kommen und sich bei Hofe in Weiberkleidern zu präsentiren. Er erschien, wie oben erzählt, am 10. August in Versailles.

Nachdem der König die Dame in sein Zimmer geführt, hatte er eine kurze Unterredung mit ihr. Hierauf geleitete er sie in die Gemächer der Königin Maria Antoinette. Die Königin stand, von ihren Damen umgeben, auf einem Perron, der sich dicht vor den Zimmern befand und in eine Terrasse auslief, deren Stufen in den Garten hinabführten. Da waren sie Alle, jene schönen Gestalten: die Lamballe, die Polignac, die sanfte Elisabeth, der Graf von Artois, der wüste Orleans, Alle, die später in den ungeheuren Wirbeln der Revolution ihr Ende finden sollten.

Der König präsentirte die geheimnißvolle Dame den versammelten Herrschaften. Die Chevalière verneigte sich tief und verharrte in einer Art von Verzückung der Königin gegenüber, welche wiederum das zweifelhafte Wesen aufmerksam betrachtete. Es entstand eine äußerst peinliche Pause. Die Königin wollte derselben ein Ende machen und schritt auf die Chevalière zu, als plötzlich der Staatsminister Herr von Vergennes mit ehrfurchtsvoller Verbeugung zwischen sie und die Chevalière trat. Man sah, wie Vergennes der Königin etwas zuflüsterte, die Königin sich leicht die Lippe biß und ihr schönes Haupt schüttelte. Fast in demselben Augenblicke kam der König hinzu, es entspann sich eine kurze Unterredung, welche damit endete, daß König, Königin und Minister der Dame d’Eon eine Verbeugung machten und, ohne weiter mit ihr zu reden, den Saal verließen. Die ganze Versammlung folgte, und die betroffene Chevalière sah sich mit dem Kammerherrn Monsieur de Genet allein. D’Eon’s Erstaunen war kein geringes. Sich wie ein der Menagerie entführtes Thier betrachtet und dann von Allen förmlich geflohen zu sehen, das hatte er nicht erwarten können. Genet suchte das betroffene Wesen zu zerstreuen, indem er einen Gang in den verschlossenen Park vorschlug. Mechanisch folgte d’Eon.

Kaum waren sie durch eine Allee geschritten, so bemerkten Beide eine Dame, welche aufmerksam die Bewegungen der Chevaliers aus der Ferne betrachtete. Als sie d’Eon erkannt zu haben glaubte, eilte sie auf ihn zu. Es war die Prinzessin von Lamballe. Genet trat zurück.

„Die Majestät bittet Sie, Madame, ihr nicht zu zürnen,“ begann die schöne Prinzessin mit weicher Stimme. „Sie selbst werden erfahren haben, daß es mächtige Dinge giebt, denen wir Alle unterworfen sind.“

„Ich habe es erfahren,“ sagte d’Eon seufzend. „Obwohl, Hoheit, ich doch nicht enträthseln kann, weshalb ein solcher Empfang mir zu Theil wurde.“

„Weil Sie ein Staatsgeheimniß sind. Mit den Geheimnissen des Staates soll die Königin nichts zu schaffen haben, meinen Se. Majestät der König und der Herr Minister.“

„Weshalb stellte man mich dann überhaupt in Versailles vor? “

„Man war Ihnen und Ihrem Namen diese Auszeichnung schuldig.“

„Meine Laufbahn wird beendet sein,“ seufzte die Chevalière.

„Sie begann im Weiberrocke, und mit ihm angethan werde ich auch wohl sterben.“

„Also sind Sie doch der Chevalier d’Eon?“ rief die Prinzessin, einen Schritt zurücktretend. „Sie müssen diese Kleider tragen, die eines Mannes unwürdig sind, gezwungen, auf Befehl?“ und die schöne Dame betrachtete mitleidig die ungeheuren Spitzenärmel, die übermäßig lange Schleppe der schweren, seidenen Robe der Chevalière.

„Ich muß sie tragen, Prinzessin. Weshalb? das darf nie über meine Lippen kommen. Jedenfalls hat man heute die Königin über die Gründe aufgeklärt, welche zwei Monarchen bewogen, mich mein Geschlecht verleugnen zu lassen. Sprechen Sie ja nicht darüber. Viele Dinge sind gefährlich, wenn man Mitwisser derselben ist. Daß die Königin nicht weiter mit mir sprach, finde ich natürlich. Man hat mich nicht geschont.“

„Weshalb aber, Chevalier, entziehen Sie sich nicht gewaltsam diesem Zwange? Sie duldeten ihn schon unter dem vorigen Könige!“

„Ich habe ihn schon früher geduldet. Es sei dies die einzige Aufklärung, welche ich zu geben mir erlaube. Theilen Sie solche Ihrer Majestät mit. Vielleicht finden Sie darin die Quelle meines Unglücks. Als ich die diplomatische Carriere einschlug, war ich jung, sehr jung und sehr schön. Ein geheimnißvolles Etwas verfolgt mich seit meiner Geburt. Wer es an meine Fersen heftete – ich weiß es nicht, aber bereits in meinem sechsten Jahre hatte man das Gerücht verbreitet, ich sei ein Mädchen, meine Mutter habe, aus Furcht vor ihrem Gatten, der durchaus männliche Nachkommenschaft besitzen wollte, mich gleich nach der Geburt fortgeschickt und, während mein Vater im Felde, mir bei einer Bäuerin eine männliche Erziehung geben lassen. Diese Gerüchte waren albern, aber die Menge glaubte sie. War es doch wieder ein Geheimniß mehr in einer adligen Familie unseres Departements. Als ich nun, wie gesagt, in die diplomatische Laufbahn trat, ließ mich eines Tages mein Gönner, der Prinz Conti, rufen. ,Sie sind gewandt, Chevalier, sind mit Kenntnissen ausgestattet. Wollen Sie Ihr Glück machen?’ so fragte er. Ich bejahte schnell. ,Gut! halten Sie sich bereit, morgen nach Petersburg abzugehen. Sie kommen an den Hof der Kaiserin Elisabeth? Ich stutzte. Meine Einwilligung hatte ich aber gegeben, ich reiste ab. In Petersburg angekommen, ward ich vorsichtig in das Hotel des Gesandten, Herrn von la Regnière, geführt. Am folgenden Tage sollte ich der Kaiserin vorgestellt werden. Ich wußte nicht, in welcher Eigenschaft. Mein Titel lautete: Gesandtschaftssecretair; doch hatte ich außer dem Gesandten kein Mitglied des Personals der Ambassade kennen gelernt. Ich fand mich, elegant gekleidet, früh morgens wieder ein. Lächelnd betrachtete der Gesandte meine Toilette. ,Sie werden andere Kleidung anlegen müssen. Diese ist nicht für Ihre Stellung geeignet.’ Ist sie nicht reich genug?’ ,Das wohl, aber – – kommen Sie.’ Der Gesandte führte mich in ein Nebenzimmer. Hier fand ich auf Sesseln ausgebreitet eine zwar einfache, aber höchst werthvolle Damenrobe, Spitzenbesätze, Schuhe – kurz Alles, was zur Toilette einer jungen Dame von guter Familie gehört. Ich barg mein Erstaunen nicht. ,Dies sind Ihre Kleider,’ fuhr der Gesandt fort, legen Sie dieselben an. Mein Kammerdiener wird Ihnen behülflich sein und Sie auch frisiren. Es gilt einen Meisterstreich auszuführen. Sie können Ihr Glück machen.’

„Das Abenteuerliche reizte mich. Ich vollendete meine Verwandlung in ein Weib sehr bald und zu vollkommener Befriedigung des Gesandten und kann Ihnen sagen, daß ich selbst mich recht niedlich fand. ,Hören Sie nun,’ begann la Regnière, ,für heute haben Sie nichts weiter zu thun, als der Kaiserin Gehorsam und Anhänglichkeit zu geloben. Sie wünscht eine Vorleserin. Wir [367] haben Sie als solche verkleidet. Schweigen – das ist die Hauptbedingung. Es werden sonderbare Dinge durch Ihre Hände gehen. Jeden Morgen instruire ich Sie. Schweigen – Schweigen; ich wiederhole es. Das Amt einer Vorleserin bringt Sie in stete Berührung mit der Person Elisabeth’s, und daher sind Sie der beste Canal, durch welchen wir hinter dem Rücken der russischen Minister agiren können. Das weibliche Geschlecht ist unverdächtiger – daher Ihre Verwandlung.‘

„Wir fuhren ab. Als wir bei der Kaiserin vorgelassen wurden, war sie ganz allein. Sie trug ein orientalisches Morgenkleid, rothe Hackenschuhe und eine Rivière von Brillanten um den Hals. La Regnière stellte mich unter dem Namen eines Fräuleins de Thou vor. Die Kaiserin unterhielt sich lange mit mir. Ich schien ihr sehr zu gefallen. Beim Abschiede wollte ich ihr die Hand küssen. Sie zog mich zu sich und küßte meine Stirn. Ich muß annehmen, daß sie bald meine Verkleidung erfuhr. Drei Jahre lang gingen die Verhandlungen durch die Hände der verkappten Vorleserin. Ich darf darüber sprechen. Denn weiß man auch nicht, daß ich Weiberröcke trug, so kennt man doch meine Wirksamkeit in Petersburg. Aber in jene Zeit fällt auch ein Vorgang, den ich ewig verschweigen muß und der einzig und allein die Ursache ist, daß Sie mich in diesen Kleidern sehen. Hier ruht das Geheimniß, und wie Strabo, der alte Gelehrte, wenn er von den gütlichen Mysterien der Tempel redet, in welche auch er eingeweiht war, sage auch ich: Hier muß ich schweigen? Vielleicht hat man es heute der Königin mitgetheilt. Die Kaiserin Elisabeth ruht ja längst in der Gruft ihrer Väter. Nach Bestuscheff’s’ Sturz legte ich meine Frauenkleider ab. Heute – – “

„Heute tragen Sie dieselben wieder, Madame, und werden sie vorläufig nicht mehr ablegen,“ sagte eine Stimme, zugleich trat ein Mann in die Allee.

„Herr von Sartines, der Polizeiminister!“ rief die Prinzessin.

„Ich selbst, Gnädigste! Frau von Beaumont, Ihren Arm.“

Die Chevalière reichte gehorsam ihren Arm dem Minister, grüßte die Prinzessin noch einmal und ging mit Sartines schweigend den Baumgang hinunter. Die Prinzessin sah Beide in die bereit gehaltene Kutsche steigen und durch das Gitter des Schlosses auf die Straße nach Paris fahren. Das war die Audienz des Chevalier d’Eon in Versailles. Er hat das Schloß nie wieder betreten. Seit jener Zeit aber trug er den Orden des heiligen Ludwig auf seinem Frauenkleide.




Arm, von Allen verlassen, lebte das geheimnißvolle Wesen nach der Revolution in London. Die Frauenkleidung war abgestreift, aber das Geheimniß geblieben. Endlich erbarmten sich die Freunde des alten Abenteurers und bereiteten ihm einen sorgenfreien Lebensabend. D’Eon, einst die Zierde der Salons, das Gespräch des Tages, starb still und fast vergessen am 21. Mai 1810. Die Revolution hatte ihn als Emigranten geächtet.

Des Staatsgeheimnisses vollständige Aufklärung ist Niemandem gelungen. Nur so viel hat sich herausgestellt, daß d’Eon wirklich dem männlichen Geschlechte angehörte. Der Chevalier selbst bewahrte das merkwürdige Geheimniß sogar inmitten seiner traurigsten Lebensverhältnisse sorgfältig und hat es unenthüllt in das Grab mitgenommen.




Blätter und Blüthen.

Moderner Schwindel. In St… sitzt der Schneidermeister F. K. in seiner Werkstatt bei seinen Gesellen, emsig am Werk und zufrieden mit den Früchten seines und ihres Fleißes; da pocht es an, und herein tritt der Postbote und übergiebt ihm einen Brief – aus London. Aus London? An mich? – Ja, es ist so. Die Adresse ist richtig, der Poststempel auch. Und so öffnet er denn mit einigem Herzklopfen der Neugierde das Couvert, und entgegen kommt ihm ein feines Papier mit folgendem Inhalt: „Herr F. K., es ist für Sie, unter Ihrer vollständigen und richtigen Adresse, ein Paket aus Amerika angelangt, welches gegen Erstattung von zwölf Schilling (vier Thaler) für Porto Ihnen sofort zugeschickt werden soll.“ Datum und Unterschrift einer angeblichen Schiffs-Agenten-Firma. Was thut nun unser Meister? Er selbst hat zwar keine nahen Verwandten drüben; aber welcher deutsche Handwerker hätte unter den 51/2 Millionen Deutschen in Nordamerika nicht einen Freund, einen Bekannten? Kann nicht irgend Einer von diesen seiner gedacht haben? – Und in solchen Dingen ist’s so böse, um Rath zu fragen. Wer möchte in den Verdacht kommen, daß er auf eine reiche Erbschaft hoffe? Und das Auslachen hinterher? – Nein! Es bleibt Geheimniß, – aber in fünf Fällen unter zehn gehen die vier Thaler an die Londoner Adresse ab, und somit ist dort der Zweck erreicht: das verheißene Paket hat noch Niemand gesehen. Mit welcher Unverschämtheit diese englische Schwindlerbande arbeitet, ergiebt sich daraus, daß man in Paris allein die Ankunft von 500 solchen Briefen ermittelt hat. Viele derselben tragen die Unterschrift: „W. Lover & Co., Shipping Agents, 3 Glasshouse Street, Regent Street,“ andere geben als Wohnung Kings Terrace, Kings Road. S. W. Nr. 15 an. Die Firma hat auch ein „Departement etranger“, zu deutsch eine Abtheilung für Auswärtige, mit Agenten in New-York und San Francisco. Das allzugrobe Attentat auf die französischen Börsen veranlaßte die französische Gesandtschaft in London, den Gaunern nachspüren zu lassen. Seitdem setzten sie sich in den Besitz deutscher Adreßbücher, und sie haben bereits den Niederrhein in Angriff genommen, wie man uns von dort schreibt. Es ist gar nicht zu zweifeln, daß, wenn das Geschäft nur einigermaßen rentirt, Deutschland mit solchen Briefen überschwemmt wird. Thue dann Jeder das Seine, dem nichtswürdigen Gesindel den Fischzug zu vereiteln!

Was ist gegen diese englischen Spitzbuben, die nur plump und faul betrügen, jener französische Professor für ein Engel der Wohlthätigkeit! Er hat in den besten und größten deutschen Zeitungen eine reizende, die freundlichsten Hoffnungen erregende Aufforderung erlassen an alle Diejenigen, welche mit einem Anlagecapital von nur 10 bis 15 Thaler und in einigen Nebenstunden des Tags ein jährliches Nebenverdienstchen von 300–350 Thalern erzielen wollen. Welcher fleißige arme Teufel wird das nicht wollen? Wenn nur die Trauben nicht zu hoch hingen! Denn umsonst wird das beglückende Geheimniß nicht verrathen. Da darbten sich ein paar die erforderlichen Groschen ab und wagten die Anfrage, und – prompt war der Herr Professor – umgehend erfolgte die Antwort, natürlich gegen Postnachnahme von 2 fl. 30 kr. (1 Thlr. 23 Gr. 2 Pf.), und zwar mit dem Postzeichen „Frankfurt a. M.“ Und der Inhalt? Die Betroffenen sandten uns die ganze Correspondenz für die Gartenlaube zu: eine „Anweisung zur Erzielung eines sicheren und bedeutenden Verdienstes durch die Seidenzucht“ ist des theuren Pudels lächelnder Kern. Diese Anweisung ist lithographirt, datirt „Paris, den 1. Juni 1862“ und unterschrieben „Emile Charlier, Professor“; dabei liegt, wahrscheinlich nach dem Muster der Hoff’schen Malz-Extracts-Lobpreisungen, ein empfehlender Brief eines Aloys Paintner in Czocza in Ungarn, der sich jedoch erst „der angenehmen Beschäftigung mit allen Kräften hingeben will“ und sich vor der Hand nur für „die edle Idee“ bedankt. Daß in der „Calculation“ noch anderweite, in der Ankündigung verschwiegene Ausgaben von 5, 20 und 75 fl. vorkommen, macht freilich gerade für die Armen, denen er sein Evangelium gepredigt hat, das verheißene Glück noch schwerer erreichbar; allein ist es seine Schuld, daß arme Leute kein Geld haben? Und kann sich ihnen nicht irgendwo ein Credit eröffnen, der ihnen die Pforte der Seidenzucht dennoch aufschließt?

Dieser Credit – in der That, da winkt er schon! Und wo? Undankbarer Deutscher, abermals in dem hochherzigen treuen Albion! Da steht es, und Ihr findet es in allen Zeitungen: „Capital-Bedürftige können Credit-Eröffnungen, Darlehen jeder Höhe, Wechsel, Accommodationen etc. erhalten, F. S. & Co. 9 Flora-Terrace, Spur Road London S. E. erb. Franco Briefe.“ Ein Freund der Gartenlaube, der diese Anzeige in dem Zwickauer Localblatte las, benutzte die Adresse zu einer Anfrage. Wir theilen die Schriftstücke, welche er als Antwort erhielt, den Namen des Einsenders ausgenommen, wortgetreu mit.

„12, Upper Stamford Street, Blackfriars.  
London, 8. Mai 10. 1864. 
 Herrn Th.

In höflicher Erwiderung Ihres verehrl. Schreibens theilen Ihnen mit, daß das günstige Resultat eingezogener Erkundigungen uns veranlaßt, uns bereit zu erklären, Ihnen mit gewünschtem Darlehn von Rthlr. 600. Cour. zu dienen und zwar gegen Ihren Sola-Wechsel mit Rthlr. 100. jährlich oder in einer Summe nach 3, 5 oder 7 Jahren zurückzahlbar. Zinsfuß 6 % per Jahr, zahlbar jährlich.

Sie wollen uns sofort bescheiden und anliegende Bedingungen genügend qu. Indemnity-Betrag mit Rthlr. 11. preuß. oder sächsisch Papiergeld in Ihrem verehrl. jetzigen recommandirten Antwortschreiben miteinsenden, damit wir sogleich die Verfügungen treffen und Ihnen die Anweisungen zukommen lassen können.

Achtungsvoll 
Foreign Monetary and Credit Agency Office.“ 
(Namensunterschrift unleserlich) 

Die angeführten „Bedingungen“ lagen in folgendem gedruckten Zettel bei, in welchem nur die Summen (Rthlr. 11. und Rthlr. 600. Cour.), ferner die Bemerkung „in deutschem Papiergeld“ und die Straße und Hausnummer mit Tinte eingeschrieben sind. Er lautet: „Foreign Monetary and Credit Agency Office, London.

Der Credit- oder Darlehn-Suchende hat unter gewissenhafter und wahrheitsgemäßer Angabe seiner Verhältnisse besonders speciell anzugeben: Name, Stand und Wohnort.

Die Höhe der gewünschten Credit- oder Darlehn-Summe, auf wie lange solche gewünscht wird, ob in einer Summe oder in Theil-Zahlungen rückzahlbar.

Welche Sicherheit geboten wird; ob durch Grundstücke, Hypotheken, Bürgschaft, Lebensversicherung, Schuldverschreibung, Wechsel, Documente, oder wodurch sonst.

Der Credit- oder Darlehn-Suchende hat als Bürgschaft der prompt [368] und gewissenhaft von ihm gemachten Angaben, für Register-Gebühren, nothwendiger Weise entstehende Kosten, Auslagen etc. Rthlr. 11. bei der Summe von Rthlr. 600. Cour. in deutschem Papier-Geld als Indemnity miteinzusenden, ohnedem kein Gesuch berücksichtigt werden kann, da diese Maßregel zur Abhaltung unsolider und leichtfertiger Gesuche und zur Vermeidung großen Zeitverlustes und unnützer Correspondenz durch die Erfahruug bedingt ist.

Die strengste Discretion ist zugesichert. Nur frankirte Briefe werden angenommen.

Da Geld- oder sonstige Werthbriefe von und nach England nicht mit Werth-Angabe bezeichnet sein dürfen, sondern „recommandirt“ oder „chargé“ bezeichnet auf den Posten angenommen und befördert werden, so sind alle Briefe, welche Geld, Wechsel, Documente oder sonstigen Werth enthalten, „recommandirt“ oder „chargé“ abzusenden und zu adressiren an die
Foreign Monetary Agency Office, London. S. 
12. Upp. Stamford Street.“ 

Wir brauchen diesen Schriftstücken für unsere Leser keine Erklärung beizufügen; die Bedeutung der elf Thaler, die eingesandt werden müssen, ehe an das Geschäft zu denken ist, springt deutlich genug in die Augen, um „Capital-Bedürftigen“ die englischen Wohlthäter in ihrer wahren Gestalt zu zeigen.

Wer aber sein Glück nicht aus den Londoner Händen empfangen will, wird der widerstehen können, wenn es ihm aus der Stadt, der wir schon so viele Freuden verdanken, wenn es ihm aus Kopenhagen geboten wird? Von dort flog nach Deutschland herein in vielen Exemplaren ein „Plan der Industrie-Union“ zu einer „zweiundzwanzigsten (?) großen Waaren- und Staatsprämien-Vertheilung“, d. h. zu einer Lotterie, deren „Gewinne“ bestehen in „Gold- und Silbersachen, Uhren, Wagen, Fortepiano, Tischgedecken, Leinen, und sonstigen werthvollen und soliden Gegenständen, sowie in Staatsprämien-Scheinen, worauf die Summen von resp. Pr. Crt. 40.000 Thlr., 40.000 fl. etc. etc. gewonnen werden können (?!).“

In dem beigedruckten „Avertissement“ sagt dieser „Plan“:

„1. Diese zweiundzwanzigste große Waaren- und Staatsprämien-Vertheilung besteht aus 32.000 Loosen ohne Nieten, und hat den Zweck, die bei den jetzigen Verhältnissen fast ganz darnieder liegenden Industrie-Zweige zu heben und zu befördern, welches um so mehr das verehrte Publicum veranlassen wird, sich bei diesem Unternehmen recht stark zu betheiligen.“

Wohlgemerkt: der „Plan“ ist datirt: „Kopenhagen, im April 1864“. Welche Industrie soll also mit dem deutschen Gelde gehoben werden? Die deutsche, oder die dänische? Eine Andeutung giebt der §. 8, wo es heißt:

„8. Die Waaren der ersten fünf Classen werden spätestens vierzehn Tage nach der Ziehung einer jeden Classe, so wie die Waaren der sechsten Classe drei Wochen nach Beendigung der Ziehung an die Agenten nach Deutschland abgesandt, von welchen die resp. Interessenten sie franco aller Unkosten, als Fracht, Zoll, Emballage etc. gegen Auslieferung der Gewinn-Loose in Empfang nehmen können. Wer seinen Gewinn sechs Wochen nach der Ziehung nicht in Empfang genommen hat, verliert seinen Anspruch an denselben und fällt solcher dann einem wohlthätigen Zwecke zu.“

Wer nun noch den geringsten Zweifel an dem ebenso patriotischen als wohlthätigen Unternehmen hegt, dem wird zu besonderer Beruhigung verholfen, indem er erfährt, daß wenigstens die gezogenen Nummern einer deutschen Staatslotterie zur dänischen „Vertheilung“ benutzt werden, denn §. 2 lautet:

„2. Um den resp. Interessenten dieser Vertheilung die Gewißheit für die Unparteilichkeit der Ziehungen zu verschaffen, richten sich dieselben nach den vom Staate veranstalteten öffentlichcn und controlirten Ziehungen der Herzogl. Braunschweig-Lüneburgischen 57. Landes-Lotterie. Diese Vertheilung besteht, ebenso wie jene Lotterie, aus 32.000 Loosen von Nr. 1 bis Nr. 32.000, aber statt der in der Herzogl. Braunschweig-Lüneburgischen Landes-Lotterie fallenden Geldgewinne werden bei dieser Vertheilung die vorstehend benannten Waaren gewonnen. Geldgewinne werden nicht vertheilt.

Trotz der letzten bündigen Bemerkung ist durch die Aufführung aller braunschweiger Geldgewinne neben den Waarengewinnsten dieser „Industrie-Union“ die Täuschung sehr nahe gelegt, daß auch letztere so schöne Summen gewähre. Man lese z. B.

„4. Dasjenige Loos, dem die Prämie für den zuletzt gezogenen der 95 Hauptgewinne der sechsten Classe (NB. nach der braunschweiger Lotterie) zufällt, erhält auch den für die 60.000 Thlr. bestimmten großen Gewinn, mithin können im glücklichen Fall die für die Prämie von 60.000 Thlr. und für den Gewinn von 40.000 Thlr. bestimmten Gegenstände auf ein Loos gewonnen werden.“

In diesem außerordentlich glücklichen Fall würde der glückliche Spieler „einen viersitzigen Phaeton oder Jagdwagen“ und „einen Prämienschein der badischen Staatsanleihe von 1846, worauf 40.000 fl. gewonnen werden können“ und ferner eine Reihe Silberzeug sammt einem kurhessischen Prämienschein mit derselben Glücksmöglichkeit gewinnen.

Und für alle diese Aussichten braucht der brave Deutsche blos 5 Thlr. 20 Gr. an einen gewissen Herrn „Sally Levy“ nach Kopenhagen zu schicken. Und welche Garantie bietet man ihm dagegen? Da steht sie:

„10. Jedes Loos ist mit dem Stempel der Königlichen (natürlich: dänischen) Regierung und mit der eingestempelten Namens-Unterschrift des Unterzeichneten versehen, ohne welche das Loos keine Gültigkeit hat.“ Der Unterzeichnete ist aber besagter Herr Levy.

In der That, eine frechere Unverschämtheit ist den Deutschen gerade in diesem Augenblick aus Kopenhagen kaum geboten worden. Das deutsche Volk wird sie nach Gebühr behandeln. – Wir kommen nun zum jüngsten Schwindel, der leider ein deutsches Unkraut ist. Mit ihm wollen wir für diesmal die auf die Länge Ekel erregende Industrie-Ritter-Revue schließen. –

Diese neueste Frechheit der Beschwindelung, die leider ihre ersten Siege bereits gewonnen hat, kann nicht rasch genug zur Kunde des Publicums gebracht werden, gerade weil das Ueberraschende derselben auch für diejenigen gefährlich ist, welche durch natürliche Bedächtigkeit oder durch Erfahrungen in den Künsten der Speculation sich dagegen geschützt glauben.

Es ist allgemein bekannt, daß fast Niemand, dessen Name in einem Adreßbuche steht oder sonstwie öffentlich bekannt geworden ist, der Aufmerksamkeit entgeht, von Inhabern oder Agenten von Lotterien mit Zusendungen von Loosen oder Interimsloosen bedacht zu werden. Die speculirenden Herren lassen es sich bedeutende Porto-Ausgaben kosten, um namentlich in Ländern, in welchen das Spielen in auswärtigen Lotterien verboten ist, ihre Kundschaft zu suchen; und da manche Lotterieanstalten nicht nur das Porto an ihre zahllosen Francoeinsendungen wagen, sondern sogar sich die unfrankirte Zurücksendung nicht angenommener Loose erbitten, so muß ihr Geschäft trotz alledem immer ein so einträgliches sein, daß sie im Kostenwagniß sich endlich bis zum Aeußersten erkühnen durften.

Einem allem Lotterieschwindel abholden Familienvater trägt der Postbote einen solchen frankierten Loosbrief in’s Haus. Er legt den Wisch murrend bei Seite, die Herren nicht einmal der Rücksendung würdigend, und vergißt bald die ganze Sache. Da sitzt eines schönen Morgens die Familie um den Frühstückstisch, als die Thür aufgeht und der Mann hereintritt, der stets ein ganzes Haus um so mehr in Aufregung bringt, je seltener er erscheint: der Ueberbringer einer telegraphischen Depesche. Was ist geschehen – in der Verwandtschaft – im Geschäft? – Welche wichtige Nachricht ist es, die zu diesem Verkehrsmittel greifen muß? – Mit zitternder Hand wird das verhängnißvolle Papier geöffnet. Alle Köpfe drängen sich herzu, und Alles lauscht athemlos auf den Inhalt. Er lautet: „Herrn N. N. in N. Wollen Sie die Loose behalten ? Sofortige briefliche Antwort ist dringend erforderlich. N. N. u. Comp. in N.“ Die Loose? Was ist mit den Loosen? Wo sind sie? Offenbar haben sie einen Gewinn gemacht. Wie könnte man sonst durch eine telegraphische Depesche nach ihnen anfragen? – Aber wo sind die Loose? Der Vater geht an den Secretär und durchwühlt alle Papiere, das Frühstück wird kalt, aller Appetit ist fort, Vermuthungen, Hoffnungen, Wünsche erfüllen plötzlich alle Köpfe, schwärmen von allen Zungen, Alles will suchen helfen, der Vater wird schon ärgerlich, – da – da ist der einst mit Murren weggeworfene Brief, da sind die Loose – und nun beginnt ein Familienrath, nun soll ein Beschluß gefaßt werden in einer solchen Aufregung. Aber die Zeit ist kurz zugemessen, denn es ist ja eine telegraphische Depesche, die auf Antwort dringt.

Was, lieber Leser, würdest Du in diesem Augenblick gethan haben? Würdest Du entschlossen genug gewesen sein, die Mahnungen Deiner Gattin, Deiner Tochter etc., das Glück nicht zu verscherzen, die paar Thaler daran zu wenden, ohne Weiteres zurückzuweisen? – Schwerlich! – Und so hat es auch unser Mann gemacht. Er behielt die Loose, steckte dafür die erforderlichen Thaler in ein Couvert und trug sie sogar selbst zur Post.

Und nun? – Weiter ist’s nichts – die Speculation der Ueberraschung hat gesiegt, die telegraphische Depesche ist doppelt und dreifach, ja vielleicht zehnfach bezahlt und die Loose theilen das Schicksal der anderen.

So ist’s geschehen und zuerst bekannt geworden zu Königsberg in Preußen, und solcher telegraphischen Lotterie-Depeschen werden nun Hunderte und Tausende überall ankommen, wo der Werth der Loose das Wagniß sichert. Und eben darum erzählten wir diese Familienscene, damit man anderswo auf solche Ueberraschungen vorbereitet ist und auch diese neue Speculation so behandelt, wie sie es verdient.




Ueber die „nicotinfreien Cigarren“, welche Herr Biermann in Berlin verfertigt und Herr Dr. Haubold empfiehlt, schreibt uns als Entgegnung des Aufsatzes in Nr. 21 der „Gartenlaube“ Herr Dr. Haubold: daß nicht blos er allein, sondern noch fünf andere Aerzte diese Cigarren empfohlen hätten, und daß diese Cigarren von allen diesen Herren ebenso wie von ihm durchaus nicht als völlig nicotinfreie empfohlen worden wären.

Sie sollen nur weit weniger von Nicotin, Nicotianin, bittern Extractivstoffen und theerartigen Substanzen enthalten, so daß sie deshalb für den Raucher minder nachtheilig und nicht so betäubend, somit weniger verdauungsstörend und congestionserzeugend sind. Uebrigens ist ihr Geschmack und Geruch angenehm und tabakähnlich.


Die „Deutschen Blätter“, Beiblatt zur Gartenlaube, enthalten in ihren letzten drei Nummern:

Nr. 20. Erinnerungen an die polnische Emigration zu Leipzig. – Umschau: Noch eine Kehrseite des Schlachtenruhms. – Frömmigkeitsluxus und Hungersnoth in England. – Aus dem Patriotismus Geld für sich zu schlagen. – Arnold von Winkelried und der Pionier Klinke. – Der dänische Geßler in Schleswig-Holstein. – Austilgung eines steinernen Dänenhohnes. – Die Kriegs-Trophäen in Berlin. – Wofür ?

Nr. 21. Der Tondichter Meyerbeer. I. Der deutsche Herr Beer. – Umschau: Aus dem deutsch-amerikanischen Journalistenleben. – Der Abendmoniteur. Schöne deutsche Sitten. – Ein deutsches Lebens- und Literaturzeichen aus Amerika.

Nr. 22. Der Tondichter Meyerbeer. 2. Herr Giacomo Meyerbeer. – Umschau: Autorität – nicht Majorität. – Die dänische Flotte ist ein deutsches Diplomatenwerk. – Die Schillerstiftung und Hermann Marggraff’s Hinterlassene. – Der Nord-Ostsee-Canal. – Düppel und Waterloo. – Böse Beispiele verderben gute Sitten. – Die Sonne bringt es an den Tag.


  1. Unserer Abbildung liegt ein von Ducreux gemaltes und von Cathelin gestochenes, jetzt äußerst seltenes Portrait zu Grunde.
    D. Red.