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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[769]
Der Kurfürst und der Geldfürst.
Novelle von Louise Mühlbach.
1. Der Prinzenknabe und der Judenjunge.

„Jetzt sind wir fertig, nicht wahr? Jetzt kehren wir in das Hotel zurück, um unser Diner einzunehmen?“

„Nein, mein Prinz, noch nicht, wir haben noch nicht alle Sehenswürdigkeiten der herrlichen Reichsstadt Frankfurt in Augenschein genommen, und da wir gleich nach dem Diner wieder abreisen müssen, so ist es nothwendig, daß wir vorher mit Allem zu Ende kommen.“

„Aber was giebt es denn noch weiter zu sehen?“ fragte der Prinz seufzend. „Ich versichere Sie, Herr Hofmeister, ich werde die Hälfte von dem vergessen, was ich gesehen habe, denn es ist zu viel, und meine Frau Mutter wird sehr erzürnt sein, wenn ich nichts von alledem behalten habe, was Sie mich sehen lassen.“

„Sie müssen Ihr Gedächtniß fleißig üben, mein Prinz,“ sagte der Oberhofmeister Baron von Emptich mit ernster Stimme. „Ein gutes Gedächtniß ist eine große Eigenschaft, namentlich für einen Fürsten, und da das Schicksal Sie einmal dazu bestimmt hat, ein regierender Herr zu werden, so müssen Sie vor allen Dingen Ihr Gedächtniß üben. Ein Fürst darf nichts vergessen, er muß das Größte, wie das Kleinste in guter Erinnerung bewahren.“

„So, Herr Hofmeister?“ fragte der Knabe, indem er seine blauen Augen mit einem scharfen, spöttischen Blick auf das edle ruhige Antlitz seines Erziehers heftete. „Ein Fürst darf nichts vergessen? Und haben Sie mir nicht erst neulich gesagt, daß ein Fürst gar kein Gedächtniß haben darf für Beleidigungen, die seine Unterthanen ihm angethan haben, daß er großmüthig sein und sich niemals rächen, sondern das ihm angethane Unrecht immer vergessen müsse?“

„Ich sagte nicht vergessen, sondern verzeihen, Prinz,“ erwiderte der Baron lächelnd. „Aber ich sehe, Sie haben in der That ein gutes Gedächtniß, und so zweifle ich denn auch nicht daran, daß Sie Alles behalten werden, was wir hier in Frankfurt in Augenschein genommen, und daß Ihr erster Ausflug in die Welt für Sie von Nutzen sein wird.“

„Aber sagen Sie mir nur, Herr Baron,“ fragte der Prinz, „wohin führen Sie mich eigentlich, was sind das für enge, abscheuliche Gassen, die wir hier passiren? Sehen Sie nur, da ist ja gar ein großes eisernes Thor mitten in der Straße angebracht? Und wie entsetzlich sieht es jenseits dieses Thores aus! Wo sind wir denn, Herr Baron, und was kann es hier in diesen abscheulichen, engen Gassen Besonderes zu sehen geben?“

„Prinz, etwas sehr Besonderes: das menschliche Elend,“ sagte der Baron feierlich, und indem er neben dem eisernen Gitter stehen blieb, das mit zwei geöffneten Flügeln in dem grauen, verschmutzten Thorpfeiler hing, faßte er die Hand des Prinzen, und schaute mit ernsten, liebevollen Blicken in das verwunderte, neugierige Gesicht des Knaben.

„Prinz,“ sagte er, „Sie sollen an diesem Tage die zweite große Lehre empfangen. Sie haben im Kaisersaale vorher die erste empfangen. Sie haben auf dem Balcon gestanden, wo der Kaiser die höchste irdische Herrlichkeit ausstrahlt, wo er, über die ganze übrige Menschheit erhaben, von Niemandem Gesetze empfangend, als von Gott und seinem Gewissen, in seiner Kaiserpracht sich dem Volke zeigt und von ihm mit lautem Jauchzen begrüßt wird. Auf diesem Balcon stehend, und Ihnen die Herrlichkeit, Größe und Pracht eines deutschen Kaisers schildernd, sagte ich Ihnen, Sie möchten eingedenk bleiben, daß auch der Kaiser nur ein Mensch sei, ein irrender, fehlender, schwacher Mensch, trotz seines Purpurs und seiner Erdengröße. Jetzt, da wir hier vor diesen düstern Pforten stehen, welche den Eingang bilden zu dieser schmutzigen Gasse, mit den schwarzen, häßlichen Häusern, jetzt, da wir den Gegensatz des Römers sehen werden, jetzt sage ich Ihnen, Sie mögen eingedenk bleiben, daß auch der Bettler ein Mensch ist, und daß vor Gott der Aermste und Unglücklichste eben so viel ist, und eben so viel bedeutet, als der reichste Herr und der stolzeste Kaiser. Sie sollen jetzt den Ghetto, die alte demüthige Judengasse von Frankfurt sehen.“

„Die Judengasse!“ rief der Knabe, indem er entsetzt einen Schritt zurücktrat. „Aber ich mag das nicht sehen, Herr Hofmeister, und es ist auch gar nichts Merkwürdiges dabei zu sehen, wie die alten, häßlichen Schacherjuden in ihren schmutzigen Häusern wohnen. Ich kann die Juden nicht leiden, denn ich weiß es ja, daß sie Alle schlechte, erbärmliche Menschen sind, deren Berührung schon entehrt, und die darum auch nicht mit den Christen in denselben Gassen oder Häusern leben dürfen. Jeder Jude ist ein Bettler, ein Geizhals, ein Schacherer und ein Betrüger.“

„Prinz Wilhelm,“ sagte der Baron streng, „erinnern Sie sich, daß auch der Erlöser der Menschheit, daß auch Jesus Christus ein Jude war. Kommen Sie, Prinz, Sie sollen die Judenstadt sehen, und Sie sollen von diesem Anblick Erbarmen und Milde lernen, Sie sollen sehen, wie die Vorurtheile der Menschen einen ganzen Volksstamm dem Unglück, der Erniedrigung, der Schande preisgegeben haben. Kommen Sie!“

Er nahm die Hand des jungen Prinzen und überschritt mit ihm die eiserne, hohe Schwelle, welche quer über die Straße von einem Thorpfeiler zu dem andern hinlief.

In demselben Moment sprang hinter einem dieser Pfeiler [770] ein Knabe hervor, in zerrissenen, schmutzigen Gewändern, mit einem schwarzen Käppchen auf dem dicken lockigen Haar, und sich gerade vor die beiden Wanderer hinstellend, schaute er sie aus seinen kleinen, blitzenden, schwarzen Augen mit trotzigen, finstern Blicken an.

„Es ist nicht nöthig, daß Sie mit dem kleinen Mosje Prinzen daher kommen in die Judenstadt,“ sagte er in dem gemeinen, kaum verständlichen Jargon des Frankfurter Judendialekts. „Der kleine Knirps von Prinz hat genug gesehen, wenn er die Herrlichkeit vom Römer und der Kaisergeschicht’ gesehen hat, und da hat er sein Herz aufblähen und sich wünschen können, daß er auch dereinst ein großmächtiger Kaiser werden könnt’, da er doch schon ein Prinz ist. Aber die Herrlichkeit der Judenstadt, die braucht er gar nicht zu sehen, denn die Herrlichkeit des Unglücks, die versteht der junge Mosje doch nicht, und er kann doch nix davon lernen mit seinem dummen, hochmüthigen Fürstenherzen. Nennt uns hier an den Pforten unserer eigenen Residenz Bettler und Betrüger und ist doch von seinem Lehrmeister hierher gebracht, daß er von uns lernen soll. Hört nur Ihr Alle, hört, Baruch, Veilchen, Schmuel und Eva, hört nur, Adam und Rachel, Jakob und Abraham, Blümchen und Laban, hört nur, da ist ein kleines Herrchen, das uns Bettler und Betrüger nennt!“

Und wie er das mit schriller, erhobener Stimme rief, öffneten sich die niedrigen, schmutzigen Thüren der nächst belegenen Häuser, und eine ganze Schaar zerlumpter, schwarzäugiger, schwarzhaariger Kinder stürzte aus denselben hervor.

„Was hat er gesagt? Wie hat er uns geschumpfen, Mayer Anselm?“ fragten, kreischten und lachten sie untereinander, indem ihre funkelnden Augen sich auf den blonden, blauäugigen Knaben hefteten, der verlegen und furchtsam sich an die hohe Gestalt seines Lehrers anschmiegte.

„Er hat gesagt,“ schrie der Knabe, „wir Juden –“

Aber die Hand des prinzlichen Hofmeisters legte sich eben mit einer raschen Bewegung auf Mayer Anselm’s Schulter, und das Erstaunen darüber machte den Knaben verstummen.

„Was?“ fragte er, „Ihr scheut Euch nicht den schmutzigen Judenknaben zu berühren? Ihr legt Eure vornehme weiße Hand auf meine Schulter, und fürchtet nicht, daß Ihr davon den Aussatz bekommt?“

„Still, mein Sohn,“ sagte der prinzliche Hofmeister leise und eilig. „Laß jetzt das Lärmen und Schreien, denn sonst müssen wir sogleich wieder umkehren, und das wäre zu Eurem eigenen Schaden, weil wir alsdann kein Geschenk für Eure Armen und Kranken zurücklassen werden.“

„Herr Baron, ich werde schweigen,“ murmelte der Knabe, dessen erregtes Gesicht jetzt sofort einen demüthigen und unterwürfigen Ausdruck angenommen hatte.

„Du hast uns behorcht?“ fragte der Baron.

Der Knabe sah mit einem scharfen, trotzigen Blicke zu ihm empor. „Behorcht? Nein, aber ich habe gehört! Ich stand hinter dem Pfeiler, als Ihr Beide daher kamt, und da mußte ich wohl, ohne daß ich’s wollte, Eure klugen Reden und auch die dummen Reden des kleinen Prinzen da mit anhören. Aber sagt mir doch, Herr Baron, was für ein Prinz ist der kleine Mann? Auf welchem Stammbaum ist er gewachsen, und was für ein Stern ist vom Himmel gefallen, um sich als Gockelhahn ihm auf die Brust zu setzen und seine prinzliche Erhabenheit auszukikrikihen?“

„Du hast mir versprochen zu schweigen,“ sagte der Baron ernst. „Schweig also und laß uns vorüber gehen.“

Und indem er das sagte, nahm er aus seiner Börse ein Geldstück und drückte es dem Knaben in die Hand. Mayer Anselm zuckte zusammen, und eine Zorneswolke flog über die Stirn des keinen Mannes hin.

„Ich bin kein Bettler, Herr,“ schrie er, „ich habe Euch um kein Almosen gebeten, und für Nix nehm’ ich auch Nix nicht!“

So sprechend schleuderte er mit einer geringen Bewegung das Geldstück weit von sich auf die Straße, in dessen Schmutz es wie ein silberner Stern aufleuchtete. Die Kinder, die in dichtzusammengedrängter Gruppe die Fremden angestarrt hatten, stürzten jetzt mit lautem Geschrei nach dem Geldstück hin, und man sah jetzt nur einen verworrenen Knäuel von Armen, Beinen und Köpfen durch und über einander, man hörte nur noch lautes Geschrei, Schimpfreden und Drohungen. Jedes von den Kindern wollte das Geldstück haben, Jedes wollte es dem Andern abringen und sich zum alleinigen Besitzer desselben machen, und während die kleinen Mädchen sich zurückzogen, entstand eine erbitterte Schlägerei unter den Buben.

Dieser Anblick war für den kleinen Prinzen so interessant und belustigend, daß er darüber seine Beklommenheit vergaß und hinter seinem Erzieher hervortretend mit leuchtenden Augen und lachendem Munde auf die verworrene Gruppe hinschaute.

Der keine Mayer Auselm aber runzelte die Stirn, und das Lachen des Prinzen schien ihm weh zu tun. „Herr Baron,“ sagte er hastig, „Ew. Gnaden wollten ja dem Herrn Prinzen die Judenstadt zeigen. Wenn’s Ihnen recht ist, will ich Sie herum führen und Ihnen all die Herrlichkeit und Pracht unserer Stadt zeigen, denn unsere Herrlichkeit das ist unser Unglück, und unsere Pracht das ist unser Schmutz und unsere Armuth. Soll ich Ihnen das zeigen, gnädigster Herr Baron?“

„Ja, zeige uns das, sei unser Führer,“ sagte der Baron, indem er dem Prinzen seine Hand darreichte und sich anschickte, dem Knaben zu folgen, der jetzt mit gravitätischer Miene und ernster Haltung im vollen Gefühl seiner Würde als Cicerone vor ihnen herschritt.

Und durch schmutzige Gassen und düstere, traurige Winkel führte der Knabe die vornehmen Besucher der Judenstadt dahin. Hier und da blieb er vor irgend einem Hause stehen und erzählte ihnen mit herber Stimme, wie viele Menschen zusammengepfercht in dieser schmutzigen Höhle wohnten, wie viel Jammer und Elend beisammen sei in diesem Hause ohne Sonne und ohne Licht, dessen kleine niedrige Fenster mit verräuchertem Papier verklebt waren, aus dessen offener Pforte ein ekler Qualm und Dunst bis auf die Straße hervorquoll. Dann wieder erzählte er ihnen, wie hohe Abgaben die Juden an die Stadt Frankfurt entrichten müßten, trotz ihrer Armuth und Erniedrigung, wie jeder Vater das Leben seines Kindes selbst von der Stadt erkaufen und für jeden Kopf seiner Familie eine hohe Steuer zahlen müsse. Aber wie sie vor dem alten Tempel standen, dessen Wände so grau und düster und verdrossen aussahen, wie seine ganze Umgebung, da glänzten doch die Augen des jüdischen Knaben höher auf, und ein Ausdruck frommer Begeisterung überstrahlte sein kluges intelligentes Angesicht. Er kniete nieder auf der Schwelle des alten verwitterten Gebäudes und sprach ein leises inbrünstiges Gebet, dann sprang er rasch wieder empor und begann mit lauter freudiger Stimme zu erzählen von der Herrlichkeit und Pracht, die sich hinter diesen Mauern berge, von den schweren goldenen Leuchtern, die auf dem Altare aufgestellt seien, von den massiven goldenen Thüren, welche den Schrein des Allerheiligsten verschlössen, von dem Rebenschaft, der aus dem echten Tempel Salomonis in Jerusalem herstamme, aus diesem Tempel Salomonis, welcher prächtiger und herrlicher gewesen, als alle Paläste der Kaiser und Könige dieser Tage, und wie damals das Volk Juda das mächtigste und reichste Volk der Erde gewesen, das Volk, welches Gott vor allen andern geliebt habe. Und dann wieder mit klagender, seufzender Stimme, mit singendem Tone, als wär’s ein Schmerzenslied, das er ihnen singen wolle, schilderte er die jetzige Erniedrigung des Volkes Gottes, und wie es ausgestoßen sei in die Welt, wie es geknechtet und geschmäht umherirre unter den grausamen, hartherzigen Menschen, die Schmach und Schande auf dasselbe häuften und es verfolgten mit Schimpfreden und Verleumdungen.

Der kleine Prinz erröthete, als Mayer Anselm, die stechenden Blicke auf ihn geheftet, so klagte, der Baron aber schaute staunend und tief ergriffen auf den seltsamen Knaben hin.

„Du bist ja in der That ein außerordentlich gelehrter kleiner Mann,“ sagte er. „Woher weißt Du denn alle diese Dinge, mein Sohn?“

„Mein Vater hat sie mich gelehrt,“ sagte der Knabe. „Mein Vater war sehr gelehrt, obwohl er nur ein Schacherjude war, er wußte den Talmud und die Gesetzbücher auswendig, und in den langen Winterabenden, wo wir im Dunkeln saßen und hungerten, da hat er mir so viel herrliche Dinge erzählt, daß es hell ward in unserer finstern Kammer und daß ich nicht mehr hungerte.“

„Du sprichst von Deinem Vater, als wäre er nicht mehr bei Dir. Ist er todt?“

„Ja, Herr Baron, er ist todt,“ sagte der Knabe mit Thränen in den Augen. „Er ist todt, und meine Mutter wird ihm bald folgen, denn sie ist krank und elend. Der Arzt sagt, sie könnte vielleicht noch wieder besser werden, wenn sie hier aus der Sackgaß heraus und in bessere Gegend und Luft käme, wenn sie nach [771] Italien und an’s Meer gehen könnte. Aber wir sind arme, arme Leut’ und können nichts thun als sterben vor Elend. Und außerdem, wären wir selbst reich, so würde die Mutter, da sie den Tod in der Brust fühlt, doch die dunkle Sackgaß und die alte verfallene Hütte nicht verlassen! Sie will da sterben, wo der Vater gestorben ist.“

„Aber was willst Du anfangen, wenn Deine Mutter auch gestorben ist?“ fragte der Baron mitleidsvoll. „Was soll aus Dir werden, Du armer Junge?“

„Was aus mir werden soll?“ fragte der Knabe lachend. „Das will ich Ihnen schon sagen, Herr Baron, ein reicher Kaufmann soll aus mir werden!“

„Ein reicher Kaufmann? Wo willst Du denn Deine Reichthümer hernehmen? Wo stecken sie denn, Deine Schätze?“

„Hier stecken sie, Herr Baron,“ rief der Knabe lachend, „hier in meinem Kopf und hier in meinen zehn Fingern. Wissen’s denn nicht, Herr Baron, daß der Jud’ einen Zauber hat, der ihm in den Fingern steckt und der macht, daß, sowie er mit ernstem Willen die Hand ausstreckt, die Ducaten und die Gulden in allen Kisten und Kasten anfangen zu tanzen und an seine Finger springen?“

„Bist ein wunderlicher kleiner Mann,“ sagte der Baron lachend. „Wie alt bist Du denn?“

„Just zehn Jahre, Ew. Gnaden, denn ich bin im Jahre 1743 geboren.“

„Das ist ja mein Geburtsjahr!“ rief der Prinz lebhaft.

„Ich bitte um Vergebung, daß ich mich unterstanden habe, in demselben Jahre mit dem Mosje Prinzen geboren zu werden,“ sagte der kleine Mayer Anselm mit spöttischer Unterwürfigkeit. „Ich wollte, ich wäre siebzehnhundertdreiundvierzig Jahre früher geboren, denn dann wäre ich auch Prinz gewesen, da ich aus dem Stamme Levi bin, dem Stamme der Hohenpriester und großen Herren! Bitte nochmals um Vergebung, Mosje Prinz! Und hier sind wir wieder am Thor angelangt, und die Herrschaften haben jetzt Alles gesehen, was hier zu sehen ist, so werden Sie sich wohl beeilen, die schmutzige Judenstadt zu verlassen. Da schlägt es eben sechs Uhr! Das ist die Zeit, wo die Thore der Judenstadt geschlossen werden. Also beeilen Sie sich, meine vornehmen Herrschaften, beeilen Sie sich.“

„Schön, kleiner Anselm Mayer,“ sagte der Baron, nachdem er leise einige Minuten sich mit dem Prinzen besprochen hatte, „höre, was ich Dir im Namen Seiner Hoheit zu sagen habe. Du bist ein kluger, gewandter Knabe, und das gefällt dem Prinzen, und er möchte Dir gern eine Gnade erweisen.“

„Ja, ich möchte Dir gern eine Gnade erweisen,“ wiederholte der Prinz vornehm. „Wenn Du die alte abscheuliche Judengasse verlassen und ein ordentlicher Mensch werden und Dich taufen lassen willst, so will ich meinen Vater, den Herrn Kurfürsten von Hessen, bitten, daß er sich Deiner annimmt und Dich irgend ein Handwerk erlernen läßt, damit Du als Schuster oder Bäcker Dir auf ehrliche Weise Dein Brod verdienen kannst.“

„Ich danke, ich bin von zu vornehmer Geburt, um ein niedriges Handwerk zu erlernen!“ rief der Kuabe stolz. „Ich bin von zu ehrlichen Eltern, um meine Religion zu wechseln, wie’s die Prinzen und Prinzessinnen thun, wenn sie Profit davon haben, und ich habe die alte, schmutzige Judengasse viel zu lieb, als daß ich sie jemals verlassen könnte. Hier in der Judengasse will ich leben und sterben, hier will ich ein reicher Mann, ein Millionär werden.“

„Du ein reicher Mann, ein Millionär?“ lachte der Prinz. „Meine Frau Mutter hat mir erzählt, eine Million sei sehr viel Geld. Wie willst Du armer Knirps es also anfangen, eine Million zu bekommen?“

„Wie ich es anfangen will?“ fragte Mayer Anselm trotzig. „Ich will sie mir erwerben.“

„Wodurch aber?“

„Durch Handel und Wandel, Mosje Prinz. Ich handle jetzt mit Stecknadeln und Bindfaden, die Stecknadeln suche ich mir von der Straße auf, wo die geputzten Damen sie verlieren, die Bindfadenenden hole ich mir aus den Magazinen der reichen Kaufleute, die sie achtlos von den Ballen ablösen und bei Seite werfen. Ja, ja, ich handle jetzt mit Stecknadeln und Bindfaden, aber dereinst, wenn die Zeit gekommen ist, werde ich mit Gold und Silber, mit Landgütern, mit Thronen und Kronen handeln. Wenn Sie, Mosje Prinz, mir dann vielleicht Ihre kleine Krone zum Verkaufen geben wollen, stehe ich zu Diensten und werde suchen, sie möglichst billig an den Mann zu bringen. Aber jetzt, meine Herrschaften, bitte ich um’s Geld. Ich habe Sie eine ganze Stunde herumgeführt.“

„Da, hier hast Du drei Gulden,“ sagte der Baron, indem er das Geld in die dargereichte Hand des Knaben fallen ließ.

„Drei Gulden, ein kleiner Beitrag zu meiner Million,“ sagte der Knabe lächelnd. „Ich danke Ihnen.“

„Also jetzt beleidigt es Dich nicht, Dir Geld von uns schenken zu lassen?“ fragte der Prinz hochfahrend.

„Ich habe mir kein Geld schenken lassen,“ erwiderte der Knabe, „ich habe mir das Geld von Ihnen redlich verdient. Na, da kommt der Stadtvoigt, um das Thor zu schließen. Jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen, meine Herrschaften. Aber wenn Sie wieder einmal so neugierig sein sollten, die Judengasse in Frankfurt zu sehen, so melden Sie sich bei mir, ich werde Ihnen gern den Gefallen erzeigen.“

„Und Du, wenn Du in großer Noth bist und der Hülfe bedarfst, so komme nach dem Schloß in Hanau,“ sagte der Prinz, „melde Dich bei dem Portier und lasse mich um eine Audienz bitten. Ich bin der Prinz Wilhelm von Hessen und residire mit meiner Frau Mutter im Schlosse zu Hanau.“

„Und ich bin der Mayer Anselm Rothschild und residire mit meiner Frau Mutter in der Judengasse zu Frankfurt,“ sagte der kleine Mayer, indem er den stolzen Gruß des Prinzen mit einem ebenso stolzen Kopfneigen erwiderte.

Er blieb stehen und schaute dem Prinzen nach, der jetzt am Arm seines Hofmeisters mit hochgehobenem Haupt die Straße hinabschritt, um sich nach der fürstlichen Equipage zu begeben, die an der nächsten Straßenecke ihrer harrte. Dann, als die Beiden seinen Blicken entschwunden waren, drehte Mayer Anselm sich um, und mit seinen langen dürren Fingern ein Schnippchen schlagend, murmelte er vor sich hin: „Ist ein recht dummer Junge! Wenn der an meiner Stelle wäre, so würde er in seinem Leben kein Millionär werden, sondern immer nur ein Schacherjude bleiben! Aber jetzt fort, fort! Was wird die Memme sich freuen, wenn ich ihr das Geld bringe!“

Und mit beflügelten Schritten, kaum die Grüße der Vorübergehenden erwidernd, eilte Mayer Anselm durch die lange Judengasse dahin nach dem alten zerfallenen schmutzigen Hause, in welchem seine Mutter wohnte.

„Memme, meine liebe Memme!“ rief er, als er die Thür öffnete zu der düstern niedrigen Kammer; „Memme, ich bringe Dir –“ Aber das freudige Wort verstummte auf seinen Lippen, und mit einem lauten Schmerzensschrei stürzte er zu dem ärmlichen Lager hin, auf welchem seine Mutter ruhte. Sie sah ihn nicht, ihre Augen waren geschlossen, ein tiefes, unheimliches Stöhnen drang aus ihrer Brust hervor, der Schweiß stand in großen Tropfen auf ihrer gelben, marmorkalten Stirn, ihre blassen, abgemagerten Hände ruhten gefaltet auf der dunkeln Decke, welche ihre arme zerfallene Gestalt verhüllte. Auf dem niedrigen, binsengeflochtenen Lehnstuhl vor dem Bette saß ein kleines Mädchen von vielleicht sechs Jahren, aber mit jenem ernsten, verständigen Ausdruck der Mienen, wie ihn Noth und frühzeitige Entbehrung den Kindern der Armuth einzuprägen pflegt. Auch sie hatte die Hände gefaltet und schien zu beten, ihre großen schwarzen Augen waren himmelwärts gerichtet, und schwere Thränen flossen aus denselben langsam über ihre Wangen nieder.

„Was ist’s mit der Memme?“ schrie der Knabe, zu dem Bette hinstürzend. „Mutter, warum antwortest Du mir nicht, warum schauest mich nicht an und freu’st Dich, daß ich wieder da bin?“

Aber die Kranke schien seine Worte gar nicht gehört zu haben, sie fuhr fort zu stöhnen und zu ächzen, und ihre Augen öffneten sich nicht.

Mayer Anselm’s Blicke wandten sich entsetzt auf das kleine Mädchen, und er legte seine zitternde Hand auf ihre Schultern „Gudula!“ murmelte er mit beklommener Stimme; „warum antwortet sie mir nicht? Gudula! was ist’s mit der Memme?“

„Sie ist krank, Mayer Anselm, sehr krank,“ schluchzte das kleine Mädchen. „Du hattest mir, als Du heute Morgen auf den Handel gingst, gesagt, ich solle zu Deiner Mutter gehen und bei ihr bleiben, bis Du wieder kämst. Als ich in die Kammer trat, lag sie ganz unbeweglich auf der Erde und hörte nichts, so viel ich auch bat, mir Antwort zu geben. So bin ich denn gelaufen und habe die Nachbarinnen geholt, und die haben Deine [772] Mutter in’s Bett gebracht, und mein Vater ist auch hier gewesen, aber er hat gesagt, es wär’ nichts zu thun, und ich solle nur da sitzen und beten, bis sie ganz still geworden wär’.“

„Aber sie wird nicht ganz still werden!“ schrie der Knabe verzweiflungsvoll. „Sie wird wieder sprechen, und die Augen wieder aufthun und mich wieder anschauen. Mutter, Mutter! so höre mich doch! Der Mayer Anselm ist wieder da, und er hat Geld mitgebracht, viel Geld, und er kann Dir holen, was Du irgend nur essen magst. Ach, so sieh mich doch an, meine liebe Mutter, lieg nicht da mit verschlossenen Augen, hab’ Erbarmen mit mir! Das Herz in der Brust wird mir zerspringen vor Jammer, wenn Du noch länger so daliegst. Mutter, Mutter! thu’ die Augen auf, sprich zu mir.“

Und sieh! Die herzzerreißende Klage des Knaben hatte es vermocht, den entflatternden Geist der Sterbenden noch einmal in seine Hülle zurückzurufen, das mit den Todesqualen ringende Mutterherz begann wieder zu schlagen bei der flehenden Stimme ihres Kindes.

Sie schlug die schweren Augenlider langsam wieder auf, sie schaute mit einem Blick voll Liebe empor in das schmerzzuckende Angesicht ihres Sohnes, dessen Thränen so heiß und brennend auf ihre kalte Stirne niederfielen, als wollten diese glühenden Tropfen sie wieder zum Leben anregen; ihre Lippen, welche vorher im Krampf des Todes sich fest aufeinander gepreßt hatten, öffneten sich jetzt, sie begannen leise unverständliche Worte zu flüstern.

Der Knabe aber unterdrückte sein Schluchzen und Weinen, er drängte mit der Kraft des Willens die Thränen selbst in seine Augen zurück, er hielt den Athem an und horchte mit hochklopfendem Herzen auf die Worte, welche wie Geisterhauch von den Lippen der Sterbenden schwebten.

Auf einmal richtete sie sich mit einer raschen, zuckenden Bewegung empor und schaute mit großen, weitgeöffneten Augen, mit einem Ausdruck unaussprechlicher Liebe auf ihren Sohn hin.

„Mutter, liebe Mutter!“ flüsterte der Knabe; „wenn Du mich lieb hast, wirst Du bei mir bleiben? Ach, geh nicht von mir, laß mich nicht allein!“

Die Liebe, die große starke Mutterliebe, gab ihr die Kraft, ihre Arme emporzuheben, sie fest um den Nacken ihres Kindes zu schlingen, ihn an ihr Herz zu drücken, so innig, als wollte sie nimmer von ihm lassen, als wollte sie ihn ewig da geborgen halten in dem Schutz ihrer Mutterbrust.

„Lebe wohl!“ rief sie mit lauter Stimme[WS 1], „lebe wohl, mein Sohn. Bleibe treu dem Gotte Deiner Väter, treu Dir selber und –“

Mehr sagte sie nicht, ihre Arme lösten sich von seinem Halse, ihr Haupt sank zurück, ein letzter Seufzer rang sich von ihren Lippen. Dann war Alles still.

„Sie ist todt! Sie ist todt!“ schrie der Knabe und warf sich auf seine Kniee nieder und preßte die Hand der Mutter in der seinen, und schaute sie an mit Blicken voll unaussprechlichen Jammers und zugleich doch voll heiliger Scheu; er wagte nicht zu sprechen, nicht zu weinen und zu klagen, denn er sah, wie ein Strahl der Verklärung über das Angesicht der Todten dahin leuchtete, und wie das große Geheimniß des Todes oder des ewigen Lebens sich offenbarte in diesen erst wechselnden und dann erstarrenden Zügen.

Aber dann, als es erstarrt war, das Angesicht seiner Mutter, als der letzte Strahl des Lebens auf ihm erblaßt war, dann kam das Bewußtsein dessen, was er verloren, wieder über den Knaben, und er weinte und jammerte laut.

„Ich bin allein, ganz allein,“ das war der große Schmerzensschrei, der sich aus seiner Brust hervorrang. „Ich hab’ Niemand, der mich lieb hat, Niemand auf der ganzen großen Welt!“

„Mayer Anselm, ich hab’ Dich lieb!“ rief da eine weiche zitternde Stimme neben ihm, und zwei zarte keine Arme schlangen sich um seinen Nacken, und zwei weiche duftige Lippen preßten sich auf seine Wange. „Sag’ nicht, daß Du allein bist, Mayer Anselm, denn die keine Gudula ist bei Dir und sie wird immer bei Dir bleiben! Ich hab’ Dich lieb, Mayer Anselm.“

Er legte seine beiden Arme um ihren Hals und schaute sie an unter Thränen lächelnd, dann neigte er seinen Kopf auf ihre Schulter und weinte bitterlich.




2. Schön Gudula.

Zwölf Jahre waren vergangen seit jenem Tage, da Mayer Anselm’s Mutter gestorben war. Zwölf Jahre waren vergangen. Sie waren so reich gewesen an großen Weltbegebenheiten, an Erschütterungen und Stürmen. Ein Krieg hatte sieben lange blutige Jahre die deutschen Lande mit Jammer und Elend erfüllt, er hatte Maria Theresia für immer ihr „geliebtes Schlesien“ genommen und es dem „bösen Manne“ dazugegeben, er hatte Preußen eine neue Provinz und seinem König Friedrich dem Zweiten den glorwürdigen Beinamen des „Großen“ verschafft. Die Lage von ganz Deutschland hatte sich umgestaltet in diesen zwölf Jahren, nur in der Judenstadt zu Frankfurt war Alles unverändert geblieben. Da waren an ihrem Eingang noch die beiden Pfeiler mit den schmutzigen eisernen Thorflügeln, da waren noch dieselben kleinen ärmlichen und düstern Häuser, in denen dicht zusammengepfercht die Juden, die armen Sclaven des Vorurtheils, die Gebrandmarkten der öffentlichen Meinung, wohnten. Da herrschte in den engen Gassen noch dasselbe wirre Durcheinander des Handels und Wandels, der lebhaften Unterhaltung der Nachbarn, die entweder neben einander standen vor den Thüren, oder quer über die Straße hinweg miteinander sich unterhielten. Da hörte man noch das Lärmen und Schreien der Kinder, die frohgemuth auf den düstern Straßen spielten und mit ihrem frischen Lachen die alten Häuser durchtönten.

In der Judenstadt hatten diese zwölf Jahre nichts verändert, nur das Alter hatten sie angezeichnet auf den Stirnen der Männer und Frauen, hatten aus den Kindern Jünglinge und Jungfrauen gemacht. Mayer Anselm war jetzt ein kräftiger stattlicher Jüngling von zweiundzwanzig Jahren, die kleine Gudula war jetzt eine Jungfrau von achtzehn Jahren, schlank und zierlich, mädchenhaft zart und königlich stolz zugleich. Die ärmlichen Gewänder flossen an ihrer Gestalt nieder, als wär’s ein Purpur, der ihre Glieder zierte, die schwarzen Haare, die in dicken Lockenbüscheln rings ihren Kopf umgaben, waren oberhalb der Stirn mit einem purpurrothen Band zusammengefaßt und bildeten da eine Art von Krone, die herrlich paßte zu ihrer breiten weißen Stirn, zu den flammenden Augen mit dem stolzen Mädchenblick, zu dem schönen Oval ihres edlen Angesichts, zu den durchsichtig bleichen Wangen und den kräftigen Purpurlippen. Ein Maler hatte sie gesehen, wie sie in ihrem einfachen und doch so zierlichen Costüm über die Straße dahinging, und von Erstaunen, von Entzücken erfüllt, war er ihr gefolgt bis in die Judenstadt, bis in das ärmliche Haus, in welchem sie mit ihrem alten Vater wohnte.

Gudula hatte ihren kühnen Verfolger mit einem Blick voll königlicher Verachtung gefragt, was er hier zu suchen habe im Hause ihres Vaters, aber das bescheidene demüthige Wesen des Künstlers hatte sie bald versöhnt, und mit der Erlaubniß ihres Vaters hatte sie eingewilligt, dem Maler zu einem großen Gemälde als Modell zu dienen. Anfangs hatte er die Absicht gehabt, das schöne Judenmädchen zu einer Judith umzuschaffen, sie darzustellen mit dem Haupt des Holefernes in der Hand, aber je mehr er ihre Schönheit erkannte, desto mehr sah er ein, das dieselbe keiner Decorationen, keiner Nebenattribute bedürfe, um zu wirken, und so hatte er Gudula gemalt, wie sie wirklich war, Gudula in ihrem ärmlichen Gewande, mit ihrer Krone von schwarzen Locken und dem feuerfarbenen Bande über derselben. Das Portrait war den Kunstfreunden in einem der großen Magazine auf der Zeil zur Ansicht ausgestellt gewesen, und ganz Frankfurt und alle Fremden, welche die alte Reichsstadt besuchten, hatten das schöne Gemälde bewundert, bis der junge regierende Landgraf Wilhelm von Hessen, der in dem nahen Hanau residirte, das Gemälde um hohen Preis an sich gekauft und es den Blicken der Bewunderer entzogen hatte.

Aber seitdem war das Original des schönen Portraits zu einer Berühmtheit geworden, und Jedermann in Frankfurt kannte es, und wenn Gudula über die Straßen dahinging, so riefen die Buben auf der Gasse ihr nach: „Da geht schön Gudula, die Judenkönigin!“

Und gar mancher vornehme Cavalier und gar mancher reiche Herr, der niemals sonst die schmutzige Judenstadt betreten, kam jetzt dahin, um schön Gudula aufzusuchen und unter dem Vorwand, mit ihrem Vater Geschäfte zu machen, der Tochter Schmeicheleien zu sagen.

(Fortsetzung folgt.)
[773]

Das Abendfeierstündlein.

Die Sonne sinkt zu Thale. Da erhebt
Der würd’ge Pfarrherr sich vom Arbeitstische.
Er hat den Tag in Büchern hingelebt
Und sehnt sich nach der Fluren Athemfrische.

5
Die Grüße freundlich sendend rechts und links

Durchwandelt er des Dorfes Häuserzeilen;
Gewärtig jeder Bitte, jedes Winks,
Erfreut es ihn, vor mancher Thür zu weilen.

Es spendet gern ein Mann, der durch das Licht

10
Des Wissens ist beglückt, von seinen Gaben

Den Andern, denen es daran gebricht;
Nicht Jedes kann im Haus die Leuchte haben.

Zufrieden im Gemüthe läßt er nun
Dahinten Dorf und Thal und steigt zum Hügel,

15
Wo’s ihm am liebsten heimelt, auszuruhn,

Derweil sein Sinnen regt die stärk’ren Flügel.

Wie still rings die Gefilde, für den Mann,
In dem die Pulse seiner Zeit nicht schweigen,
Drängt’s von der Geister Strömung hoch heran,

20
Daß ihre Wogen ihm zum Herzen steigen.


„Ja, Gott und Herr, Du hast es wohlgemacht!
Vertheilt hast Du allein die Siegeskränze,
Erstritten in der großen Geisterschlacht
Und grünend frisch in jedem neuen Lenze.

25
„„Mit deutschen Fahnen war die Stadt geschmückt““ –

Schreibt mir mein Sohn von Leipzig. – Heil’ge Farben!
Wie habt ihr einst mein Burschenherz beglückt,
Und wie verbittert, als sie euch verdarben!

Heut schwingt das deutsche Volk euch als Panier,

30
Ihr müßt empor auf Königsschlössern ragen, –

Als Demagagenfarben mußten wir
Oft unterm Hemde euch verborgen tragen!

Wer bringt die edlen Jünglinge zurück,
Die grausam warf der Arm des Rechts darnieder?

35
Was raubte ihnen Freiheit, Leben, Glück?

Die Farben dieser Zeit und ihre Lieder!

Ja, Du hast’s wohlgemacht, mein Herr und Gott,
Am deutschen Volke! War doch unser Glühen
Für’s Vaterland einst der Philister Spott!

40
Der Baum der Jugend sollte nicht mehr blühen!


Und sieh, nun blüht des ganzen Volkes Baum!
Der Mann der Arbeit ist Student geworden,
Er strebt nach Wissen, und Du weißt heut kaum,
Wer steht zuhöchst im Tugendbundesorden!

45
Sogar das tiefste Leid, das uns gedrückt,

Der schwerste Hohn, der uns das Herz geschlagen,
Die Hand des Herrn hat Beides uns entrückt
Und aufgethan das Thor zu neuen Tagen:

Sieh, Nordalbingiens alten Herzogsthron

50
Erhebt das Volk, das nimmer ward bezwungen,

Für seines Bodens treuen echten Sohn,
Und frei wird Schleswig-Holstein, meerumschlungen!

Wie’s in mir jubelt! Meine Seele singt,
Als wäre neue Jugend ihr gegeben!

55
Und wenn Mariechen mir mein Gläslein bringt,

Heut laß’ ich Dich, mein herrlich Deutschland, leben.“

Da kommt Mariechen schon, Hochwürdiger!
So nimm Dein Glas und klinge an dem meinen:
Ist einst Dein Sohn, wie Du, ein alter Herr,

60
Mög’ auch solch Feierstündlein ihm erscheinen!


Mög’ solch ein Abendfeierstündlein auch
Begeistern ihm die treue deutsche Seele!
Und werd’ es recht im Vaterlande Brauch,
Daß solch ein Stündlein keinem Alten fehle!

Friedrich Hofmann.
[774]
Jörn Jäger.[1]
Eine Erinnerung aus dem schleswig-holsteinischen Feldzuge von 1850.

Das Bombardement von Friedrichsstadt war aufgegeben worden. Der Sturm auf den Platz am Abend des 4. Octobers, der Tausenden braver Schleswig-Holsteiner nutzlos das Leben kostete, hatte nur die Ehre der Armee retten sollen, wie man sich höhern Ortes damals ausdrückte.

Der allgemeine Rückzug begann, und auch unsere Batterie traf schon am 6. October wieder in Rendsburg ein. Es ist kein sehr erhebendes Gefühl für den Soldaten, wenn er sich nach jeder größeren Affaire immer von Neuem hinter den Mauern einer Festung verkriechen muß! Wir waren daher Alle mürrisch geworden und hätten weit lieber im offenen Felde mit dem Feinde Kugeln gewechselt, anstatt in der Festung nun wieder den Wachdienst versehen zu müssen. Mir, als Freiwilligem, war aber eine derartige Verwendung ganz besonders lästig; man wird sich daher denken können, wie freudig mir das Herz schlug, als mich nach wenigen Tagen schon die Nachricht ereilte, daß ich als provisorischer Feldwebel zu einer halben sechspfündigen Batterie versetzt sei und schleunigst an meine neue Bestimmung abzugehen habe.

Marschordre, – mit welcher beseligenden Empfindung erfüllt sie den jungen Krieger! Eifrig wird der Tornister gepackt, nur das Nothwendigste wandert mit in die Ferne, darunter ein letzter Abschiedsbrief an die Lieben, falls eine feindliche Kugel all’ unserem irdischen Kämpfen und Hoffen ein jähes Ende bereiten sollte. Alles Uebrige nimmt entweder den Weg durchs Fenster oder wird an Zurückbleibende verschenkt, weil uns stets der Gedanke, bald laut, bald leise, durch die Seele weht: Ich kehre ja doch nicht wieder.

So waren auch meine Habseligkeiten rasch geordnet, und rüstig und wohlgemuth schritt ich am Morgen des 10. October in Begleitung eines Cameraden, der mit mir zu jener Halbbatterie versetzt worden war, meiner neuen Bestimmung entgegen. Es war ein trüber Herbsttag. Dicke Nebel lagerten auf dem Boden. Nachmittags zogen sie sich höher und verkündeten dem Wanderer keinen guten Abend. Unser Marsch war ziemlich weit, denn unsere neue Abtheilung stand in Meggerdorf in der Nähe von Johannisberg, der Besitzung des weit und breit gekannten schleswig-holsteinischen Patrioten Tiedemann. Mein Camerad, ein Preuße, verkürzte mir die Zeit durch allerlei witzige Erzählungen und beschwor mich, als wir in ein Dorf gelangten, wo wir Mittagsrast zu halten gedachten, um Gotteswillen nur das Wirthshaus zu meiden, da man in jetziger Zeit das Geld sparen und bei den Bauern um freie Kost anklopfen müsse. Das geschah denn auch, und unsere Wirthe gaben uns nach beendigter Mahlzeit noch einen Schnaps mit auf den Weg und Auskunft, wie wir uns am schnellsten nach Meggerdorf hinüber finden könnten.

Wir mußten durch das Moor marschiren; da, diesseits der an Meggerdorf vorüberfließenden Aue, sollte ein Fischer wohnen, der zugleich die Jägerei betrieb. Er würde uns bereitwilligst über den Fluß setzen und uns so unserm Ziele auf die rascheste Art zuführen. Es dauerte auch nicht allzulange, so bekamen wir ein niedliches Bauernhäuschen in Sicht. Mutig schritten wir demselben zu. Natürlich hatten wir nach dem Namen des fischenden Jägers und jagenden Fischers gefragt, allein nirgends die gewünschte Auskunft erlangen können. Ueberall ward uns blos die Antwort, der Mann sei allgemein unter seinem Vornamen Jörn bekannt, den Zunamen aber wisse man nicht. Deshalb heiße er schlechtweg Jörn Jäger.

Nach kurzem Marsche standen wir vor dem Häuschen, dessen zierlich grün angestrichene Fensterrahmen mir sogleich verkündeten, daß wir den Weg nicht verfehlt haben konnten und daß hier unbedingt der Jäger und Fischer wohnen mußte. Bescheiden pochten wir an die Hinterthür, die auch hier, wie bei allen holsteinischen und schleswigschen Bauernhäusern, der Breite nach aus zwei sich zugleich oder einzeln öffnenden Theilen bestand. Bereits war es dämmerig geworden; das mochte der Grund sein, weshalb auf unser Klopfen vorsichtig nur die obere Luke aufgethan wurde. Ein bildschönes, einfach, aber äußerst reinlich gekleidetes Bauernmädchen fragte freundlich nach unserm Begehr.

Auf unsere Frage, ob hier Jörn Jäger wohne, den wir bitten möchten, uns über die Aue zu setzen, öffnete das Mädchen auch die untere Thür und erwiderte noch freundlicher: „Vadder kummt glieck to Huus, koamt man so lang’ rin.“

Wir ließen uns dies nicht zweimal sagen, und an dem rüstigen Vorwärtsschreiten meines Preußen merkte ich allsogleich, daß er hier wieder eine herz- und magenstärkende Aufnahme witterte. Bei unserm Eintritte in das ländlich schlichte Zimmer, das zugleich als Wohn- und Schlafstube diente, erhob sich Jörn Jäger’s Frau von ihrem Spinnrocken und lud uns ein, Platz zu nehmen. Mit stiller Wehmuth betrachtete ich die schmucklose, doch desto gemüthlichere Einrichtung des Zimmers, und schmerzlich süße Erinnernugen beschlichen den jugendlichen Soldaten. Hatte er sich einst doch auch der Försterei widmen wollen und war, heiligeren Gefühlen folgend, nur durch die Lage seines unglücklichen Vaterlandes auf das Feld der Ehre gerufen worden.

Da hingen in gehöriger Symmetrie die Gewehre an der Wand, neben ihnen Jagdtasche, Pulverhorn und Schrotbeutel. Rehkronen und Hirschgeweihe waren hier und da an der Wand befestigt, und statt Nägel oder Haken figurirten die Eckzähne von wilden Schweinen. Ein mächtiger Kachelofen reichte beinahe bis an die Decke des niedrigen Zimmers und verbreitete eine im October immerhin behagliche Wärme. Zwei Vorhänge an der Wand verriethen, daß hinter ihnen die Schlafstätten der Familie verborgen lagen, die auch hier, wie fast im ganzen Norden üblich, in der Zimmerwand eingelassen waren. Eine große Schwarzwälder Uhr stand in der Ecke und ließ ihre gemessenen Pendelschläge durch das Gemach ertönen. Ein umfänglicher eichener Schrank, ein Tisch und einige Stühle bildeten das übrige Geräthe in Jörn Jäger’s einfacher Behausung. Gott weiß es, war es die Vorahnung, hier einen wahren Freund meines armen Vaterlandes zu finden, oder hatte ich mich längst schon vergebens nach einer solchen ländlichen Gemüthlichkeit gesehnt, – ich empfand ein seltenes Behagen und fühlte mich immer froher, je länger ich in dem bescheidenen Stübchen weilte.

Jörn blieb heute Abend lange aus. Es war inzwischen völlig dunkel geworden, und Stina, seine Tochter, dieselbe, die uns aufgethan, trat mit Licht in die Stube. „Gooden Abend,“ wünschten wir uns allerseits – eine Sitte, deren Beobachtung im Norden nie unterlassen wird.

Darauf begann Stina den Tisch zu decken und bat uns, ein einfaches Abendbrod nicht zu verschmähen. Wie funkelte das sehnsüchtige Auge meines Cameraden, als das junge Mädchen Butter, Brod, Käse, Wurst, geräucherten Aal und Branntwein auftrug! Geräucherter Aal! Das überstieg seine kühnsten Erwartungen, und doch war es gerade dieser Leckerbissen, mit dem die Gäste im Hause Jörn Jäger’s in der Regel bewirthet wurden, weil der Alte jeden Morgen eine gehörige Portion Aale fing und dann selbst zu räuchern pflegte. Noch hatten wir unser Abendessen nicht beendigt, als Hundegebell und der Ruf Stina’s: „De Vadder kummt,“ uns Jörn’s Heimkehr verkündigten.

Die Thür ging auf, und herein trat der arme, aber echte Patriot, der trotz seiner kärglichen Mittel so viel that für die Krieger Schleswig-Holsteins und selbst lieber Hunger und Durst gelitten haben würde, als daß er einen Sohn des theuren Vaterlandes nicht nach Kräften mit Speise und Trank erquickt hätte.

Es war eine hohe Gestalt, die sich in etwas gebückter Haltung unsern Augen darbot. Das längliche, von einem dunklen Backenbarte eingefaßte Gesicht zeugte auf den ersten Blick von seltener Gutmüthigkeit, und aus dem graublauen Auge blickte eine Biederkeit, wie man sie nicht oft gewahr wird. Jörn trug einen dunkelgrünen kurzen Frack, Manchester-Kniehosen, lange Jagdstrümpfe, hohe Stiefeln und eine tuchene grüne Jagdmütze. Er mochte damals einige fünfzig Jahre alt sein, aber die gesunde Gesichtsfarbe, sein seltener Humor und seine ungewöhnliche Rüstigkeit hätten auf ein weit geringeres Alter schließen lassen.

„Gooden Abend, Kinners,“[2] rief er uns zu, indem er freundlich [775] die Hand zum Gruße bot, „wo schall dat hüt denn noch hengahn?“[3]

Wir theilten ihm unser Anliegen mit. „Vun Harten gern, Jungens,“ entgegnete Jörn, „aberst teerst will ick een beeten eeten, und denn möt Jü ook noch eenen drinken!“[4]

Er setzte sich zu uns an den Tisch, und unter vielen Erzählungen aus den jüngst vergangenen Tagen der Friedrichsstadt verstrich uns die Zeit geschwind genug. Als ich ihm mittheilte, daß ich früher ebenfalls hätte Waidmann werden wollen, da kannte seine Freude kein Ende. Nun müsse ich jeden Tag zu ihm kommen, meinte er, um mit ihm zu jagen, sobald und so oft es nur meine Zeit erlaube.

Der Biedermann schien mich sofort in sein Herz geschlossen zu haben, und war es mir in seiner Wohnung von Anfang an ganz eigenthümlich wohl zu Muthe, so dünkte es mir jetzt doppelt gemüthlich in dem schmucklosen Stübchen.

Aus allen Schilderungen Jörn’s leuchtete die innigste Vaterlandsliebe hervor, und zu wiederholten Malen äußerte er, wenn der Feind diese Gegend besetzen würde, so verließe er sie sofort und zündete sein schwererworbenes Besitzthum lieber selber an, als daß er unter den Dänen leben möchte.

Wie das Gerücht ging, hatte er die Stellungen des Feindes gar manches Mal ausgekundschaftet und dadurch der schleswig-holsteinischen Armee wesentliche Dienste geleistet.

Darüber sprach indeß Jörn kein Wort; kam man darauf, so schwieg er still und blies die großen blauen Rauchwolken desto stärker aus seiner kurzen Pfeife. Sein Handwerk setzte ihn in den Stand, über die Stellungen des Feindes genauer unterrichtet zu sein, als jeder Andere, und dies mochte die erwähnten Vermuthungen unterhalten. Daß er für die in dortiger Gegend stehenden Schleswig-Holsteiner that was er konnte, das war im ganzen Umkreise allbekannt. Jedem, der zu „seinen braven Söhnen“ gehörte, wie er sich auszudrücken pflegte, stand sein gastfreies Haus offen, und bei dem Mangel, der im Kriege so oft das Loos des Soldaten ist, wurde diese Gastfreiheit häufig genug in Anspruch genommen.

Seit Beginn des Feldzuges von 1850 hatte Jörn wirklich eine ganz besondere Thätigkeit entwickelt. Lag es früher in seinem Interesse, das Revier möglichst zu schonen, um auch für die Zukunft seine Kunden mit Wild versorgen zu können, und hatte er in vergangenen Tagen, wenn er Morgens seine Aalkörbe, sogenannte Bungen, aufhob, stets die kleineren Exemplare der gemachten Beute der Aue zurückgegeben, damit er später einen mehr die Mühe lohnenden Fang thun könne – jetzt achtete er nicht mehr auf diese Grundregeln seiner beiden Gewerbe.

Jörn war arm. Er konnte daher seine Kinder – so nannte er alle schleswig-holsteinischen Soldaten – nicht anders unterstützen, als daß er sie mit Wild und Fischen unentgeltlich bewirthete. Darum schoß er jetzt auch Alles, was ihm auf seinem Reviere vor die Flinte kam, und warf keinen Aal, selbst nicht den kleinsten, mehr in’s Wasser zurück. „Dat is dat Letzte wat ick för Jü dohn kann,“ sagte er dabei mit ernster ahnungsvoller Miene, „denn de Krieg duhrt nich mehr lang un denn kummt de Dän wedder; mit Sleswig-Holsteen is et dann uut.“

Wohl ist er ein Patriot gewesen, warm und brav wie einer, aber weil er nur ein armer, einfacher Bauer war, steht sein Name nirgends verzeichnet!

Es war spät geworden, als wir aus dem freundlichen Jägerhause aufbrachen, um uns von Jörn über das Wasser rudern zu lassen. Stina und ihre Mutter begleiteten uns bis vor die Thür und baten mich, ja recht bald wiederzukommen, was ich von Herzen gern versprach. Jenseit des Gartens hatten wir noch eine kleine Strecke des Moors zu durchschreiten, ehe wir den Kahn besteigen konnten; dann aber ging es blitzschnell dem andern Ufer zu.

Wir sprangen an’s Land. Der Alte reichte uns die Hand und fragte mich, ob und wann er mich am andern Tage mit seinem Nachen hier erwarten könne, von wo es nur noch zehn Minuten nach Meggerdorf sei. Wir verabredeten uns auf vier Uhr Nachmittags, und mit einem freundlichen: „Goede Nacht!“ fuhr Jörn nach seiner Behausung zurück.

Ich schaute dem Schiffe noch eine Weile nach, bis mein Camerad mich mit dem prosaischen Ausrufe: „Jöttliche Aale, dahin jehen wir recht bald wieder“, dem Träumen entriß, in welches mich die eben verlebten Stunden versetzt hatten. Hurtig schritten wir nun dem Dorfe zu, und nach einer Viertelstunde meldeten wir uns bei unserm neuen Battericeommandeur.

Ein glücklicher Zufall wollte es, daß dies gerade ein Officier war, der mir früher Privatunterricht in der Mathematik ertheilt hatte. So war ich denn wenigstens nicht gänzlich fremd in meiner neuen Umgebung. „Gut, daß Sie kommen, lieber Freund,“ redete mich der Lieutenant an, „’s giebt hier eine famose Jagd, und da augenblicklich nur wenig zu thun ist, so können Sie, als guter Schütze, mich dann und wann auf meinen Pirschgängen begleiten.“

Ich erzählte hierauf meinem Vorgesetzten, daß ich soeben die Bekanntschaft Jörn Jäger’s gemacht hätte und auch von diesem zur Jagd geladen worden wäre. „Desto besser,“ entgegnete der Officier, „dann gehen wir zusammen. Der Alte ist ein braver Kerl und hat viel Muth; das ist auf unserer Jagd die Hauptsache.“ Ich sollte später den Sinn dieser Werte deutlicher verstehen lernen. Mein Quartier war ein schlichtes Bauernhaus in Meggerdorf. Schon lange pflegte sich der Preuße auf dem Lager, als ich von Johannisberg, wo mein Lieutenant lag, zurückkam. Auch ich suchte alsbald das Bett auf und entschlief rasch nach dem derben Marsche.

Am nächsten Morgen wandten sich meine ersten Gedanken dem trauten Jägerhause zu, und sobald ich meinen Dienst gethan hatte, trat ich den Weg nach dem Damme an, der von der Aue bespült wurde. Es war inzwischen vier Uhr geworden, und an der verabredeten Stelle harrte schon Jörn mit seinem Kahne, auf dessen hinterem Ende er in tiefem Sinnen saß. Unsere Begrüßung war die herzlichste, und bald hielt das kleine Fahrzeug am jenseitigen Ufer. „Mien Oolsch hätt hüt een gooden Braden moakt, un da schast Du, mien Söhn, duch eenmal recht vergnügt mit mi leben,“[5] hub der Alte fröhlich an, als der Kahn angebunden war und wir dem Hause zugingen. Er hatte mich unter den Arm gefaßt und schien so glücklich zu sein, als gälte es heute seinem eigenen Sohne ein Fest zu bereiten.

Wieder verlebte ich unter den einfachen Leuten einen gemüthlich-heitern Abend. Jörn erzählte viel von dem unglückseligen Kriege und hatte manches Zorneswort für die deutschen Regierungen, welche das theure Vaterland, für das sie zwei Jahre hindurch mitgefochten, jetzt so schmachvoll im Stiche gelassen hatten. Auch die Art der gegenwärtigen Kriegführung war gar nicht nach seinem Sinne, und mehr als einmal jammerte er über das unnütz vergossene Blut so vieler tapferen Soldaten.

Draußen tobte der Sturm und peitschte dicke Regentropfen gegen die Fenster. Schon Nachmittags hatte sich der Himmel umwölkt, und nun war das volle Unwetter hereingebrochen. Bei dem Winde war es unmöglich über das Wasser zu kommen. Was blieb also anders übrig, als bei einem recht heißen Glase Grog den Eintritt besseren Wetters zu erwarten? Aber immer wilder tobte der Sturm, und selbst die Wände des solid erbauten Jägerhauses begannen bedenklich zu wanken. Mit dem Rücken gegen den großen Kachelofen lehnend und aus einer kurzen Thonpfeife rauchend, fühlte ich mich bei dem wilden Tosen, das draußen herrschte, in der trockenen Stube nur um so behaglicher; ja ich ertappte mich auf dem stillen Wunsche, daß das Wettergraus noch recht lange anhalten möge.

Gegen elf Uhr ging Jörn hinaus, um nachzusehen, ob die Rückkehr nach Meggerdorf heute überhaupt noch möglich werden würde. Bald war er wieder bei uns, hing seinen Südwester auf und erklärte, ich müsse diese Nacht bei ihm bleiben, denn an eine Ueberfahrt sei heute nicht mehr zu denken. War mir dies nun in einer Beziehung ganz lieb, so ängstigte mich’s doch in anderer Hinsicht nicht wenig; im Falle eines nächtlichen Alarms hätte ich ja meine Batterie nicht erreichen können. Der Alte beruhigte mich jedoch darüber und versprach mir, in solchem Falle Alles zu wagen. Uebrigens, setzte er gleichzeitig in bestimmtem Tone hinzu, wäre an einen Angriff gar nicht zu denken. Er habe heute Morgen noch die Stellung des Feindes beobachten können. Der hätte sich weit zurückgezogen und die erste Feldwache fast zwei Stunden von hier aufgestellt. Ich hatte seit zehn Wochen in keinem Bette geschlafen; Stroh war das beste Nachtlager gewesen, das ich gehabt, und oft hatte die liebe Muttererde meine Matratze und die auf den Boden gestellte Pickelhaube mein Kopfkissen abgeben müssen. Auch diese Nacht gedachte ich mir im Zimmer ein Strohlager zurecht zu machen. Solche Ideen aber nahm mir Jörn schier übel.

[776] „Hüt, mien Jung, slöpst Du in mien Bett, Di daiht de Ruh’ grood nödig,“[6] sprach er.

Meine Einwendungen halfen nichts: Jörn bugsirte mich in sein großes Federbett. Das Licht verlöschte, und ich lag noch eine Weile wach und lauschend unter der schweren Decke. Noch hörte ich das Heulen des Sturmes, den klatschenden Regen und das Brausen der Wogen in ungeminderter Stärke. Endlich legte sich das Tosen. Nur noch dann und wann ein gellender Sturmpfiff, ein letzter Windstoß, leises Plätschern der Wellen und ein vereinzelter Regentropfen, der an das Fenster klopfte. Endlich Alles ruhig, Frieden ringsum. Ich schlief ein.

Als ich erwachte, stand der Jäger vor mir mit einem freundlichen „Gooden Morgen, na, häst good sloapen?“

Nachdem wir gefrühstückt hatten, packte er noch die besten Leckerbissen zusammen und nöthigte mir die Erquickung auf. Stina aber überreichte mir zum Abschied ein Fläschchen Schnaps und meinte treuherzig, ich solle doch jeden Abend kommen, denn in ihrer Einsamkeit wär’s ihnen Allen eine große Freude, wenn sie Abends mit mir zusammensitzen und plaudern könnten.

„Häst Recht, Stina,“ ergänzte der Vater, „he kummt ook nu jeden Dag to uns.“

Der Wind hatte sich gelegt, auch fiel kein Regen mehr vom Himmel. Drüben machten wir aus, daß er nun allabendlich mit seinem Kahne auf mich warten sollte. Und so kam ich jeden Morgen an den Damm, wenn er seine Aalkörbe aus dem Wasser nahm, und begleitete ihn auf seinem Rundgange und dann zum Frühstück nach Hause. Regelmäßig ruderte mich der Alte zurück.

Zwar lagen wir in Meggerdorf auf Vorposten, dennoch aber glich unser dortiges Leben völlig dem in einer Friedensgarnison. Sowohl die dänische als unsere Armee unternahmen nur selten noch eine Operation, und unbelästigt standen sich beide Theile scheinbar friedlich gegenüber. Dies machte es möglich, daß wir in dienstfreien Stunden uns allerlei Zerstreuung hingeben konnten. Ich benutzte meine Muße ohne Ausnahme zu meinem Besuche bei Jörn, mit dem ich auch schon einige Male auf die Jagd gegangen war. Einst hatte der gute Alte zufällig von mir erfahren, daß ich in der Regel Nachts zwischen zwölf und ein Uhr unsere Schanze visitiren mußte, in der wir einen Posten aufgestellt hatten. Und als ich meine nächste Runde machte, traf ich Jörn, der auf mich wartete und mir fröhlich seine Flasche zum Trunke darbot. Von da an fand er sich fast jede Nacht bei der Schanze ein. So lebte ich die angenehmsten Tage. Es war mir, als sei Jörn’s Haus meine eigene Heimath. Wie Eltern und Schwester betrachtete ich die lieben Leute, und ihnen galt ich als Sohn und Bruder.

Eines Abends hatte mich mein Vorgesetzter rufen lassen und mich beauftragt, auf den morgenden Tag mit Jörn Jäger eine längere gemeinsame Jagdpartie zu verabreden. „Sagen Sie dem Alten, er solle Kugeln mitnehmen, und besorgen Sie auch für sich den nöthigen Bedarf,“ schloß der Lieutenant.

Auf meine Erwiderung, daß wir ja nur Becassinen, Hühner und Hasen antreffen würden, mithin durchaus keine Kugeln brauchten, versetzte Jener: „Wir brauchen Kugeln, sage ich Ihnen, deshalb sorgen Sie dafür.“

Ich eilte zu Jörn Jäger, der mich schon längst erwartet hatte, und theilte ihm das Betreffende mit.

„Is doch een bannigen[7] Keerl,“ murmelte Jörn vor sich hin.

Ich frug, was es mit den Kugeln für eine Bewandtniß hätte, erhielt aber die kurze Antwort, daß ich das morgen nur zu früh erfahren würde. Nun ahnte ich wohl, daß es sich um eine Jagd in der unmittelbaren Nähe des Feindes handelte. Dies war auch in der That die Absicht des Lieutenants, der den Dänen gar zu gern dann und wann einen Kugelgruß hinüberschickte.

(Schluß folgt.)




Der Erfinder des Phosphor.

Die Pfaueninsel bei Potsdam ist ein Ort, der den Besuchern jener reizenden Gegend gewiß im Gedächtniß bleibt. Inmitten des schönen Wasserspiegels der Havel gelegen, die Aussicht auf herrlich bewaldete Ufer gewährend, bietet die kleine Insel in ihrem Innern selbst mannigfache Abwechselung dar. Schöne Pflanzungen, heitre und prächtige Gebäude zieren das Eiland, und namentlich hatte es in früheren Jahren besonderen Reiz, als noch eine Sammlung seltener wilder Thiere die Beschauer anlockte. Der ganzen auf der Insel herrschenden Einrichtung sieht man es an, daß wahrhaft königliche Munificenz hier gewaltet. Und in der That ist es auch so. Die Herrscher Preußens haben sich Potsdam und dessen Umgebung stets zum Lieblingssitze ausersehen; Friedrich der Große ließ schon die Insel durch Anlagen verschönern und gab ihr den Namen Pfaueninsel, früher hieß sie der Kaninchen-Werder, später Pfauen-Werder. Nach und nach wurden immer mehr Verschönerungen auf derselben angebracht und die heitere Anlage dadurch zu einem Schmuckkästchen der Ziergärtnerei erhoben. Viel frühere Jahrhunderte scheinen jedoch bereits regelmäßige Anpflanzungen auf der Insel gesehen zu haben, denn die noch heute sichtbar symmetrisch gepflanzten ungeheuren Eichen, ein Kreis derselben, welcher das Wasserbassin einschließt, geben Zeugniß, daß hier schon in grauer Vorzeit eine ordnende Hand thätig war. Die Pflanzzeit der Eichen dürfte ungefähr das Jahr 1440 gewesen sein, doch finden sich auch noch viele weit ältere Exemplare dieses herrlichen deutschen Baumes.

Nicht immer war die Insel der Gegenstand des vergnügungssüchtigen Publicums. Es gab eine Zeit, in der sie sehr verrufen war. Unbestimmte Sagen und Behauptungen hatten sich unter die Bewohner Potsdams geschlichen und dies Inselchen zum Sitze der fürchterlichsten, theilweise teuflischen Geschöpfe gemacht. Woher der schlimme Ruf entstanden, läßt sich schwer ermitteln; es scheint, daß eine geschichtliche Annahme, die Pfaueninsel sei in der Heidenzeit ein Opferplatz gewesen, jene Furcht vor dem Orte veranlaßte.

Besonders schrecklich und grauenvoll ward die Insel aber den Umwohnenden in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts, unter der Regierung Friedrich Wilhelm’s des großen Kurfürsten. Das war die Zeit, wo sie noch der Kaninchenwerder hieß, wenigstens beim Volke, denn in den Documenten wird sie schon damals Pfauenwerder genannt, und diese Documente übergaben im Namen des Kurfürsten den einsamen Werder einem Manne, dessen Ruf, unheimliches Wesen, verpönte und geheimnißvolle Beschäftigung nur dazu geeignet waren, den Abscheu der Bewohner Potsdams und der Umgegend vor der gefürchteten Insel noch zu vermehren. Der finstere Gast, später Eigenthümer des Pfauenwerders, hieß Johannes Kunckel,[8] war aus den Diensten des Kurfürsten von Sachsen in brandenburgische Dienste getreten und betrieb mit fürstlicher Erlaubniß die teuflische (!!!) Goldmacherkunst.

Es war in den letzten Tagen des September 1686. Einem jener schönen Spätsommertage war ein kühler Abend gefolgt. Die Wellen der Havel gingen hoch und ließen ein Boot tanzen, welches von Potsdam her auf den Kaninchenwerder zusteuerte. In diesem Boote saßen zwei Männer, der Schiffer und dessen Passagier. Letzterer hatte sich in seinen Mantel gehüllt und regierte das Steuer, der Schiffer handhabte die Ruder. Die Unterhaltung der beiden Personen drehte sich um den verrufenen Kaninchenwerder, der das Ziel des Reisenden war.

„Aber,“ fuhr der Fremde in seinen Gesprächen fort, „wenn Ihr so schwere Anklage gegen den Adepten erhebt, so müßt Ihr doch einen Beweis gegen ihn vorbringen können!“

„Ja,“ entgegnete der Schiffer, „den haben wir freilich nicht, aber ist es denn nicht genug, daß er überhaupt auf der Insel wohnt? Welcher redliche Christ kann es da aushalten? Das ist ein Ort, wo sie vor diesem den Menschen das Herz ausgerissen haben und sie dem Götzen oder der gefräßigen Göttin Jetschi Baba [777] geopfert haben. Rings herum hier ist noch heute die Gegend voll von allerlei Spukgestalten, und wenn wir Nachts die Reusen auslegen, können wir die Gespenster dutzendweis sehen, wie sie durch das Rohr huschen oder über den Wasserspiegel schweben, oder auf den Forstberg schlüpfen, auf dessen Höhe sie ihre Tänze ausführen, wie sie ehedem um den rauchenden Opferstein getanzt haben. Es heißt der Berg noch heute bei dem verfluchten Wendenvolke, das hier um Potsdam wohnt, der Baberow, woraus sie auch Babersberg machen, zum Andenken an jene Baba, für die sie oben auf dem Berge geopfert.“

„Und die Insel?“ fragte der Fremde, „wie kommt sie damit zusammen?“

„Hab ich Euch nicht gesagt, daß da auch Teufelswerk getrieben wurde? Wenn ich nun das Alles zusammennehme, so kann ich doch nur denken, daß der Kunckel, der auf dem Werder wohnt, mit dem Gottseibeiuns verkehrt, denn wie würden ihn sonst die höllischen Geister in Ruhe lassen? Er hat zwei Teufel bei sich. Einer ist in Menschen-, der andere in Hundsgestalt. Der Mensch ist ein gelbliches, verwachsenes Geschöpf mit Triefaugen und langer Nase. Er hat ein furchtbares Maul und ist stumm, auch hinkt er auf einem Fuße, der offenbar ein Pferdefuß ist, und ist boshaft wie alle seines Gleichen. – Der andere Geist ist in Hundsgestalt um ihn. Seht nur, wie das Höllenvieh Nachts die Runde um die Insel macht, die Augen wie Feuerräder im Kopfe, die blutige Zunge aus dem Rachen hängend, so läuft es keuchend am Ufer herum.[9] – Und mit diesem Geschmeiße zusammen lebt der Herr Kunckel einsam auf dem wilden Dinge, das jetzt sein eigen ist, schon seit sechs Jahren. Nachts hört man wundersame Töne aus dem Hause erklingen, dann steigen Funken empor, und man gewahrt Glanz von Lichtern, die man nicht sieht. Ein Mal ist schon Alles heruntergebrannt, und das war eben durch den Teufel gemacht, dem Herr Kunckel nicht ordentlich seinen Pakt gehalten.“

„Aber,“ warf der Fremde ein, „wie erklärt Ihr es, daß der Kurfürst den Teufelsbanner in Sold hat?“

„Lieber Herr, die Großen dieser Erde sind oft nicht so weitsehend in solchen Dingen, als wir, die Niedrigen, denn vor ihnen geben sich die Höllenkünstler nicht wie sie sind. Unser gnädiger Herr hat auch vielleicht die besten Absichten gehabt, aber Gold ist ein mächtig Ding, es schmeckt gut, und die Herren sehen nicht, woher es fließt, bis sie in den Schlingen des Bösen sitzen. Gott lenke Alles zum Guten!“

Unter solchen Gesprächen war man bis an den Werder gelangt. In Finsterniß gehüllt, lag er vor den Ankommenden. Der Fremde steuerte auf den Zuruf des Schiffers das Boot gegen das Ufer. Es fuhr in den Sand, und der Gelandete erhob sich, um auszusteigen. „Wo finde ich das Haus des Kunckel?“

„Das ist weit entfernt, am andern Ende der Insel,“ entgegnete der Schiffer.

„Warum habt Ihr mich nicht dahin gefahren?“

„Nein, Herr, Ihr habt mir ein gut Stück Geld gereicht, daß ich Euch bis hierher bringe; ich bin arm, darum hab ich Euch den Willen gethan; aber in die Nähe des Teufelshauses bringt mich Niemand, dazu hab’ ich meine Seele zu lieb. Auch Euch, Herr, rathe ich ab. Ihr scheint mir ein braver Cavalier, ich weiß nicht, was Ihr vorhabt. Wollt Ihr aber durchaus, so geht in das dichte Gebüsch hier hinein, dann soll man auf eine lange Reihe doppelt stehender Eichen kommen, die Reihe führt auf das Haus. Seid Ihr morgen noch am Leben und wollt zurück, so ruft nur gegen Sacrow zu: „hol’ über!“ da lande ich hier an, Euch zu fahren. Nun Gott befohlen! Ich will machen, daß ich zurückkomme, ehe ich den Schwerenothshund wieder zu sehen kriege.“

Der Fremde zog seinen Mantel fester um sich, während der Schiffer abstieß und bald in der Dunkelheit mit seinem Boote verschwand, doppelt froh, als er endlich das jenseitige Ufer erreicht hatte. – Unterdessen schritt der Fremde in dem finstern Gebüsche vorwärts. Die ungeheuren Bäume, welche sich neben und über ihm erhoben, schienen die ganze Insel anzufüllen. Nur hie und da glaubte er ein freies Plätzchen zu bemerken. Der Boden, durch den Regen schlüpfrig gemacht, ließ den Fuß des Wandrers oft ausgleiten. Zuweilen war es ihm, als husche irgend etwas Lebendiges über den Weg. Der Fremde schien jedoch keineswegs von Vorurtheilen befangen zu sein. Er murmelte nur mit leiser Stimme: „Ein nichtswürdiges Wetter, ein schändlicher Weg! Beim Himmel, man kann es den Leuten nicht verdenken, wenn sie den Kunckel für den bösen Roland halten. Wie kann man sich als Gelehrter solch einen Wohnplatz wählen! Freilich das Laboratorium und die kurfürstliche Bestallung als Kammerdiener, und,“ fügte er lachend hinzu, „das Geschenk. Eine ganze Insel als Geschenk! Ja, wenn ihm die letzte Sache noch gelingt, ist Kunckel ein gemachter Mann.“

Unter diesen Selbstgesprächen und Betrachtungen war der Fremde an eine Bucht des Ufers gekommen. Von jetzt an führte der Weg dicht am Flusse entlang. Noch wenig Schritte hatte der nächtliche Besucher gemacht, als er plötzlich einen grellen Lichtschein auf dem Wasserspiegel der Havel gewahrte. Die Wellen zitterten innerhalb des bläulichen Feuerkreises, der sich genau in Cirkelform auf dem Wasser abzeichnete. Es war, als werde das Licht durch das runde Glas einer magischen Laterne geworfen. Zuweilen ward es matter, dann strahlte es wieder so hell, daß es den Augen wehe that. Der Fremde erinnerte sich jedoch, früher nie einen ähnlichen Lichtglanz, eine Lichtfarbe so eigenthümlicher Art gesehen zu haben.

Frostschüttelnd schlug er sich, dem Wege nachgehend, in ein aus Weimuthskiefern und Ginstern zusammengesetztes Gebüsch. Hier durfte er nur noch einige dreißig Schritte thun, als er vor einer aus Bohlen gezimmerten Parkthüre stehen bleiben mußte. Trotz der Dunkelheit gewahrte er Dächer des in geringer Entfernung befindlichen Gebäudes, aus dessen nach der Flußseite führenden Fenstern jener wundersame Lichtglanz strahlte. Er fuhr mit der Hand an der Thüre herum, die Klinke zu suchen, und erfaßte den schweren eisernen Klopfer. Er hob ihn, und schnell hintereinander hallten die dumpfen Schläge durch die Nacht und das Heulen des Windes.

Diese Aufforderung um Einlaß beantwortete ein furchtbares Hundegebell. Das Licht verlosch, und der Fremde hörte, wie eine Thür geöffnet wurde. Schlürfende Tritte näherten sich dem Hofthore, das Hundegeheul begleitete dieselben. Während von innen das Schlüsselloch gesucht ward, sprang der einen Fremden witternde Hund an der Thüre empor und kratzte mit seinen ohne Zweifel ungeheuren Pfoten an den Bohlen.

Der Fremde zog unter seinem Mantel ein Jagdmesser hervor, die Thüre sprang auf, und schon wollte sich ein großer, zottiger Hund auf den Ankömmling werfen, als eine mächtige Stimme das Ungeheuer zurückschreckte. Diese Stimme kam aus dem der Eingangsthüre gegenüberliegenden Hause, an dessen Parterrefenster ein Mann sichtbar war. Er hatte sich einen Schlafpelz übergeworfen. In seiner linken Hand hielt er eine brennende Nachtlampe, welche den Hof theilweise erhellte, seine Rechte umklammerte den Hals eines schußfertigen Doppelhakens, dessen Lauf im Scheine des Lichtes blitzte. – Der Fremde hatte die ganze berüchtigte Bevökerung des Kaninchenwerders vor sich. Der Oeffnende war der stumme hinkende Diener in Begleitung des Teufelshundes, und am Fenster zeigte sich Herr Johannes Kunckel, dem seine Mitbürger die Ehre vindicirten, ein Teufelskünstler zu sein.

„Wer ist da? Wer seid Ihr?“ rief Kunckel, das Feuerrohr hebend.

„Setzt ab!“ lachte der Fremde nähertretend. „Ihr braucht keine Kugel zu vergeuden.“ Er schlug den Mantel zurück und ließ seine Gesichtszüge hell von der Lampe bescheinen.

„Ihr seid es,“ rief Kunckel, ebenfalls lachend. „Ihr, Herr Kirchmayer! Willkommen, tretet ein!“ Die Hausthür öffnete sich, und der Alchymist streckte dem Freunde die Hand entgegen. „Crutzemann,“ herrschte er dem Diener mit schreiender Stimme zu, „schließe das Hofthor! Wodan, verdammter Hund, gieb Ruhe! Kommt in’s Zimmer, Kirchmayer!“ Kunckel schritt seinem Gaste voran in ein großes, sehr geräumiges Zimmer. Dasselbe war mit Büchern umstellt und durchaus wohnlich eingerichtet. In dem hohen Kamine prasselte, mit Berücksichtigung des kühlen Abends, ein helles Feuer. Bald war der Tisch gedeckt, prächtige Gläser mit Wein gefüllt umstanden eine mächtige Hirschkeule, Früchte verschiedener Art lagen in krystallenen Schalen. Der Teufelshund knurrte in der Kaminecke, und der dämonische Diener wartete auf.

Das ganze Aussehen Kunckel’s zeigte keineswegs den mürrischen vertrockneten Gelehrten, sondern vielmehr den heitern, frischen [778] Lebemann, nicht den Teufelsvasallen, sondern einen gutmüthigen, allerdings schlauen Gesellen. Letztere Eigenschaft prägte sich besonders auf seinem Gesichte aus, als er auf die Frage Kirchmayer’s: „Ich komme eigens hierher, um Euch zu fragen: habt Ihr ihn?“ das Glas erhob und mit zufriedenem Lächeln, die Augen blinzelnd, entgegnete: „Ich habe ihn.“

Kirchmayer, ein schöner, stattlicher Mann, dessen geistreiches Antlitz den Gelehrten erkennen ließ, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser erklangen. „Ihr habt ihn wirklich?“

„Heute wieder mit ihm experimentirt,“ lachte Kunckel.

„Wie, sollte etwa jenes Licht, das ich vorhin aus dem Hause strahlen sah – sollte –“

„Es kam von ihm,“ sagte Kunckel. „Nehmt erst Speise und Trank zu Euch, dann sollt Ihr hören.“

Während die beiden Freunde sich an dem Tische des Adepten laben, möge hier einige Nachricht über das Leben und Treiben des seltsamen und verdienstlichen Mannes Platz finden.

Johannes Kunckel, von Hause aus Apotheker, hatte sich bald auf das Studium der Metallurgie geworfen und sich namentlich in der Kunst, die zusammenhängenden Bestandtheile zu scheiden, hervorgethan. Bei diesen Beschäftigungen war es ihm gelungen, eine vorzüglich schöne verschiedenartige Glasmasse herzustellen, der er durch chemische Processe die mannigfaltigsten Farben zu geben wußte. Kunckel hatte in mehreren Ländern seine wissenschaftlichen Resultate verwerthet, und obgleich ein für seine Zeit sehr erleuchteter Kopf, ward er dennoch von der allgemein herrschenden Sucht, den Stein der Weisen zu suchen und Gold zu machen, erfaßt. Durch diese Manie (gleichbedeutend mit der unserer Zeit, nämlich mit der Geisterklopferei und Tischrückerei etc.) zeichneten sich das 17. und 18. Jahrhundert aus, was um so weniger verwundern darf, wenn man erwägt, daß es vorzugsweise die Fürsten waren, welche oft mit ungeheuren Kosten alchymistische Versuche anstellen ließen oder selbst anstellten. Jeder Mensch ist eben das Kind seiner Zeit, und sogar der große Kurfürst, Friedrich Wilhelm von Brandenburg, unterlag dem Einflusse seines befangenen Jahrhunderts. Er hatte von Kunckel viel gehört und berief ihn an seinen Hof, damit er in Brandenburg für den Kurfürsten arbeite. Kunckel war in sächsischen Diensten. Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen hatte ihn nach Dresden gezogen, auch in der gewissen Voraussetzung, bald ungeheure Goldklumpen in seine Münze schleppen zu können. Unter den vorhandenen Papieren befindet sich ein „A. S.“ unterzeichnetes Schreiben, welches auf geheimnißvolle Weise Kunckel auffordert „in Dienste hoher Herren, die sich nicht nennen wollen, zu treten“, er möge seine Antwort nach Prag an Achatius Schleicher senden. Da unmittelbar hinter diesem Schriftstück der Contract, wenn man es so nennen will, zwischen Kunckel und dem Kurfürsten von Sachsen folgt, so ist ziemlich gewiß, daß jenes Briefchen von einem sächsischen Hofbeamten ausging und daß der „hohe Herr“ eben Kurfürst Johann Georg war. Der Vertrag datirt vom 6. October 1677. Wann Kunckel von Dresden nach Berlin übergesiedelt, ist schwer zu ermitteln, doch hatte er schon 1680 auf dem Kaninchenwerder ein Laboratorium.

Der Kurfürst Friedrich Wilhelm bedingte sich freilich nicht Goldmacherei aus, sondern in der von ihm aufgestellten Schenkungsacte (dat. v. 27. April 1685) steht immer noch, daß Kunckel gehalten sein solle, „chymische Arbeiten“, namentlich aber „rare Gläser zu liefern“, doch unterliegt es keinem Zweifel, daß der Kurfürst Gold erwartete. Kunckel stand in hoher Gunst. Er erhielt den Kaninchenwerder zum Geschenk für sich und seine Erben, auch Geld zum Bauen eines Hauses, Braugerechtigkeit etc. Seine Hauptarbeit war die Bereitung schöner Glassachen. Dabei studirte er sehr fleißig Chemie und lieferte ausgezeichnete Präparate. Er hatte 1678 zwei Bücher geschrieben und in die Welt gesendet.[10] Seit dem Jahre 1669 aber fesselte eine Entdeckung seine Aufmerksamkeit, die für den Chemiker freilich vom höchsten Interesse sein mußte. Mit alchymistischen Arbeiten beschäftigt, hatte ein Laborant durch Zufall eine eigenthümliche Substanz in seinen Retorten entdeckt.

Vergebens hatte Kunckel sich bemüht, von dem Entdecker die Mittheilung des Processes zu erhalten, durch welchen der wunderbare Stoff sich gewinnen ließ. Der Erzeuger jener Materie war ein Kaufmann, Brandt in Hamburg, der bei alchimistischen Versuchen sein ganzes Vermögen geopfert hatte. Kunckel hatte Brandt bestürmt, ihn in das Geheimniß einzuweihen. Letzterer war jedoch entweder hartnäckig bei seiner Weigerung geblieben, oder hatte dem Suchenden ein unrichtiges Verfahren angegeben, genug – Kunckel sah sich genöthigt, auf eigne Faust nach dem sonberbaren, geheimnißvollen Stoffe zu forschen. Seit 1669 beschäftigte er sich mit diesem Thema.[11] Welcher Stoff war es? Die Leser werden es bald erfahren, denn als Kirchmayer den Adepten auf der Insel besuchte, war die Materie bereits von Kunckel wieder entdeckt. Kirchmayer’s Person mag hier auch noch in der Kürze besprochen werden. Er war einer der tüchtigsten Köpfe seiner Zeit. 1635 in Franken geboren, von seinen Eltern zum geistlichen Stande bestimmt, ging er später zur Rechtsgelehrsamkeit über. Er sprach viele Sprachen, schrieb sehr gute Werke über römisches Recht und trieb leidenschaftlich Chemie. Dieses Steckenpferd hatte ihn mit Kunckel vereinigt, dessen Versuchen er höchst aufmerksam folgte. In Dresden laborirten sie oft zusammen. Kirchmayer war dabei ein vollkommener Weltmann und bei vielen Höfen hoch angesehen.[12]

Nachdem die Tafel aufgehoben war, nahm der Adept eine mit Gläsern geschlossene Laterne. Er zündete das vor dem silbernen Reflector stehende Licht an, ergriff sein Schlüsselbund und forderte Kirchmayer auf, ihn zu begleiten. Beide durchschritten einen Gang. Kunckel öffnete eine niedrige, eiserne Thür. Scharfer, schwefelartiger Geruch drang aus dem Gemache. Die Männer betraten das Laboratorium. Bei dem Scheine des grellen Lichtes sah Kirchmayer sogleich die wunderliche Ausstattung, welche, wie bei allen Laboratorien, in zahllosen Retorten, Helmen und Recipienten, Büchsen, Kräuterbündeln und ausgestopften Unthieren, Büchern, Kolben, Gerippen, Winden und Maschinen bestand. Kunckel setzte das Licht nieder und trat an den noch warmen chemischen Ofen.

„Hier ist wieder etwas in Arbeit,“ sagte er. „Ihr sehet diese glasirdne Retorte mit dem langhalsigen Recipienten. In der Retorte sind vier Pfund gepulverter Bolus und – was glaubt Ihr wohl sonst noch?“

„Nun?“

„Ihr sollt es nachher erfahren. Ich habe den Inhalt der Retorte schon durch alle Grade getrieben. Als Ihr anpochtet, war ich eben beim Feuern, um den letzten Gang machen zu lassen. Indessen thut die Unterbrechung nichts, mein Ofen ist noch thätig. Was ich gewonnen habe, sollt Ihr jetzt nahe bei sehen, obwohl Ihr es schon von Weitem betrachtet habt. Kommt.“

Kunckel schritt mit Kirchmayer auf das nach dem Flusse hinausgehende Fenster des Laboratoriums zu. Den Marmortisch, welcher vor dem Fenster stand, bedeckten allerlei chemische Präparate und verschiedene Instrumente. Der Adept rückte zwei mit Wasser gefüllte Krystallbecken zurecht, deren Oeffnungen durch schwere Glasdeckel geschlossen waren. Als Kirchmayer aufmerksam das Gefäß betrachtete, sah er in dem Wasser eine Anzahl fingerdicke Stäbchen schwimmen, welche bei der Bewegung zu funkeln schienen. Kunckel hob den Deckel ab und nahm eines der Stäbchen heraus. Sofort flammten seine Finger, und häßlich riechender Dampf wirbelte empor. Kirchmayer trat zurück.

„Da seht Ihr es,“ lachte der Adept, „hab’ ich es gefunden? Nun sollt Ihr’s in vollem Glanze schauen. Gebt Acht.“ Er nahm behutsam das Präparat zwischen die Glieder einer Zange und entzündete es. Ein strahlendes, grünliches Licht verbreitete sich in dem Gemache und warf seinen Schein durch das Fenster weit hinaus auf die Wasserfläche. Die beiden Männer und der abenteuerliche Apparat, welcher sie umgab, waren wie von Zauberflammen umspielt. Der Wind heulte in den Rauchfängen, und als das wundersame Licht leuchtete, ertönte von draußen her ein Schrei, vermuthlich aus der Kehle eines erschreckten Schiffers kommend, der gerade bei der Zauberinsel vorüber steuerte.

„Kunckel, Ihr habt gesiegt,“ sagte Kirchmayer, als das Stäbchen von der Flamme verzehrt und der Glanz erloschen war.

„Nicht wahr?“ frohlockte der Adept. „Herr Brandt in Hamburg wird sich ärgern. Ich habe es allein wieder aufgefunden. Nun rathet, woraus ich es ziehe! denkt Ihr aus Gold, Silber oder irgend einem Metalle? aus Erde oder Gestein? Nichts von alledem. Dieses wunderbare Material hole ich mir aus Menschenharn, [779] mein Freund. Den Geist, der in jenen Absonderungen verborgen liegt, hat Herr Brandt geglaubt sich allein dienstbar gemacht zu haben. Ha! ha! ha! ich habe ihn mir auch citirt und werde ihn besser zu verwerthen wissen. Das ist ein Stoff, der noch erst von der Nachwelt ausgebeutet werden wird, ein Stoff, in dem Alles verborgen liegt; er ist vielleicht die Ursache des ganzen menschlichen Seins, und jedenfalls, das glaube ich gewiß, strömt sein geheimnißvolles Fluidum durch alle Canäle des Körpers.“

„Und wie nennt Ihr den wunderbaren Stoff?“ fragte Kirchmayer.

„Phosphor – mein Freund. Phosphor! der Lichtträger, der da leuchtet, ohne zu brennen, und der, wenn er sich entzündet, strahlt, brennt und flammt wie das himmlische Feuer. Noch Vielerlei, ich sag’ es Euch, wird man diesem Stoffe verdanken. Mag Herr Brandt der Entdecker sein, ich habe ihn auch entdeckt. – Ist es doch, als wenn sich zwei Väter streiten, wer das Kindlein gezeuget. Der aber ist der beste Vater, der es groß ziehet und schön stark in die Welt sendet, und dazu bin ich der Mann. Nicht ein blindes Ohngefähr, wie es bei Brandt der Fall war, hat mich die seltene Materie finden lassen. Nein, ich habe Tag und Nacht gesonnen, um ihrer habhaft zu werden, und darum soll mein Name verknüpft bleiben mit dem leuchtenden Stoffe. Mein Kurfürst wird sich freuen. Ich bin dem Brandt dankbar, daß er den Geheimnißvollen spielte. Selbst ist der Mann.“

„Man fürchtet Euch schon,“ sagte Kirchmayer lachend. „Was wird erst geschehen, wenn die neue Entdeckung bekannt wird! Ihr seid dann vollends ein Teufelspriester, sobald das Höllenlicht leuchtet.“[13]

„Die Narren!“ entgegnete Kunckel[WS 2]. „Wer ein wenig mehr Gehirn hat als sie, die Tröpfe, der muß mit dem Teufel zusammengehen. Es ist wahrlich für den gehörnten Gesellen gar kein so übles Compliment, daß man alle gescheidten Leute mit ihm in Verbindung bringt. Wenn die alle wirklich in der Hölle sitzen, so muß die Gesellschaft wahrhaftig unterhaltend genug sein.“ – Die Freunde lachten. „Nachdem ich Euch,“ fuhr Kunckel fort, „eine ernste Arbeit von wissenschaftlichem Werthe gezeigt, sollt Ihr nun auch Spielereien und Kunststücklein sehen.“ Der Adept öffnete die Seitenthüre eines Cabinets, ging hinein und zündete einige Kerzen an. Als Kirchmayer das Zimmer betrat, stieß er einen Ruf der Verwunderung aus. Er befand sich in dem Gemache, welches die Krystall- und Glasfabricate des Adepten enthielt.

Hier standen auf Bretern, in Schränken und hinter Gittern eine Menge der schönsten Gläser von allerlei Farben und Formen. Das helle Kerzenlicht wiegte sich und blitzte auf den prächtigen Erzeugnissen, die gleich edlen Steinen Strahlen schossen. Kunckel nahm verschiedene Exemplare herab und zeigte sie Kirchmayer, der sie mit den Blicken des Kenners prüfte. Besonders interessant war die große Schale, welche der Adept für den Kurfürsten gefertigt hatte. Sie bestand aus einem sehr künstlich zusammengesetzten Untergestelle, auf dem sich ein muschelförmiges Gefäß erhob. Die Verschmelzung vieler Krystalle war hier gelungen, und das kostbare Glas glich einem ungeheuren ausgehöhlteu Rubin.[14]

Während aller dieser Betrachtungen hatte der Regen draußen nachgelassen. Der Mond war hinter dem zerrissenen Gewölk hervorgetreten und warf seinen Schimmer auf das einsame Haus und dessen Umgebung. Die Freunde, in eifrigem Gespräch begriffen, hatten nicht bemerkt, daß der große Hund in das Gemach gekommen war. Plötzlich ward das Thier unruhig. Seine Ohren spitzten sich. Den Körper gestreckt, den Kopf lang vorgebogen, näherte sich der Hund mit leisem Knurren dem Fenster. Diese Anzeichen waren für Kunckel keine neue Erscheinung; er wußte, daß er Feinde hatte, die auf sein Verderben ausgingen, und schon einmal hatten sie durch Brandstiftung seine Glashütte und sein Vorrathshaus in Asche gelegt. Kunckel eilte mit seinem Doppelhaken hinaus, ein Schuß krachte, und eilige Ruderschläge verriethen die Flucht eines glücklich entkommenen Feindes. Kunckel hatte seinen Mann erkannt, er bezeichnete ihn Kirchmayer als den alten Holzschreiber Lauer, der vergeblich nach einem Privilegium zum Bau einer Glashütte trachte.

Zwei Tage später verließ Kirchmayer die Insel. Eilig ruderte ihn der Schiffer vom Ufer hinweg, um nicht lange in der Nähe Kunckel’s zu bleiben, der dem Freunde das Geleit bis zum Boote gegeben hatte.

Ohne sich an die Einflüsterungen der Feinde oder an die abenteuerlichen Gerüchte zu kehren, gewährte Kurfürst Friedrich Wilhelm dem Adepten seinen Schutz und seine Gnade. So lange er am Leben blieb, hatte Kunckel die Machinationen der Gegner nicht zu fürchten. Sein tadelloser Wandel und seine trefflichen Arbeiten sprachen überdies zu seinen Gunsten. Er verschönerte nun die ihm als Eigenthum überlassene Insel und baute ein neues Haus, welches nur in geringer Entfernung von der heutigen Meierei auf der Insel lag. Seine Prophezeiung begann sich, wenn auch langsam, zu erfüllen. Schon war der Phosphor ein Gegenstand der höchsten Aufmerksamkeit aller Gelehrten und Aerzte geworden. Zwischen Arbeit und Plänen zur Verschönerung seines Besitzthums die Zeit theilend, lebte er größtentheils auf dem Pfauenwerder oder auch zuweilen in Berlin, woselbst er in der Klosterstraße ein Haus besaß. Der Ruf seiner Geschicklichkeit und seiner Kenntnisse verbreitete sich auch im Auslande, seine Schriften fanden in England vielen Beifall.

Im Jahre 1688 beschäftigte ihn ein Verfahren, durch welches er eine Glasmasse herzustellen hoffte, die sich gleich dem Silber oder Golde durch Hämmer bearbeiten ließe. – Nacht für Nacht stand er in seinem Laboratorium. Aufmerksam betrachtete er die glühenden Massen der Asche, welche in der Reverberir-Büchse wallten.

Aber heute wollte ihm kein Versuch gelingen. Stets fand sich irgend Etwas in der Mischung, was die Bemühungen des Adepten vereitelte. Es war die Nacht vom 28. auf den 29. April, und Kunckel war den Tag über in Potsdam gewesen. Die Veranlassung zu jenem Aufenthalte war keine freudige. Sein hoher Gönner, der große Kurfürst Friedrich Wilhelm, lag auf dem Sterbebette; an der Wassersucht leidend, erwartete er seine Auflösung mit dem Muthe eines Helden. Noch im Laufe des Vormittags hatte der Sterbende den herbeigeeilten Kunckel an das Schmerzenslager befohlen, und der Anblick einiger schönen Gefäße, welche der Günstling vorzeigte, erfreute den sterbenden Fürsten. Friedlich Wilhelm unterhielt sich mit Kunckel eine Zeit lang. Im Gespräche über die Zukunft verhehlte der Adept seinem Herrn nicht, daß er Sorge um seine fernere Existenz trage, daß er wisse, wie seine Feinde nur den Augenblick erwarteten, der den neuen Herrn an die Stelle des alten setze, um ihm seine Rechte zu schmälern. Besonders ängstigte Kunckel die über ihn zu verhängende Untersuchung wegen der vom Kurfürsten erhaltenen Gelder. Der Kurfürst beruhigte ihn bald hierüber, indem er zwei im Zimmer anwesende Diener herbeirief und in ihrer Gegenwart Kunckel von aller Verantwortlichkeit freisprach, auch den Rest der noch ausstehenden Schuld ihm erließ.[15] – – Kunckel trennte sich mit schwerem Herzen von seinem Gebieter. – Auf dem Pfauenwerder angekommen, suchte er seine trübe Laune durch Arbeit zu zerstreuen. – Aber, wie gesagt, es wollte nichts glücken.

Kopfschüttelnd betrachtete Kunckel die widerspenstigen Mischungen. Immer neue Zutaten warf er in die Gefäße, heftiger schürte er das Feuer seines Ofens. Die Nacht war vorüber, der Morgen dämmerte herauf, die Sonne warf ihren ersten Gruß durch die Fenster des Laboratoriums, noch immer stockte der Glasfluß in den Büchsen; eine kostbare Mixtur lag unter der Asche verborgen; mit kundiger Hand suchte der Chemiker durch neue Erhitzung den Fluß zu erzielen – da – plötzlich walten die stockenden Massen hoch auf, sie zischten und knisterten, ein heißer Dampf wirbelte empor, ein heftiger Knall, von sprühenden Funken begleitet, erschreckte den Adepten – prasselnd sprangen und barsten die Retorten, und aus dem zerrissenen Ofen schoß eine dunkelrothe Flamme. – Silberschlacken, zischende Glasmassen, grünliche und gelbe Krystalle bedeckten weit umher den Boden des Laboratoriums – dann beruhigte sich Alles wieder, die Flammen des Ofens erstickten in ihrer eigenen Asche. – Die Uhr schlug die neunte Morgenstunde!

Kunckel stand unbeweglich, starr inmitten der Verwüstung. Endlich ging er langsam zu dem Ofen, öffnete die Klappen und Fänge, warf einen Blick auf die Trümmer und verließ das Gemach, [780] vor welchem sein stummer Diener ihn mit Gebehrden des Schreckens empfing. „Ein Omen,“ murmelte er, das Haupt senkend, „ein Omen!“

Eine Stunde später pochte es leise an die Thür seines Arbeitszimmers. Auf Kunckel’s Ruf trat einer seiner Laboranten ein. „Was bringt Ihr?“ fragte der Adept, von dem großen Buche, in dem er las, aufblickend.

„Eine Trauernachricht, Meister,“ entgegnete der Gefragte.

„Ich weiß es,“ rief Kunckel, „der Kurfürst – –“

„Seine kurfürstliche Gnaden sind heute Morgen um neun Uhr auf Ihrem Schlosse zu Potsdam im Herrn entschlafen.“


Ein Jahr lang ward Kunckel noch in Ruhe gelassen. Endlich traten seine Feinde offen gegen ihn hervor. Ein Befehl des Kurfürsten Friedrich III. verlangte eine Untersuchung über den Verbleib der an Kunckel gezahlten Gelder. Offenbar war die Verhängung eines richterlichen Verfahrens das Werk einer Cabale gegen den Alchymisten, denn Kurfürst Friedrich, ein eifriger Beschützer der Künste, wäre gewiß der Letzte gewesen, der Kunckel in seinem Frieden gestört hätte. Indessen ward der Angeschuldigte vorgeladen. Es ward specificirt, daß er 30,190 Thaler erhalten habe. Kunckel bewies, wie seine Arbeiten einen großen Geldverbrauch bedingt hätten und daß es überhaupt schwer sei, bei Versuchen, wie er sie hätte machen müssen, eine genaue Berechnung aufzustellen. Er zeigte die Briefe des seligen Kurfürsten und berief sich auf das Zeugniß der im Sterbezimmer gewesenen Diener, nach welchem jede Verantwortung von ihm genommen war.

Obwohl man dagegen einwarf, daß Kunckel nach Abzug aller Kosten immer noch 17,000 Thaler zurückzuzahlen habe, so wußte der Angeklagte doch durch Briefe des verstorbenen Kurfürsten nachzuweisen, daß ihm alle Beträge geschenkt worden seien, und Kurfürst Friedrich entschied darauf, daß alle Untersuchung niedergeschlagen werden solle. Kunckel habe eidlich zu erhärten, daß er die Gelder nur zu chemischen Arbeiten verwendet habe. Indessen solle er 8000 Thaler in vier Terminen zahlen, und zu dem Ende die Erlaubniß erhalten, sein Haus in der Klosterstraße zu Berlin verkaufen zu dürfen. Die Kosten für Bauten etc. wurden nicht mehr beansprucht und Kunckel in seinem Besitzthume gelassen. Er erhielt außerdem die Erlaubniß auf vier Jahre in fremde Dienste zu gehen, aber alles Laboriren sollte er in Zukunft auf seine eigene Gefahr unternehmen.

Kunckel blieb also auf der Insel und triumphirte über seine Feinde, wenngleich mit Opfern. Daß er noch weitere Arbeiten lieferte und außerdem Privilegien besaß, auf die er sich berufen konnte, geht aus einem Schreiben hervor, in welchem er sich auf’s Neue über die Versuche zur Brandstiftung beklagt und zugleich auf das Entschiedenste dagegen protestirt, daß der Holzschreiber Lauer gegen ihn intriguire und ein Privilegium zu einer Glashütte nachsuche. Er bittet, ihm kund zu thun, daß nur er (Kunckel) allein und keine andere Hütte gefärbte Gläser machen dürfe.

Wie lange Kunckel noch auf der Insel blieb, ist nicht genau zu ermitteln. Eines Tages aber war das Eiland öde. Das Gebell des unheimlichen Hundes erscholl nicht mehr. Die Schornsteine stießen keinen Rauch aus; kein Lichtschein strahlte durch die Fenster des Laboratoriums, und vergebens suchte man die dunkle Gestalt des verrufenen Adepten zu erblicken, der zuweilen am Ufer umhergegangen war. – Was konnte die Ursache des plötzlichen Verschwindens sein? „Endlich,“ so calculirten die frommen Gemüther der damaligen Zeit, „endlich ist das Maß voll gewesen. Der Teufelskünstler hat dem Satan nicht den Pakt halten können, und so hat denn seine schwarze Stunde geschlagen. Der Teufel hat die ganze Sippschaft, Herr, Diener und Hund, geholt. Gott sei Dank, daß sie von der Welt sind!“

Zum größten Erstaunen und Entsetzen der Gläubigen tauchte aber der verschrieene Schwarzkünstler zu Stockholm als königlicher Oberbergrath und Ritter, Baron Kunckel von Löwenstern, mit Ehrenbezeigungen aller Art überhäuft, wieder auf. König Carl XI. hatte ihn an seinen Hof berufen, und die Gesellschaft der schwedischen Naturforscher nahm den tüchtigen Mann, den Entdecker des Phosphors, unter ihre Mitglieder auf. In den Verzeichnissen der Gelehrten führt er den wissenschaftlichen Namen Hermes III.[16] Kunckel starb zu Anfang des 18. Jahrhunderts in sehr glänzenden Umständen.

Die Sage, daß auf der Insel der Geist eines Goldmachers spuke, der früher da sein Wesen getrieben und, weil ihm der Ort so gefallen, sich jetzt nicht davon trennen könne, daß das Gespenst während des Sommers jede Nacht die Insel besuche und einen schwarzen Hund bei sich habe, diese Sage ist noch heute unter den Fischern verbreitet.

George Hiltl.




Eine deutsche Todtenfeier in Amerika.

Die Deutschen in Baltimore feierten am 20. August das Andenken an den Heldensänger Theodor Körner mit ebenso großer Pietät, als es an demselben Tage in Deutschland gefeiert wurde. Es wird den Lesern der Gartenlaube um so willkommener sein, einen Bericht über diese Feier an dem Ufer des Patapasco zu erhalten, als eben die Gartenlaube sehr viel dazu beitrug, die Erinnerung an den unsterblichen Heldensänger durch Wort und Bild lebhaft aufzufrischen.

Der Gedanke, eine solche Feier in unserer Mitte zu veranstalten, ging vom hiesigen „deutschen Union-Volksvereine zur Unterstützung verwundeter und kranker Krieger“ unserer heldenmüthigen Befreiungsarmee aus, dem sich sofort der sozialdemokratische Turnverein, die Turner-Liedertafel und der Arbeiter-Gesangverein anschlossen. Um die Feier so erhebend als möglich zu machen, beschloß das Festcomité, einen ehrwürdigen Kampfgenossen des Heldensängers dazu einzuladen. Dieser alte Lützower ist Dr. W. D. G. Pfeiffer, der seit etwa 30 Jahren in New-Oxford, Adams County, Pennsylvanien, nicht weit vom Schlachtfelde von Gettysburg lebt, und sich als praktischer Arzt, wie als echter freisinniger Patriot unter den Deutschen in Pennsylvanien und Maryland einen wohlverdienten Ruf erwarb. – Unsere deutschen und englischen Blätter brachten inzwischen Artikel über die Bedeutung der Körnerfeier in Deutschland und Amerika, sodaß auch der englisch sprechende Theil der Bevölkerung Baltimores, dem der Heldensänger wenig oder gar nicht bekannt ist, über seine Verdienste als Dichter und Freiheitskämpfer unterrichtet wurde.

Am Abend des 26. August strömte das Publicum herbei, um Deutschlands Liebling den Tribut der Achtung zu zollen. Unter den zahlreichen Gästen befanden sich viele deutsche Krieger für Amerika’s Einheit und Freiheit, die theils aus den umliegenden Forts, theils aus den Spitälern oder ihren Privatwohnungen herbeikamen, und worunter die Invaliden auf Krücken und Stelzbeinen einen rührenden Eindruck machten.

Die geräumige Festhalle, mit Laubgewinden, Eichenkränzen, Leyer und Schwert und prächtigen Sternenbannern geschmückt, bot im Lichtglanz der vielen Lampen einen imponirenden Anblick. An der verhüllten Schaubühne im Hintergrunde erhoben sich Pyramiden von Trommeln, und an den Wänden und andern passenden Stellen schimmerten Waffen, die wie die Sternenbanner vom Quartiermeisteramt der Vereinigten Staaten geliefert wurden. Die Mitglieder des Festcomité’s, sowie die Redner und sonstigen Mitwirkenden trugen Trauerflor am linken Arm und schwarz-roth-goldne Schleifen an der Brust.

Als der Vorhang der Schaubühne unter dem Vortrag von Körner’s „Gebet während der Schlacht“ emporgeschwebt, zeigte sich ein mit Tschako, Degen und Eichenkränzen geschmückter Katafalk, über welchem sich, an eine schwarz-roth-goldne Draperie gelehnt, die Büste des Gefeierten erhob. Sechs Krieger, in der Uniform der Lützower, hielten hier die Todtenwache. Der Prolog von J. Straubenmüller (unter den Deutschen in Amerika durch sein episches Gedicht „Pocahontas“ rühmlich bekannt) machte einen trefflichen Eindruck. Die Festrede, von Dr. Hugo Kühne gehalten, hob die Freiheitsbewegungen der Deutschen in den Jahren 1813 und

[781]

Theodor Körner’s Todtenfeier in Baltimore.
Originalzeichnung eines deutschen Freiwilligen.

[782] hervor, und die Schlußrede von Dr. A. Wiesner (allen Oesterreichern noch in gutem Andenken) schilderte, was der Heldensänger vor einem halben Jahrhundert Deutschland war, und was er gegenwärtig Amerika, dem Asyl der unterdrückten Nationen, ist. Beide Reden fanden ein sehr dankbares Publicum. Auch die musikalischen Partien des Programms wurden sämmtlich mit Präcision und vielem Verständniß vorgetragen. Als jedoch der greise Lützower mit schneeweißen Locken und auf die Brust herabfließendem Bart am Katafalk seines längst verewigten geliebten Führers der Versammlung vorgestellt wurde, fühlte sich Jeder elektrisirt und lauschte in athemloser Stille den Worten des ehrwürdigen Veteranen, der einst für Deutschlands Befreiung focht und jetzt zwei Söhne für Amerika’s Einheit und Freiheit in’s Feld stellte. Stand doch ein Bote aus einer längst verrauschten, ereignißvollen Zeit, ein Kampfgenosse des Gefeierten, einer der so gefürchteten schwarzen Reiter von Lützow’s „wilder verwegener Jagd“ leibhaftig vor der aufgeregten Versammlung. Der wackere Mann, der trotz seines hohen Alters noch physisch und geistig rüstig ist, erzählte unter Andern, nachdem er eine Nachricht dortiger Zeitungen, als sei Körner in seinen Armen gestorben, als unwahr zurückgewiesen, wie er als Oberjäger unter Körner, seinem Lieutenant, diente, und wie er, nachdem der jugendliche Held am 20. August durch eine Kugel aus dem Hinterhalt erschossen worden, bei Nacht an dessen Leiche wachte, um sie vor Verunglimpfung durch den noch in der Nähe weilenden Feind zu schützen. Körner, theilte er ferner mit, erhielt einen ordentlichen Sarg, während die mit ihm gefallenen Cameraden in nothdürftig zusammengezimmerte Kisten gelegt wurden, um ihrem Führer in’s Grab zu folgen.

Als der Veteran unter den Zeichen der lebhaftesten Sympathie den Katafalk verlassen hatte, dauerte es noch eine Weile, bis die Versammlung sich von ihrer Aufregung erholen konnte.

Unter den lebenden Bildern, die nun folgten, zeichnete sich die „trauernde“ wie die „siegreiche Germania“, von Frau Mojean dargestellt, durch treffliche Auffassung und überraschende Wirkung aus. Auch das Körnermonument nahm sich recht gut aus.

Unter den Klängen der Musik, welche amerikanische und deutsche Volkshymnen spielte, endete das schöne Todtenfest, das Allen, die demselben beiwohnten, unvergeßlich bleiben wird. Viele der Gäste konnten sich nicht so leicht von dem greisen Lützower trennen, sondern folgten ihm in sein Hotel, wo sie im Gespräch über Körner, seine und unsere Zeit, noch lange verweilten, wobei noch manches Glas perlenden Rheinweins auf Deutschlands und Amerika’s Freiheit und Einheit geleert wurde.

Die Todtenfeier wurde, wie ich zum Schluß noch bemerken muß, ohne Festsetzung eines Eintrittspreises, zum Besten unserer verwundeten und kranken Krieger gegeben, und die freiwilligen Beiträge des Publicums reichten nicht blos hin, die bedeutenden Kosten der Feier zu decken, sondern ließen auch noch einen Ueberschuß, der wieder Mittel gewährt, viele unserer braven deutschen Invaliden in den Spitälern mit erwünschten Gaben zu erfreuen.




Die Kunstmethoden der Londoner Langfingerei.
Ein modernes Industriebild.

Die englischen Policemen sind bekanntlich ein wahres Muster von Höflichkeit – für den unverdächtigen Theil der menschlichen Gesellschaft und wissen, daß sie zum Schutz und nicht zur Plage und Brutalisirung des Publicums erschaffen und blaubefrackt und weißbehandschuht sind, wovon ihren deutschen grün- und roth- und gelb- und blaukragigen Cameraden erst eine äußerst vage Ahnung aufzudämmern beginnt. Ich sollte mich von diesem Contraste selbst recht angenehm überzeugen und ihm eine sehr interessante Bereicherung meiner Kenntniß von dem Londoner Leben verdanken.

Es war so recht ein lustiges Erntewetter – für die Gassenfeger und namentlich meine besondern kleinen Freunde, die rothblousigen Schuhwichser, die heute, bei einem echt Londoner zähen Schmutzbrei, mit welchem der fallende Nebel Pflaster und Macadam überkittete, auf ihren verschiedenen Stationen mit ihren Kasten und Flaschen und Bürsten in unaufhörlicher Bewegung waren und ihr „Stiefeln, Herr?“ den Vorüberwandelnden nicht lange sehnsuchtsvoll entgegenzurufen brauchten. Ich hatte aber noch meinen speciellen Liebling unter den flinken Jungen, einen intelligentäugigen kleinen Blondkopf am Trafalgarsquare, mit dem ich gern ein paar Minuten verplauderte, während er meine Unterthanen civilisirte, und freute mich, als ich mir durch das Gewühl des Strandes Bahn brach, schon auf das leuchtende Gesicht, mit dem er mir den heute erriebenen Kupfersegen vorweisen würde. Sein Posten war auf den breiten Stufen des Brunnenbeckens, in welches die fadendünnen Fontainen ihren ärmlichen Wasserstrahl tröpfeln, – und richtig, da kniete er in vollster Thätigkeit und der ganzen Würde seines Berufes, um die breite Grundlage eines riesigen Polizeisergeanten zu behandeln, und bemühte sich, einer solchen Respect- und Angstperson, wie es für die gelegentlich einmal nicht durchaus „koscheren“ kleinen Wichskünstler die Diener der heiligen Sicherheitswache zu sein pflegen, mit aller Sorgfalt gerecht zu werden. Der heute mit seinem kurzen Wachstuchschultermantel bedeckte Blaufrack wollte sofort artig zurücktreten, um meinen glanzbedürftigen Füßen den Vorrang auf dem Wichskasten einzuräumen, und es kostete mich wirklich meine besten englischen Höflichleitsphrasen, den Mann dahin zu bewegen, daß er auch dem zweiten seiner Stiefeln noch den „vollendenden Strich“ angedeihen ließ, ehe ich mich den sachkundigen schwarzen Händen meines Rothkittels anvertraute.

Wartend lehnte ich mich an die Brustwehr der weiten Wasserschale und rückte mich in die gehörige Positur zurecht, um der Arbeit meines Schützlings behaglich zuschauen und dabei den ohne Aufhören an mir vorüberfluthenden Menschenstrom lässig mustern[WS 3] zu können. Eben wanderte ein modisch gekleideter Herr von mittlerem Alter vorüber mit blankgebürstetem Cylinder und feinem Paletot, wie mir däuchte, so ganz das, was der Londoner einen „Swell“ nennt, das heißt ein Stutzer der zweiten Classe; Uhrkette, Wäsche, Handschuhe, – das Alles ließ wenig oder nichts zu wünschen übrig. Der Elegant schien Eile zu haben und huschte mit ungewöhnlicher Schnelle in der Richtung der Nationalgallerie über den großen Square hinüber. Da zupfte mich der Constabler sanft am Rocke. Neugierig und einigermaßen erstaunt wandte ich mich nach ihm um.

„Ein Dieb, Herr, der Swell da!“ flüsterte er, „und ein geriebener und gefährlicher dazu. Schon einmal deportirt gewesen und blos beurlaubt. Wir haben ein scharfes Auge auf ihn, aber der Bursche ist fein, er läuft uns so leicht nicht in’s Netz. Kriegen ihn schließlich indessen doch, und dann giebt’s keinen Urlaub wieder für den Gauner.“

„Urlaub?“ frug ich verwundert, „wie so, beurlaubt?“

„Nun, Herr, wissen Sie nicht – ach nein, Sie sind ja ein Fremder, – ein Deutscher, Herr, nicht wahr? – muß ein braves Volk sein, die deutschen, ehrlich, sehr ehrlich; denn unter den vielen Fremden, die Jahr aus Jahr ein mit uns genauere Bekanntschaft machen, sind verhältnißmäßig nur wenig Deutsche.“

Ich nickte, um für das Compliment zu danken.

„Also, Sie wissen nicht, Herr,“ fuhr er fort, „daß Sträflinge, die sich in den großen Zuchthäusern von Milbank und Pentonville, auf den vor Woolwich und in Portsmouth ankernden Strafschiffen, den sogenannten Hulks, oder in den Bußcolonien, die wir haben, während einer längern Zeit unausgesetzt ordentlich führen und zu keiner Rüge oder Züchtigung Anlaß bieten, für den noch übrigen Theil ihrer Strafdauer Urlaubskarten erhalten und bis auf Weiteres ihrer Haft entlassen werden, ohne darum völlig frei zu sein. Das heißt, wenn sie sich bei der geringsten Ungesetzlichkeit betreten lassen, so wird ihnen der Urlaub entzogen, und sie spazieren in ihre Zelle oder zu ihrer Strafarbeit zurück. Natürlich sind sie uns besonders auf die Seele gebunden und stehen unter unserer strengen Aufsicht. ’s ist aber ein nichtsnutziges System, dieses Urlaubssystem, denn die schlimmsten Verbrecher, die spielen die Frömmsten in den Strafanstalten und fügen sich am besten in die Gefängnißzucht. Ganz wie draußen in der Welt die Duckmäuser, die sich bei den Inspektoren und Directoren durch ihr gehorsames Wesen einzuschmeicheln wissen. – das sind die Gefährlichsten.

[783] Die schauderhaftesten Unthaten, die unbegreiflichsten Diebstähle, die kühnsten Hauseinbrüche, von denen Sie in unsern Londoner Blättern lesen, werden von diesen Urlaubsmännern begangen, und von hundert auf Karte entlassenen Sträflingen enden neunundneunzig früher oder später hinter Schloß und Riegel oder auf dem Dache des Horsemonger-Lane-Kerkers drüben über der Themse. Sie kennen doch Horsemonger-Lane, Herr?“

Das kannte ich freilich; hatte ich doch einmal im ersten Tagesgrauen einem armen Sünder dort die Schlinge um den Hals legen sehen und schauderte noch, wenn ich an das Schauspiel und mehr noch an sein – Publicum dachte.

Der Constabler war auf sein Thema gekommen und blieb plaudernd neben mir stehen, während sich der ambulante Wichsjunge nun meinen Penny erbürstete. Auch unsere Wege waren so ziemlich die gleichen. Der Polizeimann hatte jetzt auf einige Stunden Ruhe und begab sich nach seiner Wachstube in Scotland-Yards, dem Centralamte der Londoner Polizei, mit Ausnahme der Schutzmannschaft der City, die ihr abgesondertes und selbständiges Corps bildet und unter dem Lordmayor von London steht. Wir gingen also zusammen.

Die Geschichten meines Begleiters, der schon manches Jahr Langfinger aller Art, nach englischer Häscherweise, am Rockschooße in die ihrer wartenden festen Lustschlösser spedirt hatte, waren mir sehr interessant, da sie mir einen Einblick in eine Industriewelt gewährten, wie sie in solcher Ausdehnung, Arbeitsteilung und Organisation eben nur in London zu Hause ist: – die große Welt der Diebe und Diebinnen. Ehe ich mir es versah, hatten wir den Hof Scotland-Yards erreicht. Hier holte der Blaufrack sein dickes Notizbuch aus der Brusttasche und überreichte mir, wie ein vollkommener Gentleman, seine Karte. Ich gab ihm die meinige, versteht sich.

„Wenn Sie mit mir und meines Gleichen fürlieb nehmen wollen,“ sprach er, während wir uns landesüblich die Hände schüttelten, „so wird es uns sehr freuen, Sie einmal in unserem Club zu sehen. Uebermorgen habe ich Abend und Nacht frei und trinke dann in Gesellschaft von ein paar Cameraden meinen Branntwein mit heißem Wasser im rothen Löwen drüben in Westminster-Road. Fragen Sie vorn am Schenktische nur nach mir; die alte Mrs. Archer, unsere dicke Wirthin, wird Sie dann schon in unsere Hinterstube führen. Freilich ’s ist kein Club, unserer, wie das Athenäum oder der Reformclub, auch nicht einmal wie der Wellington“ – setzte er lächelnd hinzu – „aber, glauben Sie mir, Sie sollen Manches hören, von dem Sie sich nichts träumen lassen. Ich sage Ihnen, das Stehlen ist hier in London eine Kunst, zu der kein geringer Grad von Kopf und Geschicklichkeit und Geistesgegenwart gehört, und die Diebe sind nichts weniger als Faulenzer und Müßiggänger. Aber wir, Herr, wir sind doch noch feiner, als sie, und kommen am Ende hinter alle ihre Schliche und Kniffe. Guten Abend, Herr. Sehr feucht heute.“

„Guten Abend, Herr. In der That sehr feucht,“ bestätigte ich. Ohne Wetterkritik kann man einmal in London weder sich bewillkommnen noch scheiden.

Es braucht keiner Versicherung, daß ich der Einladung pünktlich Folge leistete, die ich einem so eigenthümlichen Zufalle oder vielmehr meinem jungen Freunde vom Wichskasten verdankte.

Außer Mr. Simpson, so hieß mein neuer Gönner, saßen noch drei seiner Collegen in einem schlichten, doch englisch comfortablen Zimmer um den an’s Kamin gerückten Tisch, heute natürlich sämmtlich in Civil, „in plain clothes“ (einfachen Kleidern), wie der Brite sich ausdrückt. Die blanken Zinnkrüge mit dem dampfenden Wasser, die ebenso spiegelnden Nöselmaße für den Branntwein, die mächtigen Zuckerschalen und die stattlichen Glashumpen zeugten von der herzstärkenden Beschäftigung, mit denen die Herren ihre Clubmußestunden erholend ausfüllten. Man begrüßte mich mit so gentlemanischen Formen, als wäre ich in den Salon eines vornehmen Oberhausmitgliedes getreten, und nur das Gesprächsthema, auf welches ich bald die Unterhaltung zu lenken suchte, bekundete, daß ich vier abgefeimte, mit allen Praktiken ihres Handwerks gründlich vertraute „Diebesfänger“ vor mir hatte. Später erschien noch ein höherer Polizeibeamter, der Inspector eines gewissen Polizeidistrictes; hier aber war er nur Clubbist, alle Subordination und dienstliche Etiquette war zugleich mit dem Uniformcapot draußen im kleinen Vorzimmer abgelegt worden.

Wollte dem Fremden gegenüber auch Anfangs die britische Zurückhaltung, gepaart noch mit der sondirenden Vorsicht eines Standes, der ohne Unterlaß auf dem „Qui vive“ stehen muß, einigermaßen ihr Recht behaupten, – ein paar weitere Gläser Grogs und die Überzeugung mit keinem angehenden Langfinger zu thun zu haben, der etwa die polizeilichen Erfahrungen blos zu Studienzwecken entlocken und aushorchen wollte, setzten mein merkwürdiges Convivium bald in die mittheilsamste Stimmung. Wiederholte Besuche im stillen Club von Westminster-Road vervollständigten mein neuerworbenes Wissen, und wenn mir die Gartenlaube einige Spalten und ihre Leser ein Stündchen Geduld gewähren, so will ich nach den Erzählungen meiner Wirte von Scotland-Yards einen Begriff zu geben versuchen, zu welcher Vollendung die freie Kunst des Stehlens und ihre Technik in London gediehen ist.


Menschen, die uns wohlwollend von unseren Nothwendigkeiten oder von dem Ballast unserer Ueberflüssigkeiten befreien, giebt es überall, auch bei uns, und unsere Berliner Verwechsler von Mein und Dein bilden bereits ein recht stattliches Corps und haben schon halbwegs die Höhe ihrer Zeit und ihres Berufes begriffen und erreicht; allein ihren Londoner Brüdern und Schwestern sind sie bis jetzt sowohl an Kühnheit, als an Genialität und Raffinement bei Weitem noch nicht ebenbürtig geworden. Diese sind schöpferisch und unerschöpflich in ihren Mitteln und Wegen und Manipulationen, mit einem Worte groß in ihrem Genre, wie man auch sonst von diesem Genre denken mag. Auch die Pariser Gaunerschaft erreicht nur in einzelnen Spitzen die Kunstvollendung der Londoner, das Gros der französischen Diebe muß vor dem englischen gedemüthigt die Segel streichen.

Vor Allem ist Methode in ihren Bestrebungen, das kann ihnen Niemand bestreiten. Mit einer unmethodischen, dem Zufalle, der glücklichen Chance überlassenen Praxis ihres Gewerbes würden sie rasch genug aus dem Felde geschlagen sein; „denn,“ meinte Mr. Simpson, „wir sind ihnen immer scharf auf den Fersen und glauben unser Handwerk auch nicht übel zu verstehen.“

„Und das Publicum kommt am Ende doch auch hinter die Manöver der Herren und Damen vom Langfingerthume?“

„Das Publicum? Gott im Himmel, es ist geradezu unbegreiflich, wie unschuldig, wie unwissend unsere Londoner, unsere Ladenhalter und Gewerbsleute z. B. sind, denen die Angriffe unserer Diebe doch vorzugsweise gelten, was die Schliche und Kniffe unserer Spitzbuben und Gauner betrifft. Tag für Tag tischen unsere Zeitungen Gaunerstücklein über Gaunerstücklein auf, und doch berückt der jüngste Neuling der edlen Zunft unsere Londoner Spießbürger, ohne seinen Witz nur im Geringsten anstrengen zu müssen, und die Diebstähle der verschiedenen Kategorien, die täglich von uns entdeckt werden, zählen nach Hunderten, die überhaupt verübten aber gewiß nach Tausenden! Freilich ist’s nicht so leicht, dem Spitzbubenvolke hinter die Coulissen zu sehen, denn im Allgemeinen wacht der Dieb mit der verzweifeltsten Sorgfalt über den Geheimnissen seiner Kunst, und es ist immer nur eine Ausnahme, wenn einer einmal aus der Schule schwatzt und die Corporation in Gefahr bringt. Reuige Mörder haben wir genug, reuige Diebe, welche rückhaltslos ihre Schuld und die Art gestehen, wie sie bei ihren Annexionen zu Werke gegangen, sind äußerst selten, jetzt mindestens, wo es ihnen auch bei uns in England nicht mehr an den Kragen geht.“

Wie zunächst eine strenge Sonderung nach den verschiedenen Gewerbszweigen, eine Gruppirung in fest abgegrenzte einzelne Classen besteht, wie der Hauseinbrecher nicht dem Taschendiebe, der Beutelschneider nicht dem Ladenspitzbuben in’s Gehege kommt, so scheint durchgehend als Handwerksusus festgehalten zu werden, daß der Mann in der Regel nur den Mann bestiehlt, nicht etwa deshalb blos, weil Männer gewöhnlich mehr Geld oder sonst das Nehmen lohnende Dinge bei sich tragen, als Frauen, sondern wirklich aus einer gewissen Ritterlichkeit, welche, vielleicht noch als Ueberbleibsel aus der Zeit der berühmten chevaleresken englischen Straßenräuber, den Londoner Dieb von Profession charakterisirt. Eine Frau zu berauben dünkt ihm gemein und ungalant, er überläßt sie seinen weiblichen Zunftgenossen, an denen kein Mangel vorhanden ist. Auch als die Garotte im höchsten Schwange war, wie selten hörte man da von garottirten Frauen! Denn lieber wird die Diebin zu allen erdenklichen anderen Mitteln ihre Zuflucht nehmen, ehe sie bei ihrem Opfer die Garotte anwendet. Aus eigener [784] Erfahrung weiß sie ja, wie entsetzlich diese ist, da der Knebel die gewöhnliche Züchtigung ausmacht, die ihr von ihrem Manne oder sonstigen Geschäfts- und Lebensgenossen zu Theil wird, sobald sie demselben nicht nach Wunsche gehandelt ober gesprochen hat.

Der Dieb ersieht sich seine Beute unter allen möglichen Umständen und aller Orten, die Diebin sucht sich die ihrige vorzugsweise in Kaufläden, auf den fashionablen Straßen, im Omnibus und auf dem Dampfboote, im Eisenbahncoupé und bei öffentlichen Versammlungen. Weder der erstere noch die letztere aber verfährt dabei auf’s Gerathewohl. Meistens ist das Ziel vorher in’s Auge gefaßt, Zeit, Person und Localität sorgsamst und wohlbedächtigst in Betracht gezogen worden. Voller Verschlagenheit, unermüdlich in Erfindungen und Plänen, in der Regel mit großem Scharf- und Ueberblicke begabt, würden sie in ihren Unternehmungen nur selten scheitern, wenn sie ihre wohlersonnenen Schachzüge nicht dann und wann von völlig unvermutheten, plötzlichen Zwischenfällen gekreuzt sehen müßten.

Hauseinbruch, Garotte und Taschendiebstahl erachtet der Londoner Langfinger als die einträglichsten Zweige seines Gewerbes; als das schwierigste und zugleich gefährlichste seiner Kunstleistungen aber gilt es, eine fremde Tasche auszuleeren, ohne daß ein dritter, Helfershelfer oder nicht, zugegen ist. Wer dies Meisterstück auszuführen versteht, hat die höchsten Staffeln der Gemeinschaft erklommen; „der Fliegensummer“ – mit diesem wunderlichen Namen wird solch ein Matador der Kunst bezeichnet – ist der Lord und Pair des wohlgegliederten Staates.

Das zahlreichste Kontingent zum Londoner Spitzbubenheere stellen die Taschendiebe der verschiedenen Arten und Grade, und da die Technik ihrer Kunst die interessanteste, mannigfaltigste und sinnreichste ist, auch der Neuling in London sich vor dem Pick-pocket (Taschendieb) vor Allem zu hüten hat, so wollen wir uns mit einigen Kunstgriffen des Beutelschneiders zunächst bekannt zu machen suchen.

Geschieht es auch zuweilen, daß der Taschendieb allein, ohne Spießgesellen und Helfershelfer, seinem Tagewerke nachgeht, so doch nur in äußerst seltenen Fällen, weil sich blos ein ungewöhnlich geschickter Gewerbsgenosse in solches Wagniß einlassen kann. Meist ziehen sie zu Zweien oder Dreien, nicht häufig in noch größerer Anzahl, auf Beute aus; immer aber fällt der eigentlich active Theil des Geschäfts blos Einem zu, der im englischen Rothwälsch „Wire“ – der Draht oder Leitfaden – heißt. Die Anderen decken ihm Fronte und Rücken und benehmen sich, als hätten sie zu dem Diebe nicht die geringste Beziehung. Ihnen liegt es ob, die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden oder sonst in der Nähe Befindlichen vom Wire abzulenken, der seinerseits den gemachten Fang nicht lange in den Händen behält, sondern sich beeilt, denselben einem seiner Schutzwächter zuzuspielen.

Der Londoner Taschendieb erlangt rasch einen merkwürdig sichern Blick hinsichtlich der Lebensstellung der Leute, denen er begegnet, und der Beschaffenheit ihrer Börsen. Ueberdies hat er ein scharfes Auge, wenn er Jemanden auf der Straße oder an öffentlichen Plätzen den Beutel ziehen sieht, und keine Münze entgeht ihm, die dort ausgegeben oder empfangen wird. Selten, daß er sich in der Wahl seines Opfers täuscht, dem er oft Stunden lang nachschleicht, bis ihm der günstige Moment zu seinem Handstreiche gekommen scheint. Ein Feind jeder Ueberstürzung, steht er lieber von der verhängnisvollsten Beute ab, wenn er den Angriff nicht mit Sicherheit riskiren zu können glaubt. Das Verlockendste sind ihm jederzeit die goldenen Uhrketten, weil ihnen leichter beizukommen ist, als dem Taschenbuche oder dem Portemonnaie. Hierbei braucht es kein langes Abpassen und Lauern. Einer der Helfershelfer rennt, wie zufällig, das Opfer an, fragt es nach dem Wege oder nach der Zeit oder weiß eine Stockung in der Circulation auf dem Trottoir zu verursachen, und inzwischen werden Kette oder Uhr oder im glücklichen Falle Beides annectirt und dem zweiten Spießgesellen wohlbehalten überantwortet.

Die Tasche herauszufinden, in welcher man Geld oder Notizbuch trägt, haben Diebe und Diebinnen ein wunderbares Geschick. Hurtig und leise, so daß auch nicht die Spur einer Berührung gefühlt wird, gleitet die Hand über Rock und Beinkleid, oder über die Falten der Damenrobe, und im Nu ist das Behältniß entdeckt, welches den Schatz verwahrt, und dem Wire durch Pantomimen verrathen. Im andern Augenblicke hat dieser mit dem Daumen und dem zweiten und dritten Finger, meist der rechten Hand, den Raub vollzogen, und eine Secunde darauf ist die Bande in der Menge verschwunden, in der Regel lange, ehe der Bestohlene ahnt, was ihm geschehen.

Der Wire und seine Genossen unterhalten miteinander eine trefflich organisirte Zeichen-Telegraphie. Ein Hüsteln, ein Lachen, ein Stampfen mit dem Fuß, ein Wink, ein Verrücken des Hutes genügen der Genossenschaft, die erforderlichen Nachrichten zu vermitteln, dem Wire zu sagen, daß die Polizei im Anzuge, daß man beobachtet wird, daß es nicht an der Zeit, daß der Coup aufzugeben ist, oder den Assistenten zu verkünden, daß der Ausübende den Streich vollbracht, den Fang verfehlt oder erlangt hat.

Mitunter finden sie sich halb ertappt; blitzschnell wird alsdann das corpus delicti an seinen Ort zurückprakticirt, ohne daß der Bearbeitete sich im Mindesten träumen läßt, welchen kühnen Griffen er ausgesetzt war. Solch ein Fehlschlag schreckt indeß den geübten Taschenjäger nicht leicht von der Verfolgung des einmal auf’s Korn genommenen Wildes ab; er läßt dies vielmehr nicht aus den Augen und versucht sein Glück so lange, als ihm eine Aussicht auf Erfolg bleibt. Kommt er in Verlegenheit, sieht er sich mit Entdeckung bedroht, so entfalten seine Kumpane ihre ganze Größe und Thätigkeit, spielen den unbetheiligten und unparteiischen Zuschauer meisterlich und leisten das Menschenmögliche, ihn durch ihre Aussagen aus der fatalen Klemme zu retten und unbehelligt für ein neues Arbeitsfeld zu erhalten, das nun in einem von dem unsicher gewordenen alten Schauplatze weit entlegenen andern Stadttheile aufgesucht wird, wo die Luft noch rein ist.

Die Taschen in den Kleidern der Damen, die meist tiefer hinabreichen und darum nicht so bequem auszufingern sind, als die minder gründlichen Behältnisse der Herrentoilette, machen eine besondere Praktik notwendig. Mit unmerklichem Griffe sondirt die linke Hand außen am Kleide, wo die zu plündernde Tasche ihren Boden hat, hebt sie eben so unfühlbar zu der oben schon bereit gehaltenen rechten Hand empor und entleert geräuschlos den Inhalt in die letztere. Die Gaunersprache nennt dies „Bohren“, und die „Bohrer“ sind das Elitecorps der weiblichen Londoner Langfingergarnison.

(Schluß folgt.)

  1. Indem wir unsern Lesern vorläufig eine „Erinnerung aus dem früheren Schleswig-Holsteiner Kriege“ mittheilen, fügen wir gleichzeitig die Versicherung hinzu, daß die nöthigen Veranstaltungen getroffen sind, die kommenden Ereignisse in dem Lande des „verlassenen Bruderstammes“ durch Wort und Bild in der „Gartenlaube“ zur Darstellung zu bringen. Selbstverständlich werden wir unsere Leser nicht mit Berichten ermüden, die sie in den Zeitungen und Tageblättern schon zur Genüge gefunden.               D. Red.
  2. Kinder
  3. Wo soll das heute noch hingehen?
  4. Von Herzen gern, Jungens, aber erst will ich ein wenig essen, und dann müßt Ihr noch Einen trinken.
  5. Meine Frau hat heute einen guten Braten gemacht, und da sollst Du, mein Sohn, doch einmal recht vergnügt mit mir leben.
  6. Heut, mein Junge, schläfst Du in meinem Bett, Dir thut die Ruhe groß nötig.
  7. Tüchtiger
  8. Um bei späteren Gelegenheiten der Citate überhoben zu sein, bemerke ich sogleich hier, daß die sehr spärlichen Quellen über Kunckel sich in der Manuscripten-Sammlung der königl. Bibliothek zu Berlin befinden. Sie bestehen aus verschiedenen eigenhändigen Briefen Kunckel’s, Specificationen der ihm bewilligten Gelder für seine Arbeiten, aus einer von Danckelmann unterzeichneten Untersuchung über Verwendung der Gelder, aus einem Documente des Kurfürsten von Sachsen, die Anstellung Kunckel’s betreffend, aus dem Schenkungsbriefe des Pfauenwerders durch den großen Kurfürsten und andern, theils Rechtfertigungsschreiben, sämmtlich die Untersuchung betreffend, in welche Kunckel nach dem Tode seines Gönners verwickelt wurde und die ich später berühren werde. Die Papiere stammen aus dem von König geordneten Danckelmann’schen Archive.
  9. Der stumme, verwachsene Diener und der Pudel, so wie die Gerüchte über die Insel und Umgegend sind historisch. Wahrscheinlich suchte Kunckel sich absichtlich in den Ruf eines Höherbegabten zu bringen. Er verfuhr darin wie Thurnneißer.
  10. Die Glaskunst oder ars vitriaria. Leipzig 1679. 4. – Chymische Brille, oder Anmerkungen von denen Principiis chymicis. Leipzig 1678.
  11. Nach den meisten Berichten hat ein gewisser Krafft den Kunckel auf Brandt’s Erfindung aufmerksam gemacht. Schon Leibnitz hat über die chemischen Versuche Brandt’s und Kunckel’s geschrieben.
  12. Kirchmayer hat viele Schriften hinterlassen. Er machte große Reisen und starb 1700.
  13. Kirchmayer hat über die Erfindung des Phosphor eine besondere Abhandlung geschrieben, in welcher er seines Freundes Kunckel mit großer Wärme gedenkt. Sie trägt den Titel: Noctiluca constans etc. Wittenberg 1687.
  14. Verschiedene Arbeiten Kunckel’s sind noch vorhanden. Der größte Theil derselben kam, wahrscheinlich nach dem Tode König Friedrich’s I., als viele Kunstsachen verkauft wurden, in Privatbesitz oder in das Ausland. Kunckel’s Hauptverdienst bestand in der Erzeugung des Rubinglases.
  15. Historisch. Kunckel hielt den Kurfürsten sogar von Geldausgaben zurück, worauf der Fürst erwiderte: „Kümmert Euch nicht darum. Ich habe ehedem wohl 12,000 Thaler und mehr verspielt.“
  16. In verschiedenen Werken wird Carl XII. als Derjenige genannt, der Kunckel nach Schweden berief. Dies scheint aber mit der Zeit nicht zu stimmen, da Carl XII. erst 1697 und 15 Jahr alt zur Regierung kam. Nach Zedler berief ihn Carl XI.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Stimmer
  2. Vorlage: Kunkel
  3. Vorlage: muster