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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[49]
Die Tochter des Fälschers.
Von Carl Heigel.
(Fortsetzung)


Nach dieser langen Rede ließ sich die Superintendentin wieder auf dem Sopha nieder. Der Arzt sah fragend auf Reinhold. Dieser schwieg. Michaelis stieß unwillig seinen Stock auf die Erde und erhob sich. „So wären wir denn zu Ende.“

Pastor Reinhold, im höchsten Seelenkampf, vertrat ihm den Weg „Gehen Sie nicht so!“ flehte er. „Ich kann Amanda nicht so verlassen! Vielleicht – – Geben Sie mir Bedenkzeit!“

„Nein,“ entgegnete Jener bestimmt. „Wozu Bedenkzeit? Ich kann sie im Interesse des armen Mädchens nicht gestatten. Soll es sich wochenlang in der Qual der Ungewißheit, in Sehnsucht, Furcht und Hoffnung aufreiben, um endlich und aller Wahrscheinlichkeit nach zu erfahren, daß sie entsagen müsse?!“

„O,“ warf Reinhold’s Mutter ein, „Amanda ist keine so tiefe Natur! Sie weiß gar nicht, was Kummer ist. Sie wird auch diesen fortsingen und fortlachen.“

„Madame,“ sagte der Doctor ironisch, „unfertig sein ist ein Verbrechen, mit dem wir Alten gerne vierzig Jahre zurückkaufen würden. – Wie Sie das Glück härtete, so wird hoffentlich meine Mündel durch das Unglück ein Charakter werden.“

„Nun denn,“ rief der Pastor, „wenn Sie grausam genug sind, den Bruch jäh herbeizuführen, versichern Sie Amanda wenigstens, daß diese Entsagung mein Herz zerreißt, daß ich ewig an sie denken und keine Andere mein Weib nennen werde!“

Neue Gelübde?“ fragte Michaelis bitter. „Wählen Sie dazu einen leichtgläubigeren Boten! Meine Pflicht hier ist für alle Zeit zu Ende. Amanda’s Zukunft wird nun meine Sorge; Ihnen aber wünsche ich – –“ Er bezwang seine Aufregung und schloß: „Ihnen wünsche ich – wohl zu schlafen!“

Als Doctor Michaelis die Hausthüre hinter sich zuwarf, trat ihm Scybylski in den Weg.

„Was haben Sie zur Antwort? Was wird aus Fräulein Günther?“

Der Arzt wollte den Zudringlichen barsch abfertigen, doch ein Blick auf den angstvollen Ausdruck des Gesichts, das vom Schein einer Straßenlaterne beleuchtet wurde, hielt ihn zurück. „Das Schlimmste,“ erwiderte er kurz, „man hat mich abgewiesen.“

„Abgewiesen?“ rief Jener erblassend. „Der Pastor bricht sein Wort? … O!“ Nach einer kurzen Pause schüttelte der Schreiber zornig seine Faust gegen das Predigerhaus. „Wenn ich nie wieder in die Kirche gehe, so sind die Zwei dort schuld! – Adieu, Herr Doctor, und ich danke Ihnen, daß Sie an der Tochter meines – ja, meines Freundes so gut und edel – –“ Er sprach nicht weiter; die Thränen liefen ihm über die Backen.

„Mein guter Scybylski!“ sagte der Doctor gerührt.

„Es weht eine scharfe Luft,“ sprach der Schreiber nach einer Weile, indem er die Thränen mit dem Zipfel seines Mäntelchens rasch abwischte.

„Wohin gehen Sie?“ fragte Michaelis.

„Ich gehe in den Gasthof. Dort treff’ ich den Cantor. … Dem will ich ein Licht aufstecken, was für einen Pastor wir haben! Gute Nacht, Herr Doctor!“

„Gute Nacht!“

Während Michaelis seinen Weg fortsetzte, ging der Mond auf. Sein sanfter Schein fiel auf die Fenster des Rendantenhäuschens.

„Sie hat Licht,“ dachte Michaelis. Er trat in den Garten, lüftete den Hut und fuhr mit dem Taschentuch über die Stirn. „Der schwerste Gang meines Lebens!“ Die Thüren waren offen, aber die Zimmer still und menschenleer. Mondenglanz lag auf Wänden und Geräthen; der Geruch von Wachskerzen erfüllte noch den Raum.

„Amanda!“ rief der Doctor.

Niemand antwortete.

Aengstlicher wiederholte er den Ruf. Alles still. Da traf sein Blick Brief und Schmuck. Hastig machte er in einer Taschenlaterne, die er für nächtliche Krankenbesuche bei sich trug, Licht. Der Brief war an ihn.

„Liebster, bester Doctor!“ las Michaelis. „Als ich vorgestern Abends im dunkeln Zimmer neben dem todten Vater allein saß und von aller Welt verlassen schien, da traten plötzlich Sie herein und sprachen so gut und liebreich, daß ich meinte, der heilige Christ selber habe Ihre Gestalt angenommen und sei zu mir Aermsten vier Wochen früher denn Weihnachten gekommen. Sie gaben mir Ihre gute, ehrliche Hand und gelobten mir, Vater zu sein. Da that ich Ihnen im Geist fußfällige Abbitte, weil ich früher auch in das blinde, dumme Geschrei eingestimmt und Sie hart und unchristlich gedacht hatte; und als Sie fort waren, that ich den Schwur, Ihnen ewig gehorchen zu wollen, wie eine Magd, und Sie zu lieben wie eine Tochter.

Und nun wag’ ich heute schon einen Schritt, der sich zur Unterwürfigkeit und Demuth einer Magd gar übel schickt; wag’ ich etwas, um dessen willen mich alle Welt ein leichtsinniges, ehrvergessenes Mädchen nennen wird. Aber, glauben Sie mir, liebster, bester Doctor, gerade weil ich meine Ehre hoch halten will, verlass’ ich die Heimath!

Sie wollten heute zu Reinhold’s gehen. Ich ahn’ es, welche Antwort Sie bringen werden. Er muß mir entsagen, das sagt [50] mir mein Verstand, aber mein kindisches, schwaches, eitles Herz will nicht daran glauben, und wenn ich mir’s vorstelle, wie Sie hereintreten und „Es ist aus“ sagen werden, zittere ich an allen Gliedern und das Blut steigt mir zu Kopf, und kurz, ich fühle und weiß es, daß ich das Nein nicht erwarten und hören und darnach noch weiter fortleben kann! Das Unglück der letzten Tage war zu groß; auch noch den Schlag vor den Augen der kalten Welt hinnehmen zu müssen, das würde mich an Gott verzweifeln lassen, und ich fürchte, ich würde etwas thun, was die Schmach unserer Familie nicht verringerte! Darum will ich lieber davongehen, wo mich und meine Traurigkeit Niemand kennt. Das gutmüthige Herz kann so noch immer hoffen und sich überreden: man holt Dich zu Reinhold zurück! der gute Freund, der Verstand, aber gewinnt Oberhand.

In der Residenz lebt eine Schwester meiner Mutter; zu der will ich gehen; sie wird mir einstweilen Unterkunft, Arbeit und Verdienst schaffen. Ich lege ihre Adresse bei.

Und nun verzeihen Sie mir, liebster, bester Doctor. Sei Ihnen noch tausendmal die gute Hand geküßt und Ihnen gedankt! Gott segne Sie und sei mit

Ihrer Amanda Günther.

P. S. Warum ich den Schmuck zurücklasse und was Sie damit thun sollen, brauche ich nicht zu sagen. Ach, daß ich Alles ersetzen und gut machen könnte! Die Finger wollte ich mir wund arbeiten. Das Geld, das ich zur Reise brauche, nehme ich vom Pathengeschenk der Frau Fürstin – aus meiner Sparbüchse. Das Uebrige verwenden Sie, bitte ich, wie den Schmuck. Leben Sie wohl! Gott segne Sie! Gott segne Herrn Reinhold – Theodor!“

Lange starrte Michaelis das Papier an. Es mußte wohl auch in der Stube eine kalte Luft wehen, denn der Doctor wischte sich die Augen und schüttelte sich. „Blitzkind!“ sagte er dann. „Läuft mir davon! – Trotzdem gefällt’s mir. Sie hat Ehrgefühl und steht auf eignen Füßen. – Aber, Donnerwetter, sie soll ja nicht schon selbstständig handeln! Wozu bin ich Vormund? – Wenn das die Stadt erfährt, giebt es ihrem Ruf den Rest. Ich muß eine Ausrede finden.“

Er verschloß Zimmer und Haus. Im Garten blieb er stehen. Es fehlte ihm etwas. Plötzlich schlug er sich ärgerlich vor die Stirn. „Richtig, den Hans hab’ ich vergessen! Nun läuft er in der Stadt umher. Ah, Alles geht schief! Am liebsten ging’ ich auch davon.“


7.

Der Weihnachtsabend brach an. Ein Duft von Tannen, ein geschäftiges Hin- und Hergehen und geheimnißvolles Treiben in allen Straßen und Häusern der Hauptstadt. Für Amanda schmückte Niemand den Christbaum. Still saß sie über ihre Arbeit gebückt in der Tante Wohnstube. Frau Schunke – so hieß die Tante – war eine kleine, corpulente Pastorswittwe, voll der seltsamsten Widersprüche im Innern und Aeußern. Schneeweißes Haar rahmte ein volles Gesicht von lebhafter Hautfarbe, mit hervorquellenden grauen Augen ein. Trotz ihrer sechzig Jahre trug sie beständig helle Kleider und war in ihren Bewegungen hastig und ruhelos, wie ein ungezogenes Mädchen. Jetzt aufgelöst in Schwermuth und Sentimentalität, loderte sie im nächsten Augenblick wegen eines Nichts grimmig auf und schrie und schimpfte wie ein Fischweib. Gutmüthig und boshaft, keck und schlau, hatte sie etwas von einer Katze, die nach Laune schmeichelt oder kratzt. Kinder hatte sie nie gehabt. Seit ihres Mannes Tod ertheilte sie jungen Mädchen Gesangunterricht, und obwohl alle Welt ihre geringen Fähigkeiten dazu kannte und schmähte, benutzte und zwang sie nichtsdestoweniger alle Welt, ihr jährlich eine Anzahl von Schülerinnen zu schaffen.

Als Amanda am Morgen ihrer Ankunft sich der Tante vorstellte, die traurigen Ereignisse erzählte und um Rath bat, riß Frau Schunke sie enthusiastisch an ihr Herz, vergoß Ströme von Thränen und schwur bei den Manen ihres Gatten sowohl, als ihrer Schwester, Amanda wie eine Tochter zu halten. Sie räumte ihr ein Stübchen zum Arbeiten ein und gab ihr Nachts ein Bett neben ihrem eigenen. Am dritten Tag schon änderte sich ihre Laune und blieb die folgenden Wochen gleich schlecht. Sie hatte tausend Dinge an ihrer Nichte auszusetzen, hielt zornige Reden über schlechte Erziehung, beweinte die Heirath ihrer Schwester und schmähte den Rendanten; kurz, Amanda hatte schwere, kummervolle Stunden. Sie sollte das Hauswesen in Ordnung halten, nähen, sticken und gleichwohl immer bei der Tante und für deren Unterhaltung besorgt sein; sie mußte in ihrer Trauer singen und Clavier spielen, was Frau Schunke jedesmal Gelegenheit gab, über die Talentlosigkeit ihrer Nichte sich die Haare zu raufen. Allabendlich waren die Sünden des Rendanten das Gesprächsthema, und wenn Amanda um Schonung bat, ward ihr versteckter Hochmuth und eitle Verblendung vorgeworfen. Amanda ertrug alle Launen, Nachts aber weinte sich ihr gepreßtes Herz aus. Dann wachte nicht selten Frau Schunke, die einen leisen Schlaf hatte, auf und schrie das arme Mädchen an, daß sie seinetwegen die ganze Nacht nicht schlafen könne. –

Am Weihnachtsabend war Amanda müde, denn vom frühsten Morgen an hatte sie der Magd beim Scheuern und Gardinenaufziehen geholfen. Trotzdem ließ sie, sobald die Lampe brannte, sich zu neuer Arbeit am Stickrahmen nieder, während die Frau Schunke bequem auf dem Sopha lag und gähnend bald in der Bibel, bald in Modejournalen und Notenheften blätterte.

„Es thut mir leid,“ begann die Tante, „es thut mir leid, daß ich Dich heute allein lassen muß. Aber sage selbst, ob ich Deinetwegen die Einladung der Baronin Großkopf refusiren konnte? – Du kennst die Baronin?“

„Nein, Frau Tante.“

„Du kennst sie nicht? Das wundert mich. Sie besucht mich doch sehr oft!“

„Sie vergessen, Tante, daß ich bei Ihren Besuchen nie zugegen sein darf.“

„Nicht darf?! Als ob ich es Dir je verboten hätte! Gott, ich bin ja so gut! Aber ich kenne die Aristokratie. Adelige werden durch die Gegenwart armer, bürgerlicher Wesen, wie Du, genirt. Deshalb lobe ich es, daß Du Dich nicht zu meinen Bekannten drängst.“ Sie bückte sich nach einem Notenhefte und sang, ihre schrille Stimme dämpfend, einige Take. Dann wandte sie sich wieder an Amanda. „Wo hast Du den heiligen Abend im vorigen Jahr zugebracht?“

Amanda’s Augen schimmerten feucht, als sie antwortete: „Beim Vater –“

„Hm, hm, kann mir’s denken: Weihnachten, das war ein Tag für Herrn Günther! da konnte er großthun, Einkäufe machen, Geld hinauswerfen!“

Amanda preßte die Hand auf’s klopfende Herz. „Tante!“ flüsterte sie bittend.

„Nun, nun, ich will Dir nicht wehe thun. Aber ich bin eine offene, ehrliche Natur, ich nenne die Dinge beim wahren Namen. Und so behaupte ich denn bis an’s Ende meiner Tage, daß Dein Vater ein Verschwender war, der uns Alle in’s Unglück stürzte.“

„Liebe Tante, schmähen Sie nicht heute meinen Vater, nicht heute, wo mir die Erinnerung an die entschwundene Zeit schier das Herz abdrückt! Wenn Sie ihn gesehen hätten, wie er an diesem Tag den Christbaum schmückte, Abends dann unsere Magd, die armen Nachbarskinder und mich zur Bescheerung führte, wie ihm das Glück zu geben aus allen Zügen strahlte, und wie er über unsere Freude jubelte – Sie würden den armen Todten im Grabe ruhen lassen!“

Frau Schunke trommelte mit den kurzen, fetten Fingern auf dem Tisch und schob ungeduldig die Spitzenhaube auf’s Ohr, welche immer lose auf ihrem Kopf saß.

„Dahinter steckt wohl der Vorwurf, daß ich Dir keinen Weihnachtsbaum aufputze, daß ich meine Nichte und Crethi und Plethi zu keiner Bescheerung einlade?“

„Aber, Tante –“

„Schweig! Ich erwartete den Vorwurf, weil ich menschliche Undankbarkeit kenne. Also Kind und Magd und die ganze Nachbarschaft hat er beschenkt? an mich, die arme, alleinstehende Frau, an seine Schwägerin hat er nie gedacht; mich lud er nie zu seinem Christabend, für mich hatte er nicht einen rothen Pfennig! Freilich hätte ich vom windigen Scribenten auch nicht Pfennigswerth genommen!“

Amanda stand rasch auf. „Tante,“ sprach sie zitternd vor Aufregung, „wenn ich im Zimmer bleiben soll, so sprechen Sie nicht also wieder!“

„In meinen vier Wänden kann ich reden, wie und was ich will, und Du bleibst!“

„Wenn Sie meinen Vater lästern, nein.“

Die kleine Frau warb dunkelroth; ihre Haube vom Kopfe [51] reißend, sprang sie mit einem Satz vom Sopha auf und zur Stelle, wo das Mädchen stand. „Nein!“ rief sie und ballte die Faust vor Amanda’s Gesicht. „Also trotzig, verstockt und boshaft? Nun, das ist mir ein Muster von Erziehung! Bravo, Herr Scribent! Freilich, wie sollte Dich der Vater Gehorsam lehren, da er doch selber gegen Gottes Gebot ungehorsam war! Doch ich lästere ihn, ich lüge, ich verleumde! Er hat meine Familie nicht in Schande gebracht, die Cassenbücher nicht gefälscht, er war kein gemeiner, heuchlerischer – –“

„Halt!“ bebte Amanda und faßte krampfhaft den Arm der Tante. Ihre Augen blitzten im blassen Gesicht, und ihre Stimme klang furchtlos und entschieden. „Ich spreche jetzt das letzte Wort,“ fuhr sie mit fliegender Rede, aber furchtlos fort. „Sie haben kein Recht, den Todten vor seinem Kind zu schänden, denn des Weibes Amt und Vorrecht ist allein Vergebung. Was Sie sagten, war ein Diebstahl an meiner Seele, denn die Erfahrung, welche ich durch Sie gewann, die Erfahrung, daß die Welt grausam und niedrig ist, raubt mir das Letzte, was mir noch das Leben des Lebens werth machte, den Glauben an das Herz der Menschen! Ich bin nicht undankbar, bei Gott, nicht undankbar, allein diese Stunde trennt mich auf immer von Ihnen! Leben Sie wohl!“

Das Aussehen des Mädchens war so streng und gebieterisch, daß Frau Schunke es für gut hielt, in Ohnmacht zu fallen. Aber Amanda ging trotzdem. Sie unterrichtete die Magd vom Uebelbefinden der Herrin und verließ die Wohnung.

Im Hofgebände wohnte eine arme, bejahrte Frau, von welcher Amanda wußte, daß sie ein Gelaß zu vermiethen habe. Zu ihr begab sie sich. Nach kurzer Unterhandlung war Amanda in der kalten, kahlen Stube, ihrem neuen Asyl, allein.

Das Geräusch der Stadt drang nicht hierher. Die Kammer lag rückwärts; ihr Fenster ging nach einem öden, verschneiten Garten. Hinter dem letztern zogen sich neuangelegte Straßen hin, in denen vereinzelt und spärlich hohe, frischgetünchte Gebäude mit rothen Seitenmauern emporstiegen. Rechts war der Fluß.

Amanda setzte sich auf den einzigen Stuhl, das Haupt kraftlos gesenkt, die Hände auf dem Schooß verschlungen. Im Zimmer nebenan rückte zuweilen die alte Frau ihren Lehnsessel und schürte im Ofen. Sonst blieb Alles still.

„So soll ich denn einsam bleiben, eine verlassene Waise!“ sagte sich Amanda. „In dieser Stunde schlagen Millionen Herzen in Lieb’ und Freude, mein aber gedenkt Niemand außer Einem. Und diesem ist die Erinnerung an mich Kummer und Pein. Ach, wär’ ich von je an des Lebens Ernst gewöhnt! Die Welt erschien mir früher so rosig und freudevoll. Nun ist das Traumgold ausgegeben, und wie ein Märchen däucht es mir, daß ich einst fröhlich war. In dieser unermeßlichen Welt von aller Welt verlassen – – Nur nicht von Dir, o Gott,“ sagte sie dann und blickte zum gestirnten Himmel auf. „Du siehst meinen Schmerz, meine Reue. Da ich Alles verloren, gewinne ich Dich!“

Langsam ließ sie sich auf die Kniee nieder und betete.

Nennt das Gebet Wunsch, Gewohnheit, Aberglauben: Eines ist es für das Weib und den Armen – Trost!


8.

Vier Monate später saß Doctor Michaelis in einer eleganten Villa der Residenz als Gast beim Dejeuner. An seiner Seite hatte die Dame, ihm gegenüber der Herr des Hauses, General von M…, Platz genommen. Die reiche Ausstattung des Zimmers, das silberne Tafelzeug verriethen Geschmack und Wohlstand. Die Glasthüre, welche zum Garten führte, stand offen und ließ die duftgetränkte Frühlingsluft herein, denn laue, sonnige Tage hatten im angrenzenden königlichen Park überall Knospen und Grün hervorgelockt.

Der Arzt saß theeschlürfend im Sammtfauteuil, unbeengt durch die kalte Majestät der Baronin. Ihm war der General vom Fürstenschloß her ein alter, lieber Bekannter, dessen geraden Sinn in rauher Form er wohl zu schätzen wußte. Eines nur störte ihn in seiner Behaglichkeit. Seit seiner Anwesenheit übten in der Wohnung über ihnen offenbar Schülerhände ein und dasselbe Clavierstück.

„Hätt’ ich doch nimmer geglaubt,“ sagte der General, „daß Sie sich von Ihrem lieben Schlesien trennen und nach der Residenz ziehen würden!“

„Vor zwei Jahren noch,“ erwiderte Michaelis, „dachte ich auch nicht daran, meine Stellung zu verlassen. Allein der Neffe des Fürsten, der Majoratserbe, der von seinen Reisen zurückgekehrt ist, hat seinen eigenen Medicus mitgebracht. Zwei Aerzte auf dem kleinen Flecken Erde sind zu viel. Weil aber mein Rivale jung, geschickt und arm ist, entschloß ich mich, ihm das Feld zu räumen, empfahl ihn meinem guten Herrn und erbat für mich selbst den Abschied. Gestern am frühen Morgen sagte ich dem Fürstenpaar das letzte Lebewohl – ich gestehe, mit schwerem Herzen.“

„Dann sind Sie also gestern erst angekommen?“

„Ja, gestern Abends.“

„Und Sie fühlen kein Heimweh nach Ihrer Schloßeinsamkeit?“ fragte die Baronin mit ihrer harten, unmelodischen Stimme.

„Im Gegentheil, gnädige Frau,“ antwortete der Doctor. „Das rauschende Leben der großen Stadt erfrischt mich wie ein kaltes Bad.“

Vraiment! Aber nach Allem, was mir der General vom Fürstenschloß erzählte, muß Ihr Aufenthalt dort unendlich poetisch gewesen sein. Die Stille des Landes, die patriarchalischen Sitten müssen Sie doch hier schmerzlich vermissen! Ich denk’ es mir himmlisch, auf immer vom Wagengerassel, Rauch, von Politik und andern Horreurs der Hauptstadt befreit, unter einfachen Menschen ungezwungen wie die Vöglein leben zu können.“

Die wasserblauen Augen der Generalin starrten, während sie sprach, entsetzlich kalt und nüchtern gegen die Zimmerdecke.

„Entschuldigen Sie, meine Gnädigste,“ entgegnete der Arzt, „wenn ich Ihre Romantik nicht theile. Nirgends, glaube ich, sind wir weniger einsam und unbeschränkt, als in kleinen Landstädten, auf Dörfern und Schlössern.“

Vouz m’étonntez!

„Zugestanden!“ rief der General, „zugestanden, lieber Doctor, ich kenne das Landleben aus meinen Garnisonerinnerungen! Schrecklich langweilig! die Jagdsaison ausgenommen, schauderhaft langweilig!“

„Ich gebe mich dem großartigen Wechsel ganz und gerne hin,“ fuhr Michaelis fort. „Die Tausende, die an mir vorüberziehen, kennen mich eben so wenig, als ich von ihnen weiß; ihre Begegnung erregt mir nicht sofort eine Reihe unbeqemer Gedanken an ihren Charakter, ihre Geschäfte und häusliche Noth. Doch im großen Ganzen sehe ich die schöne Wirkung dieser verschiedenen Kräfte und fühle wieder nach langer Zeit, daß die Welt vorwärts schreitet. Der feine Rauch in den Straßen ist mir Wohlgeruch, das Geräusch des Handels und der Fabriken Musik.“

C’est drôle,“ sagte die Baronin.

„Nur einem Uebel kann man nirgends entfliehen,“ fuhr Jener mit gutmüthigem Lächeln fort, „es verfolgt uns in Dorf und Stadt: der Clavierdilettant. Wie genußvoll z. B. ist dieser Morgen, in reizender Umgebung, an der Seite meines würdigen Freundes und Gönners – da martert sich und uns irgend eine schöne Mitbewohnerin Ihres Hauses, indem sie mit grausamer Consequenz die Scalen leiert.“

Der General brach in ein Gelächter aus, so herzlich, daß ihm Thränen in die Augen traten; seine Gemahlin dagegen schoß einen wüthenden Blick auf den armen Michaelis.

„Kostbar!“ rief der Erste, immer auf’s Neue lachend. „Kostbar! Pardon, bester Doctor – aber Ihrer Kritik stimme ich aus ganzer Seele bei, obwohl die unglückliche Flügelspielerin – meine – meine eigne Tochter ist.“

„Donnerwetter!“ fuhr Michaelis heraus. „Entschuldigen Sie, Excellenz,“ stotterte er verlegen, „ich wußte nicht –“

„Daß ich eine Tochter habe und daß nur wir das Haus bewohnen,“ unterbrach ihn gutmüthig der Baron. „Warum haben Sie nicht früher schon bei uns angepocht! Uebrigens, mein gelehrter Freund, wenn auch meine Nerven gegen das nothwendige Uebel bereits abgestumpft sind, so soll, wenn Sie kommen, keine Taste –“

„Ich werde Mademoiselle Günther befehlen die Lection zu beenden,“ sagte die Baronin kalt und erhob sich.

„Um Himmels willen nicht!“ bat Michaelis. „Verrathen Sie meine Barbarei nicht weiter! Nannten Sie die Lehrerin nicht Günther? Fräulein Günther?“

„O,“ fiel der General ein, „Sie müssen sie kennen; sie ist aus B…“

Michaelis stand rasch auf und machte einen Schritt gegen die Thür hin. „Aus B…?“ rief er. Der General bejahte es und setzte hinzu, daß dieser Umstand ihn, den musikalischen Ignoranten, bestimmt habe, das Mädchen zu seiner Tochter Lehrmeisterin zu wählen.

[52] „Ein Heer von Candidaten,“ erzählte er mit Humor, „stellte sich nach unserm Zeitungsinserat. Unter ihnen besagte Günther. Auf meine Frage, woher sie sei, erhielt ich die Antwort: aus B… Das rief mir natürlich die Erinnerung an das benachbarte Fürstenschloß wach, wo ich als Gast so manche herrliche Woche verlebte. Mit dem Städtchen selbst zwar und seinen ehrsamen Bewohnern kam ich niemals in Berührung, aber das Mädchen war nun einmal aus der lieben Gegend, hatte ein ehrliches Gesicht – enfin, ich theilte ihr die Stunde zu.“

Doctor Michaelis, der sich wieder gefaßt und Platz genommen hatte, reichte unwillkürlich über Theegeschirr und Silberaufsätze hin dem treuherzigen Graubart die Hand.

Eh bien, Herr Doctor,“ sagte die Baronin. „Sie sehen, daß ich im Hause keine Stimme habe. Meine Wahl war es nicht.“

„Sind Sie mit dem Mädchen unzufrieden?“ fragte Michaelis betroffen.

„Ja.“

„Aber liebste Emma!“

„Ich bleibe dabei,“ entgegnete die Baronin. „Bevor Mademoiselle Günther Lehrerin ward, spielte unsere Marie einige Piècen aus Martha und Stradella allerliebst, jetzt hör’ ich nie mehr eine Melodie, sondern immer und ewig die Scala und andere bloße Uebungen. Außerdem ist mir der Mademoiselle Charakter nicht sympathisch. Sie ist für Marie eine zu passive Natur. Ihre Melancholie, fürchte ich, steckt mein Kind an.“

„Aber Emma! Sie spricht ja in den wenigen Stunden nur, was Bezug auf’s Clavier hat.“

Eh bien, warum spricht sie so wenig? Für ein Mädchen ohne Familie und Vermögen paßt es sich nicht, die Schwermüthige zu spielen.“

„Wir wissen nicht, welchen Kummer sie hat.“

„Eine Person ihres Standes muß ihren Kummer zu Hause lassen können. Die zweite Hälfte der Stunde ist dem Gesang gewidmet. Wie oft habe ich Mademoiselle gebeten, meine Tochter französische Lieder zu lehren, wie selten erfüllt sie meine Wünsche! Sie hat Ein Lied, das mich zur Verzweiflung bringt, das sie fast in jeder Stunde – da – c’est ça!“ Die Baronin unterbrach sich plötzlich und wies nach oben.

Das Exercitium im ersten Stock hatte aufgehört, und eine geübtere Hand spielte. Dann sang eine Mädchenstimme:

Noch nichts von winterlicher Trauer!
Noch einmal warmer Sonnenschein
Und düftetrunkne Ahnungsschauer,
Noch einmal laß es Frühling sein!

Die schwergebeugten Wipfel warten
Der Hand noch, die die Früchte bricht;
Die Sonnenblume kehrt im Garten
Ihr Antlitz sehnend noch zum Licht.

Noch immer hör’ ich den gewohnten
Gesang der Vögel im Geheg,
Und Schatten gaukeln wie vor Monden
Auf dem verlaßnen Waldesweg.

Und geh ich Nachts im Sternenscheine
An Deinem Hause still vorbei,
Regt sich die Sehnsucht, und ich meine,
Daß es noch immer Frühling sei!

„Arme Amanda!“ flüsterte Michaelis, als die beseelte Klage verstummt war.

Der gutmüthige Baron aber sagte gerührt: „Parbleu – entschuldige, Emma! – mir gefällt das Lied, und das Mädchen hat einen Vortrag, der mich alten Soldaten zum Weinen bringen könnte!“

Die Generalin zuckte die Achsel. „Kennen Sie Mademoiselle Günther vielleicht näher?“ wandte sie sich gleichgültig an Michaelis.

„Zu dienen, meine Gnädigste,“ erwiderte dieser mit seinem feinsten Lächeln um den Mund. „Fräulein Günther ist meine Mündel.“

Nun war es an der Baronin, verlegen zu werden.

Aber der Arzt brachte sofort das Gespräch auf einen andern Gegenstand und schien für die Fortsetzung der Gesangsübungen über ihnen keine Aufmerksamkeit zu haben. Bald darauf empfahl er sich. –

Ein Garten trennte das Haus von der Straße. Diese zog sich den königlichen Park entlang. Wenige Schritte vom Gartengitter mündete eine der zahlreichen Querstraßen. An dieser Ecke machte Doctor Michaelis Halt.

Er harrte nicht lange. Bald wandelte ihm die wohlbekannte, zierliche Mädchengestalt entgegen. Ihre Kleidung war von dunkeln Farben und ärmlich; das Gesicht verdeckte der Hutschleier. Sie schritt ohne Hast, aber auch ohne Interesse am Straßengetriebe dahin.

Michaelis trat ihr in den Weg.

„Amanda!“ sagte er tief bewegt und hielt dem Mädchen die Hand entgegen. Ihre Augen blickten erschrocken unter dem Schleier auf, dann hörte man einen lauten Aufschrei, ein leises Weinen, und schluchzend küßte Amanda die Hand des Greises.

(Schluß folgt.)




Kaulbach und sein Carton „das Zeitalter der Reformation“.

Mit dem Carton „das Zeitalter der Reformation“ hat der geniale Meister Kaulbach den berühmten Cyklus seiner Wandgemälde in dem Treppenhause des neuen Berliner Museums in würdigster Weise abgeschlossen. Diese Bilder gehören unstreitig nicht nur zu den schönsten Zierden der preußischen Hauptstadt, sondern zu den bedeutendsten Meisterwerken der neueren Kunst. In bewunderungswürdiger Weise hat in ihnen Kaulbach die ihm gestellte große Aufgabe gelöst, eine fortlaufende culturhistorische Entwicklung der europäischen Menschheit darzustellen. Sage und Geschichte hat er dabei in ihren Tiefen erfaßt und die zu Grunde liegenden Ideen vollkommen erschöpft. Es ist der philosophische und historische Geist unseres Jahrhunderts, der aus diesen Wandgemälden zu uns spricht, verkörperte Gedanken und in Farben strahlende Weltanschauung. Die abstracten Ideen des Philosophen erscheinen hier vor uns in gestaltenreicher Fülle, in concreter Lebendigkeit; es sind keine bloße Schatten, keine gewöhnlichen Allegorien, wie sie das Rococo-Zeitalter schuf, sondern ein eigenes Genre von historischen Culturbildern, welche für das Genie und die Originalität ihres Schöpfers ein glänzendes Zeugniß ablegen. So malte Kaulbach den „Babylonischen Thurmbau“, indem er den tieferen Sinn der heiligen Sage, das große Ereigniß der „Völkerscheidung“, zur vollkommenen Anschauung brachte; so erblicken wir in der „Blüthe Griechenlands“ die tiefste Auffasung des hellenischen Geistes und seiner Bedeutung für die Menschheit. Die „Zerstörung Jerusalems“ ist weit mehr als ein bloßes Schlachtengemälde, indem sich in der Gruppe der „ausziehenden Christen“ ein neues weltgeschichtliches Moment offenbart, während in der berühmten „Hunnenschlacht“ und in den „Kreuzfahrern“ die Völkerwanderung und die folgenreiche Berührung zweier Welttheile sich uns unwillkürlich aufdrängen. Jedes dieser großartigen Bilder ist in gewissem Sinne zugleich „exoterisch“ und „esoterisch“, ebenso für das sinnliche wie für das geistige Auge des Beschauers berechnet, historisch und symbolisch, je nach dem Bildungsgrade und der Betrachtungsweise des Beurtheilenden. Die Ereignisse und Gestalten sind Träger der großen Ideen und doch trotz dieser typischen und philosophischen Bedeutung darum nicht weniger concret und plastisch aufgefaßt.

Derselbe tiefere Ideengang charakterisirt den neuesten Carton des genialen Künstlers; ja man könnte ihn gewissermaßen als die höchste Blüthe dieser eigenthümlichen Richtung bezeichnen, als den schönsten Schlußstein der culturhistorischen Weltanschauung auf dem Gebiete der bildenden Kunst. Mit vollem Bewußtsein hat Kaulbach das „Zeitatter der Reformation“ in seiner weitesten Bedeutung aufgefaßt und über die engen Grenzen der kirchlichen Kämpfe herausgerückt. Für ihn ist die Reformation eine weit größere und allgemeinere, indem er das Wiedererwachen der ganzen Menschheit, ihre Befreiung aus den Banden des Mittelalters, die Auferstehung des classischen Alterthums, die Entdeckung Amerikas, die Belebung [53] der naturwissenschaftlichen Studien, die Erfindung der Buchdruckerkunst und ihren Einfluß auf die Bildung des Volkes, all die großen Denker, Dichter und schöpferischen Genien dieses großen Zeitalters in den Kreis seiner gedankenreichen Darstellung zieht. Es ist daher nicht Zufall, sondern weise Absicht des Künstlers, wenn er die eigentliche Reformation der Kirche nicht in den Vordergrund stellt, obgleich Luther und seine Mitkämpfer den wahren Mittelpunkt des Ganzen bilden.

Die Heroen der Naturwissenschaft,
aus Kaulbach’s Wandgemälde: „das Zeitalter der Reformation“.

Wie in der bekannten „Schule von Athen“, dem berühmten Werke Rafael’s, das Kaulbach bei seinem Carton vorgeschwebt, lassen sich auch hier die verschiedenen Richtungen des Zeitalters in den verschiedenen Gruppen des Gesammtbildes deutlich erkennen [54] und unterscheiden. In der Mitte eines mächtigen Doms erblicken wir die würdigen Gestalten der großen Reformatoren, wie sie eben das Abendmahl in beiden Gestalten austheilen und sich zu dem Augsburgischen Religionsbekenntnisse vereinigen. Wir sehen den jugendlichen, begeisterten Luther, der eben erst die Schranken der katholischen Kirche gebrochen; an seiner Seite den würdigen Justus Jonas und Bugenhagen, welche das heilige Sacrament Friedrich dem Weisen, Johann dem Beständigen, Albrecht von Brandenburg und einigen Patriciern der Hansestädte reichen. Mehr nach rechts steht in kriegerischer Rüstung Gustav Adolph, der auf ein Blatt blickt, welches Guttenberg, der Erfinder der Buchdruckerkunst, so eben aus seiner Presse hervorgezogen hat. Auf der entgegengesetzten Seite sehen wir die Schweizer Reformatoren Calvin und Zwingli, denen sich der kühne Moritz von Sachsen, der tapfere Admiral Coligny, das Haupt der französischen Hugenotten, anschließen. Eine besondere Gruppe bildet die Königin Elisabeth von England mit ihren Räthen, dem höfischen Essex, dem staatsmännischen Burleigh, dem kühnen Drake, dem Bischof Cranmer und dem schottischen Eiferer Knox, während der niederländische Protestantismus durch den schweigsamen Wilhelm von Oranien und durch Oldenbarneveldt würdig repräsentirt wird. Hinter diesen Häuptern und Stützen der neuen Glaubenslehre sitzen auf dem erhöhten Chore die Vorläufer und Märtyrer der Reformation, der edle Huß, der schwärmerische Savonarola, Arnold von Brescia, Petrus Waldus, Wiklef und auch Tauler, der deutsche Mystiker, so wie in der Nähe der Orgel mehrere Componisten des neueren Kirchenliedes. Ihren eigentlichen Abschluß erhalten diese einzelnen Gruppen der Reformatoren und ihrer Freunde durch drei Männer im Vordergrunde des Bildes, Melanchthon, Zasius und Eberhard von der Tann, welche sich gegenseitig die Acte des Augsburger Religionsfriedens, die magna charta der Reformation, mit freudestrahlenden Gesichtern und verklärten Blicken überreichen.

Wie hier die religiöse Wiedergeburt des Jahrhunderts, so stellt der Künstler in einer zweiten großen Gruppe das Erwachen des klassischen Alterthums durch die Humanisten und die damit verbundene Wiederbelebung der Künste und Wissenschaften dar. An der Erde liegt eine antike Statue, eine Muse von wunderbarer Schönheit, eben erst ausgegraben, gleich wie jener alte Sarkophag, aus dem der lorbeergekrönte Petrarca die Schriften und Rollen des griechischen und römischen Alterthums hervorzieht und gleichsam von Neuem entdeckt. An seiner Seite erblicken wir die großen Humanisten und Verbreiter der classischen Bildung, den gelehrten Reuchlin und den spöttisch drein schauenden Erasmus. In ihrer Nähe steht der mit dem Degen und der Feder gleich vertraute Ulrich von Hutten, der den Männern der Reformation die Hand und seine tapfere Klinge anzubieten scheint; sein trotziges und doch so ehrliches Gesicht spricht laut: „Ich hab’s gewagt.“ – Jener herrliche Mann mit der hohen göttlichen Stirn und dem sinnenden Auge, der mit untergeschlagenen Armen und gekreuzten Beinen so sicher und ruhig drein schaut, als wäre die ganze Welt sein Eigenthum, ist und kann kein Anderer sein als Shakespeare; sein würdiger Nachbar, halb Krieger, halb Gelehrter, ist Cervantes, der den unübertroffenen Don Quixote geschrieben und dem die berühmten Gelehrten Nicolaus von Cusa und Celtes sich anreihen. Noch zwei charakteristische Gestalten fesseln unwillkürlich das Auge des Beschauers, der ehrliche Schuster und Dichter Hans Sachs, der ganz im Vordergrunde sitzt und an den Fingern die Sylben seiner Verse mißt, und Jacobus Balde, ein Deutscher, der damals die besten lateinischen Gedichte schrieb, was Kaulbach in sinniger Weise dadurch andeutet, daß er ihn zu der eben ausgegrabenen Muse sich niederbeugen läßt, deren Leyer er mit feinen Fingern gleichsam tastend berührt. Ueber diesen Vertretern der Poesie und Wissenschaft wölbt sich das Seitenschiff des großen gemeinsamen Geisterdoms, das von den Künstlern des Jahrhunderts eingenommen und noch geschmückt wird. Auf hohem Gerüst malt hier Albrecht Dürer an seinen Evangelisten, der Farbenreiber unter ihm aber trägt die bekannten Züge Kaulbach’s, der sich selbst diesen bescheidenen Platz angewiesen hat. Zur Seite des Gerüstes erblicken wir den tüchtigen Erzgießer Peter Vischer, Guttenberg als Erfinder der Buchdruckerkunst und die großen Maler des Jahrhunderts Michel Angelo, Leonardo da Vinci und Rafael.

Auf der entgegengesetzten Seite bilden die Heroen der Naturwissenschafst eine besonders interessante Gruppe, deren Abbildung die Gartenlaube in ihrem wohlgelungenen Holzschnitt bringt. In der Mitte steht die ehrwürdige Gestalt des greisen Columbus, der die gefesselte Hand auf die von ihm um einen Welttheil bereicherte Erdkugel legt. Aus seinen ehrwürdigen Zügen spricht der Schmerz des Märtyrers und die fromme Zuversicht des unsterblichen Genius. Wunderbare exotische Pflanzen, fremde Vögel, Waffen und mexicanischer Kopfschmuck zu seinen Füßen deuten auf den Entdecker Amerika’s. Der Deutsche, Martin Behaim aus Nürnberg, der 1492 den ersten Globus angefertigt hat, steht seinem großen Freunde zur Seite, dem er, wie ältere spanische Geschichtschreiber behaupten, den ersten Gedanken von dem Dasein eines neuen Welttheils gegeben haben soll. Er machte von Lissabon aus, wo er mit Auszeichnung aufgenommen wurde, weite Reisen und untersuchte besonders die Inseln an der Küste von Afrika bis zu dem Flusse Zaïre; auch die Entdeckung der Azoren wird ihm zugeschrieben, so daß er seine Stelle neben Columbus, die ihm der Künstler angewiesen, mit gutem Recht verdient. Hinter dem würdigen Freundespaare steht ein anderer Entdecker, der Engländer Harvey, welcher den kunstvollen Bau des menschlichen Körpers erforscht, den wichtigen Blutumlauf, die wunderbare Thätigkeit des Herzens und den Unterschied der Arterien und Venen zuerst erkannt und somit eine vollständige Revolution auf dem Gebiete der Physiologie hervorgerufen hat, so daß er als Vater dieser Wissenschaft angesehen werden darf. Als Vertreter der Anatomie erscheint neben ihm der Franzose Vesale, der ihm würdig zur Seite steht. Vor Columbus kniet der fleißige Kosmograph Sebastian Münster, der mit dem Cirkel in der Hand die Größe des Erdballs mißt, während der große Francis Bacon von Verulam sein „Novum organum“, dieses Evangelium der Erfahrungswissenschaft, in seinen Händen hält, als wollte er den reichen Schatz huldigend Columbus zu Füßen legen. Drei Männer sind es noch, welche unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. Das Barett mit einem grünen Reis geschmückt, erblicken wir den kundigen Botaniker Leonhard Fuchs, an seiner Seite den ebenso berühmten als berüchtigten Arzt Theophrastus Bombastus Paracelsus, der bald als frecher Charlatan verschrieen, bald als der Luther der Medicin gepriesen wird, jedenfalls aber ein genialer Mann war, wie seine trotz mancher Irrthümer bewundernswürdigen und von Geistesblitzen erleuchteten Schriften zeigen, in denen er die alte Schule des Galen bekämpft und auf die Natur und Erfahrung hinweist. Sein Nachbar in dem langen Schlafrock und mit der hohen Mütze ist ebenfalls ein deutscher Gelehrter, Sebastian Frank, einer der vorzüglichsten Prosaisten, welcher eine Universalgeschichte in deutscher Sprache schrieb und durch sein populäres Talent einen großen Einfluß auf die Bildung des Volkes ausübte.

Entsprechend der Seite, auf der die Humanisten und Künstler dargestellt sind, steigt auch über die Männer der Naturwissenschaft noch ein Seitenschiff empor, auf welchem die Astronomen, welche gleich den Künstlern dem Himmel näher stehen, ihren Platz gefunden haben. Den Rücken uns zugewendet zeichnet Copernicus das Sonnensystem an die Wand, Galilei und Giordano Bruno, die edlen und großen Märtyrer der Wissenschaft, steigen zu ihm empor, während Cardanus nachgrübelnd das Haupt zu Boden senkt und Tycho de Brahe mit dem jungen Keppler der Harmonie der Sphären zu lauschen scheinen.

Diese flüchtige Andeutungen und die mitgetheilte Probe, die der Holzschnitt von einer Gruppe des Cartons giebt, sollen nur dazu dienen, auf die Wichtigkeit und Bedeutung der neuesten Schöpfung aufmerksam zu machen, da sich der Eindruck des Gesammtbildes, die Fülle der Erscheinungen, die charakteristische Auffassung jeder einzelnen Figur und vor Allen die dem Ganzen zu Grunde liegende tiefere Idee nicht bei dem uns zugemessenen Raume wiedergeben lassen. Es wird die Aufgabe der eigentlichen Kunstkritiker und Aesthetiker sein, den Werth des Werkes festzustellen und ihm, so wie der darin vertretenen Richtung, die gebührende Stelle in der Kunstgeschichte anzuweisen. Aber selbst dem Auge des gebildeten Laien kann es nicht entgehen, daß wir hier vor einem bedeutenden und Epoche machenden Bilde stehen, welches mächtig anregend zu unserem Geiste spricht und seine hohe und schwere Aufgabe, „das Zeitalter der Reformation“, erschöpfend und vollendet gelöst hat, wobei der Künstler nicht vergessen hat, dem deutschen Genius die ihm gebührende Stelle in der großen culturhistorischen Entwicklung des sechszehnten Jahrhunderts anzuweisen.

Max Ring.
[55]
Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nr. 8. Der Landtag zu Königsberg und die Errichtung der Landwehr.
Von Ferd. Pflug.
(Schluß.)


Als eine besondere Gunst des Zufalls mußte jetzt gelten, daß eine der Hauptbestrebungen der Junker und Franzosenfreunde in Berlin vordem darauf gerichtet gewesen war, die Männer der entschiedenen Actionspartei, welche sie nicht unmittelbar zu stürzen vermochten, mindestens doch in der einen oder andern Weise in die entlegenen Provinzen zu entfernen, um so für den Verfolg ihrer eignen Pläne und Absichten in der Hauptstadt desto freieren Spielraum zu gewinnen. Ein gleich günstiges Geschick wollte, daß mehrere der bedeutendsten Männer derselben Partei, die, verzweifelnd an den eignen preußischen Zuständen oder verfolgt von den französischen Schergen, in Rußland eine Zuflucht oder einen neuen Wirkungskreis gesucht hatten, in Anlaß des jetzigen Umschwungs der Dinge, mit diesem Moment in Königsberg wieder zusammengetroffen waren. Der Graf Alexander von Dohna-Schlobitten, einst neben und mit Stein Minister des Innern, gehörte zu den Ersteren, Moritz Arndt, der mit dem Letztgenannten gekommen war und auf denselben den größten Einfluß ausübte, wie Clausewitz zählten zu den Letzteren. Dieser, der spätere große Militärschriftsteller und befähigtste Schüler Scharnhorst’s, wie dessen Hauptgehülfe namentlich auch bei Ausarbeitung des Landwehr-Entwurfs, übernahm es, diesen Entwurf zur unmittelbaren praktischen Ausführung vorzubereiten und zugleich York, mit dem er als einer der russischen Unterhändler bereits zu Tauroggen in vertrautere Beziehungen getreten war, demselben günstig zu stimmen. Der schon erwähnte und von York hochgeachtete Regierungspräsident v. Schön, der ebenfalls nach Königsberg gekommen, unterstützte ihn hierin, während Moritz Arndt sich bemühte, das Schroffe und Herbe in dem Charakter Stein’s thunlichst auszugleichen und denselben den anderweitig aufgestellten Forderungen nachgiebig zu stimmen. Dohna endlich hatte als schwierigste Aufgabe die Vertretung des gefaßten Plans in der Versammlung übernommen. Wo jene, die eigentlichen Urheber desselben, kraft ihrer eigenthümlichen Stellung nicht unmittelbar handelnd eintreten konnten, wollte er sie ersetzend und ergänzend eintreten. Alles war so vorbereitet. York gab nach, Stein trat in die bescheidene zweite Reihe zurück. Bereits am 23. Januar ward der Landtag unter Hinzuziehung auch der Deputirten der westpreußischen Kreise diesseits der Weichsel auf den 5. Februar nach Königsberg ausgeschrieben.

Der große Tag war endlich erschienen. York, von einer Deputation in die Versammlung abgeholt, sprach für die Errichtung einer Landwehr. Der ganze Mann, eisern, fest, kar und selbstbewußt im Wollen und Vollbringen, klang aus seinen Worten wieder. Hingerissen von stürmischer Begeisterung schlugen alle Herzen ihm entgegen. Glücklich warf Dohna den von Clausewitz bearbeiteten und von ihm selber den Umständen noch mehr angepaßten Landwehr-Entwurf in den bewegten Moment hinein. Es gab hier kein dissentirendes Votum mehr, die Aufstellung von 30,000 Mann Landwehr Seitens der Provinz, 20,000 davon in erster Reihe, 10,000 in Reserve, ward thatsächlich schon an diesem ersten Tage entschieden.

Zuvor jedoch, und das ehrt diese Männer noch mehr, hatten sie auch den Schatten einer russischen Beeinflussung von ihren Berathungen und Beschlußfassungen zu entfernen gewußt. Ein unmittelbar deutsches Werk sollte die neue große Schöpfung aus ihrem freien und selbstständigen Entschluß hervorgehen. Nur mit York, dem zeitigen Militär-Gouverneur der Provinz, wollten sie über den Entwurf dazu unterhandeln, nur auf dessen Autorität ihre Entscheidung begründen. Daß dieser, wie die Berliner Zeitungen bereits unterm 9. Januar berichtet hatten, sich gegenwärtig seines Commandos entsetzt befand, galt ihnen dabei nicht. Der Bote, welcher die Entsetzungsordre an den General überbringen sollte, Major Natzmer, war hiermit an der Weichsel von den russischen Posten aufgehalten und zurückgewiesen worden, und York befand sich deshalb nach der Auffassung der Versammlung auch noch in der vollkommen rechtlichen Ausübung der ihm übertragenen Militärstellung. Diese Auslegung mochte angezweifelt werden, thatsächlich hatten die Stände mit derselben unbedingt das Gebiet des durchaus eigenmächtigen Handelns betreten. Der günstige Umstand, daß sich momentan der Osten der Monarchie durch die Kriegsoperationen der Russen gegen die sich nothdürftig noch zwischen der Weichsel und Oder behauptenden französischen Abtheilungen von dem Westen so gut wie abgeschnitten befand, und die Erhebung des Augenblicks ließen dies bedenkliche Verhältniß jedoch kaum in einigen vereinzelten Andeutungen durchklingen. Der Bann des Herkömmlichen und Gewöhnlichen war durch den einmal entfesselten Strom gewaltsam durchbrochen worden, die Erregung der Gemüther wogte zu voll und schwer, als daß die Dämme der staatlichen Ordnung nicht davon hätten überfluthet werden sollen.

Die Leiter der Bewegung kannten jedoch aus eigner trüber Erfahrung den schleppenden Verlauf der Dinge in Berlin und, da die eigentlich bestimmenden Persönlichkeiten größtentheils dieselben geblieben waren, zweifelsohne jetzt auch noch in Breslau zu gut, um die Verwirklichung und Durchführung des einmal in die Hand genommenen Werks den widerstreitenden und schwächlichen Einflüssen dort überlassen zu sollen. Eine vollendete, durch nichts mehr zu ändernde, zu beseitigende Thatsache mußte die Errichtung der Landwehr vor jene Männer hintreten, um deren endlicher Zustimmung und der Uebertragung derselben Einrichtung auch auf die anderen Provinzen des Staats gewiß sein zu dürfen.

Stein, der den Volkskrieg entzünden wollte, und Clausewitz, der die erhöhte militärische Brauchbarkeit der neuen Volkstruppen hierbei zunächst in’s Auge faßte, trafen außerdem auch noch in einem andern wichtigen Punkt zusammen. Beide hatten 1812 die russische Landwehr und deren geringe Wirksamkeit zu beobachten Gelegenheit gehabt, der Scharfblick dieser hellsehenden Geister aber begriff zu schnell und sicher, als daß ihnen die ängstlich genaue Einfügung dieser Landwehren in das stehende Linienheer als die Ursache der auffälligen Schwäche derselben hätte verborgen bleiben sollen. Der vom Pfluge weggerissene Bauer wird immer neben dem altgeschulten Soldaten nur eine traurige Rolle zu spielen vermögen, doch der zur Vertheidigung von Haus und Heerd, zum Schutze seines Vaterlandes ausgerufene freie Mann wird, was ihm an Uebung gegen den Berufssoldaten abgeht, durch verdoppelten Eifer, durch die ihn beseelenden geistigen Potenzen ersetzend, jenen sehr bald überbieten, oder sich ihm doch mindestens vollkommen ebenbürtig zur Seite stellen. Das war der große Grundgedanke, den Scharnhorst bei seinem ersten Landwehr-Entwurf schon, wenn auch nur dunkel, vorempfunden hatte und der bei der thatsächlichen Inslebenrufung der preußischen Landwehr nach der zusammentreffenden Idee der genannten Beiden nunmehr verwirklicht werden sollte.

Es geschah in diesem Sinne, wenn sich in Clausewitz’s Entwurf die Landwehr in allen Einzelnheiten auf die Gemeinde und den Kreis zurückgeführt und aus diesem entwickelt befand. Die Züge, Compagnien und Bataillone derselben sollten sich möglichst immer aus den Mannschaften der gleichen Orte, Gemeinden und Kreise zusammengesetzt finden. Eben diese Letzteren trugen die Kosten der ersten Ausrüstung ihrer Landwehrleute, wie denn auch der Unterhalt derselben bis zu deren Ausmarsch in’s Feld ihnen zur Last fiel. Wer durch körperliche Gebrechen oder sonstige Umstände sich von der Theilnahme am Landwehrdienst befreit fand, sollte nach seiner Vermögenslage zur Aufbringung der zu dem Rüstungswerk nöthigen Gelder um desto höher besteuert werden. Pflichtig für den Dienst der Landwehr war die ganze nicht schon dem stehenden Heere oder dessen Reserve angehörige wehrbare Mannschaft vom 20. bis 40. Jahre; bei der nur aufzubringenden genau normirten Zahl entschied indeß über die eigentliche Einstellung das Loos, wofern die Quote der von den einzelnen Orten aufzubringenden Landwehrleute nicht auch ohnehin schon durch freiwillige Gestellung aufgebracht werden konnte. Die Officierstellen endlich wurden bis zum Major aufwärts durch Wahl der eigenen Mannschaft besetzt, nur die Ernennungen für die höheren Stellungen blieben der Entscheidung des Königs vorbehalten. Der thatsächliche Begriff war hier der speciellen Bezeichnung lange vorausgeeilt. Dieser Entwurf enthielt genau das, was wir heute unter dem Namen der Volkswehr erstreben.

Dohna hatte im Großen und Ganzen diese Grundsätze auch in seine der Versammlung unterbreitete Landwehrvorlage aufgenommen. [56] Einstimmig erfolgte die Annahme derselben. Die Tage bis zum 9. Februar, dem Schluß dieser denkwürdigen Sitzung, beschäftigte man sich nur noch mit den Anordnungen zur schleunigen Ausführug der gefaßten Beschlüsse. Eine eigene in Permanenz verbleibende Landwehr-Commission ward eingesetzt, die nötigen Geschäfte in die Hand zu nehmen und so schnell als möglich zu Ende zu führen. Der Major Graf Dohna erhielt den Auftrag, nach Breslau zu reisen, um nachträglich für das Geschehene die Sanction des Königs einzuholen.

Große, herrliche, ruhmvolle Zeit! Jetzt war der Boden bereitet und der Moment zum Handeln für das Volk eingetreten. Der Volkskrieg, den Stein mit der Errichtung der Landwehr entzünden gewollt, er war da – geharnischt, gerüstet, wie einst die Minerva dem Haupte Jupiters entstiegen, hatte dieser große Gedanke mit seiner eignen Verwirlichung den Volks-, den heiligen Krieg fertig, abgeschlossen aus sich hervortreten lassen. Alles dachte, handelte, lebte nur für den Krieg. Wer zählt die hehren Beispiele von des Alterthums würdiger Vaterlandsliebe, welche, die Lohe der Begeisterung, immer weiter tragend, jeder Tag neu erzeugte? Von den Ständemitgliedern, welche, der alte Graf Dohna unter den Ersten, nach kaum beendeter Berathung eilten, die Ständeuniform mit dem einfachen Landwehrrock zu vertauschen, bis zu der Bettlerin von Lyck, die ihr einziges Hemde dem Vaterlande darbrachte; in Angerburg, wo, der Bürgermeister Mey voran, die ganze wehrhafte Bevölkerung des Orts mit jubelndem Ruf sich zur Landwehr stellte, und im Dorf Lorquitten, wo der Streit über die Ehre, zum Waffendienst zugezogen zu werden, fast zu blutigen Händeln geführt hätte; von den unbärtigen Knaben, die nicht abließen, zu bitten und zu betteln, in die Reihe der Vaterlandsvertheidiger aufgenommen zu werden, bis zu dem 75jährigen Invaliden Radzkowsky und dem 72jährigen Lieutenant Seitz, welche Beide, Allen später im Kampfe vorleuchtend, sich unter den Besten das eiserne Kreuz verdienten: überall derselbe hochherzige, vor keinem Opfer zurückschreckende Geist, überall das innigste, stolzbewußte Zusammenwirken zu dem einen, Allen gemeinsamen Zweck, der Befreiung des Vaterlandes.

Es gab kein Halten, kein Deuteln mehr, vor der Wucht dieser Thatsachen mußten alle Bedenken schwinden. Unterm 17. März ward endlich zu Breslau auch die Ordre zur Errichtung der Landwehr in den übrigen preußischen Provinzen ausgegeben.

Die bei der ostpreußischen Landwehr einmal fest normirten Grundsätze hatten unter der zwingenden Gewalt der Verhältnisse dabei fast unverändert in die Bestimmungen auch über diese Neubildung aufgenommen werden müssen, und die Resultate der Wehrbarmachung des Volks entsprachen vollkommen den von deren Urhebern dabei in’s Auge gefaßten Erwartungen. Die Geschichte der Landwehr in den Jahren 1813 bis 1815 ist von dem ersten bis zum letzten Blatt derselben eine Geschichte voll Ruhm und Sieg, voll freudiger Hingebung und glänzender Erfolge. Wenn neuerdings in tendenziöser Weise die Tage von Kulm, von Goldberg und Löwenberg als Beweise gegen die Kriegstüchtigkeit der Landwehr geltend gemacht worden sind, so waren es dort doch ausschließlich nur die weit überwiegend aus den der polnischen Nationalität angehörigen oberschlesischen Mannschaften zusammengesetzten schlesischen Landwehr-Regimenter, welche theilweise versagten, und wenigstens an dem erstgenannten Tage haben die neben denselben fechtenden alten Linien-Regimenter vor denselben keinen Vorzug bewiesen. Die den rein deutschen Provinzen des preußischen Staats angehörigen Landwehren sind wohl bei Rheims einmal vom Feinde überfallen, aber im ganzen Verlauf des Krieges von demselben nie besiegt, nie geschlagen worden.

Indeß es lag in der Natur der Verhältnisse begründet, daß mit dem Sieg selbst auch für die Landwehrverfassung ein Rückschlag eintreten mußte. Das preußische Volk war noch zu wenig politisch entwickelt, um die Gewähr, welche es in derselben für die künftige freie Gestaltung seines Staatslebens besaß, mit eifersüchtiger Sorge hüten zu sollen. Wo hätten in dem Lande, das, neben der freisinnigsten Wehrverfassung der Welt, noch keine regelmäßige Volksvertretung besaß, auch die Organe zum Schutz und zur Behauptung jener gefunden werden sollen? – In dem Grade, als die endliche Niederlage Napoleon’s sich immer unzweifelhafter herausstellte, traten auch die Anzeichen der wiedererstarkten Richtung gegen diese neue Schöpfung immer bestimmter hervor, und mit dem gegenwärtig so häufig angezogenen Gesetz vom 3. September 1814 ward der Landwehr durch den Wegfall der für die ursprüngliche Fassung dieses Instituts so wichtigen Anlehnung an die Gemeinden und Kreise, wie mit der thatsächlichen Beseitigung der freien Wahl der Führer bereits der bisherige Charakter einer Volkswehr entzogen und sie an dessen Statt in eine Reserve des stehenden Heeres umgewandelt. Im Gegensatz zu den sechs Wochen, welche Scharnhorst bei dem von ihm zur vorbereitenden Verstärkung der Armee von 1808 bis 1813 in Anwendung gesetzten Krümpersystem für die militärische Ausbildung der jungen Mannschaften ausreichend erachtet hatte, wurde jetzt die active Dienstzeit auf drei Jahre normirt; es galt eben vor Allem durch Eingewöhnung in eine nach dem alten Zuschnitt gemodelte Disciplin und Subordination das neue Volksheer ebenso unbedingt in die Hand der Regierung zu bringen, als dies mit dem früheren stehenden Werbeheere nur je der Fall gewesen war. Dennoch aber bleibt das erwähnte Gesetz unendlich wichtig für den gegenwärtigen Streit, sein Ursprung lag jener großen Zeit von 1813 doch noch zu nahe, als daß der in dieser wirksame freie Geist sich in demselben nicht hätte wiederspiegeln sollen. Nur den eigentlichen Schwerpunkt dieses Gesetzes gilt es genau zu erkennen und unverrückt festzuhalten, und dieser liegt in der Landwehr begründet. Die zweijährige Dienstzeit, in welcher sich der erwähnte Streit mehr und mehr zu concentriren droht, kann gegen die allseitige unbedingte Wichtigkeit jener jedenfalls nur eine in die zweite Reihe zurücktretende[WS 1] Bedeutung beanspruchen. Das, was die Landwehr war, was sie sein soll, dafür bleiben freilich die Normen in jener alten, einstigen Landwehr zu suchen; in dieser, in der glücklichen Zusammensetzung der preußischen Waffenmacht von 1813, sind unbedenklich die Keime nicht nur der Wehrverfassung der Zukunft für Preußen, sondern überhaupt der neuen, auf die freie Entwicklung der Volkskraft gerichteten Zeit enthalten.


Ueber die Feier des fünfzigjährigen Jubiläums der Landwehr sprechen die öffentlichen Organe in Preußen sich sehr verschieden aus. In allen äußert sich die bittere Stimmung des preußischen Volks über den Zwiespalt zwischen ihm und seiner Regierung, den die feudale Partei verursachte und nun benutzt, um sich als ein nach beiden Seiten giftiger Keil zwischen Thron und Land fest zu setzen. – Solcher Kundgebung gegenüber drangen viele Stimmen, besonders vom Rhein her, auf die Entsagung von jeder öffentlichen Feier. Andere, namentlich im Mansfelder Seekreise und in Berlin, erinnern an die vielen darbenden Veteranen des Befreiungskriegs, deren man in Berlin allein 652, mit Ehrenzeichen geschmückt, Noth und Elend in ihrer Erscheinung ausgeprägt, durch die Straßen wanken sehe, und begehren wenigstens für sie ein Fest. – Wieder Andere halten die Standarte der geschichtlichen Ehre und des geschichtlichen Rechts aufrecht, indem sie sagen: Das freiwillige Wort des Königs (als er am 22. Mai 1815 dem preußischen Staate eine Verfassung versprach) und die Hingabe des Volks sind der große Rechtstitel der preußischen Constitution. Die Landwehr und die Verfassung gehören in Preußen zusammen, und darum ist die Landwehrfeier des Volkes Ehrenpflicht. – Am entschiedensten traten die Patrioten des Hagener Kreises auf. Sie beschlossen mit Einstimmigkeit die Feier des Tages, und zwar am 5. Februar, dem Tage des Aufrufs der Freiwilligen. Wie die Bewegung des Jahres 1813 vom Volke ausgegangen sei, sei es auch jetzt eine Ehrensache des Volkes, die Feier selbstständig und aus eigenem Antrieb in die Hand zu nehmen, – und wie man damals einmüthig aufgestanden sei gegen den äußern Feind, so solle man jetzt den innern Feind in geschlossener Phalanx bekämpfen, den wahren Feind Preußens, die feudale Partei: so erhebe sich das Fest zu einer Demonstration des ganzen Preußenvolks für sein Abgeordnetenhaus, das dadurch einen neuen Halt gewinne, um unbeirrt in der betretenen Bahn fortzuschreiten. – Und während in solcher Stimmung und mit solchen für das Landwehrwesen kampfbereiten Entschlüssen das Volk seinem Feste entgegengeht, ja während der König selbst für die Feier jener großen Zeit seine Anordnungen gebietet, hat die Gegenpartei, wenn die Zeitungsnachrichten nicht trügen, zum Vernichtungsschlag gegen das ganze Landwehrsystem ausgeholt durch die fast siegesgewiß verkündete Einführung der Stellvertretung im preußischen Heere. Damit wäre der Abfall von der alten Wehrverfassung – und wohl nicht von dieser allein – besiegelt!

[57]
Aus dem Norden.
Von Brehm.
VI. Lemminge.


Alte norwegische Schriftsteller berichten von einem räthselhaften Thiere ihrer Heimath, welches zuweilen in ungeheuren Massen vom Himmel herabgeregnet wird und dann die ohnehin armen Gebirge vollends kahl frißt. Olaus Magnus, der bekannte Bischof von Upsala, erzählt, daß er im Jahre 1518 durch einen Wald geritten wäre, welcher von Hermelins dicht bevölkert gewesen sei, so daß er den alle Marder kennzeichnenden Gestank schon von ferne gerochen habe. Sie wären kleiner, vierfüßiger Thiere wegen gekommen, welche zuweilen bei plötzlichem Wind und Wetter vom Himmel fielen, man wisse nicht, ob von fernen Inseln hergetrieben oder in den Wolken erzeugt. „Sie treten,“ fährt er fort, „wie Heuschrecken in ungeheuren Schaaren auf, zerstören alles Grün, und was sie einmal angebissen haben, stirbt ab, wie vergiftet. So lange sie frischgewachsenes Gras zu fressen haben, leben sie in Frieden; wenn dies aber zu mangeln beginnt, sammeln sie sich, wie die Schwalben, und eilen davon, oder sie sterben und verpesten die Luft mit ihren Gestank. Die Menschen bekommen davon Schwindel oder die Gelbsucht. Glücklicherweise sind die Hermelins eifrig bedacht, diese verderblichen Geschöpfe zu vernichten: sie mästen sich förmlich mit ihnen.“

Olaus Wormius bemüht sich im Jahr 1633 mit dem Beweise, daß Thiere wirklich im Wolken entstehen und herunterfallen können. Er giebt auch an, daß man vergeblich versucht hat, die Lemminge durch Beschwörung zu vertreiben. So fabelt Einer es dem Andern nach, und erst Linné beschreibt im Jahre 1740 die Lemminge naturgemäß. Aber noch heutigen Tages ist die vortreffliche Schilderung jenes großen Skandinaviers seinen Landsleuten unbekannt, und die Bauern Hochnorwegens glauben, wie die Lappen, noch immer steif und fest Dasselbe, wie der alte Bischof. Vom Himmel regnen die Lemminge herab zum Verderben der Menschen oder zur Strafe für begangene Sünden – welche letztere auch die einfachen Bauern Norwegens bündelweise auf sich laden.

Zu meiner großen Freude – und obgleich ich eben keinen außergewöhnlichen Sündenjammer verspürte – stellten sich mir die Lemminge auf dem Dovrefjeld persönlich vor, und ich bekam somit Gelegenheit, sie und ihr Leben kennen zu lernen. 1860 war gerade ein Lemmingjahr. Man begegnete in der Höhe den schmucken, behenden und muthigen Geschöpfen überall, wohin man auch blickte: unter allen Moosbüscheln und Steinen quiekte und grunzte es, über die einzelnen Schneewälder hinweg liefen sie schaarenweise; auf den Straßen fand man täglich Dutzende von ihnen getödtet, gewöhnlich durch die Hufe der Pferde oder durch die Räder der Wagen, welche sie überfahren hatten. Ich ging ihnen, selbstverständlich, mit viel Lust und Liebe nach, fing von ihnen einen um den andern, um ihn zu mir in das Zimmer zu nehmen, und bemühte mich nach Kräften, sie kennen zu lernen, erfuhr aber doch nicht viel mehr, als der alte Linné uns bereits gegeben hat.

Alle höheren Gebirge Skandinaviens, auch die Berge auf den benachbarten Inseln, und hoch oben im Norden die Tundra sind die Heimath der Lemminge. In einem Höhengürtel zwischen zwei- und viertausend Fuß über dem Meer, d. h. zwischen der Grenze der Fichtenwälder und der des ewigen Schnees, fand ich sie am häufigsten; nur einige waren auch bis in die Thäler herabgekommen. Im Gebirge bildete jeder Grasbusch, jeder Stein, jede Höhlung im Moose einen passenden Aufenthalt für sie. Sie kamen selbst bis ganz nahe an die Häuser heran, und die Katzen der Posthalterstelle Fogstuen nährten sich während der Zeit meines Aufenthalts ausschließlich von Lemmingen, weil dieses Wild ihnen die wenigste Mühe verursachte.

Die Lemminge sind ganz allerliebste Kerls. Sie sehen aus wie kleine Murmelthiere oder wie Hamster und ähneln namentlich den letzteren auch vielfach in ihrem Wesen, erreichen aber kaum die halbe Größe von diesen bissigen und ungemüthlichen Spitzbuben unserer Fruchtebenen. Ihre gesammte Länge beträgt 6 Zoll; der Schwanz ist ein nur ¾ Zoll langer Stummel. Das Männchen ist etwas größer als das Weibchen, sonst aber nicht von ihm unterschieden. Ein reicher und langer Pelz von höchst ansprechender Zeichnung deckt ihren Leib. Seine Grundfärbung ist ein lebendiges Braungelb; von ihm heben sich ziemlich unregelmäßig dunkle Flecken ab, nur der Schwanz und die Pfoten sind fast immer gelb, und von den Augen aus laufen regelmäßig zwei gelbe Streifen nach dem Hinterkopf. Die Unterseite ist immer gleichmäßig sandfarbig gelb.

Gewöhnlich hört man den Lemming viel eher, als man ihn zu sehen bekommt. Der ruhig seines Weges dahingehende Wanderer wird manchmal förmlich erschreckt durch ein unwilliges Knurren und Pfauchen. Zehn, fünfzehn, zwanzig Schritte von ihm sitzt ein Lemming in irgend einer keinen Höhlung, unter einem Stein oder unter einem Moosbüschel und wahrt schreiend sein Heimathsrecht. Wenn der kleine Narr geflüchtet wäre, würde man ihn gar nicht bemerkt haben; er aber will gar nicht flüchten, sondern versucht alles Mögliche, um zu beweisen, daß er hier eigentlich der einzige Herr und Gebieter sei. Gutwillig verläßt er überhaupt seinen Platz nicht; er hat ein muthiges Herz und läßt sich nicht bange machen. Mit Quieken und Grunzen, nach Meerschweinchenart, wartet er ruhig ab, was geschehen wird. Nur wenn er gerade unterwegs ist, flüchtet er; aus seiner Höhle weicht er nicht. Wenn man auf ihn zugeht, nimmt er augenblicklich die Kampfstellung an. Er springt aus seiner Höhle hervor, quiekt, grunzt, richtet sich auf, biegt den Kopf zurück, so daß er fast auf den Nacken zu liegen kommt, und schaut nun mit seinen kleinen Augen so ingrimmig auf den Riesen vor ihm, daß dieser Riese wirklich unschlüssig wird, ob er sich mit dem Zwerg einlassen soll. Hält man ihm den Stiefel vor, so beißt er in denselben; er beißt in den Stock oder in den Gewehrlauf, auch wenn er merkt, daß hier Nichts auszurichten ist; er springt an die Beinkleider und beißt sich hier so fest ein, daß man ihn kaum abschütteln kann. Der Kampf vermehrt nur seine Tollkühnheit; er kommt zuletzt in förmliche Wuth, vergißt Alles um sich her und wird zum treuen Spiegelbild des bösartigen Hamsters. Geht man recht rasch auf ihn zu, während er unterwegs ist, so dreht er sich um und geht nun rückwärts, aber nur äußerst langsam, nach einem ihm passend erscheinenden Schlupfwinkel hin. Hier stellt er sich und nimmt nun gern und freudig den Kampf auf. So treibt er es mit dem Menschen; nicht anders mit großen Säugethieren oder Vögeln. Eine Kuh auf dem Dovre kam wüthend in den Hof gestürzt, kein Mensch wußte warum; ich sah ihr nach dem Bein; dort hing ein Lemming, der sich eingebissen hatte. Die kleinen Ponies des Gebirges, äußerst gutmüthige Thiere, geraten, wenn sie den Lemming sehen, in Wuth, gehen auf ihn zu und schlagen ihn mit den Vorderhufen zusammen. Die Hunde lassen den Raufbold gewöhnlich ganz in Frieden, und nur die Katze, das Wiesel, der Vielfraß, der Fuchs, der Wolf, die kurzöhrige und noch mehr die Schneeeule, der Bussard und der Rabe machen sich nichts aus allem Toben und Zanken, sondern rücken dem wehrhaften Burschen ohne Umstände auf den Leib, beißen ihn todt und verzehren ihn mit großem Behagen.

Einmal habe ich einen lustigen Kampf mit angesehen. Ich beobachtete schon längere Zeit eine Nebelkrähe, welche mehrere Male hinter einem Felsen niederstieß, aber immer und immer wieder zurückkam, sich auf den Block setzte und dort den Schnabel putzte. Nach einiger Ruhe schaute sie in die Tiefe nieder, stiebte ab und kam von Neuem zurück. So ging es mehrere Minuten lang fort. Ich wußte sofort, daß es sich hier um einen Lemming handle, welcher nicht gesonnen war, einen Braten für den Raben abzugeben. Aber die Krähe mußte hungrig sein, und der Hunger feuert bekanntlich den Muth zum Handeln an. Sie entschloß sich kurz, flog herab, und richtig, da guckte der Kopf des erbosten Thieres unter einem Moosbusche hervor. Vorsichtig näherte sich die Krähe, mehrmals sprang sie hoch auf, flüchtend vor dem Nager, welcher wie ein Pfeil hervorkam, in der Absicht, der großen Feindin einen tüchtigen Biß zu versetzen. Ebenso schnell, als er gekommen war, hatte er sich wieder in seine Höhle zurückgezogen, und von Neuem näherte sich die Krähe, von Neuem wurde sie vertrieben. Doch die Raben sind ein kluges Volk; sie machen gute Pläne und wissen dieselben geschickt auszuführen. Bisher hatte die Krähe den Lemming von vorn angegriffen, jetzt fing sie es gescheidter an: sie wackelte auf den Hügel hinauf, schaute von oben herab, führte einen Hieb und kehrte blitzschnell zurück. Drei ober vier Mal wiederholte sie diese Angriffsweise; – da sprang kein Lemming mehr aus der [58] Höhle; der arme Schelm hatte einen Hieb auf den Kopf bekommen und war betäubt worden. Jetzt nun hatte seine Feindin leichtes Spiel. Sie lief ruhig hinzu und tödtete ihn vollends mit Schnabelhieben. Dann verzehrte sie ihn auf der Stelle.

Der Kolkrabe macht weniger Umstände, er tödtet den Lemming mit einem einzigen Hiebe, und die eigentlichen Raubvögel kümmern sich nun vollends um Zorn und Anstrengungen des Nagers nicht, sie packen ihn mit den gewaltigen Klauen und drücken ihm in kürzester Frist die Seele aus. Es ist eine im ganzen Norden allgemein bekannte Thatsache, daß die Schneeeule, welche sich fast ausschließlich von Lemmingen nährt, nur da gefunden wird, wo Lemminge häufig sind; ja man sagt, daß sie ihrem Wild auf den weiter unten zu schildernden Wanderungen unablässig nachfolge. Daß der arme Lemming auch dem Fuchs und dem Wolf keinen Widerstand zu leisten vermag, glaubt jeder meiner Leser, welcher von unserem Haushund einen viel gefährlicheren Hamster zu Tode schütteln sah. Wolf und Fuchs füllen sich die ewig leeren Bäuche, wenn sie nichts Besseres finden, regelmäßig mit Lemmingen an. Sie stürzen auf die Thiere los, fassen sie mit geschicktem Biß und werfen sie nach einer Minute, mit zertrümmertem Rückgrat todt auf die Erde. Nur der Fuchs schält das Wildpret aus seiner Haut; der Wolf verzehrt es mit Stumpf und Stiel. Auch der Vielfraß wird bald fertig; er gebraucht nicht seinen Mund, sondern giebt dem von ihm erkorenen Lemming mit seiner langkralligen Tatze eine einzige Ohrfeige und – den Tod. Hermelin und Wiesel müssen sich etwas mehr zusammennehmen; namentlich dem letzteren ist der Nager ein fast ebenbürtiger Kämpe. Bei ihren Kämpfen aber siegt Gewandtheit und List über den plumpen Muth.

Während des Winters treibt der Lemming unter dem Schnee sein Wesen. Er legt sich hier nicht nur lange, weitverzweigte Gänge an, sondern er baut sich auch, wie ich zufällig entdeckte, recht hübsche, weiche, warme Nester mitten in den Schnee. Kein einziger der früheren Reisenden, welche über den Lemming sprachen, erwähnt, soweit mir bekannt, dieser köstlichen Winterwohnung, wahrscheinlich, weil ihnen der Zufall nicht eben so günstig war, als mir. Bei der Schneeschmelze nämlich sah ich an einzelnen Orten große, aus feinen Grashalmen und Moos zusammengetragene, dickwandige Nester mit einem einzigen Eingangsloch, in Gestalt und Größe an das Nest unseres Zaunkönigs erinnernd. Sie standen auf dem Schnee, hier und da nach Art der Gletschertische, d. h. auf einem Fuße aus Schnee, während rings um sie herum die Sonne bereits die Macht ihrer Strahlen bethätigt hatte. Mein alter Erik wußte nicht, welches Thier sie angefertigt haben mochte, aber es unterlag gar keinem Zweifel, daß sie nur eben von Lemmingen herrühren konnten; denn als ich später einem nachgrub, welcher vor meinen Augen in einer Schneehöhle verschwand, fand ich, daß dieser Gang bis zu einem solchen fußhoch über der Erde im Schnee stehenden und ebenso hoch auch mit Schnee überdeckten Neste führte, in welchem der von mir Verfolgte richtig saß. Diese Wohnungen mögen recht behaglich und gemüthlich sein. Schon der Schnee wärmt, aber das ist dem Burschen noch nicht genug: er muß sich in der warmen Schneemauer ein weiches, noch wärmeres Bettchen einrichten. Für die Jungen baut sich das Weibchen im Sommer ein ähnliches Nest, gewöhnlich unter Moosbüschel. Erik beschrieb es mir – ich selbst fand es nicht – und dieser vortreffliche Naturbeobachter erzählte mir auch, daß das Nest fünf bis sechs Junge beherberge, welche von der Alten zärtlich geliebt und, wie zu erwarten, höchst muthvoll vertheidigt würden. Mehr erfuhr ich nicht über die Fortpflanzung.

Alpenpflanzen der verschiedensten Art, von der Wurzel bis zur Spitze, bilden die Nahrung des Lemming. Wenn es nichts Besseres giebt, nimmt er auch mit Flechten und Moosblättern vorlieb. Nur auf den lappländischen Inseln kommt er dem Menschen in’s Gehege, indem er sich hier und da in einem Kartoffelfeld ansiedelt. Dann findet er, daß die Knollen dieser Frucht eine rechte gute Speise sind, und läßt alles Uebrige bei Seite. Doch das sind Ausnahmen, welche nicht alle Tage vorkommen, und deshalb braucht man den Lemming nicht unter die schädlichen Thiere zu rechnen. Bei uns zu Lande würde er wohl schädlich werden, in Skandinavien aber, wo Hunderte von Geviertmeilen gleichsam nur für ihn bestimmt sind, kommen die wenigen Vergehen gegen das Eigenthum des Menschen nicht in Betracht.

Nach diesen von mir gemachten Beobachtungen wurde ich nun um so begieriger, den Lemming vollends kennen zu lernen, d. h. über seine berühmten Wanderungen etwas zu erfahren. Allein ich habe mich vergeblich bemüht, hierüber Kunde zu erhalten. Kein Skandinavier wußte mir von den Wanderungen zu erzählen, welche der alte Linné so anziehend beschreibt. Allerdings sagte man, daß Lemminge plötzlich an gewissen Orten in Massen erschienen, daß sie manchmal Inseln überschwemmten; allein von einem geregelten Zuge, in welchem diese Thiere angezogen kämen, wollte man nichts gesehen haben. In der Tundra z. B. sah ich nirgends einen Lemming, wohl aber die Losung des Thieres in solcher Menge, daß man buchstäblich keinen Schritt thun konnte, ohne auf ihr herumzutreten. Zwischen allen Büschen und allen Blöcken war sie förmlich aufgespeichert. Die Lemminge mußten also hier in noch weit größerer Menge aufgetreten sein, als ich sie auf dem Dovrefjeld fand, und gleichwohl war nicht ein einziger mehr zu sehen.

Wo kamen sie also hin? Verdarben sie, oder waren sie ausgewandert? Nun sollte man aber doch meinen, daß die Bewohner eines Landes wenigstens Etwas von jenen Wanderungen vernommen haben müßten. Irgend ein Jäger, irgend ein Hirt, irgend ein Lappe, Leute, welche mehr als ihr halbes Leben auf den Bergen und in der Tundra zubringen, müssen doch wahrhaftig etwas so Auffallendes beobachtet haben! Ein neuer Reisender giebt, wie ich gehört habe, eine sehr lebendige Schilderung von den Lemmingszügen und versichert, daß die ganze Masse aussähe, wie ein wogendes Meer: – ob der Mann wohl Lemminge hat wandern sehen? Selbst aus dem ausführlichsten Bericht, welchen wir haben, aus dem unseres Linné, scheint hervorzugehen, daß der große Naturforscher die Lemminge auch nicht mit eigenen Augen bei ihrer Wanderschaft beobachtet, sondern nur das Gehörte wiedererzählt hat. Ich will seine Beschreibung hier folgen lassen für diejenigen meiner Leser, denen die Werke unseres Altmeisters nicht zugänglich sind.

„Das Allermerkwürdigste bei diesen Thieren ist ihre Wanderung. Denn zu gewissen Zeiten, gewöhnlich binnen zehn und zwanzig Jahren, ziehen sie in solcher Menge fort, daß man darüber staunen muß, bei Tausenden hintereinander, so daß ihr Pfad ein paar Finger tief und einen halben breit ist. Einige Ellen davon laufen andere Pfade, alle schnurgerade. Unterwegs fressen sie das Gras und die hervorragenden Wurzeln auf. Wie man sagt, werfen sie unterwegs und tragen dann ein Junges im Maul, das andere auf dem Rücken fort. Auf unserer Seite gingen sie vom Gebirge herab nach dem botnischen Meerbusen. Sie kommen aber selten so weit, sondern werden zerstreut und gehen unterwegs zu Grunde. Kommt ihnen ein Mensch in den Strich, so weichen sie nicht, suchen ihm zwischen den Beinen durchzukommen oder setzen sich auf die Hinterfüße und beißen ihm in den Stock, wenn er ihnen denselben vorhält. Um einen Heuschober gehen sie nicht herum, sondern graben und fressen sich durch, um einen großen Stein beschreiben sie einen Halbkreis und gehen dann wieder in gerader Linie fort. Sie schwimmen über die größten Teiche, und kommen sie an einen Nachen, so springen sie in denselben hinein und werfen sich auf der andern Seite wieder in’s Wasser. Vor einem brausenden Strom scheuen sie nicht, sondern stürzen sich hinein und sollten dabei auch Alle ihr Leben zusetzen.“

Diese Angabe scheint mir das Thema aller späteren Berichte zu sein, d. h. es will mir fast dünken, als hätten die späteren Reisenden nur Variationen dieses Themas gegeben. Es ist wohl keinem Zweifel unterworfen, daß die Lemminge von einem Orte zum andern gehen. Das sind aber keine geregelten Heerzüge, keine Wanderungen, wie Linné sie beschreibt. Doch wäre es ja recht gut möglich, daß ich zufällig weder eine dieser Wanderungen gesehen, noch Leute gefragt hätten welche davon zu berichten wissen, und deshalb eben habe ich mir erlaubt, meinen Lesern ein Viertelstündchen ihrer Zeit wegzunehmen. Die Gartenlaube fand ich ja auch in Skandinavien, ich fand sie in Lappland; sie kommt so vielen Reisenden, welche die herrliche Halbinsel durchwandern, in die Hände. Sie wird deshalb auch am besten eine Bitte verbreiten:

„Ich ersuche alle Forscher und bitte alle Leser dieses Blattes, welche durch eigene Anschauung oder durch untrüglich sichere Gewährsmänner Etwas über die Wanderungen der Lemminge im Einklange der Linné’schen Beschreibung vernommen haben, mir ihre Beobachtungen freundlichst mittheilen zu wollen, oder solche in der Gartenlaube veröffentlichen zu lassen.“

[59]
Zu Seume’s hundertjährigem Geburtstage, 29. Januar 1863.
Von Ludwig Storch.


Das Würmlein Schamir.
Talmudische Legende.

Oben in der offenen Säulenhalle seines prächtigen Palastes sitzt der junge stolze König Schlomo[1], der Sohn David’s, der Erbauer des Jehovahtempels, zu Thron, umgeben von Leviten, Kriegern, Schreibern und Knechten, und das Volk, das unten steht und geht vor dem Königshause, sieht ihn sitzen im Glanze seiner Majestät und verneigt sich vor ihm in Ehrfurcht und begrüßt ihn mit lautem Jubelrufe. Denn das Volk verehrt und liebt den König, den Sohn des geliebten Königs aus dem Volke, und nennt ihn den Gerechten und den Weisen, und es befolgt willig seine Befehle und ist gehorsam seinen Gesetzen. Jedermann wußte, wie er im Streite zweier Frauen um ein Kind die Mutter durch weisen Spruch erkannt, und sein Urtheil war berühmt in allen Reichen. Sein eignes Reich aber blühte unter seiner Herrschaft, und er ward groß und mächtig.

So wie ein Spruch aus seinem Munde hervorging, verkündeten ihn die Priester und Hauptleute dem unten harrenden Volke, die Schreiber schrieben ihn auf, und die Boten und Knechte trugen ihn weit in das Land hinaus bis an dessen Grenzen. Und alles Volk war treu und fest in der Liebe zum König, selbst wenn seine Befehle nicht immer Wohlthaten waren.

So vergingen die Jahre, und der weise Schlomo ward alt und thöricht und fiel ab von Jehovah durch das Schmeichelwort buhlerischer Frauen und diente fremden Götzen. Fremde Priester verkündeten nun seine Sprüche. Und das Volk nimmt sie hin und gehorcht ihnen wie vormals, wenn auch nicht mehr mit Jubel und Begeisterung. Und es ehrt immer noch die Boten Schlomo’s und sein Königswort aus ihrem Munde. Denn der es gesprochen, ist sein Herr und König, und wenn er thörichte Befehle ertheilt, so befolgt sie das Volk dennoch ohne Murren, um seiner großen Vergangenheit willen, und nennt ihn nach wie vor den weisen Schlomo. Und wenn der greise König Recht sprechend in der offnen Halle sitzt, gestützt auf den Stab der Herrschaft und Macht, begrüßt es ihn ehrfurchtsvoll wie vordem.

Und er saß oben auf seinem goldnen Throne, umgeben von Priestern und Hauptleuten, als unvermerkt der Engel des Todes zu ihm trat und ihn berührte auf Jehovah’s Befehl. Die Königschen standen vor einer Leiche, die da saß wie ein Lebender, gestützt auf den festen Stab. Und sie wurden schnell eins untereinander, daß es kein Mensch weiter erfahren solle im ganzen Lande, daß der König todt sei. Und nach wie vor verkündeten die Priester des Königs Sprüche dem Volke, die Schreiber schrieben sie, und die Boten der Hauptleute trugen sie in’s Land, und Niemand wußte, daß sie erlogen waren von den Priestern, Schreibern und Hauptleuten. Zwar murrt das Volk den ungerechten Sprüchen, die nur den Priestern, Schreibern, Hauptleuten und Knechten des König zu gut kommen, aber es gehorcht ihnen, denn es sieht den König sitzen in seiner Halle und meint, die Sprüche kommen von ihm. Aber Tag für Tag wird die Tyrannei der übermüthigen Priester, Schreiber und Hauptleute und der Knechte des Königs ärger und schamloser. Sie vollführen zu ihrem Vortheil, was noch kein König zu thun gewagt, Alles im Namen des weisen und gerechten Schlomo. Und immer höher steigt des Landes Noth und Drangsal, und immer stärker murrt das Volk, aber es wird von den Priestern verdammt und von den Knechten gestraft, und es sieht den König sitzen und gehorcht ihm.

Die Engel Jehovah’s melden dem Herrn des Himmels und der Erde das verruchte Spiel der Priester, Schreiber, Hauptleute und Knechte des längst verstorbenen Königs, und Herr Zebaoth spricht in seinem Zorne: „Nicht lange mehr sollen diese Buben also schalten und walten und alles Volk belügen und betrügen. So lange es die Leiche auf dem Throne sitzen sieht, gehorcht es den Sprüchen zu seinem Verderben, und die Leiche wird sitzen, so lange der Stab sie stützt, der Stab der Macht und Herrschaft aber ist von festem Holz. Wir müssen die Stütze der Lüge entfernen.“

Und der Herr des Himmels und der Erde that nach seiner Weisheit. Er sandte nicht den Engel des Himmels, daß er den Stab mit dem Blitz verbrenne; er sandte auch nicht den Löwen der Wüste, daß er den Stab mit seiner Branke zerbreche; er sandte auch nicht den Adler der Lüfte, daß er den Stab mit seinem Schnabel zermalme; er sandte vielmehr das Würmlein Schamir, daß es den Stab allmählich und unvermerkt zerfresse. Das Würmlein war so klein, daß es Niemand sah in der Königshalle. Und es bohrte sich in den Stab der Gewalt und fraß still und unbemerkt weiter und weiter und zernagte das Holz und dessen Kern nach allen Seiten und nur die Schale des Stabs ließ es unberührt. Und nichts vermochte dem unscheinbaren Würmchen zu widerstehen, nicht das Holz, nicht der Kern, so fest sie waren. So ward der Stab endlich selbst zu Trug und Schein gleich dem Königsbilde, dieses dem Volke, jener den Betrügern.

Nun blies eines Tags ein Sturmwind in die Halle und zerbrach ohne Mühe den morschen Stecken, und die Leiche stürzte plötzlich mit ihm zusammen und ward ein Häuflein Staub und Moder.

Und alles Volk sah, wie es von den Königschen belogen und betrogen worden war, aber es verzieh den mit ihrem Raube fliehenden Priestern, Schreibern, Hauptleuten und Knechten und ging nicht mit ihnen zu Gericht, sondern huldigte vielmehr dem neuen jungen Könige.


Diese jüdische Legende ist von weltgeschichtlicher Bedeutung, und weil sie ein Bild des Menschengeistes in seiner fortschrittlchen Beziehung zur staatlichen Entwicklung ist, so trägt sie vorzugsweise deutsche Züge. Sie ist ein treffliches Bild unsrer eignen Zustände.

Der junge, weise und gerechte König ist die Herrlichkeit des deutschen Kaiserthums in seiner Blüthe, der greise, thörichte König ist das deutsche Kaiserthum in seinem Verfall; der todte, scheinlebende König ist das Gespenst der mittelalterlichen Kaisermacht, das von Pfaffen, Schreiben und Junkern für die lebende, gewaltige Kaisermacht ausgegeben wird, in deren Namen sie das Volk zu ihren eignen Zwecken beherrschen und bedrücken. Der Stab der Macht und Herrschaft hält den lügnerischen Moder zusammen; der Stab stützt und hält die Lüge aufrecht. Gott schickt nicht den Engel, nicht den Löwen, nicht den Adler, um den Stab zu entfernen; er schickt das winzige Würmlein, das man kaum mit bloßen Augen zu gewahren vermag, geschweige daß man ihm seine unwiderstehliche Kraft ansähe, mit welcher es langsam, aber sicher die Stütze des Moders vernichtet. Nicht der große Gelehrte, nicht der große Dichter, nicht der große Forscher und Denker sind berufen, dem Volke, den großen Massen der deutschen Lande, die faulende Lüge unsrer öffentlichen Zustände aufzudecken und zu entfernen, sondern der einfache schlichte Mann des gesunden Menschenverstandes, der in unscheinbarer Gestalt auftritt, aber ehrlich und unermüdet die Wahrheit sagt und ohne Scheu fort und fort sagt; mit einem Worte: der einfache Mann des Rechts und der Wahrheit ist es, den Gott berufen hat, die Stütze der Lüge zu vernichten. Ein einfacher, grundehrlicher, gesinnungstreuer Mann, der ruhig, aber fest seine redliche Ueberzeugung, die aufgefundne schlichte Wahrheit ohne Furcht und Scheu mit dem Zusatze ausspricht: „Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir!“ ein solcher Mann ist bestimmt, daß in seinem Munde die Wahrheit zur unwiderstehlichen Waffe werde. Sie bohrt und schrotet unermüdet und unbemerkt den Stab der Lüge entzwei. Der schlichte ehrliche Menschenverstand hat einen nicht genug zu preisenden Segen in sich: er macht die Wahrheit allen Menschen zugänglich; er überzeugt Jeden, der nicht durch Dummheit oder Selbstsucht die Geistesaugen verschließt, und fordert von selbst zur Nachfolge und zur That auf. Die schlichte Wahrheit des gesunden Menschenverstandes rastet und feiert nicht in ihrer stillen, unscheinbaren, gewaltigen, unwiderstehlichen Thätigkeit, bis sie das alte Wort der Verheißung wahr gemacht: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntniß der Wahrheit kommen.

Nicht der Engel ist’s, nicht der Löwe und nicht der Adler, es ist das Würmlein Schamir, das die Leiche des Mittelalters, von Pfaffen, Schreibern und Junkern zu ihrer selbstischen Lüge mißbraucht, umzuwerfen bestimmt ist.


[60] Der aufmerksame Leser weiß nun schon, wie die sinnreiche talmudische Legende und der hundertjährige Geburtstag des ehrlichen, wackern Seume zusammen kommen. Ja, dieser schlichte Bauernsohn aus Posern, Johann Gottfried Seume, ist ein rechter Kernmensch und Typus für das schöne Gedicht aus dem Talmud. Wie könnte man sich denn die große Liebe und Anhänglichkeit erklären, welche das deutsche Volk diesem Dichter seit länger als sechszig Jahren gewidmet hat und voraussichtlich immer fort widmen wird, wenn dieser Mann nicht durch und durch ein echter und wahrer Repräsentant unsrer geistigen und gemüthlichen Volkseigenthümlichkeit wäre, wenn man nicht, sobald man sich einen Prototyp des deutschen Charakters und Wesens, des Deutschen an sich vorstellen will, unwillkürlich gezwungen wäre, sich an Seume zu erinnern? Es liegt ein ganz eigenthümlicher Zauber in den schlichten Worten, die er niedergeschrieben, der uns faßt und zu ihm hinreißt. Was hat er denn an sich, dieser schlichte Wandersmann, der einen großen Theil Europa’s am Knotenstocke mit gesundem Herzen und Auge durchpilgerte, dieser moderne Diogenes, der arm und anspruchslos, geehrt und geliebt, vom Throne bis zur Bauernhütte herab, mit festem Fuße und klarem Geiste, aber so frei von Selbstüberschätzung, wie von lumpiger Bescheidenheit, aus dem vorigen Jahrhundert in das unsrige herüberschreitet und allen Erscheinungen, die sich ihm darbieten, gerecht, ein leuchtendes Vorbild unsres Volkes in hochsinnigem Streben und Wirken geworden ist? War er denn etwa ein großer Gelehrter? Mit nichten. War er ein großer Dichter? Ebenfalls nicht. Ein großer Forscher und Denker? Auch das nicht. Und doch liebten ihn die großen Gelehrten, Dichter und Denker, die ihn persönlich kannten, eben so warm, wie der Bürger und Landmann, und noch heute, 52 Jahre nach seinem Tode, zählen Seume’s Verehrer in unserm Volke in allen Ständen und Lebensaltern nach Millionen. Was war’s endlich, das diesem Manne aus dem Volke eine so starke Folie gegeben, daß seine an und für sich fast unbedeutende Gestalt sich so plastisch und leuchtend hervorhebt vom dunkeln schmachvollen Hintergrunde seiner Zeit? Es ist die schlichte rechte Grundehrlichkeit und Redlichkeit des Deutschthums, die deutsche Treue und Rechtschaffenheit, das specifisch deutsche Charakterthum, das in ihm zur concreten Erscheinung gekommen ist; es ist der schlichte Menschenverstand, gepaart mit dem edlen Mannesmuth, der ohne Furcht und Scheu sagt, was er als Recht und Wahrheit erkennt, und sein Leben und Streben nach dieser Erkenntniß einrichtet.

Seume ist der echte deutsche Volksrepräsentant und nimmt seine Stelle im Ehrentempel der Nation auf der Seite ein, wo Martin Luther und Ulrich Hutten stehen. Jeder ehrliche Deutsche, der der widerwärtigen Pfaffen-, Schreiber- und Junkerwirthschaft herzlich satt ist und das Heil des ganzen Volks wie des Einzelnen allein in einer sittlichen Wiedergeburt des alten auf gutes Recht und lichte Wahrheit gegründeten Deutschthums in einer dem Fortschritt der Zeit in Bildung und Erkenntniß angemessenen Weise sieht, begrüßt den ehrlichen treuen, rast- und furchtlos die Wahrheit sagenden, von heißer Liebe für Natur, Menschen und Vaterland erfüllten Bauernsohn aus Posern als Lehrer, Meister und Vorbild, dem er nachzueifern habe, soll es endlich mit uns besser werden, dessen schlichte und rechte Aussprüche er sich anzueignen und in Saft und Blut, in Frucht und That umzuwandeln habe,

„damit das Gute wirke, wachse, fromme,
damit der Tag dem Edlen endlich komme.“

Wahrlich, es macht uns große Ehre und ist ein schlagender Beweis für den unverwüstlichen sittlichen Kern unseres Volksthums, daß Seume vom deutschen Volke so hoch geehrt, so warm geliebt wird, und wir lassen in diesem stillen Cultus nicht nur ihm, dem herrlichen deutschen Manne, wir lassen uns selbst Gerechtigkeit darin angedeihen. Denn wir würden ihn nicht so lieben und verehren, wenn wir nicht wüßten und gleichsam aus jeder Zeile, die er uns hinterlassen, heraus fühlten, daß er „Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein“ ist, daß sein Geist ein dem unsern verwandter Funke, seine Seele der unsrigen herzinnig verschwistert, daß die von ihm erkannte Wahrheit auch unsere heiligste Ueberzeugung ist. Sein Wesen ist mit allen Nerven und Fasern unserm Wesen verwachsen, wir auch sind ehrliche, treue, deutsche Männer, wie er war, wir auch lieben alle ehrlichen Deutschen, wie er sie liebte, wir auch glühen für des Vaterlands Einheit, Größe und sittliche Schöne, wie er geglüht.

Komm, ehrliche, brave, deutsche Jünglingschaft, die Du in Deinen Lieder- und Turnhallen treu beisammen stehst, und weide Auge und Herz an diesem herrlichen deutschen Manne Johann Gottried Seume! Vor allen ihr Jünglinge und Männer aus dem Volke, faßt die rauh und finster blickende, schier granitne Gestalt dieses braven Bauernsohns recht scharf in’s Auge, und bald werdet ihr entdecken, welch ein treues, warmes Herz für Recht und Pflicht, für Zucht und Sitte, für Tugend und Wahrheit, für Treue und Dankbarkeit in seiner Brust schlug, wie die hehrste und heiligste Liebe für das Wohl der Menschheit und vorzüglich des deutschen Vaterlandes, als ein lebendiger, heißer Springbrunnen, ein wahrer Gefühls-Geiser, aus seiner Seele hoch emporsprang und unzählige durstige Seelen tränkte, labte, stärkte und begeisterte!

Ja, der Geiser, meine jungen Freunde, ist ein wahres und treffendes Bild unseres verehrungswürdigen Seume; denn wie der große mächtige Springquell dieses Namens kochend heiß und gewaltig aus dem rauhen Felsenthale der eisig kalten Insel Island emporschießt, so brach aus Seume’s rauher, scheinbar kalter und unfreundlicher Gestalt der Strom der Menschen- und Vaterlandsliebe siedend heiß hervor. Und weil er so heiß liebte, so mußte er natürlich eben so heiß hassen. Wie die Größe des Vaterlandes sein glühender Wunsch, so war der Particularismus, der sich dieser Größe stets selbstisch entgegenstellt und sie unter allerlei Verlarvungen zu hindern sucht, der Gegenstand seines heißen Hasses. Und da waren denn das liebe Junkerthum, das nicht minder liebe Schreiberthum und das noch liebere Pfaffenthum die garstigen bösen Bollwerke, die, noch aus dem Mittelalter auf uns gekommen, und aus welchen fort und fort die Leiche des Königs Schlomo dem Volke als lebender Herrscher aufgezwungen wird, er mit allen Waffen des Geistes bekämpfte. Stets erkannte er das Uebel richtig und gab, wenn auch meist mit bittern Worten, der erkannten Wahrheit vor aller Welt die Ehre. Und wenn ihr die Zeit in’s Auge faßt, in welche das letzte und wichtigste Drittel seines Lebens fällt, wo er alle schönen Hoffnungen zu Grabe tragen mußte, die ihm aus dem Beginn der französischen Revolution so leuchtend aufgestiegen und von denen nichts übrig blieb als der Haß gegen den corsischen Soldaten, der als Eroberer den letzten Rest der Freiheit der überwundenen Völker höhnisch zu Boden trat, und die Verachtung der Deutschen, die schweifwedelnd vor dem übermüthigen Emporkömmling krochen, wenn ihr diese jämmerliche, armselige Zeit betrachtet, die allem Deutschthum den Garaus zu machen drohte, so wird euch der freimüthige, ehrliche, wahrheitsliebende Seume um so verehrungswürdiger erscheinen. Welch einen herrlichen Gegensatz bildet er doch zu der Menschenmisère in den deutschen Vaterländchen, vorzüglich zu dem schleppentragenden Pfaffen-, Schreiber,- und Junkerthum! Wie ein sittlicher Riese steht er unter verkommenen Pygmäen! Wie ein Fels erhebt er das Haupt aus dem Meere des widerwärtigen Franzosenthums, das die deutsche Erde überschwemmt hatte und in welchem so viele fürstliche und adelige Herren so behaglich badeten oder wateten!

Es ist für jedes echt deutsche Herz ein schmerzlicher Umstand, daß der edle Patriot Seume, wie sein genialerer Freund Schiller, die Erhebung des deutschen Volkes gegen den frechen Corsen und die glorreiche Besiegung desselben nicht mehr erlebte. Freilich ist ihm auch die bittere Täuschung erspart geblieben, die wir ältern Männer haben erdulden müssen und die sich so tief und schmerzlich in unser Herz eingefressen hat, die Täuschung, die wir von den Thronen des eigenen Vaterlandes erfuhren.

Seume hat uns ein Bruchstück seiner eigenen Lebensbeschreibung hinterlassen, das zu dem Werthvollsten gehört, was er geschrieben, und obgleich er darin nicht über die Jünglingsjahre hinausgekommen ist, so tritt doch sein Bild in herrlicher Frische daraus hervor. Leider wurde er durch seinen frühen Tod an der Vollendung dieses Werkes verhindert. Sein Freund, der Philosoph und Dichter Christian August Heinrich Clodius, Professor an der Universität in Leipzig, hat dann die Biographie mit schöner Pietät für den Verstorbenen vollendet. Seume’s Bild vervollständigt sich aus seinen übrigen Schriften, besonders aus dem „Spaziergang nach Syrakus“ und aus „Mein Sommer 1805“.

Solch eine grundehrliche, treuherzige deutsche Natur war Seume schon als Jüngling, daß er aus lauter Ehrlichkeit und Pflichtgefühl, das seine gewonnenen Ueberzeugungen nicht mehr mit der Dankbarkeit gegen seinen Wohlthäter zusammen reimen konnte,

[61]

Auf dem Spaziergang nach Syracus.

die Universität heimlich verließ, um sich in Paris eine Existenz auf eigene Faust zu gründen. Es ist bekannt, daß er auf dieser abenteuerlichen Fahrt in Bacha bei Eisenach unter hessische Werber gerieth, an die Engländer verkauft und nach Amerika geschleppt wurde, um gegen die Amerikaner und Franzosen zu fechten. Bald darauf mußte er auf gleiche Weise preußischer Soldat werden und später [62] war er aus eigenem Entschluß aus einem Leipziger Magister zum russischen Officier geworden. Doch kehrte er nach Leipzig und zum Cultus der Wissenschaften zurück.

Seume kann nicht mit den Schriftstellern und Dichtern unserer Tage verglichen werden. Für Geld war er gar nicht zu haben. Was er schrieb, war seine heiligste Ueberzeugnug, und wie er schrieb, so war er; wie er dachte, so handelte er. Er war ein ganz tüchtiger Mensch aus einem Gusse, und auf ihn paßt Hamlet’s Wort: „Das war ein Mann!“

Clodius sagt von ihm so schön als wahr. „Große Sorgfalt für sein Inneres, wenig für sein Aeußeres; ernstes Denken, ruhiges Erwägen und Tiefe des Gemüths; Mangel an Nachgiebigkeit und Reichthum an Nachsicht; Bewußtsein seines Werthes und Bescheidenheit eines gebildeten Menschen; Freundlichkeit und Liebe im Herzen, oft finster um Stirn und Auge; empfänglich für das Schöne und Erhabene; flammender Eifer für Gerechtigkeit und gesetzliche Freiheit; selbstständig ohne Furcht; bitter gegen schlechte Menschen aus Liebe zur Menschheit – so war Seume.“

So sauge Dich denn aus seinen Schriften voll seines Geistes, deutsche Jugend, und halte fest an Wahrheit und Recht, wie er, und bewähre Deine Ueberzeugung durch die That wie er! Und Ihr, Sängerbrüder, singt ihm zuweilen ein Lied zum Andenken, der das schöne Wort gesprochen hat:

„Wo man singt, da laßt Euch fröhlich nieder,
Böse Menschen haben keine Lieder.“

Ihr könnt ihn als Dichter nicht zu Euern Goethe, Schiller, Herder stellen und als Denker nicht zu Euern Kant, Fichte, Schelling, aber Ihr könnt und müßt ihn als Menschen und Patrioten zu den Besten und Bravsten stellen, die Deutschland gezeugt hat und die von Deutschland gezeugt haben. War er nicht der Engel und nicht der Löwe und nicht der Adler, die der Herr nicht sandte, den Stab und die Stütze der Lüge zu vernichten, so war er doch das Würmchen Schamir, der Repräsentant des nimmer rastenden Geistes ehrlicher Wahrheit, die nimmermehr und am wenigsten in Deutschland vernichtet werden kann und wenn alle Junker und alle Schreiber und Pfaffen der Welt sich dagegen verschwören.

Der Verfasser dieses Aufsatzes, der sich als Knabe schon für Seume’s herrliches Wesen begeisterte, hat seinem Herzen zur Genüge sich mit seinem Landsmanne und Freunde, dem für alles echte Menschen- und Deutschthum warm fühlenden Herausgeber der Gartenlaube, verbunden, um den Manen des herrlichen Seume an dem neuen Hause, welches neuerdings an der Stätte erbaut worden ist, wo die arme, kleine, baufällige Hütte stand, in welcher Seume geboren wurde, eine Votivtafel aufzuhängen. Wir glauben damit im Sinne und gewissermaßen im Auftrage aller wackern Deutschen gehandelt zu haben. Die Tafel führt die Inschrift:

Geburtsstätte
des Dichters
Johann Gottfried Seume,
geb. 29. Januar 1763,
gest. 13. Juni 1810.
Natur-, Menschen-, Vaterlandsfreund.
Rauhe Schale, edler Kern.



Erinnerungen aus dem Schleswig-Holsteinischen Kriege.
Von W. S.
Die Frau Kriegsministerin – Eine Butterpatrouille.


Die früher in der Gartenlaube veröffentlichten Mittheilungen aus dem schleswig-holsteinschen Kriege haben auch in einem andern Kampfgenossen jener Tage alte Erinnerungen geweckt, Erinnerungen, die um so lebhafter erwachen mußten, als der Erzähler einem eben derselben Corps angehörte, die unter General Gerhard den Vorpostendienst während der letzten Monate versahen und unter jenem unermüdlichen tapferen Degen des Kampfes Ernst und Spiel in allen Formen kennen zu lernen Gelegenheit hatten. Mögen daher auch einige dieser freilich in engem Rahmen gezeichneten Bilder jener Tage hier ihre Stelle finden, wäre es auch nur, um dazu beitragen zu helfen, daß die brennendste Wunde am Körper des deutschen Vaterlandes offen erhalten werde, bis – einst der Arzt erscheint, der sie, sicherlich nicht medicamento, sondern ferro et igne zu heilen vermag.

Ich folgte erst dem letzten Aufrufe zum Eintritt in die Armee, zu derselben Zeit also, als Heinrich v. Gagern direct von der Tribüne des deutschen Parlamentes auf das Schlachtroß stieg, zu derselben Zeit, als so Viele, gleich mir nur „Leute von der Feder“, das Schwert ergriffen, um ihre Treue auch im Waffenkampfe zu bethätigen. Wo sind sie hin, die Gefährten jener Tage? Hans v. Raumer, der in der Blüthe der Jahre und jugendlichen Kraft dahin gerafft wurde? Hugo v. Hufenkamp, der in demselben Augenblicke fiel, als er den Degen gezogen, um seine Compagnie zum Sturm auf Friedrichstadt zu führen? Uffo Horn, der neben mir die Büchse trug, ebenso tapfer im Gefecht, wie liebenswürdig und beredt im Bivouac? Nasemann von Halle, dem im letzten Vorpostengefechte, das wir bestanden, am Sylvestertage 1850 bei Möllhorst eine tückische Kugel das Bein fortriß? Kaas von Berlin, der seine „deutsche“ Batterie schließlich gegen Rosas führte, ein Friesen an Körper und Charakter? Und alle die andern treuen und lieben Waffengefährten? – Die Meisten von ihnen deckt bereits die Erde; die Andern tragen den Schmerz im Herzen, den Ohnmacht auf der einen, Uebermuth auf der andern Seite dem deutschen Volke geschlagen. Doch fort mit diesen trüben Erinnerungen, die ohnehin in jeder Hütte Deutschlands leben! Ich will es lieber versuchen, einige jener heitern und frischen Scenen zu zeichnen, welche das reichbewegte Lagerleben uns geboten. Denn damals freilich dachte noch keiner von uns an die Möglichkeit eines so jämmerlichen Ausganges, wenn die Einsichtigeren auch ein resultatloses Ende voraussahen; damals siegte Begeisterung, Jugendmuth, der Reiz der Gefahr und der Wechsel des Augenblicks über alle Bedenklichkeiten und Sorgen.

Vorerst aber erfülle ich noch eine Pflicht, nicht blos persönlicher, sondern allgemeiner Pietät, indem ich das Bild einer deutschen Frau zu entwerfen versuche, deren Name bisher, wunderbar genug, wenig genannt ist, und die doch vor Allen ein dankbares Andenken verdient.

Was die deutschen Frauen Holsteins und Schleswigs in jenen Tagen im Allgemeinen geleistet, das hat die Geschichte verzeichnet; es genügt, das Lazareth in Schleswig nach der dortigen Schlacht, das in Rendsburg nach der Schlacht bei Idstedt, nach dem Sturm auf Friedrichstadt, nach der Explosion des Pulverthurmes zu nennen, an ihre rastlose Thätigkeit nach Auflösung der Armee zu erinnern. Was sie freilich im Einzelnen geopfert und gelitten, das bleibt der öffentlichen Kenntnißnahme entzogen, lebt aber mit Flammenzügen in tausend dankbaren Herzen fort.

Unter ihnen steht obenan eine Matrone, hervorragend an Geist und Energie, an edlem Sinn und reichem Gemüth, ausgezeichnet durch wahrhaft staatsmännische Einsicht und eine unermüdliche Arbeitskraft, die Generalin v. Krohn. Hoch von Gestalt, noch rüstig, trotz ihrer 70 Jahre, Ernst und Würde in ihrer Haltung, trat die Bedeutung ihrer Persönlichkeit auf den ersten Blick in’s Auge; unwillkürlich mußte man an eine jener Römerinnen denken, von denen die Geschichte uns erzählt, und in der That lag eine Art von antiker Ruhe in ihrer Erscheinung.

Allgemein und mit Recht wurde sie die „Kriegsministerin“ genannt, denn ihr Gatte, der Kriegsminister v. Krohn, ein bereits altersschwacher Greis, behielt seinen Posten gewissermaßen nur ehrenhalber, während sie selbst das Kriegsdepartement eigentlich leitete und mit der seltensten Umsicht und praktischem Blick für Beschaffung aller materiellen Mittel Sorge trug, welche die holsteinische Armee in so reicher Fülle aufzuweisen hatte und die seiner Zeit den Neid der Oesterreicher und dann leider die Schadenfreude der Dänen erregten. Daß in dieser Thätigkeit und bei solchem Geiste ihr Einfluß auch noch weiter reichte als über das Militär-Oekonomie-Departement hinaus, war natürlich, und in der That kann diese Frau als die Seele der schleswig-holsteinschen Bewegung in jedem Sinne bezeichnet werden. Die Gemeinde sowohl wie die Statthalter, die Mitglieder der Ständeversammlung wie [63] die Vertreter der Presse holten sich Rath bei ihr, und oft wurden in ihrem kleinen Salon nicht blos allgemeine Maßnahmen, sondern specielle Pläne besprochen und festgestellt. Dies geschah namentlich in der letzten Zeit, wo Beseler und Willisen, denen die Energie dieser Frau zu wünschen gewesen wäre, Nichts ohne ihren Rath unternahmen, der zum Mißvergnügen der Officiere des Generalstabes oft sogar bei speciell militärischen Operationen in Anspruch genommen worden sein soll. Und diese bedeutende, fast amtliche Thätigkeit, die eine büreaumäßig organisirte Correspondenz mit zahlreichen Actenstücken etc. nöthig machte, genügte dem umfassenden Geiste dieser Frau nicht; auch als Vorsteherin eines Lazarethes in Rendsburg (wenn ich nicht irre, Nr. 5), das sie fast täglich, die Verwundeten tröstend und für ihre Bedürfnisse sorgend, besuchte, ferner als Vorsteherin des Landes-Unterstützungs-Vereins entwickelte sie eine eben so rastlose Thätigkeit. Und bei alledem behielt die seltene Frau Muße genug, in ihren kleinen Abendcirkeln, in denen General Huhn und Bonin, Willisen und Gagern, Beseler und Reventlow, Olshausen und andere einflußreiche Persönlichkeiten gern gesehene Gäste waren, an der lebhaften Unterhaltung, oft über Literatur und andere den Tagesereignissen fern liegende Gegenstände, Theil zu nehmen, wobei es denn freilich vorkam, daß sie, an ihrem Büreau sitzend und noch Depeschen expedirend, nur durch eine gelegentliche Aeußerung die Conversation belebte.

So reich war das Gemüth, so weit umfassend der Geist dieser wahrhaft deutschen Frau, und wir, die wir sie näher kennen zu lernen das Glück hatten, haben es oft genug ausgesprochen, daß, wenn im Rathe der Männer jener Zeit nur Einige von solchem Charakter und solcher Energie gewesen wären, wir heute nicht die Schmach zu ertragen hätten, an der wir darniederliegen.

Seit Jahren fern von der Heimath, weiß ich nicht, ob jene edle Frau auch heute noch an den Leiden des deutschen Volkes mitzutragen hat, oder ob sie bereits heimgegangen ist; immer aber bleibt ihrem Andenken der Segen von Tausenden Einzelner und die dankbare Verpflichtung des gesammten Vaterlandes.


Montecuculi nannte bekanntlich als Hauptmittel einer energischen Kriegführung das Geld. – Die holstein’schen Krieger, um ihre Meinung über dies strategische Problem befragt, würden sich unzweifelhaft genauer ausgedrückt und eine gute Verpflegung als unumgängliches Erforderniß bezeichnet haben, und zwar unter Berufung auf den Erfahrungssatz, daß man mit vollem Magen zwar nicht gut „studiren“, aber desto besser marschiren und fechten könne. Diese Ansichten wurden auch vom Kriegsdepartement getheilt, das für die musterhafteste und reichlichste Verproviantirung Sorge trug und in dieser Beziehung allen Armeen Europas als Vorbild aufgestellt werden kann. Und diese Verproviantirung beschränkte sich nicht blos auf gutes Brod, Speck, Hülsenfrüchte und die prächtigen Fleischstücke der holstein’schen Rinder, sondern erstreckte sich bis auf Reis, Gewürze, Früchte und namentlich reichliche Kaffeelieferungen. Ja, der Kaffee, von dem unglaubliche Portionen täglich vertilgt wurden, gehörte unbedingt zu den unabweislichen Lebensbedürfnissen eines echten Holsteiners. Dies ging so weit, daß jeder „Parolebefehl“ (wie der militärische Ausdruck tautologisch lautet) für eine bevorstehende Recognoscirung gewöhnlich mit den Worten begann: „Um (resp.) 2 Uhr Morgens wird Kaffee gekocht; um 2½ Uhr stehen die Compagnien marschfertig etc.“, denn die Commandeure kannten sehr wohl die Leidenschaft des Holsteiners und wußten, daß Kaffee für das Gefecht ebenso nothwendig sei wie die Munition. Daß neben dem Kaffee die beliebten „Stuten“ (ein mit Korinthen durchbackenes Weizenbrod), Schinken, Würste, Käse und alle die anderen begehrenswerthen Artikel, welche glückliche Muttersöhne in gefüllten Kobern per Feldpost regelmäßig empfingen, oder weniger glückliche von den reichlich versehenen Marketendern bezogen, in wahrhaft fabelhaften Quantitäten verzehrt wurden, muß für diejenigen besonders angeführt werden, welche Lebens- und Leibesbedürfnisse jener gesegneten Striche aus eigener Anschauung nicht kennen.

Doch alle diese reichlich vorhandenen Artikel, welche dem armen österreichischen und selbst dem preußischen Soldaten schon als der außerordentlichste Luxus erschienen wären, konnten dem echten Holsteiner nicht genügen; es fehlte ihm ja noch die Butter, die Eier, die Milch, hin und wieder ein junges Huhn, alles Dinge, die von der Gewohnheit des elterlichen Hauses her erst eine einigermaßen opulente Verpflegung ausmachten. Diese nun zu beschaffen, war neben der Erfüllung der allgemeinen Landespflicht eine der Hauptaufgaben des ordentlichen Soldaten. Allerdings hatte dies auf den Vorposten oft seine großen Schwierigkeiten, und diesem Umstande ist es theilweise gewiß zuzuschreiben, daß das Verlangen, die Feldwachen zu beziehen, wo jene als unentbehrlich erachteten Dinge doch leichter zu erreichen, bei allen Landeskindern ein so allgemeines war; die mit dem Feldwachtdienst verbundene größere Nähe des Feindes und der Wunsch, sich mit „Hannemann“ zu messen, stand bei dem echten Holsteiner wahrscheinlich erst in zweiter Reihe, mit welcher Vermuthung ich übrigens seine kriegerische Bravour nicht im Entferntesten zu beeinträchtigen Willens bin.

Das erwähnte Bedürfniß nach „frischen“ Landesproducten hatte auf den Feldwachen denn eine ganz eigenthümliche Art der Fouragirung, die Absendung der sogenannten „Eier- und Butter-Patrouillen“ in’s Leben gerufen, die weit über die Vorpostenlinien hinaus nach denjenigen Dörfern und Gütern geschickt wurden, welche von der regelmäßigen Verpflegung des Gros der Vorposten nicht betroffen waren, und daher noch angemessenen Vorrath von diesen Artikeln hatten. Eine solche Patrouille führte denn den nachstehenden, wahrhaft verwegenen Streich aus.

Unser Corps lag damals südlich von der Schley, am großen und keinen Wittensee, unsere Abtheilung mit dem Repli in Dammdorf (oder wie es seiner hübschen Mädchen wegen galant genannt wurde: Damendorf), mit den Vorposten in Ascheffel, Groß- und Klein-Hütten und weiter östlich auf dem Wege nach Eckernförde, vor uns Kochendorf und Osterbye, hinter denen bereits die dänischen Postenketten standen. Zwischen diesen und den unsrigen befand sich somit ein ziemlich breiter Strich, der das gewöhnliche Terrain für die kleineren Recognoscirungen abgab, und mitten in diesem das adlige Gut Marienfeld, das, von dem Besitzer verlassen, durch einen Inspector verwaltet wurde. Dieses Gut nun, von größeren regelmäßigen Requisitionen verschont und im besten Wirthschaftszustande, mit Milchkühen und Geflügelhof, war denn, gewissermaßen eine grüne Oase in der Wüste, das gewöhnliche Point de vue aller jener Fouragir-Patrouillen; wenn es nirgends mehr etwas gab, in Marienfeld war gewiß noch Vorrath. Die Dänen freilich kannten die Vorzüge dieses Eldorado ebenso gut wie wir; sei es aber, daß ihre Bedürfnisse an „frischer Waare“ oder ihre Baarfonds (und anders, etwa gegen Requisitionsscheine, wurde nicht geliefert) nicht so groß waren als die unsrigen, – genug, sie erschienen viel seltener und außerdem, in Folge einer stillschweigenden Abmachung, wie sie auf Vorposten oft genug vorkommt, nur des Vormittags, wir dagegen, da wir unsere Feldwachen Mittags bezogen, erst nach dem Essen. Marienfeld war auf diese Weise gewissermaßen als neutrales Terrain proclamirt.

Eines Tages bezogen wir wiederum unsere gewöhnliche, seitwärts von Marienfeld liegende Feldwache. Nachdem die Sicherheitsposten abgelöst, die dienstliche Meldung: „Aus Feldwache No… nichts Neues“ in’s Hauptquartier expedirt war, erscholl das ordnungsmäßige Commando: „Freiwillige zur Butter-Patrouille vor!“ und ein Oberjäger mit etwa zehn Mann, beladen mit sämmtlichen Feldkesseln der Wache und von den einzelnen Eier- resp. Butterbedürftigen sorgfältig instruirt, marschirte ab. Wie gewöhnlich ließ sich kein Däne sehen, die Patrouille kam ungefährdet in Marienfeld an, machte ihre Einkäufe und war im Begriff, den Rückmarsch anzutreten, als sie von dem Inspector des Gutes, der unter der Mannschaft einen Bekannten erblickte, zum Kaffee eingeladen wurde, den die Familie gerade einnahm. Nun wäre es für Holsteiner natürlich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, eine Einladung zum Kaffee auszuschlagen; dieselbe wurde also dankbarlichst acceptirt, und die Mannschaft begab sich in’s Herrenhaus, nachdem der Oberjäger glücklicherweise so vorsichtig gewesen war, einen Posten vor dem Hofe aufzustellen. Im Familienzimmer fand man neben der Hausfrau drei junge Damen und – einen offenstehenden Flügel, den alsbald einer der Jäger in Beschlag nahm und, während der Kaffee servirt wurde, zur freudigen Ueberraschung einen prächtigen Walzer aufspielte. Was war natürlicher, als daß die andern Jäger, das „Angenehme“ mit dem „Nützlichen“ vereinigend, Hirschfänger und Lederzeug abhingen, die jungen Damen zum Tanzen aufforderten und nach Herzenslust walzten. Sie sollten dabei arg gestört werden! Denn sei es, daß die Dänen den Holsteinern einmal ihre regelmäßigen Fourage-Excursionen gründlich verleiden wollten, sei es, daß vielleicht ein junger Officier, der zum ersten Male die Wache [64] bezogen, von Thatenlust getrieben wurde; – genug, eine Patrouille von circa 30 Dänen, unter Führung eines Lieutenants, hatte sich, durch die Knicks gedeckt, bis nahe an den Hof herangeschlichen, ehe der aufgestellte Posten sie bemerkt hatte. Plötzlich fiel – für die Tanzenden ein sehr unerwarteter Taktschlag – ein Schuß, und gleich hinterher ertönte das Hurräh! der heranstürmenden Dänen. Kaum hatten die überraschten Jäger Zeit, ihre im Hause aufgestellten Büchsen zu ergreifen und sich hinter die Wirthschaftsgebäude und Zäune des Hofes zu werfen. Von hier aus eröffneten sie dann ein möglichst lebhaftes Feuer und unterhielten dasselbe, obwohl sie, durch die Uebermacht gedrängt, den Hof verlassen und sich hinter die Knicks retiriren mußten, so wirksam, daß die Dänen, die ihren Ueberraschungscoup ohnehin vereitelt sahen, es doch für gerathen hielten, den Rückweg anzutreten. Die kühnen Jäger, halb aus Kampfeslust, halb aus Aerger über den unterbrochenen Ball, trugen nicht einen Augenblick Bedenken, ihrerseits nun zum Angriff überzugehen, und verfolgten die Rückkehrenden weit über das Gut hinaus.

Mittlerweile hatte das lebhafte Feuern natürlich unsre Feldwache alarmirt und den Commandirenden, der die Veranlassung richtig vermuthete, ernstlich beunruhigt. Alle disponible Mannschaft wurde daher der im Gefechte befindlichen sofort nachgesandt. Deren Besorgniß mußte steigen, als das Feuer plötzlich aufhörte und trotzdem von der Patrouille nichts zu sehen war, denn es blieb nun nichts Anderes übrig, als anzunehmen, daß derselben ein ernstlicher Unfall zugestoßen, die Mannschaft vielleicht gar gefangen sei. Im Sturmschritt rückte das Soutien vor, traf endlich in Marienfeld ein und fand die Patrouille – bei der Fortsetzung des unterbrochenen Balles und bei der fünften Tasse Kaffee.

Ob eine solche Verwegenheit vom militärischen Gesichtspunkte aus in der Ordnung war, will ich nicht behaupten; ich weiß nur, daß die Jäger deshalb keinen dienstlichen Verweis „besehen“ haben; dagegen erhielten sie von Einzelnen ihrer Committenten die bittersten Vorwürfe, weil einige der mitgebrachten Eier in den Blechgeschirren „in der Hitze des Gefechtes“ zerschlagen waren, und sahen sich genöthigt, um die Unzufriedenen zu beschwichtigen, mit Rücksicht auf den „Kaffee-Ball“ den Schaden auf eigenes Conto zu übernehmen.

Die „Butter-Patrouillen“ wurden nach wie vor commandirt, es ist aber leider keine mehr – zum Kaffee eingeladen worden.


Blätter und Blüthen.


Einen „Beitrag zur Geschichte wissenschaftlicher Entdeckungen“, welcher allgemeine Beachtung verdient, verdanken wir dem Professor der Gewerbekunde in Oranienburg, Dr. F. F. Runge. Er liefert ein Beispiel mehr zu dem gewöhnlichen Loos, welches Erfinder und Entdecker in Deutschland zu erwarten haben. Es ist 28 Jahre her, daß Runge bei einer chemischen Untersuchung des Steinkohlentheer-Oels zu der Entdeckung eines Stoffs geleitet wurde, auf welchen das Chlor (das bekanntlich auf alle Stoffe pflanzlichen und thierischen Ursprungs vorzugsweise farbezerstörend oder bleichend wirkt) zu Runge’s großem Erstaunen farbeerzeugend wirkte. Er wollte nämlich Steinkohlentheer-Oel durch Schütteln mit Chlorkalkauflösung von seinem üblen Geruch befreien. Der Geruch verschwand zwar nicht, aber die wasserklare Chlorkalkauflösung, die nach einiger Ruhe sich unten absetzte, nahm eine kräftige tiefblaue Farbe an, wie Kupferammoniak! – Da dies auf das Vorhandensein eines neuen, bis dahin ganz unbekannten Stoffs deutete, so forschte Runge weiter nach und fand, daß man denselben durch Säuren dem Steinkohlenöl entziehen könne, daß er, für sich dargestellt, als farblose, ölartige Flüssigkeit erscheine, aber die Eigenschaft einer Basis habe und mit Säuren weiße Salze gebe, und daß jedes dieser Salze, mit einer kalkhaltigen Chlorkalkauflösung in Berührung gebracht, stets eine veilchenblaue Färbung erleide. Deshalb nannte Runge den Stoff Kyanol oder Blauöl und beschrieb die wesentlichen chemischen Eigenschaften desselben in Poggendorf’s „Annalen der Physik und Chemie“ im Jahrgang 1834.

Diese merkwürdigen Thatsachen hätten wohl verdient, sofort gründlich geprüft und nach ihrer Wichtigkeit gewürdigt zu werden; anders bei unsern lieben „gründlichen“ Deutschen und insbesondere bei den Gründlichkeitsstoltzesten aller Gründlichen, bei unsern Gelehrten. Die große Masse der Chemiker zog es vor, nicht an die Sache zu glauben, ja, der durch seine Entdeckung des Kreosots und Paraffins ausgezeichnete Dr. Reichenbach in Mähren beeiferte sich sogar, in einer großen Abhandlung der Welt zu beweisen, daß es mit Runge’s Entdeckungen nichts sei! Runge’s Entgegnung blieb ebenfalls erfolglos, und die Angelegenheit schien „gründlich“ beseitigt. Da erscheint 10 Jahre später eine Schrift: „Chemische Untersuchung der organischen Basen im Steinkohlentheer-Oel, von Dr. A. W. Hoffmann“ (Gießen, 1843), welche alle Angaben Runge’s über seinen neuen Färbestoff für richtig erklärt und noch neue Thatsachen hinzufügt. Nunmehr von der Wichtigkeit des Gegenstands für das chemische Gewerbe überzeugt, wendet Runge sich an die königl. Seehandlung mit dem Vorschlag, in ihrer damals von Runge verwalteten chemischen Fabrik zu Oranienburg den Steinkohlentheer auf alle die neuen verschiedenen, von ihm namhaft gemachten Stoffe verarbeiten zu lassen und im Großen zu verwerthen. Dieser Vorschlag scheiterte an dem Gutachten eines unwissenden Beamten. Runge schien vergessen zu haben, daß er in Deutschland lebe, d. h. zu warten habe (wie unser Wilhelm Bauer!), bis ein Engländer den Triumph der Ausführung im Großen vorweg genommen. So geschah’s. Perkins trat auf, nahm die Sache mit englischen Mitteln in die Hand, und so ward in kurzer Zeit das Kyanol oder (wie man es jetzt gewöhnlich nennt) das Anilin einer der wichtigsten neueren Industrie- und Handelsartikel.

Dem deutschen Entdecker ging es damit, wie mit seinen Kerzen aus Torf und Braunkohlen, mit denen er ebenso zurückgewiesen wurde und die jetzt ebenso eine Handelswaare geworden sind. –

Auch die Anerkennung für seine Entdeckung mußte er erst dem Ausland verdanken, indem die Preisrichter der letzten Londoner Gewerbeausstellung ihm einstimmig die Preisdenkmünze als Belohnung zuerkannten. Mit Recht kann Runge ausrufen: „Es ist nur gut, daß mich diese Nachricht noch am Leben getroffen hat!“


  1. Richtigere Form für das gewöhnliche Salomo.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Im Original: zurücktetende