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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[545]

No. 35.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


„Gehen Sie, Ma’am!“ wiederholte Hugo jetzt unter dem vergeblichen Ringen des Comptrollers, seinen Arm zu befreien, „ich werde mit dem Gentleman hier fertig werden!“ die junge Frau indessen schien auf ihre Stelle gebannt zu sein. Vor der Zimmerthür klangen harte Tritte, aber Keines der im Zimmer Anwesenden hörte sie. Das glühende Auge in das seines Gegners gerichtet, der wachsam jeder seiner Bewegungen folgte, stand Graham, während die Armmuskeln Beider sich in immer stärkerer Anspannung zu begegnen schienen. Die Thür öffnete sich, aber Niemand bemerkte es, bis nach einem forschenden Blicke herein eine breitschultrige Gestalt in’s Zimmer trat und, ohne sich um die seltsame schweigende Gruppe zu kümmern, eine schwere Hand auf des Hausherrn Schultern fallen ließ. „Mr. Graham, Sie sind mein Gefangener!“ klang es zugleich, und Hugo fühlte den Widerstand seines Gegners wie in plötzlichem Schrecken schwinden. Mit einem raschen Griffe bemächtigte er sich des Revolvers und blickte dann erst auf, um sich von dem überraschenden Ereignisse zu unterrichten.

„Legen Sie Ihre Waffe beiseite, bis wir unserer Pflicht genügt haben, Sir!“ gebot ihm der Mann, unter dessen Hand der aschenbleich gewordene Comptroller niederzubrechen drohte, und der Angeredete, von der plötzlichen Erkenntniß der Wahrheit durchzuckt, reichte dem Eingetretenen den Kolben. „Sie ist am besten in Ihrer Hand, Sheriff,“ erwiderte er, „sie ist Mr. Graham’s Eigenthum!“

Mit einem leichten Nicken ließ der Beamte den Revolver in seiner Brusttasche verschwinden und wandte sich nach der jungen Frau, die mit halb vorgebogenem Oberkörper, wie zu Marmor geworden, dem neuen Ereignisse folgte. „Ich bin unglücklich genug, Ma’am, die Ruhe Ihrer Familie stören zu müssen, indessen kennt das Gesetz keine Rücksichten,“ sagte er höflich, „ich habe leider Mr. Graham mit mir zu nehmen!“

„Ich werde Bürgschaft leisten, welche Gründe auch diese sonderbare Verhaftung herbeigeführt haben mögen,“ rief jetzt der Gefangene, sichtlich nach Haltung ringend, „ich bitte Sie, mir Gelegenheit zu geben, die Sache schnell zu ordnen!“

„Ich glaube kaum, Sir, daß sich heute Abend etwas wird thun lassen, und es würde Ihnen unter den existirenden Umständen wohl auch schwer werden, die mögliche Höhe der geforderten Bürgschaft aufzubringen!“ erwiderte der Sheriff mit einem verdächtigen Lächeln. „Bitte, folgen Sie mir ruhig; was zu Ihren Bequemlichkeiten gehört, mögen Sie nachholen lassen, und morgen werden wir dann weiter sehen!“

Ein kräftiger Druck von des Beamten Hand, mit welchem er den Comptroller nach der Thür drehte, schien jede Fassung des Letzteren wieder zu vernichten, schweigend schritt er nach dem Ausgange, in welchem sich jetzt zwei andere Beamte, zu seinem Empfange bereit, zeigten; Hugo’s Augen aber wandten sich besorgt nach Jessy’s Gesicht, in welchem sich jetzt eine eigenthümliche, zuckende Bewegung geltend machte, und kaum war er ihr, nachdem sich die Thür hinter den Abgehenden geschlossen, nahe getreten, als sie sich in einem plötzlich ausbrechenden Weinkrampfe an seine Brust warf. Er fühlte, daß die Füße unter ihr brachen, die Gewaltsamkeit des Ausbruches, unter welchem ihr ganzer Körper flog, erschreckte ihn und ließ im Augenblicke nichts als das Gefühl der Angst für ihren Zustand in ihm aufkommen; er trug sie mehr, als er sie führte, nach dem seitwärts stehenden Divan und ließ sie dort nieder, während er ihr zuckendes Haupt an seine Brust bettete; er wußte, daß hier jedes beruhigende Wort ein vergebliches sein würde, und mit einem Gefühle von Erleichterung sah er jetzt die Thür sich öffnen und Henderson’s Gesicht in derselben erscheinen. „Rufen Sie das Kammermädchen!“ deutete er diesem halblaut an, „wir müssen der Leidenden vor allen Dingen Ruhe schaffen!“

„Es mußte ja kommen, wie es sollte,“ brummte der Alle, ehe er verschwand, mit einem hellen Blicke auf die Stellung Beider, „und das Uebrige wird auch nicht außenbleiben!“

Der Deutsche hielt die Schluchzende in seinen Armen wie ein anvertrautes Heiligthum; er wußte, daß nur Aufregung und Schwäche sie ihm überliefert, und er hätte nicht den leisesten Mißbrauch von ihrer augenblicklichen Lage machen mögen. Wohl rieselte es ihm durch alle Nerven, als er sich jetzt in der lautlosen Stille um sie her des Drucks ihrer weichen Formen bewußt ward, er hätte mit Inbrunst seinen Mund in das volle, duftende Haar der halb Bewußtlosen drücken mögen; aber er bezwang sich. Und als er jetzt die Schritte Kommender hörte, sprach er in ihr Ohr: „Richten Sie sich auf, Miß Jessy, und gehen Sie zur Ruhe! was aber auch noch geschehen möge, rechnen Sie auf mich als Ihren treuesten Freund!“ Bei seinem ersten Laute indessen schien sie sich plötzlich ihrer Lage bewußt zu werden; sie schnellte auf, und ihr Schluchzen erstarb unter dem bestürzten Blicke, mit welchem sie ihn anstarrte; wie kaum des Geschehenen sich bewußt, durchlief ihr Auge den Raum, und als in diesem Augenblicke die Mulattin hastig das Zimmer betrat, erhob sie sich wie ein scheues Reh, um der Eingetretenen entgegen zu eilen. Auf halbem Wege indessen blieb sie stehen und drückte eine Weile die flachen Finger gegen die Stirn. Dann wandte sie sich langsam nach dem jungen Manne zurück. „Ich entsinne mich wieder!“ sagte sie, mit einem Auge voll unendlicher Trübsal ihm die Hand entgegenstreckend, „lassen Sie mich [546] morgen früh nicht allein, ich habe Niemand, Niemand weiter!“ Dann schritt sie, ohne Flora’s Unterstützung anzunehmen, aus dem Zimmer. –

Hugo hätte am liebsten schon an diesem Abende nicht mehr in Winter’s Geschäftshause geschlafen und wäre sofort ausquartiert; er fühlte einen unwiderstehlichen Widerwillen, noch den kleinsten Vortheil aus seiner bisherigen Stellung zu benutzen; Henderson wollte indessen für alle Fälle die Nacht in der Nähe der jungen Frau zubringen, und so mußte seine Abneigung seiner noch nicht beendeten Pflicht weichen.

Er ging mit dem Tischler, der sich ihm angeschlossen, aber nicht den Muth zu haben schien, des Freundes gedankenschweres Stillsein zu unterbrechen, nach Hause. Als sie einen der offenen Plätze, auf welchem der dunkle Horizont mit seinen hell flimmernden Sternen sich frei dem Auge bot, überschritten, blieb Hugo Plötzlich stehen und faßte mit einem Drucke des Schulgefährten Hand. „Heinrich,“ sagte er halblaut, in den nächtlichen Himmel hinaufblickend, „es ist etwas wunderbar Großes um die Wissenschaft für den Verstand, aber dem Herzen giebt sie doch nimmermehr Genüge. Heinrich, ich konnte heute Abend beten!“ – –

Es war lange nach Mitternacht, ehe der aufgeregte junge Mann diesmal den Schlaf finden konnte, und am andern Morgen erwachte er nach wirren, schweren Träumen von einem Pochen an seiner Thür, als bereits die Sonne hell in sein Fenster schien. Erschrocken sprang er auf, warf nur die nöthigste Bekleidung über sich und öffnete.

Henderson, mit sonderbar bleichem Gesichte, sah ihm entgegen. „Gott segne Ihren Schlaf,“ sagte dieser mit geheimnißvollem Tone, während er sich durch die Thür schob und diese wieder vorsichtig schloß; „kommen Sie denn wirklich erst jetzt aus den Federn und haben noch nichts von den neuen Vorgängen gehört?“

„Noch etwas?“ fragte der Deutsche, mit einer plötzlichen Spannung den seltsamen Ausdruck in des Alten Zügen studirend; „ich war vor Morgengrauen nicht eingeschlafen –“

Henderson nickte, während sich seine Augen eigenthümlich erweiterten. „Noch etwas!“ erwiderte er langsam, „er hat sich diese Nacht im Gefängnisse erhängt!“

„Graham?“ rief Hugo in einem jähen Schrecken, während es ihn doch dabei plötzlich wie ein Gefühl von Glück durchzuckte, dessen er sich im nächsten Momente vergebens zu schämen versuchte.

„Graham!“ wiederholte der Alte, „und es ist schon überall in der Stadt bekannt. Ich konnte Mr. Winter die Nachricht geben, gerade als er hier ankam!“

„Nun?“ fragte der junge Mann in einer neuen Spannung.

Henderson trat dicht an ihn heran. „Er sah mir wohl eine halbe Minute, wie von. Blitz getroffen, in’s Gesicht, nachher holte er tief Athem und sagte: „Gott sei Dank! Henderson, in die Klemme gerathen wir nicht wieder!“ und ich hätte auch beinahe Gott sei Dank! gesagt, so schlecht es mir auch zu Muthe war. Er fuhr gleich nach Graham’s Hause, und ich ging hinterdrein – aber Miß Jessy hat ihn nicht angenommen; es muß da noch etwas Anderes zwischen Vater und Tochter liegen, was ich nicht weiß und auch nicht wissen mag! Aber Ihnen wollte ich sagen, daß sie bereits nach Ihnen gefragt hat. Sie ist schon von Allem, was geschehen, unterrichtet und wird eine andere Unterstützung nöthig haben, als ihr der alte Henderson gewähren kann!“

Hugo machte in einer ihn überkommenden Erregung, die ihm fast den Athem nahm, einen raschen Gang durch das Zimmer. „Sie sind mir ein wirklicher, wahrhaftiger Freund gewesen,“ sagte er dann, wie von einem besondern Gedanken erfaßt, vor dem Alten stehen bleibend und dessen Hand fassend, „sagen Sie mir jetzt nur Eins, wenn es auch wohl die unpassendste Zeit ist, einen solchen Punkt zu berühren. Sie oder Flora wollen Mancherlei von meinem Namen gewußt haben, noch ehe ich hierher kam – wie ist das?“

„Ich sehe durchaus keinen Grund, warum es jetzt eine unpassende Zeit zu der Frage sein soll,“ erwiderte der Alte, während ein leichter Schatten über sein Gesicht ging; „ich denke, Niemand in unserm Kreise hat den Mann zu betrauern, der sich vor seinen Sünden und seiner Schande davon gemacht hat, anstatt die rechtschaffene Strafe auf sich zu nehmen!“ Er strich langsam mit der Hand über sein Gesicht. „Es gab eine kleine Karte mit dem Namen „Hugo Zedwitz“, Sir,“ fuhr er dann fort, „die oft die einzige Gesellschaft von Miß Jessy war, die sie vor sich hinlegen und darüber brüten konnte, als wandere sie mit ihren Gedanken in einem fremden Lande, wo der Name nicht ein bloßer Klang war. – Das ist Alles, Sir, ich denke aber,“ setzte er hinzu, während es einen kurzen Moment wie ein Schein seines gewöhnlichen Humors über seine Züge glitt, „wir haben den richtigen Sinn darin gefunden! Und jetzt eilen Sie, daß Sie in Ihre Kleider kommen!“ – –

Eine Viertelstunde darauf stand Hugo vor dem Hause des Comptrollers, und auf sein Klingeln blickte nach einer Weile das halbverstörte Gesicht der Mulattin aus der Thür, das sich indessen schnell aufklärte, als sie den Deutschen erkannte. Nur mit einem hastigen Winke ging sie ihm die Treppe hinauf voran und öffnete dort ohne jede Meldung die Thür zu dem Zimmer der jungen Frau, sie hinter ihm wieder schließend. Der erste Blick zeigte dem Eintretenden eine Menge rings umherliegender Garderobestücke und zwei offene Koffer; sein zweiter traf Jessy, die sich marmorbleich, aber mit ungeschwächtem Feuer in dem großen, dunkeln Auge von einem Sessel neben dein Tische erhob.

„Ich muß fort, Sir, fort aus diesem Hause, fort aus der Stadt!“ sagte sie hastig. „Verlassen Sie mich nicht,“ fuhr sie fort, die Hand nach ihm ausstreckend, „Sie haben mich gelehrt, in den schlimmsten Lagen auf Sie zu rechnen, und ich bin allein, ganz allein, wenn Sie von mir gehen. Ich will nach dem Osten, wo ich in einer bekannten Familie zu bleiben gedenke, bis hier alle Verhältnisse geordnet sind, an die ich jetzt nicht einmal zu denken vermag. Helfen Sie mir, ich kann den Mann, der sich meinen Vater nennt, nicht wieder sehen und darf am allerwenigsten diesem todten Körper, den sie vielleicht in’s Haus bringen werden, begegnen–“

Ein plötzlicher Schauer schien ihren Körper zu überlaufen, und Hugo drückte warm und beruhigend ihre Hand. „Ich verstehe völlig Ihre Lage, Miß Jessy, und Sie wissen, daß Sie Ihren treuesten Freund neben sich haben,“ erwiderte er, seine eigene Bewegung möglichst unterdrückend. „Werde ich aber nicht zu viel Recht beanspruchen, wenn ich jetzt völlig in Ihrem Namen handele?“

„Zu viel Recht?“ fragte sie, wie verwundert aufblickend. Plötzlich aber verdunkelten sich ihre Augen, wie unter aufsteigenden Thränen, sie hob die Arme und schlang sie im nächsten Momente um seinen Hals. „Da hast Du mich zum vollen Eigenthum, Mann, und nun thue mit mir und Allem, was mir gehört, nach Deinem Gefallen; ich habe ja keine andere Heimath mehr, als bei Dir!“ rief sie im ausbrechenden Weinen und schmiegte sich in seine Arme, als wolle sie Schutz suchen vor Allem, was bis dahin auf ihre Seele eingestürmt war. Bald aber, wie sich ihrer drängenden Lage bewußt werdend, schnellte sie wieder empor und griff mit einem Gesichte, das wunderbar unter ihren noch immer strömenden Thränen aufleuchtete, nach einem starkgefüllten Portefeuille auf dem eleganten Schreibtische. „Hier ist genügend für Alles, was im Augenblicke nothwendig werden wird,“ rief sie, ihm das Taschenbuch in die Hand pressend, „und nun sorge, daß ich bald an nichts mehr denken darf, als an Dich! – Noch das Eine aber,“ setzte sie unter dem sichtlichen Einflusse eines in ihr auflebenden Glücks hinzu, „Henderson mag aus dem Spiele bleiben, er hängt noch fest an dem Glauben an seinen Brodherrn, und ich will ihm nicht die Zuversicht seiner alten Tage rauben.“ Nur eine Secunde lang war dabei ein neuer Schatten über ihre marmorweißen, durchsichtigen Züge gegangen; dann hatte sie mit einem nervösen: „Und nun geh!“ hastig den Kopf des jungen Mannes zwischen ihre Hände genommen, einen Kuß auf seinen Mund gedrückt, und in der nächsten Minute sah sich Hugo aus dem Zimmer geschoben.

Auf der halben Höhe der Treppe stand die Mulattin wartend, und ihr gespannter Blick zwang Hugo, seine aus all ihren Angeln gerissenen Gedanken zusammen zu raffen. „Vorwärts, Flora, Ihre Mistreß braucht Sie,“ rief er, an ihr vorüber eilend, „in zwei Stunden reisen wir!“

Als er mit noch schwirrendem Kopfe in’s Freie trat, sah er den Tischler von der andern Seite der Straße auf sich zueilen, und erst jetzt meinte, er ganz zu empfinden, wie sein Herz zum Springen voll Jubel war. Mangold hatte bei der ersten Nachricht von Graham’s Tode es nicht mehr bei der Arbeit aushalten können und den Freund im Geschäftshause aufgesucht, wo eben Winter mit der Ordre abgefahren war, Jeden, der nach ihm frage, erst für den nächsten Tag wieder zu bestellen. Hugo aber hörte von den eifrigen Worten nur die Mittheilung über Winter’s Abwesenheit, die [547] ihm seine vorläufige Entfernung ohne jeden Aufenthalt ermöglichte, und faßte mit einem Drucke des Tischlers Arm, daß dieser in die Höhe zuckte. „Heinrich, kannst Du Dir wohl denken, was aus dem Allem entstehen könnte?“ fragte er im Durchbrechen seines innerlichen Glücks. Der Gefährte hielt seinen Schritt an und sah rasch mit einem gespannten, fragenden Blicke auf; Jener nickte ihm nur mit einem strahlenden Auge zu und zog ihn rasch weiter. „Jetzt komm und packe meinen Koffer, während ich mich nach Graham’s Sachwalter erkundige,“ sagte er, „in einer Stunde aber sollst Du hören, was jetzt noch über mir selbst wie ein Traum, wie eine halbe Unmöglichkeit liegt.“




10. Herzens Prüfung – Rückkehr – Schluß.

„Nun, lieber Meßner, um auf ein bestimmtes Thema zu kommen – es ist morgen Weihnachtsabend, von dem ich mir so manche kleine Genugthuung versprochen – wie steht Ihre Angelegenheit? Ich habe mich auf Ihren Wunsch nun seit sechs Wochen jedes Einflusses auf das Frauen-Departement enthalten; haben Sie selbst etwas erreicht, oder sind Sie zu der Ueberzeugung gelangt, daß im Familien-Regimente Duldsamkeit die schlechteste Politik ist?“

Es war in dem wohldurchwärmten Arbeits-Cabinete des Geheimraths Zedwitz, wo dieser im bequemen Sorgenstuhle, von dem gedämpften Lichte der großen Lampe ans dem Mitteltische beschienen, ruhte, während der Schuldirector ihm gegenüber einen Sitz eingenommen hatte und bei der plötzlichen Frage, welche ein allgemeines Gespräch abgeschnitten, mit dem Ausdrucke einer leichten Unruhe aufsah.

„Sie wissen, Herr Geheimrath,“ begann er zögernd, „daß es mein höchster Wunsch ist, Ihnen einmal als Sohn nahe zu stehen, ich darf Ihnen auch sagen, daß ich seit Kurzem die feste Zuversicht habe, dieses Ziel und damit ein volles Glück für mich zu erreichen; ich möchte Sie aber von ganzem Herzen bitten, lassen Sie jedes Gemüth seinen ihm eigenthümlichen Weg gehen. Es mag sich dabei vielleicht Manches anders ordnen, als Sie es in Ihrem Geiste vorgezeichnet haben; aber wenn es sich nur zum Rechten gestaltet, wenn nur Ihrer Kinder Glück, das ja doch nur der letzte Endzweck Ihrer Sorge und selbst Ihrer Strenge ist, dadurch erreicht wird, so darf Ihnen ja auch der verschiedene Weg recht sein, und ich weiß, daß Sie eine zehnfache Liebe sich damit erwerben müssen. – Geben Sie mir einmal das Recht, Herr Geheimrath, mich so freimüthig gegen Sie auszusprechen, wie es meine Verehrung und aufrichtige Ergebenheit für Sie und Ihre Familie fordern!“ fuhr er angeregt fort. „Es sind sechs Wochen verstrichen, seit ich mich zu dem offenen Geständniß ermuthigte, daß ich mein Sohnesrecht in Ihrem Hause nie in Folge eines ausgeübten Zwanges erlangen möchte, daß Sie mich mit dem Versprechen glücklich machten, ein weiteres, sofortiges Vorangehen in meiner Angelegenheit einzustellen. Trotzdem ist keine Freude in den Familiencirkel gekommen, und die eingetretene Ruhe scheint die Gemüther nur noch mißtrauischer und ängstlicher besorgt um das, was sich daraus entwickeln werde, gemacht zu haben. Morgen ist nun Weihnachtsabend, und wenn ich meinem Blicke trauen darf, wird er unter der jetzigen Stimmung kaum ein freudiger werden. Es ist noch dazu, wie ich durch ein Wort errathen habe, der erste, an welchem der Sohn und Bruder im Familienkreise fehlt. Und dennoch, Herr Geheimrath, würde ein einziges freundliches Wort, das einmal das Herz des Vaters ohne Hülle zeigte, das wenigstens von den Gemüthern die Sorge vor einem gefürchteten Machtspruche nähme, die meine Erscheinung immer von Neuem wecken muß, den Abend so hell machen. Sie sehen, Herr Geheimrath, daß ich jetzt schon lieber Ihr Zimmer aufsuche, als den stillen Blicken, die mich im Zimmer der Großmama treffen, begegne, und morgen möchte ich am wenigsten die Schuld auf mich laden, den Damen durch meine Anwesenheit den Abend zu verderben –“

Zedwitz hatte sich langsam gerade aufgesetzt. „Und bei alledem sagen Sie, daß Sie zuversichtlich hoffen, als Sohn in meine Familie einzutreten?“

„Und ohne einem Herzen damit Zwang anzuthun – wenn auch vielleicht in anderer Weise, als der von Ihnen beabsichtigten, Herr Geheimrath,“ erwiderte Meßner, während seine Wangen sich leicht rötheten. „Wenn ich einiges Vertrauen bei Ihnen genieße,“ fuhr er lebendiger fort, „so lassen Sie mir freie Hand, mein Ziel zu erringen, und sagen der Großmama zwei Worte, daß Sie das einfache Naturrecht jeder Frau, sich zu versagen, auch in Ihrer Familie nicht durch die väterliche Autorität antasten wollen. O, glauben Sie mir doch, Herr Geheimrath,“ setzte er erregt hinzu, als sich eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen des alten Beamten bildete, „daß jede strenge Tugend, jede starre Ueberzeugung in der Ausführung ihrer äußersten Consequenzen zum Unrecht werden kann, und glauben Sie doch auch, daß ein Herz, das niemals die Milde kennen will, auf das beste Glück verzichtet, daß es die treuste Liebe von sich stößt und zuletzt immer einsam in sich selbst versteinern muß. Es ist morgen Weihnachtsabend – denken Sie um unser Aller Glück daran, Herr Geheimrath!“

Der Alte sah den vor ihm Sitzenden mit immer starrer werdendem Blicke an, und auf seiner Stirne bewegte es sich, wie das Kommen und Gehen schwerer Gedanken. Langsam erhob er sich und durchschritt zweimal das Zimmer. Dann blieb er in kurzer Entfernung von dem Sitzenden stehen. „Ich habe immer geglaubt, lieber Freund, wir verständen uns, aber es ist nicht so!“ sagte er mit eigenthümlich ruhiger Stimme. „Ihnen habe ich, so viel mir bewußt ist, noch niemals ein so hartes Herz gezeigt –“

„Herr Geheimrath, eben weil ich den ganzen Reichthum von Wohlwollen, der in Ihnen lebt, kenne,“ unterbrach ihn Meßner, von seinem Stuhle aufspringend, mit bittender Stimme; aber Zedwitz wies mit einem Handwinke seine weiteren Worte zurück.

„– und wo man mich hart hätte nennen können,“ fuhr der Letztere ungestört fort, „habe ich nur Grundsätze festgehalten, die ich ein für allemal zu den Leitern meines Handelns gemacht. Wer aber unter dieser Consequenz, die ein Mann seiner Selbstachtung schuldet, oft mehr gelitten hat, ob ich selbst, den sie hart nennen, oder diejenigen, welche leichtsinnig mit meinen Ueberzeugungen glaubten spielen zu können, wäre erst noch zu entscheiden. – Da ist ein Fall, der tief in unser ganzes Familienleben eingeschnitten hat,“ fuhr er mit verfinstertem Gesichte fort, „der Sie vielleicht belehren kann. Er ist in der letzten Zeit aus seinem Grabe geholt und mir vor die Augen gehalten worden; die das aber gethan, wußten nicht, daß sie damit auch den ganzen beendeten Kampf eines Mannes gegen seine eigene Schwäche, die errungene Gewissensruhe und Klarheit mit sich selbst, aufriefen und ihn in seinen Ueberzeugungen nur kräftigten. Sie werden die trübe Geschichte jedenfalls zu hören bekommen, wenn es sich einmal um meine Charakteristik handeln sollte,“ sprach er mit einem Anfluge von Bitterkeit weiter, „und so gebe ich sie Ihnen lieber selbst in correcter Fassung.“

Er nahm langsam wieder in seinem Armstuhle Platz und drückte, während sich Meßner mit dem Ausdrucke vollen Interesses gleichfalls niederließ, eine kurze Weile die Hand vor die Augen.

„Ich hatte die Dreißig schon zur Hälfte überschritten, als ich den ersten bestimmten Schritt zur Gründung einer Familie that,“ begann er dann, vor sich niederblickend, „ich war ernst, hatte mich ebenso an strenge Pflichterfüllung meinerseits gewöhnt, wie ich sie von Andern fordern mußte, und mochte so für Frauen wenig Anziehendes besitzen. Aber ich wußte, daß die Hand, die ich meinem künftigen Weibe bieten würde, eine feste und zuverlässige war. Ich hatte eine junge Dame aus guter Familie kennen gelernt, ich warb um sie, aber gab mich ihr völlig offen mit den Ansprüchen, die ich an meine Lebensgefährtin glaubte machen zu müssen, und trotz verschiedener Mitbewerber erhielt ich den Vorzug ohne großen Kampf. Ich ahnte wohl, daß meine Stellung und Zukunft ihr bedeutendes Gewicht bei der Entscheidung in die Schale geworfen, aber ich war dennoch glücklich; wußte ich doch, daß eine gegenseitige fest begründete Achtung eine sicherere Garantie für ein dauerndes Glück bietet, als jene Liebe in jungen Herzen, die sich ihrer selbst noch nicht einmal klar sind, und glaubte ich doch bei meinem jungen Weibe auf ein unverrückbares Halten an dem, was Ehre und Gewissen geboten, rechnen zu dürfen.“ Der Sprechende machte eine kurze Pause und fuhr dann nach einem raschen Athemzuge fort: „Da fiel mir nach den ersten beiden Jahren unserer Verheirathung zufällig ein kürzlich angekommener Brief an meine Frau in die Hand – er war von einem ihrer früheren Bewerber, welcher ohne meine eigene Werbung wohl ihre Wahl gewesen sein würde. Ich hatte nur die ersten zwei Zeilen gelesen und gab ihr den Fund mit der ruhigen Bitte zurück, derartige Briefe um ihrer und meiner Ehre willen nicht wieder anzunehmen; aber ich fühlte damals zuerst, daß ich mehr an dieser Frau hing, als ich es meiner Weise zu empfinden selbst zugetraut. Jahre vergingen indessen, ehe mich zum zweiten Male dieselben Schriftzüge aus meiner wieder erlangten [548] Ruhe auftrieben. „Willst Du mir denn alle Erinnerungen nehmen?“ fragte sie mich mit einem fast schmerzlichen Tone auf meine Vorhaltungen, und ich wußte jetzt, daß unsere Anschauungen in Punkten, die für mich die empfindlichsten waren, so weit auseinander liefen, daß sich an eine Zusammenstimmung nie denken ließ, daß mir eben nichts übrig blieb, als meinen Willen zum Gesetz zu machen. Es war der erste Riß, der in unser Familienleben kam, denn es währte lange Zeit, ehe der schmerzliche Kampf in mir endete und die siegende Zuneigung für die Mutter meiner Kinder die zu Tage getretene Dissonanz in den Hintergrund meiner Seele zurückdrängte.“ Der Erzähler machte, wie sich in seinen Gedanken verlierend, eine neue Pause und begann dann mit einem leisen, halbunterdrückten Seufzer: „Es war an einem naßkalten Frühjahrstage, und Helene war erst drei Monate vorher geboren, als mir der kleine Hugo in seiner Kinderweise die Nachricht brachte, daß die Mutter in unserem Gesellschaftsgarten mit einem Officier in fremder Uniform zusammen getroffen sei, und ich wußte in diesem Augenblicke, daß das Glück meines Lebens sein Ende erreicht hatte. Zehn Minuten darauf war ich an dem bezeichneten Orte, den bei dieser Witterung Niemand besuchte, und traf das Paar in ruhigem Gespräche auf einer halb im Bosket versteckten Bank. Ich würdigte ihren frühern Bewerber keines Blicks, reichte der zum Tode erblaßten Frau den Arm und führte sie schweigend weg. Ihre Glieder begannen bald an meiner Seite zu fliegen, sie versuchte zu mehreren Malen mich anzureden, aber in mir war Alles starr und todt, ich hätte, um damit das Leben zu gewinnen, kein Wort für sie finden können. Ich verließ sie am Eingang ihres Zimmers und verschloß mich in das meinige. Am andern Tage ließ sie mir sagen, sie sei krank und müsse mich sprechen – in mir selbst aber war Alles zum Tode krank; ich sandte Mangold nach dem Arzte für sie und wies jede Aussprache zurück. Am dritten Tage sandte sie mir trotzdem eine neue, dringendere Bitte um eine Unterredung – ich vermochte ihr nicht zu willfahren. Ich hätte ihr das für immer zerbrochene Vertrauen, unser ganzes vernichtetes Lebensglück vor die Augen halten, hätte sie um des Leichtsinns willen, dem die Ehre ihres Mannes nichts gegolten, von mir stoßen und mich selbst damit zerfleischen müssen. Ich arbeitete fünf Tage und fünf Nächte meinen Gram mit mir selbst durch, während Mangold meine Thür vor jedem neuen Drängen bewachen mußte; dann aber, als sie in der Hand ihrer herbeigerufenen Mutter und unseres alten Hausarztes aufgehoben war, trat ich eine kurze Reise an, die mich wenigstens wieder arbeitsfähig machen sollte. Zwei Tage darauf ruft mich ein Brief des Arztes zurück, ein Nervenfieber hat sich kurz nach meiner Entfernung bei der Kranken eingestellt. Ich eile Tag und Nacht heimwärts, als ich aber anlange – ist sie todt!“

Der Erzähler erhob sich rasch und machte einen Gang durch das Zimmer; dann trat er an das Fenster und sah eine Weile in die dunkele Nacht hinaus. „Sie äußerten,“ unterbrach er endlich das Schweigen, wieder langsam nach seinem Stuhle schreitend, „daß jede strenge Tugend zum Unrecht werden könne; überlassen wir aber doch die Beurtheilung der Scheidelinie in dem einzelnen Falle dem Gewissen eines Jeden selbst, das meist allein das rechte Zeugniß abgeben kann. So stehe ich, durch tiefe Trübsal zur Klarheit gelangt, vor mir gerechtfertigt, während Andere mich verurteilen mögen. – Doch zu Ihren Angelegenheiten!“ unterbrach er sich, mit der Hand über sein Gesicht streichend, als wolle er dort den Abglanz einer weichen Empfindung, der sich während des Schlusses seiner Erzählung gebildet, verwischen. „Wenn Sie wünschen, von Helenen eine Zurückweisung zu erhalten, so kann ich natürlich nichts dawider haben, sowenig ich Sie auch verstehe,“ fuhr er dann fort; „paßt es in Ihren Plan, so mögen Sie der Mama selbst sagen, daß ich mich um diese Angelegenheit nicht mehr kümmern werde, und wenn damit der Grund fällt, der Sie morgen von uns entfernt halten würde, so soll es mich freuen!“

Meßner machte soeben mit aufglänzendem Gesichte eine Bewegung, die Hände des Geheimraths zu fassen, als sich die Thür öffnete und der alte Mangold mit ungewöhnlicher Hast eintrat. „Der junge Herr Römer läßt dringend nur um eine Minute Gehör bitten, er habe dem Herrn Geheimrath eine wichtige Mittheilung zu machen!“ meldete er, sich kaum die Zeit gönnend, seine gewöhnliche dienstliche Haltung anzunehmen; die Züge des Hausherrn aber erhielten plötzlich wieder einen vollen Ausdruck eisiger Kälte.

„Herr Römer? ich habe von dem Herrn weder eine Mittheilung zu erhalten noch ihn selbst zu empfangen – sagen Sie ihm das!“ erwiderte der Letztere und wollte sich steif abwenden; die buschigen Augenbrauen sammt dem Schnurrbarte des Meldenden begannen aber in so eigenthümliche Zuckungen zu gerathen, daß Jener unwillkürlich den Blick wieder zurück wandte.

„Herr Geheimrath – es scheint wegen derselben Sache zu sein, um die ich an meinen Sohn schreiben mußte,“ versetzte der Alte in halber Scheu, während er einen unbehaglichen Blick nach dem Schuldirector sandte. „Vor kaum einer Stunde ist auch ein Brief von dem Heinrich gekommen, den ich, wegen anderer Sachen darin, an die gnädige Frau Mama gegeben habe – wenn der Herr Geheimrath doch vielleicht – “

Zedwitz hatte mit scharfer Aufmerksamkeit die Augen gehoben, während Meßner discret seinen Platz verlassen und mit einem raschen: „Ich stehe später zu Befehl!“ der Thür zugeeilt war, und wohl eine halbe Minute lang ruhte des Ersteren Blick, wie in einem jäh erwachenden Gedanken, in dem besorgten, treuen Auge des Dieners. „Ich wünschte, Sie hätten mir zuerst diesen Brief gebracht!“ sagte er dann mit leicht zusammengezogenen Brauen; aber Mangold richtete jetzt frei den Kopf auf. „Es waren Sachen darin, die der Herr Geheimrath streng verpönt haben vor ihn zu bringen,“ erwiderte er, „und so hoffte ich, daß vielleicht die gnädige Frau Mama – “

Ein plötzliches Sicherheben des alten Chefs, der einen raschen Gang durch das Zimmer machte, schnitt die fernern Worte ab. „So lassen Sie ihn eintreten!“ sagte der Letztere endlich, wie widerwillig zu einem Entschlusse gelangt, und blieb neben dem Mitteltische, die Hände auf dem Rücken zusammenschlagend, stehen. Zwei Minuten darauf öffnete Fritz Römer die Thür und trat mit sicherm Auge und ruhigem Anstande dem Wartenden entgegen.

„Ich weiß, Herr Geheimrath,“ begann er, „daß Ihrerseits eine Summe in den amerikanischen Obligationen, welche zuletzt im Markte waren, angelegt worden ist. Vor einer Viertelstunde nun habe ich eine sichere Privat-Mittheilung erhalten, die in Bezug auf dieselben Papiere den Ausbruch einer Krisis meldet, welche für den Augenblick den Werth derselben völlig illusorisch macht. Was die Zukunft darin bessern mag, läßt sich noch nicht absehen, in wenigen Tagen aber werden diese Schuldscheine in Deutschland gleich Null stehen. Noch ist es vielleicht für die jetzigen Inhaber möglich, den größten Theil ihres Geldes durch raschen Verkauf zu retten, da die deutschen Agenten sicher möglichst lange die Verbreitung ungünstiger Nachrichten hindern werden, und so hielt ich es für meine Pflicht, Ihnen persönlich die sofortige Mittheilung zu machen, sowie auch im Falle eines schleunigen Handelns mich zu Ihren Diensten zu stellen.“

Zedwitz hatte völlig unbeweglich den Worten gehorcht, und nur die Farbe seines Gesichts war um einen Schatten bleicher geworden. „Ich habe keinen Grund, die Richtigkeit Ihrer Mittheilung, für welche ich Ihnen danke, zu bezweifeln,“ erwiderte er nach einer kurzen Pause kalt und langsam, „von einem Handeln in dem angedeuteten Sinne kann aber jetzt, wo ich von dem Stand der Dinge unterrichtet bin, wo ich wissentlich werthlose Papiere für vollgültige verkaufen müßte, gar keine Rede sein. Was für den Kaufmann in einzelnen Fällen als Schlauheit gelten mag,“ setzte er mit einem leichten Zucken seiner Lippen hinzu, „würde hier die offene Unrechtlichkeit sein, und ich bin also außer Stande, einen mir in dieser Beziehung angebotenen Dienst anzunehmen.“

In Römer’s Gesicht war bei den letzten Worten ein hohes Roth geschossen. „Es ließe sich wohl ein Unterschied zwischen einer nur localen Coursentwerthung und einer thatsächlichen, allgemeinen Werthlosigkeit geltend machen,“ erwiderte er; „ich bescheide mich indessen, Herr Geheimrath, ich war auf unfreundliche Worte gefaßt und bitte nur die Regung, welche mich hierher trieb, zu entschuldigen!“ Er verneigte sich ruhig und verließ das Zimmer.


(Fortsetzung folgt.)

[549]
Album der Poesien.
Nr. 19.[1]


Ich lausche an der Thür hinein,
Im Hause ist es todtenstill;
O Mütterlein, lieb Mütterlein,
Du wirst gesunden, wenn Gott es will!

5
Du hast geduldet zwanzig Jahr,

Und sagtest nichts und klagtest nichts,
Dein Herz, das so voll Liebe war,
Vielleicht zu dieser Stunde bricht’s!

Und wär’s, und trüg’ man Dich hinaus,

10
Das Einzigletzte, was mich hält,

Dann scheid’ ich arm vom Vaterhaus,
Ein Fremdling, in die weite Welt!

O still! Das klang von Deinem Mund!
Ein Aechzen war’s, so schmerzlich tief,

15
So aus der Mutterseele Grund,

Das bebend meinen Namen rief!

Ich lausche ohne Laut hinein,
Es regt sich, flüstert, geschwind! geschwind!
Du lebst, Du lächelst, mein Mütterlein!

20
Ich bin so selig, – ich bin Dein Kind.


 K.


0

  1. Originalzeichnung von Sonderland in Düsseldorf.




Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
XIV.

Den Frühling und Sommer hatte Wilhelmine der Pflege ihrer tieferschütterten Gesundheit gewidmet, im Herbst kam sie nach Dresden, heiter, hoffnungsvoll und scheinbar genesen. Sie sang, wie schon erzählt, in mehrern Concerten, und die enthusiastische Aufnahme, die ihr zu Theil wurde, bestärkte sie in dem Entschlusse, die Künstlerlaufbahn, die sie vor zehn Jahren verlassen hatte, auf’s Neue zu betreten. Es wäre dies, nach so langer Pause, selbst wenn sie sich noch ihrer vollen Kraft erfreut hätte, ein sehr gewagtes Unternehmen gewesen; für die dreiundfunfzigjährige, durch die heftigsten Stürme erschütterte Frau war es geradezu unmöglich. Aber vergebens suchten ihre Freunde sie davon zu überzeugen. Gewöhnlich ließ sie den Widersprechenden gar nicht ausreden, sondern vertiefte sich, sobald das Gespräch diese Wendung nahm, in die Erinnerung der Qualen, die sie während der zehnjährigen Unthätigkeit erduldet hatte.

„Ich kann es nicht länger ertragen, ich kann es nicht!“ rief sie dann in dem leidenschaftlichen Tone, der jedes Herz bezwang. „O, hättet Ihr es gesehen, wie ich oft stundenlang auf meinem Sopha gelegen habe, die Augen zur Decke gewendet, mich zwingend – um nur nicht zu denken – die sich durchkreuzenden Streifen der Tapete am Plafond zu zählen und die Nägel, womit sie befestigt war. Wie im Wahnsinn hat es mich oft gepackt – ich mußte zählen, zählen, zählen, bis in die Millionen hinein. Zu andern Zeiten dagegen war’s, als ob sich die schwarzen Streifen und Punkte dehnten und streckten; sie tanzten auf und ab – die Decke schien sich niederzusenken, um mich zu erdrücken. Dann sprang ich auf und lief hin und her – schneller, immer schneller, um die Unruhe in mir, das Drängen und Fluthen zu übertäuben. Aber es war umsonst, und endlich hielt ich es nicht mehr aus in dem kleinen, niedrigen Zimmer; war mir doch Zeit meines Lebens das Himmelsgewölbe noch zu eng. – Wenn es Sturm und Schnee nur irgend erlaubten, rief ich die Hunde, steckte mir ein kleines Beil in den Gürtel und ging in den Wald – da habe ich Bäume gefällt, um nur irgend etwas zu thun.“

Bei diesen Erinnerungen weinte Wilhelmine, wie ich nur sie habe weinen sehen, so daß die dicken hellen Tropfen im vollen Sinn des Wortes über ihre Wangen strömten. Auch uns kamen, beim Anblick ihres Schmerzes, Thränen in’s Auge, und wir verließen sie gewöhnlich, ohne ihr auch nur den zehnten Theil von dem gesagt zu haben, was zu sagen wir uns vorgenommen hatten.

Am 6. Decbr. kamen wir frühmorgens zu ihr, um sie zum [550] Geburtstage zu beglückwünschen. Wir fanden sie in der heitersten Laune, mit glänzenden Augen und rosigem Gesicht. Ihr Tisch war schon ganz mit Blumen und Lorbeerkränzen bedeckt, und sie hatte eben einen Brief bekommen, der ihr ein Engagement in Amerika anbot.

„Muß ich es nicht als eine gute Vorbedeutung ansehen, daß ich diesen Antrag gerade heute bekommen habe?“ sagte sie, und dann malte sie sich aus, wie sie die Amerikaner für deutsche Musik begeistern würde. Diese uncultivirten Massen für die Kunst zu entflammen, erschien ihr – allem Widerspruch zum Trotz – wie die herrlichste Aufgabe, wie der Gipfelpunkt ihres Ruhmes. Noch lieber, das gab sie freilich zu, wäre sie noch einmal durch ihr Vaterland gezogen, um ihren alten Freunden „alte, liebe Lieder“ zu singen, und sie gab die Hoffnung, es zu können, noch immer nicht auf. Aber war Deutschland undankbar, so konnte sie es jetzt verschmerzen, da ihr ein neuer Weg geöffnet war, ihrem Schaffensdrange zu genügen. In ihrer ersten Freude vergaß sie sogar, daß ihr Gatte am allerwenigsten diesem Plane seine Zustimmung geben konnte.

Als wir wenige Tage später von Wilhelminen Abschied nahmen, war sie noch immer unter dem Einflüsse dieser frohen Erregung, aber schon in den nächsten Briefen sprach sich eine gedrückte Stimmung, eine wachsende Muthlosigkeit aus. Sie schreibt:

„Den 1. Januar 1859.

… „Ihr wißt aus eigener Erfahrung, wie ich hier in Anspruch genommen bin, und wie ich kaum eine ungestörte Stunde am Tage mein nenne. Ich habe am vergangenen Dienstag in einem Concerte gesungen, habe nächsten Montag ein großes Geburtstagsfest bei Carus, wo ich die Muse darstelle. Mein Schreibtisch ist angefüllt mit Briefen, die auf Antwort warten, meine Schülerinnen drängen mich ohne Unterlaß – kurz, ich müßte zehn Leben haben, um all dem genügen zu können, und ich werde es auch nicht mehr lange aushalten können, denn ich fühle, wie meine Gesundheit darunter leidet. Es wird wohl am besten sein, ich komme recht bald zu Euch, um mich geistig und körperlich zu erholen, denn ich bin krank an Seel und Leib! dazu der ewig düstre, umnebelte Himmel – es will eben kein heller Stern durchdringen. Ich bin wie ein noli me tangere, reizbar bis auf’s Aeußerste, und an meinen Liedern singe ich mich fast zu Tode.“

„Den 9. Januar 1859.

(An Elise Polko, die Wilhelminen den zweiten Band ihrer musikalischen Märchen gewidmet hatte.)

… „Vor Allem meinen Herzensdank für das treue Gedächtniß, das Sie mir bewahrt; Sie glauben nicht, wie wohl es mir thut, wenn ich einmal wieder von einer Menschenseele höre, daß meine Klänge in ihr festgehalten haben, denn oft kommt es mir vor, als hätte ich ganz umsonst gelebt. Was lassen sich die Leute jetzt für ein Gaukelspiel gefallen, und zwar in denselben Rollen, in denen ich ihnen mein Herzblut hingesungen habe! Wie traurig ist des Mimen Loos! wir sollen und können ja hauptsächlich nur auf die Massen wirken, vermögen aber keine tiefern Spuren einzudrücken, als leichter Sand sie aufnimmt. Ein Windhauch kräuselt darüber hin, und Alles ist verweht und vergessen! Diese Erfahrung mache ich jetzt hier an demselben Publicum, das – was ich zu schaffen vermochte – unmittelbar von mir empfangen. Mein armes, heißes Herz blutet dabei und hätte sich fast verblutet. Ja, das heiße Herz gehört eben dazu. Sie nennen so ein Herz eine Segnung des Himmels – wüßten Sie, theure Frau, wie es mir im Leben zum Fluch geworden ist! Man steht mit einem heißen Herzen so gar allein, denn wer versteht es, sich an seiner Gluth zu wärmen, und scheut nicht vor der Gefahr zurück, sich daran zu verbrennen?“

„Leipzig, 25. Febr. 1859.

„Habt Nachsicht mit einem vernichteten und zerstörten Gemüth, aus welchem alle Harmonie gewichen, in dem alle Saiten zerrissen sind und die, welche übrig blieben, nur harte Mißlaute geben. Der Himmel ist mein Zeuge, ich sehne mich unbeschreiblich nach einer Stunde des Aussprechens mit Euch, aber ich kann im Augenblicke auch nicht annähernd diese ersehnte Stunde feststellen. Ich bin krank und elend und halte mich für verloren.“

Zwei Tage später waren wir in Leipzig. Wilhelminens Briefe hatten uns wohl darauf vorbereitet, sie körperlich leidend zu finden, dennoch waren wir, als wir sie wiedersahen, im ersten Augenblicke wie gelähmt vor Schrecken. War das wirklich dieselbe Frau, die wir vor wenigen Monaten so schön, so lebensfrisch verlassen hatten? Jetzt kam sie uns entgegen in gebrochener Haltung, kaum fähig sich durch’s Zimmer zu schleppen, die Gesichtsfarbe gelblichgrau, die Augen erloschen und von dunkeln Ringen umgeben, die Schläfen eingesunken, die sonst so marmorglatte Stirn von hundert Fältchen durchschnitten. In Thränen ausbrechend, warf sie sich in unsere Arme, und es dauerte lange, ehe sie sich fassen konnte. „Ich bin nur noch der Schatten der Maria!“ sagte sie mit herzzerschneidendem Lächeln, und wir mußten ihr Recht geben.

Aber es kamen Stunden, wo sie geistig und körperlich die einstige Frische wiederfand, freilich nie auf lange Dauer. Nach dem Concerte, in welchem sie anfangs mit Verzweiflung gesungen hatte, weil sie ihre Stimme matt und angegriffen fand, fuhr sie mit uns und war so heiter, so liebenswürdig, so übersprudelnd von Geist, wie nur je zuvor. Sie erzählte von Paris und Berlin, spielte der Doche, der Rachel ganze Scenen nach – und wie wunderschön sah sie aus in ihrem schwarzen Anzuge mit dem Veilchenkranz im blonden Haar! am nächsten Morgen war der lebenswarme Hauch schon wieder dahin. Todtmüde und doch voll Hast und Unruhe reiste sie nach Dresden, um ein Concert für sich selbst zu geben – den bedeutenden Ertrag desselben wies sie dem Weberdenkmal zu. Gleich darauf kam sie nach Leipzig zurück. Sie hatte versprochen, in einer Matinee des Bassisten Pögner zu singen, und hielt Wort, obwohl sie in einem Zustande der Aufregung und Abspannung war, der uns zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß gab.

Aber diese Sorge galt damals weniger ihrem Körperleiden, das wir für ein vorübergehendes hielten, als den geistigen Kämpfen und Schmerzen, in denen wir sie ringen und erliegen sahen. Herr von Bock hatte, wie sich’s erwarten ließ, seine Einwilligung zu der amerikanischen Reise versagt, und Wilhelmine hatte nur mit verdoppeltem Eifer nach einem Wege gesucht, der sie in der Heimath an das gewünschte Ziel führen könnte. Nach allen Seiten hin hatte sie anzuknüpfen gesucht – von allen Seiten empfing sie kühle, ausweichende, ablehnende Antworten, und so mußte sie endlich doch aus allen diesen Entschuldigungen und Vorwänden herauslesen, daß ihre Zeit als Künstlerin vorbei war. Diese Ueberzeugung, gegen die sie sich lange mit verzweiflungsvoller Beharrlichkeit sträubte, brach ihren Lebensmuth. So oft wir sie später, gegen unsere Ueberzeugung, durch die Hoffnung endlicher Genesung zu trösten suchten, brachte sie uns durch die traurige Frage zum Schweigen: „Was soll ich denn noch in der Welt? – ist nicht für mich Alles vorbei?“

Am 6. März war das Pögner’sche Concert. Nach jedem Liede brach Wilhelmine weinend zusammen. Aber wie sang sie auch! mit müder, matter Stimme zwar, aber mit dem herzerschütterndsten Ausdruck – es war wirklich, als ob sie in den letzten Liedern, die sie singen sollte, ihr Herzblut hinströmen ließe. Den „Wanderer“ von Schubert sang sie; ihr unvergeßliches: „Ich grolle nicht“, das Schumann nicht umsonst ihr zugeeignet hat; die Schubert’schen Lieder: „Geheimes“, „Trockne Blumen“, „Ungeduld“ und endlich Mendelssohn’s „Es ist bestimmt in Gottes Rath“. Als wir nach diesem Liede zu ihr kamen, sagte sie, indem sie uns beide Hände reichte: „Die letzten Worte, meine Lieben, habe ich für Euch gesungen:

Wenn Menschen von einander gehn,
So sagen sie: auf Wiedersehn!“

Wir haben seitdem kein Lied mehr von der geliebten Stimme gehört. Unmittelbar nach dem Concerte kehrte Wilhelmine nach Dresden zurück. Beim Abschied versprach sie uns so bald als möglich in unsere Wolfenbüttler Einsamkeit zu folgen, aber statt der Ersehnten kamen nur die traurigsten Briefe, – Briefe, in denen wir alle die Schmerzen und Kämpfe wiederfanden, das momentane Sichaufraffen und wieder Erliegen, das uns beim letzten Zusammensein mit ihr das Herz zerrissen hatte. Sie schreibt:

„Dresden, 12. März 1859.

… „Ich kann mich sehr niederwerfen lassen, aber es kommt auch wieder der Moment, wo ich mich mit aller Kraft erhebe. Aber all das muß aus freier eigner Willenskraft hervorgehen, und geht es auch nicht so schnell, wie Eure Liebe und Fürsorge wünscht, so habt Geduld.“

„Dresden, 19. März 1859.

„Es scheint, als wäre es im Rathe der Götter beschlossen, daß ich hier wie Prometheus angeschmiedet liegen und mir nicht die prosaische Leber, sondern das poesiereiche Herz täglich aus der wunden Brust reißen lassen soll. Die ärztliche Consultation hat meinen Zustand bedenklicher herausgestellt, als ich selbst geglaubt, und [551] Dr. W. will mich wenigstens noch 8–10 Tage hier haben, um mich genau zu beobachten und meinen sehr complicirten Zustand kennen zu lernen, Nun wißt Ihr wohl am besten, Ihr Lieben, daß ich mir gar wenig mehr aus dem Leben mache und mit dem Gedanken zu sterben in letzter Zeit sehr vertraut geworden bin; aber ich möchte ein Geschäft auf Erden noch vollbringen, damit meine Spur nicht gar zu schnell verweht ist. Ich will wirklich mein wunderbares Leben noch aufzeichnen.“

Schon im December 1858 war Wilhelmine mit Ernst Keil, dem Herausgeber und Verleger der Gartenlaube, ihrer Memoiren wegen in Unterhandlungen getreten. Auf Keil’s wiederholte Aufforderungen, ihm den Anfang ihrer Lebensgeschichte für sein Blatt zu überlassen, antwortete sie am 5. Januar 1859, daß sie im Augenblick noch nicht an die Veröffentlichung ihrer Memoiren denken könne. „Glauben Sie mir,“ schreibt sie an Keil weiter, „daß ich überhaupt nur mit schwerem Herzen daran gegangen bin, die Geschichte meines Lebens zu erzählen, denn es ist eben jene alte Geschichte, bei welcher einem das Herz im Leibe bricht. Die Welt hat nur die Rosen auf meinem Lebenspfade gesehen, aber nicht gewußt, wie wund ich mich an ihren Domen geritzt habe. Indessen es ist mir daran gelegen, daß mein deutsches Vaterland erfahre, aus welchen Schmerzen die Künstlerin sich entwickelt hat, die es so oft durch sein Zujauchzen diese Dornen hat vergessen machen. Ich werde im Laufe dieses Monats nach Leipzig kommen, das Fertiggeschriebene mitbringen und Ihnen daraus vorlesen, damit Sie Sich überzeugen, wie unmöglich es ist, damit jetzt schon in die Oeffentlichkeit zu treten … Aber ich werde fleißig fortfahren an diesen Lebenskizzen zu schreiben, und wenn ich sterbe, so werde ich dieselben als ein Vermächtniß der deutschen Nation hinterlassen, und die Gartenlaube soll meine Testamentsvollstreckerin sein.“

In den ersten Märztagen hatte Wilhelmine bei Keil den Anfang ihrer Lebensgeschichte vorgelesen – es sind die Aufzeichnungen, die ich im Auszuge zu Anfang dieser Erinnerungen eingeschaltet habe. Wilhelmine hat leider nicht mehr daran fortarbeiten können, aber die Absicht es zu thun hat sie noch lange gehabt. In ihrem Briefe vom 10. März fährt sie fort:

„Keil hat mir wieder einen sehr freundlichen, aber auch sehr dringenden Brief geschrieben, den ich noch nicht beantwortet habe, weil mir der Entschluß immer noch sehr schwer wird, aber endlich muß es doch sein! ich will heute noch antworten. Nur will ich nichts überstürzen und mir wenigstens bis zum Herbst noch Zeit lassen.“

„Dresden, 23. März 1859.

„Mit welcher Zuversicht habe ich heute früh beim Erwachen auf Nachrichten von Euch gehofft! Vergebens! seid Ihr nur böse? O, seid es nicht, lieben Kinder! wüßtet Ihr, daß es nur das furchtbare Müdesein ist, was mich so unbeweglich macht. Und dann bin ich auch körperlich so herunter, daß ich kaum durch die Stube gehen kann. O, seid nicht böse, quält mich nicht. Auch drücken zu allem Andern die ernstesten Sorgen. Alle Opfer, die ich diesen Winter gebracht habe, sind umsonst gebracht, denn ich fühle es, ich kann den Kampf mit dem Leben nicht noch einmal aufnehmen. Ich bedarf der Ruhe, der Pflege. Mit Ungeduld erwarte ich den Ausspruch des Arztes, was im Lauf des Sommers mit mir geschehen soll. Am liebsten setzte ich mich für die Dauer der schönen Jahreszeit mit Euch an einen schönen Schweizer oder Tyroler See. Nur Ruhe um mich, den Anblick einer schönen Natur und ein mildes, sanftes, geduldiges Freundeswort! Ich bin nur in einem gar zu jämmerlichen körperlichen Zustande, so daß ich nicht werde reisen können. O Gott, meine geliebten Freundinnen, wie bin ich müde von alle dem!“

Am Morgen des 2. April schrieb sie uns die wenigen Worte: „Ich bin morgen Abend um 7 Uhr bei Euch.“ Aber noch vor dem Briefe erhielten wir eine telegraphische Depesche mit der Nachricht, daß sie nicht kommen könnte, und am folgenden Tage die mit zitternder Hand geschriebenen Zeilen:

„Den 2. Mittags 12 Uhr. So eben habe ich mich einer strengen ärztlichen Prüfung unterworfen gehabt, und aus den unbestimmten, ausweichenden Antworten geht es mir mit Gewißheit hervor, daß ich verloren bin! Ich fürchte den Tod nicht, aber es hat mich doch gepackt, so ein jämmerliches Ende vor mir zu sehen. Ich kann nicht reisen, darum kommt Ihr, ich muß Euch sprechen. Bis in den nahen Tod

Eure Wilhelmine.“

Es war ein trauriges Wiedersehen. Wilhelmine war von den Aerzten aufgegeben. “Anfangs schien es sogar, als ob es rasch zu Ende gehen würde. Die Aerzte gaben der Kranken nur noch vier bis sechs Wochen Frist, und wir konnten kaum hoffen, daß Herr von Bock, der von ihrem Zustande benachrichtigt worden war und dessen Ankunft wir Mitte Mai erwarteten, sie noch am Leben finden würde. Wilhelminen mußte natürlich die Gefahr verborgen bleiben, aber obwohl sich ihre ganze Umgebung bemühte, heiter und hoffnungsvoll zu scheinen, und obwohl die Kranke noch immer die weitausgreifendsten Pläne für die Zukunft machte, bin ich überzeugt, daß sie sich nie länger als auf Augenblicke über ihren Zustand getäuscht hat. Im Grunde war es ihr gar nicht Ernst mit dem Wunsch zu genesen. Die Sehnsucht nach Ruhe, die sie seit frühster Jugend in der Seele getragen hatte, war mit den Jahren, mit den Leiden gewachsen. Und doch – wunderbarer Widerspruch! – doch sträubte sich ihr ganzes Wesen gegen die herannahende Auflösung. Ihrem kräftigen, lebensvollen Organismus stand der Tod nicht nur als etwas Fremdes, Feindseliges, sondern als etwas Unfaßbares gegenüber. Wenn sie eben aus tiefster Seele aufgeseufzt hatte: „Wie wohl wird mir sein, wenn ich endlich daliege, wo mich nichts mehr stört!“ – kam plötzlich jener Schauder über sie, den gewöhnlich nur die Jugend vor dem Tode empfindet. Dann klammerte sie sich wieder mit aller Macht an das schwindende Leben; dann wollte sie getröstet, getäuscht, überredet sein – dann täuschte sie sich selbst und Andere. Es hat bis in die letzten Monate ihres langen Todeskampfes Tage und Wochen gegeben, wo wir trotz des Ausspruchs der Aerzte und trotz ihres sichtlichen Hinschwindens nicht glauben konnten, daß wir eine Sterbende vor uns sahen, bis ein neuer bedenklicher Anfall unsern Hoffnungen wieder ein Ende machte.

Aber während sich Wilhelmine einestheils in die Erinnerung an das Vergangene vertiefte, kehrten anderntheils ihre Gedanken wieder und wieder zu der Frage zurück: welche Lösung der Tod den Räthseln des Lebens bringen mag? Wilhelmine hatte sich viel mit den Schriften der Materialisten beschäftigt; sie war durch dieselben in der Zuversicht erschüttert, die sie früher beim Hinblick auf „das Ende der Dinge“ erfüllte. Die Tröstungen des „Kinderglaubens“, den sie jetzt belächelte und – zurückwünschte, hatte sie verloren, war aber nicht zu der Resignation gelangt, ohne welche das Aufgeben des Glaubens an persönliche Fortdauer kaum möglich ist. Wilhelminens ganzes Wesens widerstrebte dieser Resignation. Sie hätte eine Welt mit ihrem Ich erfüllen mögen und sollte sich nun darein ergeben „in’s Nichts zurück zu fließen“. Immer kam sie auf dies Thema zurück, und obwohl sie bei ihrer Ansicht verharrte, war es unverkennbar, daß ihr der Widerspruch wohl that, daß sie sich danach sehnte.

Was man im gewöhnlichen Sinne des Wortes fromm nennt, war Wilhelmine nicht, aber ein tief religiöser Zug geht durch ihr ganzes Wesen. Der höchste Ausdruck ihrer Freude, ihrer Begeisterung ist immer ein Ausblick zu Gott, und jeder Schmerz, jede Angst führt sie zu ihm. In ihren Tagebuchblättern schreibt sie: „Neujahrsnacht 1838. Nimm, hohes, unerforschliches Wesen, das wir Gott nennen, nimm die Gefühle der Seele, die Du mir eingehaucht, als Gebete auf. Laß sie zu Deinem Throne dringen, denn sie sind der köstlichste Weihrauch, den ich Dir zu spenden habe. Du bedarfst keiner Worte; ein Gefühl, wie sich eben viele in meiner Brust gelöst haben, ist für Dich die deutlichste Sprache. Mir ihr brauche ich auch nicht in die erbauten Tempel zu gehen, mein einsames Stübchen war eben der heiligste Tempel, in dem ich heiß und brünstig und mit begeisterten Thränen zu Dir gebetet habe. Nimm sie auf, die Gefühle, als Gebet. Sie steigen auf aus meiner Seele, die das Beste will und Dich um Kraft anfleht, es ausführen zu können.“

„Das war Religion, was eben in meiner Brust sich regte. Es ist die einzige, zu der ich mich bekenne. Dringt mir keine Meinungen von thörichten Menschen auf, noch legt mir den Zwang der Gebräuche und Formen auf. Meine Seele hat dem Schöpfer ein Halleluja gesungen, so gut wie in irgend einer Kirche – und dies Halleluja kam aus tiefer Brust.“

(Aus spätern Jahren.) „… Ich stehe mit meinem Gott so gut! das fühle ich bis in den Mittelpunkt meiner Seele, die sein eigen. Nicht sein verzogenes, aber sein ungezogenes Kind bin ich, dem er wie ein guter, aber strenger Vater jedes Vergehen rügt, der aber auch Nachsicht und Geduld hat. Ich quäle ihn ja auch [552] nicht mit zu häufigen Bitten. Nein – nur wenn es dem Herzen recht Bedürfniß ist, dann flüchte ich zu ihm. Heute habe ich eine Thräne durch die düsteren Wolken zu ihm gesendet. Sie war ein heißes, brünstiges Gebet – ja, und er hat es erhört!“

„… Der ganze Himmel ein Feuermeer! Blitz auf Blitz! wie durchschauert mich diese Erhabenheit der göttlichen Allgewalt, die uns feurige Blitze sendet, wo wir in Eis und Kälte erstarren sollten, denn es ist der 4. December. Wie klein und nichtig erscheinen alle Gefühle für das Irdische gegen die Empfindungen, die solche Gott gleichen Erscheinungen erregen! Diese Blitze sind Gott, dieser Sturm, der die Luft durchbebt, der uns arme Erdengeschöpfe erbeben macht, ist Gott, vor dem wir niederschaudern und sagen: Herr, gieb uns Armen Kraft, Deine Größe zu ertragen.“

… „Noël mit seiner düstern, schwarzen Philosophie hat meine Seele mit bangem Schauer erfüllt. – Nein, er hat nicht Recht! ich widerspreche ihm aus dem Gefühl der Ueberzeugung, die meine Seele von ihrem Fortbestehen hat. Er wendet mir zwar ein, daß von der gänzlichen Vergänglichkeit unseres Daseins und von dem Nichtbestehen der Seele das hohe Alter eines Menschen den klarsten Beweis gäbe, da in ihm jede Thätigkeit der Seele aufhöre und jede leise Saite des tiefern Empfindens verklinge. Aber wenn auch die Federkraft der Seele nachläßt, wenn das Bewußtsein derselben aufhört – ist das ein Beweis von ihrem Nichtvorhandensein oder Aufhören? Können wir denn wissen, was in dem blöden Greise vorgeht, wenn ihn auch die Gebrechlichkeit seines Körpers wie ein seelenloses Wesen erscheinen läßt? Kennen wir die Träume des unglücklichen Wahnsinnigen, der wachend keiner Mittheilung, keines Bewußtseins fähig ist? Wäre das Wesen, das über uns waltet, ein gütiges, wenn es das Empfinden jeder Pein, jeder namenlosen Sehnsucht in unsere Brust gepflanzt hätte, ohne uns das klare Verständniß des Erlebten und Ersehnten zu geben, wenn erst die Fesseln der Seele gelöst sein werden? Die abstrakten Begriffe, die wir uns von der Seele und der Fortdauer machen, mögen falsch und verwerflich sein; aber keiner soll mir den Glauben nehmen, daß Etwas von uns fortbesteht, das zu einem höheren Zwecke bestimmt ist, als nur etwa das Feld zu düngen, und daß bei dem Zusammensinken unseres Staubes, dem doch oft ein großer Gedanke, ein edles Streben innewohnte, noch etwas Anderes in’s Dasein treten muß, als nur die Blume, oder der Krautkopf, oder die Giftpflanze, die aus unserer Asche aufschießt. Was aus uns wird? – diese Frage können wir freilich nicht lösen. – Er dort oben wird es – aber daß wir etwas, und etwas bewußt Großes werden, der Glaube steht in mir fest.“

In ihren letzten Lebenstagen hat sie diesen Glauben wiedergefunden.




Die Ermordung des Herzogs von Enghien durch Napoleon I.


Keine That hat auf das Leben Napoleon’s I. einen so schwarzen Flecken geworfen, als die Ermordung des Herzogs von Enghien. Kein Grund der Milderung und zur Entschuldigung läßt sich für sie auffinden. Keine That in seinem Leben hat vielleicht aber auch sein Gewissen schwerer belastet, denn keine seiner Handlungen hat er eifriger zü motiviren und in einem günstigeren Lichte darzustellen gesucht, als diese Ermordung. Daß er Palm und Hofer erschießen ließ, läßt sich von seinem Standpunkte aus vielleicht rechtfertigen, denn Palm starb nach Gesetzen, die wirklich existirten, wenn auch nur der äußere Sinn eines Tyrannen dieselben in der Weise zur Ausführung bringen konnte, und Hofer’s Tod wurde, zum Wenigsten durch den Spruch eines der Form nach regelrechten Kriegsgerichts bestimmt. Es lassen sich Rechtfertigungsgründe auffinden, daß er auf seinem Rückzuge aus Rußland die Beresinabrücken und nach der Schlacht bei Leipzig die Elsterbrücke hinter sich sprengen ließ und dadurch Tausende seiner Soldaten wehrlos den Händen des Feindes überlieferte; die Rettung seines eigenen Lebens ließ diese Thaten vielleicht nothwendig erscheinen. Es lassen sich vielleicht Milderungsgründe aufsuchen dafür, daß er Hunderttausende nur seinem grenzenlosen Ehrgeize opferte; ähnliche Fälle sind in der Geschichte leider zu oft vorgekommen – der Ueberfall, die Verhaftung und der Tod des Herzogs von Enghien bleiben immer ein brutaler, gemeiner Act roher Gewalt, die echte That eines Corsen, dessen glühendes Rachegefühl sich nicht darum kümmert, ob er das Völkerrecht mit Füßen tritt, ob er, jedem Rechtsbegriffe eines civilisirten Volkes höhnend in’s Gesicht schlägt, ob er noch etwas voraus hat vor einem Banditen, der mit dem Dolche in der Hand in einem Versteck am Wege lauert.

Der Herzog von Enghien ist durch Napoleon nicht hingerichtet, er ist gemordet, auf schmachvolle Weise gemordet, um den Rachekitzel eines Tyrannen zu befriedigen. Sein Tod ist eine Infamie jedem Rechtsbegriffe gegenüber, ein noch ungesühnter Hohn gegen Deutschland. – Deshalb hallte, als des Herzogs Blut im Schloßgraben von Vincennes geflossen war, ein Schrei des Entsetzens über ganz Europa hin. Aber dieser Schrei, der in jedes Menschen Brust Entrüstung hervorrief, verhallte in Deutschland, wo so Vieles verhallt ist, ungehört, und den Mörder an der Seine traf nichts als ein schwaches, schnell verwehtes Echo!

Louis Antoine Henri von Bourbon, Herzog von Enghien, der am 2. August 1772 geborene Sohn des Herzogs von Bourbon, der Enkel des Prinzen Ludwig Joseph von Condé, war, wie die ganze bourbonische Linie, durch die Revolution aus Frankreich vertrieben, für einen Fremdling erklärt und für immer vom französischen Boden verbannt. Mit einem ritterlich tapferen, kühn entschlossenen Sinne verband er ein edles Herz und eine Menge Tugenden, so daß das Haus Bourbon seine meisten Hoffnungen auf diesen Prinzen und dessen entschlossene Thätigkeit baute. Er würde vielleicht diese Hoffnungen wirklich gerechtfertigt haben, wäre er nicht durch die verrätherische Gewalt des Corsen getödtet worden.

Schon das Aeußere dieses Prinzen war ein gewinnendes und sofort seinen ganzen Charakter verrathendes. Er galt mit Recht für einen schönen Mann. Eine hohe, schlanke und doch kräftige Gestalt; das hellblonde, leicht gelockte Haar umschloß eine freie und hohe Stirn, die großen Augen blickten ehrlich und zugleich entschlossen, der Mund war fein geschnitten. Dazu stand er in der vollen Fülle seiner Kraft, noch nicht ganz zweiunddreißig Jahre alt, als sein Blut durch Napoleon vergossen wurde.

Unter seinem Großvater Condé hatte er gegen Frankreich die Waffen geführt, um die seinem Hause entrissenen angeerbten Rechte wieder zu erringen. Mit dem Jahre 1801 lebte er still, nur dem Vergnügen der Jagd, welche er leidenschaftlich liebte, sich hingebend, auf dem badischen Schlosse Ettenheim, welches ihm der Kurfürst von Baden nach vorhergegangener Verständigung mit dem französischen Gouverneur und dem Cardinal von Rohan eingeräumt hatte.

Er mochte absichtlich diesen Ort gewählt haben, um bei einem Umsturze der Verhältnisse in Frankreich sobald als möglich auf französischem Boden und in Paris sein zu können. Jedenfalls konnte er hier ohne Besorgniß leben, er befand sich in einem neutralen Lande und stand unter dem Schutze des allgemeinen Völkerrechtes. Eine Pension, welche er von England bezog, sicherte sein äußeres Leben, und freigebig theilte er davon noch armen französischen Emigranten mit, von denen er wiederholt einige auf dem Schlosse sah und bewirthete. Ihr Loos war ja mit dem seinigen eng verknüpft.

So still der Herzog auch auf Ettenheim lebte, so war er doch dem Hasse des ersten französischen Consuls, der das ganze Haus Bourbon umfaßte, nicht entgangen, und ihn hatte die Rache des Corsen sich zum Opfer ausersehen. Er war der entschlossenste und thätigste von allen bourbonischen Prinzen, deshalb am meisten zu fürchten; sein Tod sollte alle mit Entsetzen erfüllen und abschrecken, Hoffnungen auf Frankreichs Thron zu nähren. Der Herzog ahnte nichts von dem, was im Stillen gegen ihn vorbereitet wurde.

Schon ehe der brutale Gewaltstreich gegen den Herzog ausgeführt wurde, war ein geheimer Polizeiofficiant nach Ettenheim gesandt worden, um über die Lage der Dinge, die Bewachung des Schlosses und die Zahl der herzoglichen Diener genaue Erkundigungen einzuziehen und diese dem ersten Consul direct zu überbringen. Alles schien zur Ausführung des frechen Unternehmens günstig zu sein.

[553] Am Abend des 14. März 1804 überschritt ein Corps französischer Soldaten und Gensd’armen, vom Oberst Ordener commandirt, unter der Leitung des Generals Canlaincourt, des späteren Herzogs von Vicenza, Frankreichs Grenze und betrat das neutrale, nach dem Völkerrechte unverletzbare Gebiet Badens. Die Soldaten besetzten Kehl, die Gensd’armen schritten weiter nach dem Schloß Ettenheim. Die Nacht war vollständig hereingebrochen, als sie dasselbe erreichten. Unbemerkt besetzten sie alle Ausgänge. Im Schlosse war es still. Alle hatten sich bereits dem Schlaf übergeben, denn der Herzog führte ein einfaches Leben und hatte den Tag auf der Jagd verbracht.

Da drangen die Gensd’armen unter Charlot in das Schloß vor. Sobald der Herzog von dem unerwarteten und unerhörten Ueberfall Kunde erhielt, sprang er nur im Hemde vom Lager auf und griff nach seinen Waffen. Er riß das Fenster auf und rief: „Wer da?“ – Charlot antwortete ihm. Er war entschlossen, als Enkel Condé’s seine Freiheit und sein Leben theuer zu verkaufen. Sein geringes Gefolge und einige Emigranten, welche sich zufällig im Schlosse befanden, sammelten sich um ihn. Einer seiner Officiere – vielleicht hatte französisches Gold ihn bestochen – stellte dem entschlossenen Fürsten vor, wie vergeblich ein Widerstand sein werde gegen die vielfach überlegenen Gensd’armen. Die Meisten von dem Gefolge waren nicht ohne Waffen, dennoch gab der Herzog dieser Vorstellung nach, weil er überhaupt noch nicht mit den Absichten der das Schloß Besetzenden bekannt war. In Eile warf der Herzog einen kurzen Jagdrock über und zog Beinkleider an.

In diesem Augenblicke stürzten die Gensd’armen in das Zimmer und hielten dem Herzog und seinen Begleitern gespannte Pistolen entgegen. Unerschrocken trat der Prinz vor und verlangte zu wissen, weshalb sie in das Schloß gedrungen wären.

Die Gensd’armen kannten ihn nicht, und Charlot verlangte zu wissen, wer der Herzog von Enghien sei.

„Wenn Ihr ihn verhaften wollt,“ rief der Herzog, ohne seine Fassung zu verlieren, „so müßt Ihr seinen Steckbrief bei Euch haben.“

„So müssen wir Alle hier verhaften,“ erwiderte der Oberst Ordener, und Alle, welche sich in dem Zimmer befanden, wurden von den Gensd’armen festgenommen.

Der Herzog, noch immer unerkannt, fügte sich mit ruhiger Würde der Uebermacht der rohen Gewalt. Von allen Seiten von Gensd’armen umringt, wurden die Gefangenen nach einer nahegelegenen Mühle geschleppt, nachdem des Herzogs sämmtliche Papiere mit Beschlag belegt waren. Hier erst wurde der Prinz erkannt, und es wurde ihm gestattet, sich vom Schlosse einige Kleidungsstücke und nöthige Bedürfnisse nachkommen zu lassen. Ohne Aufenthalt wurden die Gefangenen nun nach Kehl und von dort auf die Citadelle von Straßburg gebracht. Hier wurde der Herzog von seinen Dienern getrennt, und nur seinem Adjutanten, dem Baron de St. Jacques, wurde gestattet bei ihm zu bleiben.

Noch immer wußte der Prinz nicht, weshalb er verhaftet war. Er hatte zwar gegen Frankreich die Waffen geführt, indeß als offener Feind, er wußte, daß der erste Consul seine ganze Familie haßte, allein in der letzten Zeit hatte er sich nichts gegen Frankreich zu Schulden kommen lassen. Und dennoch mußte schon die außerordentliche Strenge, mit welcher er bewacht wurde, in ihm Besorgnis; erwecken. Niemand erhielt Zutritt zu ihm, Niemand wurde es gestattet, mit ihm zu reden. Drei Tage lang blieb er auf der Citadelle.

Kurz nach Mitternacht zwischen ein und zwei Uhr am 18. März trat wieder ein Gensd’arm in des Herzogs Gefängniß, nöthigte ihn aufzustehen, sich anzukleiden und kündigte ihm an, daß er sich zu einer Reise bereit halten möge, ohne hinzuzufügen, wohin er gebracht werden solle.

Der Prinz wünschte von seinem Kammerdiener begleitet zu sein; er erhielt zur Antwort, daß er keinen Kammerdiener mehr bedürfe. Nur zwei Hemden durfte er mit sich nehmen.

So geheim als möglich und mit größter Eile wurde er, fortwährend auf das Schärfste bewacht, in festverschlossener Kutsche nach Paris transportirt, wo er am 20. März 41/2 Uhr Nachmittags ankam. Er wurde zuerst in dem Tempel eingesperrt, allein schon nach wenigen Stunden wurde er auf’s Neue, von Gensd’armen umringt, fortgeführt und zwar nach dem ungefähr eine halbe Meile von der Stadt entfernt gelegenen alten gothischen Schlosse Vincennes, welches als Staatsgefängniß diente. Absichtlich schien man ihm keine Ruhe gönnen zu wollen, die er während der Reise nach Paris seit drei Nächten gänzlich entbehrt hatte. Um 8 Uhr war der Prinz bereits in seinem Gefängnisse. Erschöpft nahm er ein einfaches Abendessen und warf sich auf ein schlechtes Bett in einem Entresol.

Der Tod des Herzogs war von dem ersten Consul Bonaparte längst beschlossen und bestimmt; er hatte den gehaßten Mann jetzt sicher in seiner Gewalt, er hätte ihn in einem der Kerker von Vincennes ermorden lassen können, allein er wollte diesen Mord mit einem Scheine des Rechtes umgeben, und wie er sich nicht gescheut hatte, bei der Verhaftung des Herzogs das Völkerrecht, das geheiligte Recht eines neutralen Landes, mit dem Frankreich in freundlicher Beziehung stand, mit Füßen zu treten, so trug er jetzt auch kein Bedenken, die Gesetze des Landes, welche er selbst zum Theil gegeben hatte, als eine Farce zu gebrauchen, sie nach seinem Willen zu drehen und ihnen höhnend in’s Gesicht zu schlagen.

Nach des Consuls Befehl sollte der Herzog die Sonne des folgenden Morgens nicht wieder erblicken, die Zeit drängte deshalb, um die Posse eines Gerichtes noch in Scene zu setzen. Nachdem der gänzlich erschöpfte Prinz kaum in den ersten Schlaf gesunken war, wurde er kurz vor Mitternacht von Gensd’armen wieder wach gerüttelt und zu einem Verhöre geführt, von welchem sein Leben abhing. Die Militärcommission, vor welche er gestellt wurde, bestand aus acht Officieren unter dem Vorsitze des Generals Hullin, des Bastillenerstürmers. Sie war von Mürat, dem Gouverneur von Paris und Schwager Bonaparte’s, ernannt, also ließ sich erwarten, daß sie dem Willen des Consuls ganz ergeben war, und doch schlug dem Präsidenten dieses Gerichtes, Hullin, als er alt und erblindet war, das Gewissen, und er suchte sich zu rechtfertigen und einen Theil der Schuld von diesem Gaukelspiele und Morde von sich abzuwälzen. Außer dieser Commission war noch der Chef der Polizei, der verachtungswürdige Savary, bei dem Verhöre zugegen und Gensd’armen, welche zur Sicherheit den Saal füllten.

Obgleich erschöpft und aus dem ersten Schlafe gerissen, bewahrte der Prinz bei dem Verhör seine volle Würde und beantwortete alle an ihn gerichteten Fragen mit ruhiger Festigkeit. Das Verhör war bald beendet. Nach den französischen Gesetzen hätten ihm seine Antworten nochmals vorgelesen werden müssen, um die Richtigkeit des Protokolls zu bestätigen. Dies geschah nicht. Das Gesetz bestimmte ferner, daß nach Abschluß des Verhörs sich jeder Angeklagte einen Freund zur Vertheidigung zu wählen habe – auch dies unterblieb, der Herzog hätte sonst unter den Gensd’armen sich einen Vertheidiger wählen müssen. Nicht einmal der vom Gesetz bestimmte gesetzliche Beistand wurde ihm gestattet.

Noch in derselben Stunde, also kurz nach Mitternacht, wurde der Herzog schon vor den Gerichtshof, welcher aus der bereits erwähnten Militärcommission bestand, geführt. Auch dies war ungesetzlich, denn nach dem Gesetze sollte das Gericht am Tage und öffentlich stattfinden. Dieses Gaukelspiel hatte freilich das Licht des Tages zu scheuen, seine ganze Aufgabe bestand auch nur darin, irgend einen Grund zum Todesurtheil aufzufinden. Schon wurde im Schloßgraben ein Grab für den unglücklichen Herzog gegraben, lange bevor das Urtheil über ihn gesprochen war. Savary hat dies zu leugnen versucht, indeß nicht zu widerlegen vermocht. Die gerichtliche Untersuchung bestand im Wesentlichen nur aus einer Wiederholung des oberflächlichen Verhöres. Kein Zeuge für oder gegen den Herzog war vorhanden. Die gegen ihn vorgebrachten Anschuldigungen konnten ohne Zeugen keine beweisende Kraft haben, sobald der Prinz sie leugnete – bei dieser Gerichtsposse war Alles möglich, weil der Tod des Prinzen schon bestimmt war. Der Herzog benahm sich vor diesem Gerichtshofe mit derselben Ruhe und Würde wie beim Verhöre. Seine Antworten waren ruhig, offen und gefaßt.

Die Anklagen gegen den Prinzen bestanden in Folgendem: 1) gegen Frankreich gefochten zu haben, 2) im Solde Englands zu stehen, 3) mit England Complote gegen die innere und äußere Sicherheit der Republik geschmiedet zu haben. Keines von den damals in Frankreich bestehenden Gesetzen konnte über die beiden ersten Punkte entscheiden, denn der Herzog gehörte nicht zu den Emigranten und war nicht mit den Waffen auf französischem Boden angetroffen, sondern aus einem neutralen Lande nächtlich geraubt worden. Für die dritte Anklage war die Militärcommission nicht competent. Dies angeschuldigte Verbrechen gehörte durchaus vor [554] einen Civilgerichtshof. Der Herzog stellte nicht in Abrede, gegen Frankreich die Waffen geführt zu haben, und nannte die Feldzüge, die er als Commandant des Vortrabes und später als Oberst mit der Emigrantenarmee unter seinem Großvater, dem Prinzen von Condé, gemacht habe. Er räumte ein, von Englands Großmuth eine Pension zu seinem Unterhalte erhalten zu haben, wies aber entschieden zurück, in englischem Solde zu stehen. Ebenso entschieden wies er den dritten Punkt der Anklage als durchaus unwahr und unbegründet zurück.

Der folgende Theil der Untersuchung bestand nun darin, den Herzog in die Verschwörungen des Pichegru, Georges Cadondal und Moreau zu verwickeln. Der früher nach Cayenne verbannte und heimlich von dort zurückgekehrte General Pichegru, ein unternehmender, entschlossener Mann, der kühne, wilde Georges Cadondal, früher Anführer der Chouans, und der tapfere Moreau hatten sich vereint, um den übermüthigen, mit gewaltthätiger Hand immer weiter um sich greifenden Bonaparte zu stürzen, und Pichegru wie Georges Cadondal waren heimlich mit einer Anzahl Verschworener nach Paris gereist, um den Consul durch Mord aus dem Wege zu räumen. Der edlere Moreau wollte von einem solchen Meuchelmorde nichts wissen und noch weniger mit ihm etwas zu schaffen haben. An dieser auf das Leben des ersten Consuls, der gegen Meuchelmord außerordentlich empfindlich war, gerichteten Verschwörung wurde auch der Herzog beschuldigt, Theil genommen zu haben. Man mußte einen Grund haben, das Todesunheil über ihn auszusprechen. Natürlich stellte der Herzog jede Theilnahme an dieser Verschwörung in Abrede. Er hatte nicht einmal darum gewußt. Er kannte weder Pichegru noch Georges Cadondal, noch hatte er je mit ihnen in Verbindung gestanden und gab dieses natürlich an. Es fehlte immer noch an scheinbar genügenden Gründen, um mit einiger Wahrung des Rechtes das Todesurtheil über den Angeklagten auszusprechen, und doch forderte dies der Befehl des ersten Consuls. Der Präsident dieses Gerichtes, der General Hullin, hat später selbst gestanden, daß die Festigkeit, die Offenheit und Ruhe in des Herzogs Antworten die Richter zur Verzweiflung gebracht habe. Sie schienen selbst Mitleid mit ihm zu fühlen und für einen Augenblick Bonaparte’s Befehl zu vergessen.

Schon in dem Verhöre hatte der Herzog unumwunden eingestanden, daß er die Waffen gegen Frankreich geführt habe, und freimüthig hinzugefügt, daß er, sobald die Gelegenheit dies ermögliche, auf’s Neue den Krieg gegen Frankreich beginnen werde, er kämpfe nur für die Rechte seiner Familie, und ein Condé könne nie anders als mit den Waffen in der Hand sein Vaterland betreten. Dies wiederholte er auch vor dem Gerichte. Wohl zehnmal boten die Richter ihm an, diese Aeußerung zurück zu nehmen. Fest und ruhig erwiderte er: „Ich sehe die ehrenwerthe Absicht des Kriegsgerichts ein, allein ich kann meine Zuflucht nicht zu den Sicherstellungsmitteln nehmen, auf welche dasselbe hindeutet.“

Als der Präsident ihm erwiderte, daß die Kriegscommission keine Appellation gestatten dürfe, entgegnete er: „Ich weiß es und verhehle mir die Gefahr nicht, in der ich schwebe. Meine Bitte umfaßt nichts, als eine Unterredung mit dem ersten Consul zu haben. Mein Name, mein Rang, meine Gesinnungen (sowohl der Herzog wie sein Großvater Condé hatten sich früher in einem Briefe sehr bestimmt und mit Abscheu gegen jeden Meuchelmord ausgesprochen) und die besondere Bedrängnis;, in der ich mich befinde, geben mir die Hoffnung, daß man meine Bitte nicht verweigern werde.“ Bereits am Schlusse seines Verhörs hatte er diese Bitte vergebens ausgesprochen. Die Richter schienen selbst die Billigkeit dieses Verlangens einzusehen und beriethen darüber, da schnitt der von Bonaparte gleichsam als Aufseher gesandte Polizeichef die Frage mit der Bemerkung durch, daß solches nicht geschehen könnte. Die Richter mußten sich fügen. Sie schritten nun zu der Abfassung des Verdictes selbst, die ihnen in der That viele Schwierigkeiten machen mußte. Etwas ausführlicher müssen wir, streng auf die Acten des Protokolls gestützt, diesen Theil dieser Gerichtsposse berühren.

Bei den französischen Kriegsgerichten war es ausdrückliche Gesetzform, in Protokollen die genaue Thatsache anzuführen, für welche die Todesstrafe verhängt wurde, ferner mußte der Gesetzartikel genannt werden, nach welchem die Sentenz erfolgte. Sodann mußte natürlich das Verdict der Anklage angepaßt werden. Dies Alles machte in diesem Falle die größte Schwierigkeit. Der Herzog sollte sterben; seinen Tod nach dem Gesetze zu rechtfertigen, machte der Commission außerordentlich viel Mühe und wurde doch nur äußerst mangelhaft erreicht. Das Verdict lautete nach dem Protokolle :

„Nachdem die Stimmen über jede der unten angefügten Fragepunkte durch Anfangen bei dem jüngsten Richter und durch Aufhören bei dem Präsidenten gesammelt sind, erklärt das Kriegsgericht Louis Antoine von Bourbon, Herzog von Enghien,

1) einstimmig für schuldig, die Waffen gegen die französische Republik getragen zu haben;

2) einstimmig für schuldig, seine Dienste der englischen Regierung, also dem Feinde der französischen Republik, angeboten zu haben;

3) einstimmig für schuldig, von besagter englischer Regierung Agenten aufgenommen und accreditirt, ihnen Mittel zum Verkehr in Frankreich an die Hand gegeben und sich mit ihnen gegen die innere und äußere Sicherheit der Republik verschworen zu haben;

4) einstimmig für schuldig, sich an die Spitze einer namhaften Schaar französischer Emigranten und Anderer gestellt zu haben, die sich an Frankreichs Grenze in Freiburg und in Baden sammelten und von England besoldet wurden;

5) einstimmig für schuldig, Communicationen mit der Stadt Straßburg in der Absicht gepflogen zu haben, Aufruhr in den benachbarten Departements zu erregen, um eine Diversion zu Gunsten Englands zu machen;

6) einstimmig für schuldig, einer der Begünstiger und Mitschuldigen der von den Engländern gegen des ersten Consuls Leben gerichteten Verschwörung zu sein und die Absicht gehegt zu haben, durch den Erfolg solcher Verschwörung in Frankreich einzudringen.“

Also auf drei Anklagen ein Verdict über sechs Anschuldigungspunkte, von denen nur der erste den Herzog berührte (die fünf übrigen waren absichtlich erfunden) und nach den damaligen französischen Gesetzen nicht strafbar war! Dieses Verdict wurde in Abschrift an Bonaparte gesandt, und die Commission empfing unverzüglich von ihm ihr eigenes Schreiben zurück mit der Bemerkung: „Zum Tode verurtheilt!“

Das Protokoll des Kriegsgerichtes trug das Datum 20. März mit dem Beisätze: „zwei Uhr Morgens“. Diese Worte wurden wieder wegradirt, indeß nicht fein genug, so daß sie noch lesbar blieben. Zwei Stunden waren also schon mit dem Verhör und der Gerichtssitzung verflossen, und ehe der Morgen graute, sollte der Herzog, dessen Grab bereits vollendet war, todt sein; es blieb also nur wenig Zeit übrig, und noch war der Urtheilsspruch in rechtsgemäßer Form mit Hinzufügung der betreffenden Gesetzesartikel aufzusetzen. Man glaubte hierzu Zeit genug zu haben, wenn der Herzog hingerichtet sei, da ja nicht das Urtheil, sondern der Tod des Prinzen der eigentliche Zweck des Kriegsgerichts war. Man ließ Lücken in dem Urtheil, um diese später mit mehr Ruhe und Genauigkeit auszufüllen. Wir können uns nicht enthalten, dies Meisterstück französischer und Bonaparte’scher Justiz hier wiederzu geben. Es lautet:

„Nachdem der Gefangene sich entfernt, die Gerichtssitzung sich isolirt und hinter verschlossenen Thüren deliberirt hatte, sammelte der Präsident die Stimmen, und indem er bei dem jüngsten Beisitzer anfing und selbst zuletzt stimmte, ward der Gefangene einstimmig für schuldig erkannt; und gemäß des … ten Artikels des Gesetzes von … , des Inhaltes wie folgt … verurtheilte das Gericht den Gefangenen zum Tode. Der Gerichtsanwalt ist beordert, gegenwärtige Sentenz unverzüglich vollziehen zu lassen.“

Diesem in der Hast ausgesetzten Urtheilsspruche fehlte sogar die Unterschrift des Gerichtsschreibers, ohne welche er keine Gültigkeit haben konnte. Die Richter selbst zweifelten an der Richtigkeit dieses Spruches, und der Präsident Hullin hat sich später selbst darüber folgendermaßen ausgesprochen: „Noch mehrere Entwürfe dieser Sentenz wurden gemacht, bis eine endlich beibehalten ward; allein als wir sie unterzeichnet hatten, bezweifelten wir, daß sie regelrecht wäre, und gaben deshalb dem Gerichtssecretair die Weisung, einen neuen Entwurf zu machen. Dieser zweite Entwurf war der rechte.“

Dieser zweite Urtheilsspruch stimmte mit dem ersten im Wesentlichen überein; nur zum Schlusse wich er ab. Der Befehl zu unverzüglicher Hinrichtung war weggelassen, statt dessen folgende Erklärung hinzugefügt: „Dem Berichterstatter ist hiermit die Weisung gegeben, gegenwärtiges Urtheil augenblicklich in Gegenwart der unter Gewehr getretenen Wache vorzulesen. – Es ist befohlen, daß der Präsident und der Berichterstatter, gemäß der gesetzlichen Form, [555] sofort Copien dieser Procedur an den Kriegsminister, den Oberrichter, den Justizminister und den General en Chef, Gouverneur von Paris, befördern.“

Die Richter selbst wollten durch diese gesetzlichen Formalitäten Zeit gewinnen, den unversöhnlichen Bonaparte vielleicht milder zu stimmen. Noch einmal kam des Herzogs Bitte um Audienz beim ersten Consul zur Sprache. Zum zweiten Male hinderte Savary, der sich beobachtend auf des Präsidenten Stuhlrücken lehnte, dies mit den Worten: „Das wird zu ungelegener Zeit kommen.“

Der Präsident entschloß sich nun an Bonaparte zu schreiben, um ihm die Bitte des Verurteilten mitzutheilen und ihn zu beschwören, die Strafe zu verschieben. Als er schrieb, trat Savary zu ihm und fragte: „Was machen Sie da?“ – „Ich schreibe an den ersten Consul, um ihm den Wunsch des Gefangenen und die Anempfehlung des Gerichtshofes vorzutragen,“ entgegnete Hullin. – „Sie haben Ihr Geschäft beendigt; was nun noch zu thun ist, liegt mir ob,“ erwiderte der Polizeichef und nahm dem Präsidenten die Feder aus der Hand. Er verließ das Zimmer und schloß die Richter ein. Kurze Zeit darauf, während diese nichts ahnend auf ihre Wagen warteten, vernahmen sie einen lauten Knall – der Mord war ausgeführt!

Hullin hat später, in seinem und seiner Collegen Namen, gegen diesen Mord protestirt, da ihr Urtheil nur angeordnet habe, daß Abschriften desselben an den Kriegsminister, den Oberrichter und General-Gouverneur von Paris, der allein die Hinrichtung befehlen konnte, geschickt werden sollten, und die Copien waren noch nicht gemacht, als der Herzog bereits eine Leiche war. Freilich den Befehl der Hinrichtung hatte Savary längst von Bonaparte erhalten. Doch kehren wir zu dem Herzoge selbst zurück.

Mit derselben Ruhe und Würde, welche er von Anfang an bewahrt hatte, hörte er die Vorlesung seines Urtheils an. Er wußte, daß er in der Hand des rachgierigen Corsen war und es keine Rettung mehr für ihn gab. Nur um den Beistand eines Geistlichen bat er. „Wollen Sie wie ein Capuziner sterben?“ wurde ihm höhnend erwidert. Der Herzog kniete still nieder und betete einige Augenblicke lang. „Allons donc!“ sprach er, als er sich wieder erhob. Bei Fackelschein wurde er eine Wendeltreppe hinabgeführt, welche in die Verließe des alten Schlosses zu führen schien.

„Soll ich etwa in einem unterirdischen Kerker verschmachten?“ fragte der Herzog still stehend.

„Nein, gnädiger Herr,“ erwiderte der Soldat, an den er diese Frage gerichtet hatte, schluchzend, „darüber seien Sie ganz ruhig.“

Der Prinz wurde weiter geführt, die Treppe hinab zu einem geheimen Pförtchen, welches in den Schloßgraben führte. Hier standen schon einige Elitegensd’armen in Reihe und Glied neben dem offnen Grabe zu der entsetzlichen That bereit. Der Morgen fing bereits an schwach zu dämmern, denn es war ungefähr sechs Uhr, allein ein dichter Nebel schien diesen Mord verbergen zu wollen. Fackeln und Lampen mußten den Raum erhellen. Ja, dem Herzoge soll sogar eine Laterne an einem Knopfe auf der Brust befestigt worden sein, um das Ziel nicht zu verfehlen. Auf einer Brustwehr, um dem Mordschauspiele beizuwohnen, stand Savary.

Ruhig ließ sich der Herzog an den Ort führen, wo er sterben sollte. Ohne Zittern stand er da. Er zog aus seiner Tasche eine Haarflechte und einen Ring und wandte sich an einen der Soldaten, welche ihn erschießen sollten, mit der Bitte, diese beiden Andenken der Prinzessin von Rohan, seiner Geliebten, die auf Schloß Ettenheim mit ihm gewohnt hatte, zu überbringen. Schon streckte der Soldat den Arm darnach aus, als ein Officier rief: „Niemand hier darf Aufträge eines Verräthers übernehmen!“ Der Herzog blieb ruhig. Da gab der spätere Herzog von Rovigo das Zeichen zum Feuern, dumpf hallten die Schüsse in dem Schloßgraben wieder – leblos sank der Herzog von Enghien nieder. Eine der brutalsten Gewaltthaten war vollbracht. Doch noch nicht genug der Rache, selbst der Tod halte noch nicht versöhnt. Ohne irgend welchen Anstand, wie der Körper des gemeinsten Verbrechers wurde der Leichnam des Gemordeten, bekleidet wie er war, in das offene Grab gekollert. –

Vergebens hat Savary sich später zu rechtfertigen gesucht. Ebenso hat Napoleon, als er wahrnahm, welche allgemeine Entrüstung diese That hervorrief, sich wiederholt und angelegentlichst bemüht, den Tod des Herzogs von Enghien als eine gesetzliche Handlung darzustellen und die Schuld dem Minister Talleyrand aufzubürden, der an dem Tode dieses Prinzen kein Interesse haben konnte. Er schildert diese Hinrichtung als eine Handlung der Selbstvertheidigung. „Von allen Seiten,“ sprach er, „ward ich durch die Feinde bestürmt, welche die Bourbons gegen mich hetzten, ward bedroht von Windbüchsen, Höllenmaschinen und verderblicher Kriegslist jeglicher Art. Auf Erden hatte ich keinen Gerichtshof, bei welchem ich Schutz hätte fordern können; also hatte ich ein Recht, mich selbst zu beschützen, und indem ich einen von jenen tödtete, deren Anhänger mein Leben bedrohten, ward ich befugt, den übrigen einen heilsamen Schrecken einzuflößen.“ Seine Anhänger haben diesen Mord sogar für ein Versehen erklärt, indem der Herzog mit dem General Pichegru verwechselt sei – was ebenso unwahr wie unmöglich war. Fouché nannte diese That ärger als ein moralisches Verbrechen – sie sei ein politischer Schnitzer.

Wir brauchen die Leser nicht noch ausführlicher auf die brutale Gewaltthätigkeit von Anfang an aufmerksam zu machen, auf die Lächerlichkeit und die Hast des Gerichtshofes. Wie schon im Anfange erwähnt, hallte ein Schrei der Entrüstung und des Entsetzens über ganz Europa. Das Blut des unschuldig Gemordeten rief laut um Rache, und nicht sein Blut allein, sondern das mit Füßen getretene Völkerrecht, das verhöhnte Gesetz. Und was geschah? Der Hof von St. Petersburg legte für den gemordeten Herzog Trauer an, und der russische Minister überreichte in Paris dem Minister Talleyrand eine Note, worin Rußland sich über die Verletzung des badenschen Gebietes beklagte. Gleichzeitig mußte der russische Gesandte zu Regensburg dem deutschen Reichstage eine Vorstellung über die Gebietsverletzung machen. Der schwedische Minister that ein Gleiches. Und was that Deutschland der frechen, unerhörten Gebietsverletzung gegenüber? Was that es, um den brutalen Mord eines Mannes zu rächen, der sich vertrauend dem Schutze deutscher Erde und Gesetze übergeben hatte? Was that das deutsche Reich? – es existirte ja damals noch – Nichts – nichts, wie in so vielen anderen Fällen! – Der Kurfürst von Baden bat, die Sache mit Schweigen und Vergessen zu übergehen, Oesterreich fühlte sich zu geschwächt, und Preußen mochte seine freundliche Beziehung mit Frankreich nicht gefährden. Wer sollte da noch etwas thun?

Aber schwer hat diese schlechte Wahrung deutscher Rechte an Deutschland selbst sich gerächt. War es nicht natürlich, daß des Corsen Verachtung und Uebermuth gegen Deutschland und deutsche Fürsten dadurch nur noch gesteigert werden mußte? Er halte ungestraft das deutsche Gebiet verletzen dürfen – ungestraft benahm er sich 1806 mit allem Uebermuthe gegen Preußens gebeugten Herrscher, ungestraft behandelte er deutsche Fürsten auf dem Congresse zu Erfurt 1808 en bagatelle und kam jedem seiner Generäle mit mehr Artigkeit entgegen, ungestraft setzte er seine frechen Gewaltthaten in Deutschland fort – die deutschen Fürsten hatten ja noch nicht einmal die alte Schuld an ihm gerächt – bis endlich im deutschen Volke das Bewußtsein seiner Kraft und Würde erwachte und es auch einen großen Theil der alten Schuld abtrug. Mag diese Gewaltthat jetzt gesühnt sein oder nicht, für uns, für Deutschland liegt jedenfalls eine ernste, ernste Mahnung und Warnung darin. Dies wollen wir zum Wenigsten beherzigen!

Im Jahre 1816, als Napoleon bereits auf St. Helena war, ließ Ludwig XVIII. durch eine dazu niedergesetzte Commission den Körper des Herzogs von Enghien in den Gräben von Vincennes aufsuchen. Die Commission fand alle Reste desselben. Der Kopf war durch die Kugeln gänzlich zerschmettert. Auch die Ueberreste der Kleider zeigten mehrere Löcher, welche durch die Kugeln verursacht waren. Man fand ferner eine goldene Kette mit Ring, welche der Herzog gewöhnlich zu tragen pflegte, einen Ohrring, eine Geldtasche mit dem Wappen der Condé’s nebst einem kleinen Schlüssel, eine Börse von Maroquin, worin 11 Gold und 5 Silberstücke, endlich noch 70 Goldstücke in Ducaten und Florenzen in einer Papierrolle, welche ihm sein Adjutant, der Baron de St. Jacques, bei seiner Trennung von dem Prinzen überreicht hatte.

Die Ueberreste des so schmachvoll Gemordeten, von dem die Königin Karoline von Neapel, als sie seinen Tod erfuhr, ausrief: „Welches Unglück! Er war der einzige Mann von Herz in der Familie!“ wurden in einem bleiernen Sarge gesammelt und mit den ihnen zukommenden Ehren beigesetzt.

Fr. Fr.



[556]

„Stanni“ und der Kuß für ganz Tyrol.

Von Dr. Karl Wagner.

Es giebt Geschichten, die man immer wieder gern erzählen hört, und wenn man sie auch schon hundert Mal gehört hat. Eine solche Geschichte ist das deutsche Schützenfest. Aber nicht nur in der altehrwürdigen Stadt am Mainesstrande allein wird das Wort erklingen, das Alle beredt macht; nein, im ganzen deutschen Reiche und weiter hinaus, so weit die deutsche Zunge klingt, bis über das Weltmeer, wird es jetzt fort und fort wiedertönen wie ein vernehmliches, weithinschallendes Echo. Das Fest ist wie ein Stein, der in’s Wasser geschleudert worden ist: er zieht immer weitere und größere Kreise; das Wasser, das ist „die See, die unergründliche, die tiefe See des deutschen Volksbewußtseins“, wie sie Berthold Auerbach so schön in der Festhalle bei einer Banketrede bezeichnet hat. Das nach langem Schlafe wieder geweckte und wieder erwachte Volksbewußtsein wird sich an der Sonne dieses Festes, das es als seine schönste That begrüßen darf, noch lange erwärmen, und ihre Strahlen werden manchen langen Winterabend gründlich erhellen, wenn im Salon oder in der Spinnstube die Rede auf die Reise nach Frankfurt und die Erlebnisse daselbst kommt. In der Spinnstube! Da wird das echt deutsche Volksfest erst recht seinen Boden finden und kräftige Wurzeln schlagen. Wie werden sie da, wenn’s draußen stürmt und schneit, traulich zusammenhocken und sich von Einem aus ihrer Mitte, der dabei gewesen ist und „der’s wissen muß“, haarklein erzählen lassen, wie Alles beim Feste zugegangen ist und wie der Herzog ausgesehen hat und wie die Festjungfrauen geputzt waren, und wie kein Stand und kein Rang gegolten hat und wie das deutsche Vaterland über Alles gegangen ist! Dann wird der Kalender herbeigeholt werden, in dem dieses Jahr die Festhalle abgebildet ist, und die Beschreibung dazu, und sie wird immer und immer wieder durchstudirt werden und von Hand zu Hand gehen.

Wer aber erst einen Preisbecher oder gar eine kostbare Ehrengabe mit nach Hause gebracht hat, wie wird der beneidet und von den hübschen Dirnen des Dorfes freundlich angeschaut werden! Ueber zwei Jahre wollen’s ihm die Andern gewiß gleich thun. Und nun erst der „Stanni“, der durch einen einzigen Kuß in ganz Tyrol so berühmt geworden, wie Wildauer durch eine einzige Rede – wie wird der erst in seinem Heimathsort angestaunt werden, wie wird er ausgefragt werden und auf jedem Tanzplatz, wo er erscheint, der Held des Tages sein! Ich setze voraus, daß Sie, geehrte Leser und noch mehr geehrte Leserinnen, bereits wissen, wer der „Stanni“ ist; für den Fall jedoch, daß Sie in dem Capitel der historischen Küsse ganz unbewandert sind, sei Ihnen hier eine Lection darin ertheilt.

Der Stanni also ist ein schmucker Tyroler, so recht ein „blitzsauberer Bua“, während viele seiner Landsleute sich mehr durch unnatürliche Eigenschaften auch in ihrem Aeußeren kennzeichneten. Als sauberer Bua war er nach Frankfurt gekommen, als decorirter Mann ist er in seine Berge zurückgekehrt, gerade wie der Herr Professor Wildauer. Aber seine Decoration ist eine viel schönere, als die des Herrn Professors mit der feinen Stahlbrille und dem privilegirten k. k. österreichischen Unterthanenherzen – kein trüber Ordensstern auf kalter Brust, vom Kaiser und Herrn allergnädigst verliehen, sondern der warme Kuß einer deutschen Jungfrau und nicht für den Decorirten allein gespendet, sondern für sein ganzes Land.

Dieser festjungfräuliche Kuß aber war nicht allenfalls eine vorher festgesetzte Nummer des Festprogramms, so daß es in demselben geheißen hätte: „Abschiedstag. Feierliches Geleite für die abgehenden Schützen. Kuß einer Ehrenjungfrau für das ganze Land Tyrol –“, worüber sich die übrigen nicht mit Küssen vorgesehenen Länder mit Recht hätten beschweren können, sondern das hat sich ganz improvisirt und zufällig also zugetragen. Es war am letzten Festtage, Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr. Soeben hatte ein feierlicher Act das herrliche Fest glänzend beschlossen, wie es vor zehn Tagen ein feierlicher Act glänzend eröffnet hatte. Beim freundlichsten Sonnenschein hatte unter dem Zudrang vieler Tausende am Gabentempel die Preisvertheilung stattgefunden. So oft der Name eines Preisgekrönten ausgerufen wurde, schmetterte die Musik lustig darein, die Fahnen salutirten und die Kanonen donnerten in den Jubel der zujauchzenden Menge. Mild, friedlich und würdig edel, wie sie der Bildner (Hr. v. Nordheim) dem großen Friedensfeste aller Deutschen angemessen aufgefaßt hatte, thronte die Germania hoch über den Häuptern des zu ihren Füßen um sie wallenden Volkes und hielt in der ausgestreckten Rechten den Würdigen den Kranz dar. Mitten unter ihren Söhnen aber standen auch die Töchter ihres Landes, die rosengekrönten, schärpentragenden Festjungfrauen, aus deren Händen die kostbaren Ehrengaben, nachdem sie dieselben dem Volke gezeigt, in die Hände der Sieger übergingen. So mag’s den Siegern in Olympia zu Muthe gewesen sein, als ihnen ihre sonst, wie die deutsche, vielgespaltene, beim festlichen Wettspiele aber geeinigte Nation zujauchzte. Damals war es freilich nur ein einfacher Kranz, in dessen Besitz die Stadt, die ihn davongetragen, ihren größten Stolz setzte. So sollte es auch bei uns sein, denn nicht immer ist es edler Ehrgeiz und Lust am männlichen Spiele, die des Schützen Arm führt, das leidige „Brodschützenthum“ – doch wir haben unsern Helden ganz aus den Augen verloren und ehe wir zu ihm zurückkehren, müssen wir noch um ein wenig Geduld bitten. Denn es fällt uns bei der Preisvertheilung noch eine Episode ein, die wir nicht verschweigen wollen.

Die Ehrenjungfrauen, nur zwölf an der Zahl, hatten sich um das Fest ein großes Verdienst erworben. Sie hatten uns durch ihre duftige Gruppe im Festzüge daran erinnert, daß nicht Mannesmuth und Manneskraft allein genügen, sondern daß sich ihnen auch Frauenmilde und Frauenschöne einen muß. Es mußte ihnen daher mit Fug und Recht auch eine Huldigung dargebracht werden. Ein Schleswig-Holsteiner hatte mit ritterlichem Takt ein passendes Geschenk für sie herausgefunden, einen kunstvoll von Zucker gearbeiteten Blumenkorb mit der Inschrift:

Frankfurts Jungfraun diese Gabe
Von der Nordsee, von dem Belt;
Wenn ich solche Mädchen habe,
Stürm’ ich trotzig eine Welt.

Dieses süße Geschenk ward den Festjungfrauen unter der lebhaften Acclamation der Menge nach der Preisvertheilung am Gabentempel überreicht, und der Schleswig-Holsteiner hielt eine kurze Ansprache dabei, die von einer der Damen erwidert ward. Dieser poetischen Scene folgte wieder lauter Schlachtenlärm auf dem Fuße. 120 Kanonenschüsse kündeten den Schluß des ersten deutschen Bundesschießens. Kaum waren sie verklungen, als wieder ein anderes Schauspiel die Blicke Aller auf sich zog. So drängte bis zuletzt auf dem Festplatze ein Bild in stetem Wechsel das andere, Auge und Ohr stets tausendfältig fesselnd. Fahnen schoben sich zusammen, bewaffnete Männer schaarten sich um sie, Musik trat an ihre Spitze. Was bedeutet das? Heute ist doch kein Becher mehr herausgeschossen worden, den sie jetzt in festlichem Umzug heimzutragen sich anschicken. Und doch blitzen mehr als hundert Becher aus der bunten Gruppe hervor. Das sind die Baiern, die Tyroler und die übrigen Oesterreicher, die sich zur Abreise rüsten. Zusammen, als ein geschlossenes Ganzes, waren sie gekommen, so wollten sie auch scheiden. Sie hatten hübsch bis zuletzt ausgehalten, die meisten anderen Schützen waren schon in den Tagen zuvor vereinzelt von dannen gezogen.

„Die Tyroler gehen ab!“ rief es da auf einmal. – „Wer begleitet sie mit?“ Und im Nu Latte sich ein Häuflein gefunden, welches dem Rufe gefolgt, und – siehe da! – es ward immer größer und größer, bis es zuletzt ein ganz stattlicher Festzug war, darunter Comitémitglieder, Frankfurter Schützen, Turner und Turnerknaben und – vor Allem – die Festjungfrauen. Nur langsam setzte sich der Zug in Gang; es schien fast, als ob auf jeden Schritt vorwärts zwei rückwärts gekommen wären, und als ob die Scheidenden alle Janusköpfe trügen, denn alle Gesichter waren nach rückwärts gekehrt, während sie vorwärts schritten. Das Halsverdrehen that auf die Dauer nicht gut, drum machten die Scheidenden draußen auf der Chaussee vor dem Festplatze gleich wieder Halt und wandten das Gesicht noch einmal der so sonnig und wonnig herüberstrahlenden Festhalle zu. Und die Innsbrucker Sänger stimmten ein „Gsangrl“ an: „Ade, du mein Frankfurt, du bist ja mei Freud!“ Und aus gepreßtem Herzen fielen die bärtigen, wettergebräunten Gesellen ein in den Jodler am Schluß, so leidenschaftlich, so gellend, als wollten sie ihren Trennungsschmerz in einem Schrei hinaus jubeln. Singend, springend und [557] musicirend zogen sie nun durch die Stadt. Da that sich noch manches Fenster auf, und manche Schöne winkte Abschiedsgrüße und warf Blumen und Sträuße herunter. Am Bahnhof wimmelte es von Menschen, wie an dem Tage, da die Süddeutschen bei strömendem Regen angekommen waren. Auch der österreichische Bundespräsidialgesandte war in seinem Wagen an der Eisenbahn. Es war noch ein Stündchen Zeit bis zur Abfahrt, und in dieser Stunde wurden mehr Hände gedrückt, mehr Umarmungen und Liebeszeichen gewechselt, mehr Küsse gegeben, als sonst in einem Jahre. Einer dieser Küsse ist, wie gesagt, historisch geworden. Eben hatte Dr. Sigm. Müller den wieder mit den deutschen Brüdern in Oesterreich neu angeknüpften Bund in warmer Rede gefeiert, und es galt nur noch, diesem Bunde auch ein äußeres Liebeszeichen aufzudrücken[WS 1].

Der Kuß für ganz Tyrol.
Originalzeichnung von Ernst Schalk.

Einen Kuß dem ganzen Land Tyrol! Wer anders durfte ihn geben, als eine Festjungfrau – den officiellen Festkuß? „Bitte, mein Fräulein, da – gerade neben Ihnen – steht der schmucke Stanni, Ihre Pflicht ruft! – Wie? Sie sträuben sich? Sie meinen, dieser Fall sei nicht im Festprogramm vorgesehen? Ei was, einen Kuß in Ehren kann Niemand verwehren, und dann – wer hat Ihnen je verboten, Länder zu küssen?“ Und siehe da – halb zog er sie, halb sank sie hin, und der officielle Festkuß ward zu einem warmen Freundschafts- und Abschiedskuß, wenn wir unserm Maler auch bemerken müssen, daß seine Auffassung vielleicht etwas zu intensiv ist. In diesem Augenblicke hatte sich der Stanni – wir bemerken hier beiläufig, daß wir den Taufschein Stanni’s nicht gesehen haben, und sollte er allenfalls „Tonerl“ heißen, so mag er Frankfurt, das ihn umgetauft hat, verklagen und nicht uns – gewiß nicht als „Schmerzenskind“ gefühlt. Mit einem dreifachen donnernden Hoch schloß die Geschichte des officiellen Festkusses beim ersten deutschen Bundesschießen, aber noch nicht der Abschied der Tyroler, denn es war noch einige Zeit bis zur Abfahrt. „Singt noch Eins, Ihr Tyroler, so ein herzig Abschiedslied!“ hieß es jetzt. Und sie bildeten einen Kreis und sangen mit dem ergreifenden Ausdruck, den ihre Stimmung ihnen eingab, ein improvisirtes Verslein, ungefähr so:

„Lebet wohl, lebet wohl, liebe Freunde,
Lebet wohl auf Wiedersehn.
O wie hart wär’ es nicht, auseinanderzugehn,
Wenn die Hoffnung nicht wär’, sich wiederzusehn!“

Und wie sie die letzten Töne so ausklingen ließen mit ihren weichen schmelzenden Stimmen, da zuckte es manchem Manne um die Wimpern, und um die Rührung nicht allzusehr aufkommen zu lassen, traten jetzt unsere Sänger zusammen und erwiderten den Scheidegruß. Und es kreiste so fröhlich der Becher in dem großen Kreise herum – da hieß es: Einsteigen, meine Herren! Einsteigen! Wie ein elektrischer Schlag ging’s noch einmal durch die ganze Kette der verschlungenen Hände, ehe der Strom unterbrochen, die Kette gelöst ward. Jetzt kommen noch Nachzügler, von der ganzen Familie ihres Wirthes escortirt. Zum neunundneunzigsten Male nehmen sie Abschied. In der zwölften Stunde erscheint ein junger schmucker Zillerthaler. An diesen „Stanni“ knüpft sich nun die Sage, daß in Folge des rühmlichen Beispiels der Festjungfrau noch manche andere nicht-officielle Festküsse und mit speciellerer Widmung von schönen Lippen gefallen seien.

Im vordersten Wagen spielte jetzt die von den Münchnern mitgebrachte Musik den Radetzkymarsch, auf dem Perron spielte die Frankfurter Musik, die Tyroler juchheiten und jodelten, die Zurückbleibenden riefen Hoch, die Locomotive pfiff aus Leibeskräften, und der Zug that endlich einen Ruck und dann noch einen und dann noch einen. Aber was ist das? Da fliegt ja ein Schlag wieder auf, und heraus stürzt abermals ein „Stanni“. Hat er etwas in [558] Frankfurt vergessen? Wenn es nur nicht sein Herz ist! In komischer Verzweiflung ruft er aus: „Es thut’s nit, es thut’s nit! I geh holt nimmer hoam!“ und lenkt seine Schritte wieder den Zurückbleibenden zu, die ihn jubelnd wieder in ihre Mitte nahmen und gen Frankfurt geleiteten. Und acht Tage später versuchte er wieder einmal abzureisen und war auch schon eingestiegen – aber es ging wieder nicht. Noch lange nachher blieb sein steter Wahlspruch: „I geh holt nimmer hoam!“ O, gäbe es schon Freizügigkeit in Deutschland, er hätte ihn gewiß auch zur Wahrheit gemacht. Denn, er wiederholte es selbst zum Oefteren: „Durch Begeisterung vom Schützenfest wäre er gar gerne Bürger in Frankfurt geworden.“ Durch Begeisterung allein aber wird man dermalen noch nicht Bürger in Frankfurt, eher durch eine Heirath, und auf dieser solideren Basis stehen denn auch wirklich bereits einige auswärtige Schützenbrüder ihr Frankfurter Bürgerrecht aufzubauen im Begriff. Sie wollen sich durch den eigenen Augenschein überzeugen, ob die Frankfurter Frauen ebenso liebenswürdig sind, als die Frankfurter Mädchen, und ob sie es bleiben, wenn sie ihre Frauen sind. Möge der deutsche Einheitsgedanke, unter dessen directer Inspiration die Verlobung stattfand, sich in der Ehe nachhaltig erweisen!

Aber nicht alle Festflammen fanden sich so zu einem legitimen Brande für’s Leben zusammen. Wir sahen die verlockendsten Anträge zurückweisen. Eines Abends kniete in der Festhalle vor einer sehr liebenswürdigen Dame wieder ein „Stanni“ nieder – sie versicherte uns nachher, wahrscheinlich um die Sache romantischer zu machen, es sei ein Enkel Andreas Hofer’s gewesen – und bat sie flehentlich um ihren Strauß. „Schau, hier ist Edelweiß auf meinem Hut. I bin zwei Stunden hoch hinauf gestiegen, bis i ’s im Eis funden hab. I geb Dir dös Edelweiß, gieb mir Dei Straußerl. I möcht’s halt mit heima nehm, dös Straußerl.“ Und als die Dame den Tauschhandel eingegangen war, war er noch nicht zufrieden, sondern rief plötzlich aus: „Weißt was, Schatzerl, geh sölber mit!“ Und als sie ihn fragte, was sie bei ihm zu erwarten habe, meinte er: „Nix als Freid. Den Tag über was Guts zu essen und am Abend was Guts zu schmatzen!“ Und Stanni schien nicht abgeneigt, Proben seines Talentes abzulegen. Er wurde immer wärmer und wärmer, bis ihm die Dame und Schützenschwester in’s Gedächtniß zurückrief: „Ritter, treue Schwesterliebe widmet Dir dies Herz.“

So drehte sich gar manche Scene um die Tyroler und ihre sprichwörtlich gewordene Naivetät. Die Schützen hatten sie durch ihre Kernschüsse erobert, die Mädchen und die Maler durch ihre kleidsame Tracht und ihr treuherziges Wesen, und die Gemüthlichen durch ihre Lieder. Wo ihrer ein paar beisammen waren, bildeten sich Gruppen um sie, und sie wurden aufgefordert, ihren „Tyroler Schmerzensschrei“ (d. h. ihre Jodler) ertönen zu lassen. Und sie sprangen auf die Tische und sangen:

„Frankfurt, Du, Du bist mei Freid!
Da hab’n d’ Madele sakrisch Schneid! (Und ein Jodler drauf!)
Zwar giebt’s ka Gamslen zum Derjagen,
Aber Becher zum Vertragen.“ (Wieder ein Jodler!)

Dann warfen sie ihre Hüte hoch, und die Damen schwenkten ihre Taschentücher, und Alles war ein Herz und eine Seele.

Einmal trat ein Tyroler zum Herzog von Coburg und sagte zu ihm: „Glab’s nit, Herzog, was sie Dir über uns weiß macht haben. Komm nur zu uns, Du wirst noch lang nit tod schossen!“ Und als ihn Einer zur Rede stellte, wie er den Herzog habe Du nennen können, meinte er: „Ja, i hätt halt gern Sie sagt, aber i hab mi’s nit traut!“

Aber die Medaille hatte auch ihre Kehrseite, der Tyrolercultus, wie er uns zum Vorwurf gemacht ward, auch sein Bedenkliches. Man vergaß ganz, daß diese jetzt fraternisirenden Festschützen Kinder desselben Landes Tyrol sind, wo man noch vor wenig Wochen Himmel und Hölle gegen die Zulassung von Protestanten in Bewegung gesetzt hatte; man vergaß, daß der Bischof von Brixen seiner Heerde, ehe er sie auf die Weide gehen ließ, erst Dispens für die Fasttage ertheilt hatte; man vergaß endlich, daß die urgemüthlichen Schmerzenskinder nicht nur von vier Feldkaplänen, sondern auch von zehn Polizeispitzeln sorgfältig überwacht wurden. Letzteres hat sich durch eine Scene auf der Bornheimer Haide zur Genüge herausgestellt. Ein Tyroler unterhielt sich in einer der Buden daselbst leise mit einem Frankfurter. Der Spitzel wollte es nicht leiden und suchte stets zu horchen und zu interveniren. Als er ernstlich gefragt wurde, mit welchem Rechte er sich in die Unterhaltung mische, suchte er zuerst allerlei Ausflüchte, dann aber, in die Enge getrieben, gestand er – er war überdies des süßen Weines nicht mehr leer – seine innere Mission ein. Als ihm in Folge davon sofort ziemlich unsanft zu einer Luftveränderung verholfen ward, rief der unglückliche Agent der kecken Ueberwachungsgarde noch unter der Thüre seinem Landsmanne zu: „Wart nur, wirst’s schon kriegen! Wir sind unser zehn. Und Preußen sind auch da!“

Ein andermal stand ein Trupp Tyroler vor dem zoologischen Garten. Sie wären gar zu gern hineingegangen, aber sie hatten ihrem Feldkaplan Rendezvous zur Messe gegeben, und da half kein Zureden. „Der Mensch muß doch Wort halten!“ sagte Einer, und leidmüthig zogen sie von dannen. Haben sie Euch denn je Wort gehalten, denen ihr so blind vertraut? Herr, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun! Sie sind zu lange in der Finsterniß gewandelt, um das ganze, das volle Licht, das von der Festhalle ausstrahlt, auf einmal vertragen zu können. Darum aber müssen sie öfters zu uns kommen und ohne geistliche und weltliche Feldkapläne. Darum aber auch müssen wir sie recht an uns zu ziehen und nicht von uns zu stoßen suchen! Dann wird’s schon besser gehen, und die Schützenfeste werden auch nach dieser Seite ihre Früchte tragen. Aber Geduld müssen wir freilich haben, viel Geduld! Denn sollte man’s für möglich halten, in der Nähe einer Stadt, in der man jetzt von den Erinnerungen an die beim Feste – wenn auch mitten unter Ketzern – verlebten Stunden schwelgt (in Schwaz bei Innsbruck), wäre der Gemeinderath vor wenig Tagen beinahe gesteinigt worden, weil er einen Protestanten aufnehmen wollte. Wie stimmt das zu dem herzlichen Abschied, Ihr Tyroler, den Ihr uns an der Eisenbahn in die Hand gedrückt habt?

Also, Ihr Tyroler, wenn wir Eure Herzlichkeit nicht für Grimasse, Euch selbst nicht für unmündige Kinder halten sollen, so sorgt dafür, daß Eure Worte und Eure Thaten eins werden.

Ohne daß wir’s wollen, hat unser Rückblick auf die kleinen gemüthlichen Episoden des Festes eine ausgesprochen tyrolische Färbung angenommen. Es ist das nicht unsere Schuld, sondern lediglich die der gemüthlichen Tyroler, die stets neuen Stoff zu Erzählungen aller Art gaben, die von Mund zu Mund liefen. Dabei fällt mir noch eine Geschichte ein, die auf der Heimreise der Tyroler in Nürnberg passirt ist. Hoffentlich haben wir Alle so viel gelernt, daß sie heute nicht mehr passiren könnte. Die Geschichte aber wird in den Zeitungen also erzählt:

Dem Waggon entstieg ein alter Tyroler in der Tracht des Pusterthales, ein durchwettertes joviales Gesicht mit eisengrauem dichten Lockenhaar und Bart, ein straffer Mann, kein Greis; noch prall schlossen die kurzen Ledernen um die Beine, das nackte Knie war rund und die Wade derb muskulös; sein Adlerblick richtete sich auf die Menge und begegnete dem ebenso durchdringenden eines freundlich behäbigen Greises mit Silberhaar. „Hast, bi Gott, ein Jägeraug!“ sprach der Tyroler ihn an; „warum warst nit mit in Frankfurt? Du schießt gewiß noch gut!“ „O ja, Anno Neun aber noch besser, da habe ich von Euch Manchen weggepfeffert.“ „Woas? Du? Warst mit unter den Blauen? Na, haben Euch tüchtig zusammengebuchst!“ „Das ist nit unwahr, an einem Tag aber net, da schossen wir ihrer Drei sieben von Euch zusammen, und doch standet Ihr oben und wir unten. Ich war einer von den Dreien.“ „Wo ist das gewesen, Brüderle?“ fragte der Tyroler sichtbar gespannt. „Bei Windisch-Materney; ich schoß den Gastwirth.“ „Todt geschossen hast ihn aber nit, Brüderle; schau her, ich bin’s noch!“ Und er zeigte die Narbe an Hals und Schulter, und dann schüttelten sich die alten Knaben herzlich lachend die Hände; der Tyroler küßte den Blauen und der Blaue den Tyroler, und Arm in Arm besahen sie sich die Lorenzkirche und tranken schwatzend manche Halbe, ich mit ihnen. Anton Köll, Gastwirth und Bauer, sagte beim Abschiede zu dem jetzt im Hospital versorgten Schneidermeister Zieger: „Hast recht, Brüderle; kommen wohl nit wieder z’ammen, so aber wie Anno damals gewiß nit; wußtens da nit anders, warst neunzehn und ich einundzwanzig; aber wenn ich auch noch mal wieder so jung wär, ich zerbräch den Stutzen, sollt ich auf einen deutschen Bruder schießen, das thu ich nimmer, das hab ich in Frankfurt gelernt; o was prächtige Leut da waren! Ich alter Schulbub von vierundsiebzig, und hier meine beiden Nachbarn (Athletengestalten in der ersten Mannesblüthe) auch.“

Wir könnten Ihnen auch noch die Anekdote von dem Preußen erzählen, der auf die Scheibe „Vaterland“ schoß, Nichts traf, denn [559] – meinte der neben ihm stehende Tyroler: „Dein Vaterland muß größer sein“; wir könnten Ihnen die reizende Scene der Verbrüderung unserer Turnerknaben mit den schweizerischen Cadettentrommlern näher ausmalen, und ebenso, wie des sächsischen Amnestirten Röckel blühende Tochter ihrem Vater um den Hals fiel, als Karl Grün seiner in seiner Rede auf die Todten gedachte – doch wir wollen Ihre Geduld nicht länger auf die Probe stellen und über dem Einzelnen nicht das Ganze vergessen.

Die deutsche Gemüthlichkeit, von der wir heute allerlei Pröbchen gegeben haben, thut’s allein nicht mehr. Das fühlen wir Alle – aber indem wir neue Eigenschaften uns zu erwerben trachten, wollen wir die alten nicht verlieren.






Ein romantisches Gebirgsräthsel des mittlern Deutschlands.

Von Ludwig Storch.


Seit die Gebrüder Grimm uns das mystische Gebiet des Volksglaubens und der Volkssage erschlossen, enthüllt sich uns eine ganz neue Welt, die in der Morgenfrühe unseres Volkslebens im Nebel der Vergessenheit lag; das scheinbar Unbedeutende und Widersinnige gewinnt Bedeutung und Zusammenhang mit der allgemeinen Strömung des Deutschthums, und aus mißachteten und verhöhnten Sagen und Erinnerungen entwickeln sich überraschende Klarsichten über ganz vernachlässigte Partien dieses unseres Volksthums und seiner eigenthümlichen Gestaltung im Laufe der Geschichte. Je mehr der Aberglaube und die Volkssage an ihrer moralischen Wichtigkeit verlieren, desto mehr gewinnen sie zu gleicher Zeit an kulturhistorischer, und das Auge, das über die in ihm sich kundgebende Volksnaivetät lächelt, wird entzückt von den aus ihm hervortretenden Spuren specifisch deutscher Sitte, Denk- und Handlungsweise.

Eine höchst seltsame, räthselhafte, von der Forschung fast noch gar nicht beachtete und deshalb auch noch nicht erklärte Erscheinung im Volksleben der Gebirgsbewohner des mittlern Deutschlands sind die in der Volkssage so lebendig und drastisch auftretenden fremdländischen Metallurgen, Rhabdomanten und Adepten, kurz jene romantischen und geheimnißvollen Goldschürfer, welche entweder „Venetianer“ oder „Walen“ genannt, oder auch mit beiden Namen zugleich belegt werden, deren Spuren sich zurück bis über das zwölfte Jahrhundert unserer Zeitrechnung verfolgen lassen, und die erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von den Schauplätzen ihrer Wirksamkeit verschwunden sind. Die Gebirge, in welchen sie ihr mysteriöses Wesen vorzugsweise trieben, und in deren Sagen sie deshalb noch so frisch und farbig fortleben, sind, so weit mir bekannt geworden, der Thüringerwald, das Fichtelgebirge und der Baier- und Böhmerwald. Auch im Harz sollen sie vorgekommen sein, doch habe ich dafür keine Anhaltepunkte. Ob ihre Existenz auch in andern deutschen Gebirgen sicher nachzuweisen ist, muß anderweitiger Forschung überlassen bleiben.

Sie treten im ganzen Thüringer Walde auf, zumeist an dessen Knotenpunkten, am Inselsberg und am Schneekopf, und im ganzen Gebirge heißen sie „Venetianer“. Den Namen „Walen“ kennt man hier nicht. Aber weit schärfer und individueller ausgeprägt als im Thüringerwald ist ihre Physiognomie im Fichtelgebirge, und hier heißen sie vorzugsweise „Walen“. Matter und verschwommener wird ihre Gestalt wieder in der Oberpfalz und in den böhmischen Bergen. Ueber die Donau hinüber kennt man sie nicht, aber in Regensburg, der uralten Römercolonie, steht gleichsam ihr Schluß- und Denkstein in der Wallerstraße, im Mittelalter „Walenstraße“ genannt, einer der schönsten und von je bedeutendsten Verkehrswege der einst so reichen Stadt. In dieser Straße wohnten die geschickten und weltberühmten wälschen Goldschmiede.

Wer waren diese Leute, die in der Volkssage zwar einen mythischen Anstrich erhalten haben, deren wirkliche, menschliche Existenz aber über allen Zweifel erhaben ist? Was trieben sie in unsern Gebirgen? Und wie kamen sie zu diesem seltsamen Doppelnamen?

Sie waren Fremdlinge, nicht in diesen Bergen Geborne, nicht da Aufgewachsene, nicht da Heimische. Sie trugen fremdländische Kleidung, sie sprachen eine fremde Sprache. Von Zeit zu Zeit erschienen sie auf geheimnißvolle Weise in spärlicher Anzahl; sie ließen sich mit der heimischen Bevölkerung so wenig als möglich ein, umhüllten sich und ihr Thun und Treiben mit dem tiefsten Schleier des Geheimnisses und benutzten dazu alte furchterregende Volkssagen; sie hantirten nur bei Nacht und nicht ohne ausgestellte Wachen, so daß sie nicht leicht bei ihrer Arbeit überrascht werden konnten, und verschwanden nach einiger Zeit wieder ebenso plötzlich und auf so seltsame Weise, wie sie erschienen waren. – Da tritt uns denn zuerst das altdeutsche Wort Walah, altnordisch Wal, ein Fremder, Ausländer, entgegen. Walise, wälsch war alles Fremdländische, und da das deutsche W in den romanischen Sprachen stets in G umlautet (z. B. Welfen und Waiblinger in Guelfen und Gyibellinen; Wilhelm in Guilelme etc.), so ist doch wohl Wale und Walle, auch Waller (alle diese Wortformen kommen vor) und Gallier ein und derselbe Name. Wallonen, Walliser, Waleser und Gälen sind immer derselbe Name in verschiedener Umlautung. Der Name Walen bedeutet also nichts weiter als Fremdlinge.

Was aber ist mit dem Namen Venetianer anzufangen? Alle Volkssagen der genannten Gebirge weisen auf die reiche, stolze und mächtige Handelsrepublik auf den Laguneninseln hin. Dort sollen die „Walen“ unserer Berge als geschickte Goldschmiede in einer eignen Straße gewohnt haben, gerade wie in Regensburg. Sie waren nicht romanischen Stammes, sie bildeten einen Volksstamm für sich. Sehr charakteristisch ist, daß sie stets nur mit Gold zu thun haben. Mit anderem Metall befassen sie sich nicht. In unsern Bergen suchen und finden sie nur Gold, in Regensburg und Venedig sind sie nur Goldschmiede. Auf überraschende Weise stimmt damit nun eine Angabe des älteren Plinius in seiner Naturgeschichte überein. Im 11. Capitel des 6. Buches dieses Werkes wird nämlich berichtet, daß „vor den Pforten des Kaukasus durch die gordyäischen Berge die Wallen und Swarnen (Valli, Suarni), freie Völkerschaften, wohnen, die nur auf Gold schürfen.“ An einer andern Stelle (6. 7) nennt Plinius die Walen mit den Serben und andern nicht mehr bekannten Volksstämmen zusammen, die am kimmerischen Bosporus und am schwarzen und asowischen Meere wohnten, und bezeichnet die Sarmaten als ihre Nachbarn. Endlich nennt derselbe Schriftsteller mit den Sarmaten und andern Völkerschaften auch die Veneden (Venedi). Dieser letztere slavische Volksstamm war wahrscheinlich mit den Venetern im nordöstlichen Italien verwandt, welche die Begründer Venedigs wurden; ja, es ist sehr wahrscheinlich, daß der Name Veneder oder Wenden der Collectivname aller slavischen Stämme in Deutschland war.

Die Walen setzten sich mit den Venedern, aus Vorderasien ausgewandert, im Fichtelgebirge fest, dessen Goldreichthum sie zuerst entdeckten. Vom Fichtelgebirge aus verbreiteten sie sich nördlich im Thüringerwald, südlich im Baier- und Böhmerwald, oder besuchten wenigstens diese Gegenden periodisch, dem Goldreichthum der Berge nachspürend. Mit ihnen theilten die Kelten, die Hauptbesitzer des Landes, die Neigung zum Bergbau, nur daß letztere auf alle Metalle schürften.

Mit den Kelten theilte sich ein anderes mächtiges Volk verschiedenen Ursprungs und Charakters in den Besitz des Landes, die durch ihre riesige Größe vor den kleingestalteten Kelten und Walen hervorragenden Tschuden. Dem gewaltigen Anpralle der ebenfalls von Hochasien in ungezählten Schaaren heranziehenden germanischen Völkerschaften erlagen alle frühern Bewohner der Länder von der Ostsee bis zu den Alpen. Die Römer waren zum Theil schon Herren der Länderstriche am Rhein und an der Donau, und die weniger kriegerischen als gewerbfleißigen Kelten ihnen bereits unterworfen. Die Tschuden und Römer wichen vor der wilden Uebermacht der Germanen zurück und die erstern verschwinden; die Kelten unterwerfen sich abermals. Die kleinen Volksstämme wie die Walen und Veneder verstecken sich in die unzugänglichen Berge, bis sie, auch aus diesen Schlupfwinkeln vertrieben, weiter und weiter nach Süden wandern und mit den uralten Venetern verschmelzen.

Aber nun leben alle diese frühern unterlegnen und vertriebnen Besitzer des Landes in der deutschen Volkssage wieder auf und spielen, die Tschuden und Römer (die Erbauer der starken Burgen) als Riesen, die Kelten und Walen als Zwerge, ihre mythische-elbische bedeutsame Rolle. Ihr geschichtliches Schicksal wird von der Sage in seinen Grundzügen treu wiedergegeben, aber mythisch-phantastisch ausgeschmückt. In nebelhaften Hintergrund treten die Riesen, in den hellern Vordergrund die Zwerge. Diese werden zu fleißigen Haus- und Feldgeistern, und der ganze, fast übergeile Reichthum der Zwergensage gaukelt nun im phantastischen Arabeskenschmuck [560] an unserm Auge vorüber. Weniger bedeutsam und mythisch ausgeschmückt als die Kelten-Zwerge erscheinen die Walen, die nicht mehr im Lande unter den Germanen wohnten, sondern nur auf geheimnißvolle Weise in einzelnen Gruppen periodisch wiederkehrten, um in ihren ehemaligen gebirgigen Wohnsitzen ihre verlassene Arbeit, den Bergbau auf Gold, wieder aufzunehmen, worin ihnen die neuen Besitzer des Landes keine Concurrenz machten. Denn die Germanen trieben keinen Bergbau, wie Tacitus ausdrücklich von ihnen anführt. Viele Jahrhunderte lang und aus der mythischen Vorzeit unsres Volkes in die geschichtliche Zeit herüber mögen die Walen, die nun mit den Venedern und Venetern identificirt und auch Venetianer genannt werden, die reichste Goldbeute aus unsern Bergen fortgetragen haben, eh’ es den Deutschen einfiel, sich auch an diesem herrlichen Gewinn ihres Landes zu betheiligen. Und da war es denn merkwürdiger Weise wieder das Fichtelgebirge, in welchem der Deutsche den ersten Bergbau, und zwar ebenfalls auf Gold, betrieb. Nach dem Berichte des Mönchs Otfried von Weißenburg ist dies zur Zeit König Ludwigs des Deutschen (843–876) geschehen, und von hier aus verbreitete sich der Bergbau allmählich in Deutschland. Aber fort und fort waren die geheimnißvollen Walen oder Venetianer in ihrer Weise in denselben Bergen thätig, und geschichtlich sind sie bis in’s 12. Jahrhundert hinab zu verfolgen. Erst im 14. Jahrhundert wurde die bedeutende Goldzeche zu Goldkronach gegründet und die Stadt gebaut, aber wiederum von Slaven und nicht von Deutschen, wie der Name beweist.

In der Volkssage theilen die Walen oder Venetianer mit den Zwergen die elbische Natur, auch sie sind von zwerghafter Gestalt, auch sie können sich unsichtbar machen und im Nu nach jeder beliebigen Stelle versetzen, auch sie vermögen Wetterstürme zu erregen und fahren unsichtbar in der Windsbraut einher; auch sie sind zaubermächtige, wunderbar geschickte Goldschmiede. Und so erscheinen sie regelmäßig, vom Gebirgsvolk mit ehrfurchtsvoller Scheu betrachtet, als ausgestattet mit der geheimen oder vielmehr übernatürlichen Kunst des Ruthenschlagens, Goldfindens und Scheidens des edlen Metalls vom tauben Gestein und des kunstreichen Verarbeitens desselben. Die Wünschelruthe ist von ihnen unzertrennlich; sie ist ihr Stab und Wegweiser im wilden, schauerlichen, einsamen Gebirg, auf und unter dem Boden. Erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts treten sie aus der mythisch elbischen Hülle heraus und werden zu wirklichen Menschen; die mystische legen sie niemals ab, bis sie gegen Ende des Jahrhunderts ganz verschwinden.

Man kann sich denken, wie sich die ohnedies so lebhaft aufgeregte Volksphantasie dieses an Gold und Geheimniß so reichen und durch die stete Wiederkehr schier unerschöpflichen Stoffes bemächtigte! Fast keine Sage ist so dramatisch lebendig und buntfarbig, als die von den Venetianern oder Walen. Unzählige romantische Geschichten werden in allen Gebirgsorten des Fichtelgebirgs, des Thüringerwaldes und des Baier- und Böhmerwaldes von ihnen erzählt, die meist darauf hinauslaufen, daß Gebirgsbewohner, von einem Geschäft oder vom Zufall nach der Lagunenstadt geführt, hier die Männer, die sie in ihren heimischen Bergen als unscheinbare, geheimnißvolle Arbeiter gekannt, als wahre Goldfürsten wieder finden.

Aber nicht allein als Goldschürfer und Scheidekünstler werden sie gepriesen, sie genießen auch den Ruhm als Pharmaceuten und Aerzte, als Magiker und Wahrsager. Und so fallen sie vielfach mit den Zigeunern zusammen. In meiner Geburtsheimath, dem nordwestlichen Thüringerwalde, ist das Andenken an sie noch so lebendig, daß man in Ruhla die Häuser bezeichnet, wo Einzelne gewohnt, die Schmiedeessen, wo sie bei nächtlicher Weile gearbeitet, und die Familien, mit welchen sie wenn auch nur dürftigen Umgang gepflogen, und die sich ihrer Gunst durch werthvolle Goldgeschenke erfreut haben. In der geheimnißvollen Geschichte des berühmten Naturarztes Johannes Dicel in Seebach bei Ruhla, von dem ich in einem frühern Jahrgange der Gartenlaube erzählt, spielt ein Venetianer eine sehr wichtige Rolle. Dicel fand als junger Mann diesen Fremden krank bei Nacht im Gebirge, trug ihn heim und pflegte ihn bis zu dessen Genesung. Dafür lehrte ihm der Venetianer die Zubereitung seltner und kostbarer Arzneien und unterwies ihn überhaupt in der medicinischen Chemie. Dicel erhielt von ihm gleichsam die letzte Weihe als Arzt und Apotheker und wurde von nun an ein gesuchter Heilkünstler und reicher Mann.

Auch im Thüringerwalde ist, wie im Fichtelgebirge, der Volksspruch im Schwange: „Mancher wirft einen Stein nach der Kuh, und der Stein ist mehr werth als die Kuh.“ Daher müssen die Venetianer auch im Thüringerwalde ihre reichliche Rechnung gefunden haben, sonst wären sie nicht mit solcher Beharrlichkeit wiedergekehrt, denn zu Scherz und Schein haben sie nicht in den Schmiedeessen Nachts hantirt. In Ruhla wird vorzüglich eine sagengeschmückte Berghöhle am Wartberg (volksthümlich Marktberg) bei Seebach als Fundgrube der Venetianer bezeichnet, und allerdings findet sich darin ein goldglänzender Sand. Der Bergbau auf Gold ist später von der einst so wichtigen Bergstadt Saalfeld, besonders am Goldberg bei Reichmannsdorf, und ebenso erfolgreich von der nun zu einem armen Dorfe herabgekommenen ehemaligen Bergstadt Steinheide betrieben worden, wo dieser Betrieb im dreißigjährigen Kriege zu Grunde ging.

Die Venetianer sind endlich ausgeblieben, obgleich man sie zu Pfingsten und Frohnleichnam noch jetzt an manchen Berghängen der Oberpfalz arbeiten sehen will; aber es ist bekannt, daß die sonst so bedeutende Ergiebigkeit des Bergbaus auf edle Metalle in allen Ländern Europa’s sich sehr vermindert hat, sodaß manche Bergwerke die Betriebskosten nicht mehr abwerfen. Diese Thatsache sollte aber doch nicht von Versuchen abschrecken, die Fingerzeige der alten Walen zu verfolgen. Auf der andern Seite sollten neuere Geschichtsforscher sich angelegen sein lassen, das räthselhafte Wesen dieser Fremdlinge zu ergründen und über die ganze Angelegenheit möglichst helles Licht zu verbreiten. Auch die Poesie hat sich des schönen und gehaltreichen Stoffes noch in keiner würdigen erschöpfenden Weise bemächtigt, und so wäre es doch gewiß recht hübsch, wenn die alten halb mythischen Venetianer den Bergmann, den Geschichtsforscher und den Dichter veranlaßten, in ihren verlassenen Gruben Gold zu schürfen.

Zum Schluß noch eine von den vielen Venetianersagen aus dem Baierwalde, welche Schönwerth in seinem vortrefflichen Werke „Aus der Oberpfalz“ mittheilt und die ich als ganz besonders charakteristisch auswähle. „Es wurde einmal Heu heimgefahren. Da erhob sich das Windgespreil (Wirbelwind). Ein Bube, der neben dem Wagen ging, warf sein Messer hinein. Dieses wurde nicht mehr gefunden und die Sache vergessen. Der Bube wuchs zum Manne und mußte eine Reise nach Venedig machen. Wie er nun herumgeht, die Wunderstadt zu beschauen, sieht von einem Hause Einer zum Fenster heraus, der ihn hinaufruft und gastlich bewirthet. Als er ihn entließ, sagte er: „Ich habe nur ein Auge. Das verdanke ich Dir.“ Der Fremdling war darüber um so mehr betroffen, als er den Mann gar nicht kannte. Da ging der Wirth hinaus und kam nach einiger Zeit als Venetianer gekleidet herein und zeigte dem Gaste ein Messer, ob er es nicht kenne. Nun gingen diesem die Augen auf; er erkannte den Venetianer, den er als Knabe gar oft in seiner Gegend nach Goldsand suchen gesehen hatte.“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: aufzu-/zudrücken