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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 23.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zwei Welten.

Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Er hatte unter der Zahl der mit ihm angelangten Gäste den großen Gesellschaftssaal betreten; noch lag über der Menge der bereits Anwesenden die eigenthümliche Ruhe, welche das Fehlen noch erwarteter hauptsächlicher Persönlichkeiten andeutet, und langsam wandelte er zwischen den Gruppen der Herren hin, mit scharfem Auge die glänzenden Reihen der Damen musternd, ohne indessen irgendwo seinen Blick gefesselt zu fühlen, und dann sich nach einem befreundeten Gesichte umsehend, that einen Blick in die anstoßenden, noch leeren Räume, und eben steuerte er durch die immer zahlreicher sich ansammelnde Menge einer Fensternische zu, von wo er den Wink eines näheren Bekannten aufgefangen, als eine allgemeine Bewegung sich in der Gesellschaft geltend machte und zugleich das halblaute Rauschen der Conversation in seiner Nähe verstummte. Er wußte, daß der Hof angelangt war, und unwillkürlich änderte er seine Richtung. Als er indessen, sich langsam durch die gebotenen Zwischenräume windend, sich der Mitte des Saales genähert, sah er, daß die Vordersten der Angekommenen schon nach ihren Sitzen geschritten waren; noch folgte aber ein voller Damenflor, begleitet von Cavalieren in den verschiedensten Hof- und Militair-Uniformen, und plötzlich blieb sein Auge in einer bestimmten Richtung haften, während die Farbe aus seinem Gesichte wich. Dort schritt sie, deren Erscheinen alle seine Gedanken entgegengeharrt, langsam zwischen den Uebrigen hin, so berückend schön in der duftigen Balltoilette, daß er die Hand gegen das Herz drücken mußte, welches für das plötzlich zuströmende Blut kaum Raum genug zu haben schien – so ernst und stolz aufgerichtet, als sei all die Entfaltung vornehmen Glanzes umher nur Gewöhnliches für sie. An ihrer Seite ging ein hoher Mann mit vollem dunklem Bart in ausländischer Uniform, sichtlich bemüht, ein angeknüpftes Gespräch fortzusetzen; kaum schien sie indessen seinen Worten zu horchen, und erst als in diesem Momente das Orchester einen rauschenden Satz begann, ging es wie ein neues Leben in ihren Zügen auf. Sie ließ den Blick aufmerksamer über ihre Umgebung schweifen, Hugo sah ihr Auge dem seinigen begegnen – aber achtlos glitt es weiter. Da, als sei ihr sein Blick erst zum Bewußtsein gekommen, kehrte der ihre plötzlich zurück, blieb in sichtlicher Ueberraschung an seinem Gesichte hängen, und ein flüchtiges Roth schoß in ihren Wangen auf. Mit den ersten Tönen der Musik indessen war eine neue Bewegung unter die Versammelten gekommen, zwischen ihm und den Letztangelangten fluthete die Menge der Gäste zusammen, ihm jede Möglichkeit für einen zweiten Blick raubend; aber in einer Empfindung, als hänge von der nächsten Minute der Verlust oder Gewinn seines ganzen Lebensglückes ab, durchbrach er die trennende Masse, kaum der nöthigsten Form zur Entschuldigung seiner Kometenbahn genügend, und fand sich in der nächsten Minute neben dem Begleiter des Mädchens, der soeben den Kopf tief nach ihr herabgebogen hatte, als benutze er das Geräusch der Musik, um ihr ein bedeutsames Wort zu sagen. Aber Hugo sah auch ihr Gesicht sich wie in verhaltener Ungeduld heben, sah in der nächsten Secunde, wie ihr Auge ihn entdeckt und sie mit auflebenden Zügen eine Bewegung machte, als wolle sie sich ihrem Begleiter entziehen und sich ihm selbst zuwenden, und nur dem innern Drange folgend, war er rasch an sie herangetreten, sie mit einem englischen: „Darf ich Sie begrüßen, Miß?“ anredend.

„Bleiben Sie neben mir, so lange es angeht,“ erwiderte sie, nach einem raschen Aufblick in sein Auge das ihre senkend, „ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, aber ich bin im Augenblicke glücklich darüber; es ist etwas Entsetzliches um diesen Zwang, jeder faden Rede Stand halten zu müssen.“

„Sie wissen, daß es nur Ihres Wortes für mein Handeln bedarf,“ versetzte er, seine Stimme dämpfend, eifrig, während die vertrauliche Art ihrer Begrüßung ihn wie ein Schauer von Glück durchrieselte, „aber,“ fuhr er zögernd fort, „wie nenne ich Sie auf diesem Boden der Förmlichkeit? Es ist ja noch nicht einmal das Erste und Nothwendigste in diesen Kreisen, eine Vorstellung, zwischen uns erfolgt; das einfache „Mylady“ mag über die erste Schwierigkeit helfen –“

Sie hob rasch den Kopf, und ein Zug voller Laune überflog ihr Gesicht. „Mylady?“ wiederholte sie. –

Da öffnete sich plötzlich ein freier Raum vor ihnen, in welchem die Vorangeschrittenen bereits ihre Sitze einnahmen – der Referendar zögerte mechanisch einen Augenblick, in diesen Kreis, den nur die Creme der Anwesenden zu bilden schien, einzutreten; da fühlte er seine Schulter berührt und aufblickend sah er in das zornig funkelnde Auge des frühern Begleiters seiner Wiedergefundenen.

„Wenn Sie ein Mann von Ehre sind, so folgen Sie mir!“ hörte er die gedämpfte französische Anrede, in welcher indessen eine Aufregung klang, die ganz dem begleitenden Blicke entsprach, und Hugo wußte sofort, um was es sich handeln würde. Aber es war eine fast freudige Empfindung, die ihn bei der Aufforderung überkam, eine Art Genugthuung, seine Stellung zu dem Mädchen sogleich vertreten zu können, und nur eine Secunde lang blickte er unsicher nach ihrem Gesichte umher. Schon sah er aber nur fremde Gestalten um sich und mit einem kurzen, bedeutsamen: „Ich bin bereit, Monsieur!“ richtete er sich zu seiner vollen Höhe [354] auf, um dem Andern nach dem Hauptausgange des Saales zu folgen.

Das geräumige Vorzimmer war nur von zwei Lackaien besetzt, und an einen derselben wandte sich der rasch Vorangeschrittene mit kurzer, leiser Ansprache. Der Diener schien indessen ungewiß zu sein, wie das an ihn gestellte Verlangen zu erfüllen, ließ einen unsichern Blick auf den zurückstehenden Referendar fallen, und erst nach einigen erneuten bestimmteren Worten des Sprechers drehte er sich einer Seitenthür zu, diese öffnend und durch ein hier befindliches Garderobezimmer nach einem hintern Raum voranschreitend, der augenblicklich nur dazu bestimmt schien, einzelne ans dem Wege gestellte Möbels und Decorationsgegenstände aufzunehmen. Nur ein einziges Licht brannte hier, einen trüben Schein über die hohen Wände und die umherstehenden Dinge verbreitend; der Mann in Uniform nickte indessen befriedigt und sandte den Lackai mit einer Handbewegung zurück; erst aber als er diesen das vordere Garderobezimmer verlassen sah, drückte er die Thür des betretenen Raumes zu.

Hugo hatte einige Schritte vorwärts gethan und stand mit leise zusammengezogenen Augen, seine stattliche Figur fest und hoch ausgerichtet, eine Anrede erwartend. Der Andere wandte sich jetzt rasch nach ihm um und warf einen kurzen, finstern Blick über seine ganze Erscheinung. „Ich bin der Graf Wasiliwitsch,“ sagte er dann in vornehm abgebrochener Weise, „der Ihre Karte wünscht oder eine genügende Erklärung für ein Benehmen, das kaum anders als absichtliche Beleidigung aufgefaßt werden kann.“

In Hugo’s Arme zuckte es bereits, dem ersteren Verlangen zu genügen; es paßte ganz zu seiner augenblicklichen Stimmung, einen scharfen Gang für das noch immer räthselhafte Wesen, das all sein Denken und Fühlen erobert, zu machen – da trat plötzlich ernüchternd und dämpfend der Gedanke an seinen Vater in seine Seele. Ein Duell um eines Mädchens willen, wie auch der Ausgang hätte sein mögen, wäre bei der streng bürgerlich soliden Denkungsweise des alten Beamten, wie die Verhältnisse bereits lagen, der Anlaß zu einem neuen, vielleicht unheilbaren Bruche geworden, und dagegen sträubte sich sein ganzes Herz. Sein Gegner hatte kaum ausgesprochen, als er auch schon mit seinem Entschlusse fertig war.

„Ich kann Ihnen nur erklären, Herr Graf,“ sagte er, ruhig und ernst den Kopf aufrichtend, „daß ich zu jeder Zeit dem Wunsche einer Dame, mich zu sprechen, genügen werde, daß nur eine gereizte Stimmung daraus eine Beleidigung für einen vielleicht weniger Bevorzugten bilden kann, und daß ich deshalb jetzt keinen Grund sehe, Ihnen in irgend einer Weise Genugthuung zu geben!“

Ein dunkles Roth stieg in das gebräunte Gesicht des Andern, und auf seiner Stirn begann eine geschlängelte Ader hervorzutreten. „Ah, Sie wollen mir keinerlei Art von Genugthuung geben, wirklich!“ sagte er, langsam den Kopf zurückbiegend. „Ich habe Ihnen als Theilnehmer der Gesellschaft die Ehre erzeigt, Sie auf gleichem Fuße zu behandeln – und Sie wollen mir keinerlei Art von Genugthuung geben! Eh bien, Monsieur" so werde ich mir diese Genugthuung selbst verschaffen!“ fuhr er fort, während sich ein böser Ausdruck um seinen Mund legte und er mit einem Zuge den Galanterie-Degen aus der Scheide riß, „ich werde Ihnen so lange die flache Klinge zu kosten geben, bis Sie knieend Abbitte für Ihr beeidigendes Benehmen leisten –“

Nur eine kurze Bewegung in den Schultern machte sich an Hugo’s Gestalt sichtbar; er war bleich geworden, aber sein Auge blickte voll und fest auf den Gegner. „Lassen Sie nur Zweierlei in Ihrem ungereimten Zorne nicht außer Acht,“ erwiderte er, mit Macht seine Erregung unterdrückend, „daß wir nicht auf Ihren russischen Gütern, sondern im Hotel eines preußischen Ministers sind – und daß außerdem Ihre Klinge einen andern Weg finden möchte, als den von Ihnen beabsichtigten –“

„Auf die Kniee!“ rief der Russe mit heiserer, gewaltsam gedämpfter Stimme, und der Degen schwirrte durch die Luft; mit einer schnellen Seitenbewegung aber hatte auch der Bedrohte die Klinge gepackt und suchte mit einer kräftigen Drehung sie der Hand des Angreifers zu entwinden; dieser indessen schien darauf vorbereitet gewesen zu sein und schlug einen so plötzlichen Kreis mit dem Arme, daß der festgehaltene Stahl das Handgelenk des Referendars zu zerbrechen drohte; von Neuem erhob sich die freigewordene Waffe, von Neuem und dichter am Griff als vorher fing sie der Angegriffene auf – da war, wie hingerissen von seiner Wuth, der Russe einen Schritt zur Seite getreten, verfing sich in einem der umherliegenden Gegenstände und stürzte; Hugo hatte instinctmäßig den Degen losgelassen, um nicht mit zu Boden gerissen zu werden, und im nächsten Momente sah er seinen Feind, die eigene Waffe in die Seite gestoßen, am Boden liegen. Einen unarticulirten Laut von sich gebend, hatte der Gestürzte mit beiden Händen nach der Verletzung gegriffen, dann aber schien er plötzlich die Besinnung zu verlieren.

Ein Schrecken so jäh und gewaltig hatte bei der plötzlichen Katastrophe den jungen Mann durchzuckt, daß er zwei Secunden lang wie völlig erstarrt auf den Gefallenen blickte, dann aber trat eben so jäh die Lage, in welche er gerathen, mit einer entsetzlichen Klarheit vor seine Seele. Was der Degenspitze ihre verhängnißvolle Richtung gegeben, ob seine eigene Hand oder die unwillkürliche Bewegung des Verletzten, konnte wohl niemals entschieden werden; Thatsache aber blieb es, daß der vornehme Ausländer in einem zeugenlosen Streit mit ihm gefallen war, gefallen im Hause eines preußischen Ministers, und völlig fest stand es, daß er selbst in seiner niedern Stellung am wenigsten geschont werden würde, um den Vergeltungsforderungen der russischen Gesandtschaft genug zu thun, daß alle Angaben, die er zu machen vermöge, kaum eines Quentchens Schwere zu seinem Vortheil wirken konnten. Alles das aber war in Secundenschnelle in seinem Gehirn aufgeschossen, und schon hatte er sich auch mit bebendem Herzen niedergebogen, um, dem ersten Drange folgend, die Degenspitze aus der Wunde des Daliegenden zu ziehen. Im Nu quoll das Blut durch die reiche Uniform hervor, zugleich aber öffnete auch der Verwundete die Augen. „Schaffen Sie Hülfe, schnell!“ stöhnte er und verlor dann sichtlich von Neuem die Besinnung.

Eine Viertelminute stand Hugo starr aufgerichtet, mit Macht seine Besonnenheit zusammenraffend; ans dem Saale klang die Musik herüber, ihm seine Lage in ihrer vollen Schärfe zum Bewußtsein bringend; dann raffte er hastig den ihm entfallenen Hut auf und schritt, seinem Gesichte die möglichste Fassung gebend, nach dem Vorzimmer.

„Der Graf Wasiliwitsch wünscht Sie rasch zu sprechen! “ wandte er sich an den ersten ihm entgegentretenden Lackai. „Lassen Sie ihn nicht warten!“ setzte er, sich zu voller Ruhe und Bestimmtheit zwingend, hinzu, als der Diener, wie erschreckt von dem Ausdrucke seines Gesichts, aufblickte. Dann nickte er leicht und wandte sich nach dem Ausgange – als er indessen die Thür öffnete, meinte er jeden seiner Nerven unter der Sorge, daß ihm hier noch irgend ein Umstand den freien Weg verlegen möge, beben zu fühlen, und erst als er das Geländer der Haupttreppe in der Hand hielt, als er, sich frei seinem Seelenzustande überlassend, flüchtigen Fußes die leeren geschmückten Räume hinabeilte, begann der fast erstickende Druck der letzten Augenblicke von ihm zu weichen.

Er hatte das Halbdunkel der erleuchteten Straße erreicht und war, noch keines rechten Gedankens mächtig, mechanisch in der Richtung seiner Wohnung vorwärts geeilt, als er, wie plötzlich zu sich selbst kommend, seinen Schritt anhielt. Ohne bestimmten Entschluß, nur halb instinctmäßig, war er der ersten Entdeckung des Unglücks ausgewichen. Viele aber, die ihn kennen mochten, hatten ihn mit dem Grafen den Saal verlassen sehen, und wenn jetzt sein Name als Urheber der That genannt wurde, so war seine Wohnung der sicherste Ort, um dem kaum vermiedenen Schicksale einer Verhaftung zu verfallen. Eine kurze Weile wollte es ihm überhaupt scheinen, als sei eine Flucht der falscheste Weg gewesen, um seine Zukunft zu retten; als ihm aber die Störung, welche der Vorfall auf die Festlichkeit ausüben mußte, der Rang des Russen und das dadurch hervorgerufene Aufsehen vor die Seele trat, fühlte er, wie wenig bei den obwaltenden Umständen seine ganze Unschuld im Stande gewesen wäre, ihn vor dem hereinbrechenden Sturme zu schützen. Es war besser so – nach Hause aber durfte er jetzt nicht! In kurzem Entschlusse bog er um die nächste Ecke und wandte sich der „Königsstadt“ zu, wo in einem der mittleren Hotels Fritz Römer sein kurzes Quartier genommen hatte. In dem allgemeinen Gastzimmer war noch Licht, als er das Haus erreichte, und der erste Blick durch die geöffnete Thür ließ ihn zu seiner Erleichterung den Freund unter den übrigen Gästen entdecken. Ueberrascht erhob sich dieser bei seiner Näherung, that aber dann in sichtlicher Betroffenheit über den Gesichtsausdruck des Eingetretenen die Augen groß und ängstlich auf.

„Komm nach Deinem Zimmer!“ raunte ihm Hugo, jeder Frage zuvorkommend, zu und wandte sich wieder nach der Vorhalle. [355] Nach kaum einer halben Minute war der Freund mit dem voranleuchtenden Kellner bei ihm, ihn wortlos die Treppe nach dem obern Stock hinauf leitend; als sie aber allein in dem Zimmer des Kaufmanns standen, faßte dieser beide Schultern des Angekommenen und fragte hastig: „Was ist es, Hugo? Dir ist ein Unglück passirt!“

„Ein Unglück, ein wirkliches Unglück, so ist es! – aber ich darf mich jetzt nicht mit Erklärungen aufhalten!“ nickte der Referendar finster und machte, die Hand gegen die Stirn gedrückt, einen raschen Gang durch das Zimmer. „Du bist ein treuer Freund, Fritz, ich weiß es,“ fuhr er dann, plötzlich vor dem Andern stehen bleibend, fort, „und so wirst Du rasch und ohne zu fragen thun, was ich Dir sagen werde. Treibe noch eine Droschke auf und fahre nach meiner Wohnung. Sollte sich dort irgend etwas Ungewöhnliches ereignet haben, so – merke wohl auf – so weißt Du nichts von meinem Aufenthalte! Im andern Falle sage Heinrich, daß er von meinen Kleidungsstücken und meiner Wäsche zusammenrafft, was sich auf einmal fortbringen läßt, und dann kommt Beide mit meinen Habseligkeiten hierher. – Jetzt rasch!“ schloß er, als ihn Römer mit starren Augen ansah, als stehe er vor einem schrecklichen, unbegreiflichen Räthsel, „es kann auf einige Minuten viel ankommen, und sobald Du zurück bist, erfährst Du Alles!“

Noch einen Blick senkte der Kaufmann in die erregten Augen des Schulfreundes, als wolle er sich eine letzte Ueberzeugung schaffen, daß Alles auch wirklich so sei, wie er gehört; dann griff er wortlos nach seinem Hute und verließ eilig das Zimmer.

Der Referendar warf sich auf das Sopha und versuchte seine Gedanken zu ordnen, aber ein vor ihm aufsteigendes Bild verdrängte alle übrigen Vorstellungen – das Gesicht seines Vaters, und es ließ ihn nicht in seiner Stellung, er mußte aufspringen und einen ruhelosen Gang durch das Zimmer beginnen. Es war in diesem Augenblicke kein Bangen um seine Zukunft, das ihn bewegte, aber es that ihm weh bis tief in’s Herz hinein, daß die Lage, in die er gerathen war, einen breitern Riß als je in dem Verhältnisse des Vaters zum Sohne schaffen werde. Was er sich auch selbst zu seiner Rechtfertigung anführen mochte, – er wußte, daß es bei der unverrückbaren Anschauungsweise des alten Mannes wirkungslos bleiben würde. War ihm doch schon die Vorliebe für aristokratische Kreise, ihm, dem nichts als die langsame, mühevolle Beamten-Carriere in Aussicht stand, den nur strenger Fleiß und fachliche Tüchtigkeit vorwärts zu bringen vermochten, zum Vorwurf geworden; mußten doch seine Nebenstudien, die er zu seiner allgemeinen Bildung und eigenen Befriedigung trieb, Allotria sein, die ihn von seinem rechten Ziele abwandten. Und was ihm jetzt begegnet, hätte allerdings keinen zufrieden „in seinem Joche ziehenden“ jungen Mann treffen können. Er sah schon den eigenthümlich starren Zug, der immer einen unwiderruflichen Entschluß ankündigte, sich um den Mund seines Vaters legen; als aber die Züge des Letzteren vor ihn traten, so lebendig, daß er sie in Wirklichkeit vor sich zu sehen meinte, da faßte ihn plötzlich die ganze in ihm wohnende Liebe für den alten, strengen Mann, der ihm oft verdientermaßen die rauhe Seite gezeigt, aber auch jedes Opfers für ihn fähig gewesen war, und es wurde ihm, als sei es unmöglich, daß er sich nicht den Weg zu seinem Herzen bahnen und wenigstens bei ihm Gerechtigkeit finden werde. Was im Uebrigen sich aus dem verhängnißvollen Abend für ihn entwickeln werde, daran dachte er jetzt kaum.

Langsam ließ er sich wieder aus das Sopha nieder, und jetzt tauchten die dunkeln, stolzen Augen, um deren willen er hier als Flüchtiger saß, in ihm auf. Er schüttelte leise den Kopf. „Vorbei, vorbei!“ murmelte er, „Ikaros, der aus der Gefangenschaft zur Sonne flog und in den Abgrund stürzte!“ und es war ein langer, schwerer Athemzug, welcher den Worten folgte.

Fast eine Stunde mochte dem Wartenden, bald im unwillkürlichen Verfolgen seiner innern Bilder, bald im ruhelosen Gange durch das Zimmer verstrichen sein, als endlich das Gerassel eines nahenden Wagens zu seinem Ohre drang. Gespannt horchte er; schon meinte er, das Geräusch sich wieder entfernen zu hören, und die verschiedensten Möglichkeiten, die den Freund an der Ausführung seines Auftrags hindern konnten, durchschossen sein Gehirn – da hielt der Wagen, und zugleich klang auch ein lachendes Wort des Tischlers herauf, als habe ihm dieser damit die Pein der Erwartung sparen wollen – noch waren also keine Verfolger auf seiner Fährte! Wenige Minuten waren auch nur vergangen, als sich die Thür öffnete und unter dem Vortritt des Hausknechtes sich ein umfangreicher Koffer hereinschob, dem die Gesichter der beiden Schulfreunde mit dem Ausdrucke eines befriedigend vollbrachten Geschäfts folgten.

„Alles klar und zu Hause keine Spur von etwas Unrechtem!“ meldete Heinrich, sobald der Diener sich entfernt, in steifer Haltung an den Referendar herantretend; „übrigens ist pünktliche Miethezahlung ein wahrer Segen, denn ich hätte mein Lebtag nicht mit einem solchen Koffer bei nächtlicher Weile ausrücken dürfen. – Bin noch nicht zu Ende!“ unterbrach er eine Bewegung des Angeredeten. „Der Soldat soll immer beobachten! war unsers Unterofficiers Wort bei jeder Felddienstübung, und so habe ich den Droschkenkutscher einen Umweg nach den Linden machen lassen, wo heute die Soirée war. Es scheint bereits allgemeiner Aufbruch dort zu sein, und wir hatten die Ehre, mit einer Hofequipage den ganzen Weg nach dem Schlosse zusammen zu machen –!“

„Um Gotteswillen, laß die Späße, es ist jetzt die schlimmste Zeit dafür!“ rief Hugo, sich mit der Hand in die zerstörte Frisur fahrend. „Es ist ein Mensch, ein reicher, hochgestellter Mann bei der Soiree erstochen worden, und ich werde der Thäter sein müssen – da habt Ihr Alles!“ Er ging rasch nach der Thür, öffnete sie und blickte hinaus, ohne weder des eigenthümlichen Gesichtsausdrucks Römer’s, der zwischen plötzlichem Entsetzen und gezwungenem Unglauben zu schwanken schien, noch des rasch gehobenen, aufmerksamen Blickes des Tischlers zu achten. „Die Sache ist, daß ich völlig unschuldig bin und dennoch werde büßen müssen!“ fuhr er fort, einen raschen Gang durch das Zimmer beginnend, und in kurzen abgestoßenen Sätzen theilte er jetzt den Freunden den hauptsächlichsten Hergang des Ereignisses mit. „Ich frage Euch nicht, was ich thun soll,“ setzte er dann stehen bleibend hinzu, „denn Ihr vermögt kaum die zu meinem Unglück einwirkenden Verhältnisse richtig zu beurtheilen, aber Ihr müßt meinen Entschluß wissen, um mich in der Ausführung zu unterstützen. Du, Fritz, verwahrst meine Sachen und nimmst sie bei Deiner Abreise morgen mit Dir. Ich werde mich hier nur umkleiden und dann die Nacht benutzen, um zu Fuß nach einer entfernten Eisenbahnstation zu gelangen, wo ich mit Dir zusammentreffen werde. Dann giebst Du mir in Deinem Hause so lange Quartier, bis ich mit meinem Vater auf irgend eine Weise ein Verständniß angebahnt habe, denn ich kann ohne ihn mich zu keinem entscheidenden Schritte entschließen. Du, Heinrich, bleibst ruhig in meinem Logis, sagst Allen, die nach mir fragen, daß ich verreist sei, und meldest mir jeden Tag unter Römer’s Adresse, was sich ereignet hat.“

„Rechne auf mich, so weit ich nur etwas thun kann!“ erwiderte der Kaufmann, ihm mit einer Miene, welche die ganze Bedeutung der Umstände würdigte, die Hand entgegenstreckend; „und für alle Fälle nimm meine Paßkarte mit Dir, bis wir wieder zusammentreffen.“

Der Tischler aber rieb sich mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen die Nase. „Wenn da nicht geradezu ein Barbiergeselle, der alle Dinge eher weiß, als Andere, dazwischen gewesen ist, so sehe ich noch gar nichts so Gefährliches,“ sagte er. „Das Fräulein wird sich gehütet haben, zu reden; ist der Mann todt, so konnte er nicht mehr sprechen, sonst aber hätte er die richtige Wahrheit bezeugen müssen, und zum Appell werden sie ja wohl die Gäste nicht haben antreten lassen –“

Hugo machte eine ungeduldige Bewegung. „Laß das, Heinrich,“ versetzte er, „entweder muß ich fort oder mich morgen selbst stellen, ein Drittes kann es nicht für mich geben, und ich habe keine Lust, mich selbst einer Verhaftung auszusetzen, deren Ende sich bei den Verhältnissen nicht absehen läßt. Um Deines guten Glaubens willen aber magst Du mich auf dem Büreau krank melden, dann wird sich ja das Uebrige schnell genug zeigen!“

Eine Stunde darauf hatte Hugo den Gasthof verlassen und wanderte in die Nacht hinein, sich seinen Weg auf dem Gleise der heimwärts führenden Eisenbahn suchend.




3. In einer deutschen Familie.

Die Frühsonne hatte einen leichten Nebel, welcher bereits die Annäherung des Herbstes verkündete, überwunden und blickte klar in die mit Weinlaub umrankten Fenster eines kleinen Zimmers, das mit seinen zwei schneeigen Betten und seiner übrigen, für Toilette wie Aufenthalt wohl versehenen Einrichtung Schlafcabinet [356] und Boudoir in Vereinigung darzustellen schien. Die einzelnen umherliegenden weiblichen Arbeiten, Tändeleien und eleganten Bücherbände aber gaben inmitten der herrschenden Ordnung und Sauberkeit dem Raume einen eigenthümlich wohlthuenden Charakter von Behaglichkeit.

Zwei Mädchen saßen unweit des Fensters; das eine, anscheinend ältere, mit dunkeln, scharf sinnenden Augen in’s Freie blickend, während das zweite auf einem Bänkchen zu Füßen der Gefährtin Platz genommen, ihre beiden Arme auf deren Kniee gelegt hatte und mit einem halb ängstlichen Ausdruck in dem milden, lichtbraunen Auge zu dem Gesichte der Ersteren aufsah.

„Ich wage es, Helene,“ sagte diese jetzt, wie in einem raschen, festen Entschlusse zurückblickend; „was kann er Anderes thun, als mich zurückweisen und schlimmsten Falls zur Thür hinausführen? Ich muß reden, denn Du vermagst nichts, als wie die selige Mutter zu dulden und zu schweigen, die Großmutter aber ist noch nicht unterrichtet, und wenn sie auch Alles wüßte, zweifele ich doch noch, daß sie etwas thun würde; sie scheint den eigenen Enkel ans dem Herzen gestoßen und dafür den Schuldirector hinein genommen zu haben, – Hugo hat jetzt kaum einen andern Wortführer als mich! – Es wäre vielleicht Manches anders,“ fuhr sie dann mit einem leichten Zuge des Unmuths fort, „wenn Römer bisher nur die Hälfte des Muthes gehabt, den er jetzt zeigt, und seinen Besuchen einen bestimmten Charakter gegeben hätte; damals hätte er ein stets versöhnendes Element zwischen Hugo und dem Vater werden können – jetzt ist es für Alles, was er auch unternehmen möchte, zu spät!“

„Aber was hätte er denn thun sollen?“ erwiderte Helene, plötzlich den feinen Rücken gerade aufrichtend, während ein dunkler Strahl in ihr Auge schoß – da traf ein eigenthümlich forschender Blick der Schwester den ihren, und ein helles Roth breitete sich über die feinen Züge der Fragenden. „Es ist nichts von dem, was Du meinst,“ sagte sie, mit leisem Kopfschütteln die Augen senkend, „sonst wüßtest Du es. Der Vater hat mich einmal gefragt, ob irgend ein Verständniß zwischen mir und Römer existire; er that es damals so plötzlich, daß ich in dem unwillkürlichen Schrecken blaß geworden sein muß; aber ich konnte ihm nur mit Nein antworten, und das,“ hob sie die Augen, in denen eine unterdrückte Empfindung zu zittern schien, „ist auch noch heute die Wahrheit, Marie! Nachher hat der Vater einmal in Römer’s Gegenwart gesagt, es sei gegen seine Natur, ein Vertrauen zu den Verhältnissen von Spekulanten zu fassen; dazu aber gehöre eigentlich jeder Kaufmann, der auf Chancen hoffe und über das einfach solide Geschäft hinausgehe. Und ich sah es Römer an, daß er die Worte nur seinethalben gesagt glaubte – was hätte er denn thun sollen, um für Hugo zu wirken?“

Ueber der Andern Gesicht glitt rasch ein Ausdruck von Sorge. „Bin ich denn mehr als drei Jahre älter als Du? und doch scheine ich im ganzen Hause die allein Sehende zu sein,“ sagte sie und schob sanft die Hände der Schwester von ihrem Schooße. „Du und Römer spielt noch zusammen die verschämte Schulneigung, die jedem bestimmten Worte ausweicht; aber sage mir doch: willst Du dabei zuletzt den süßen Schuldirector heirathen?“

„Aber Marie, wie bist Du denn?“ fuhr die Jüngere auf, während es wie ein innerer Schrecken in ihren Blick trat.

„Gut, so sieh klar um Dich und wirf die kindliche Harmlosigkeit von Dir; sie thut es nicht in unsern Verhältnissen!“ erwiderte Marie, das dunkle Auge groß und ernst in das Gesicht der Schwester richtend. „Glaubst Du denn, der Mann sitze stundenlang bei der Großmutter, um der alten Frau willen? oder er verkehre meinetwegen im Hause, die er kennt und der er trotz seines süßen Lächelns gern so weit aus dem Wege geht, als er kann? oder er lasse sich zu des Vaters Meinungen bekehren, weil er von diesem lernen wolle? Sieh um Dich, Helene, daß Du mit Dir und Deinem Herzen klar wirst, ehe einmal der Vater seinen bestimmten Willen ausspricht und Du Dich vergebens zur Großmutter flüchtest. Und jetzt will ich gehen,“ setzte sie, sich rasch erhebend, hinzu, „und Gott gebe nur, daß ich komme, ehe sein Entschluß zur vollen Reife gediehen ist!“

„Ich gehe mit Dir!“ rief Helene, sich langsam aufrichtend, und in dem milden Auge glänzte es wie eine plötzlich gewonnene Sicherheit, „er soll uns Beide zur Thür hinausführen, wenn er hart bleiben will; um Hugo’s willen kann ich wohl mehr als dulden und schweigen!“

Marie hatte einen überraschten Blick nach ihr gewandt; dann nickte sie leicht wie in Beantwortung eines eigenen Gedankens, küßte das Mädchen auf die Stirn und sagte: „Komm!“

Sie schritten zur Thür in den breiten Corridor hinaus, welcher den ersten Stock des weitläufigen Gebäudes durchschnitt. Hier war die Privatwohnung des Geheimeraths Zedwitz, – das Parterre und ein Theil des Hintergebäudes nahmen die amtlichen Büreaux der verschiedenen Abtheilungen ein. Nur durch das leichte Rauschen der Gewänder hörbar durchwanderten die Mädchen wortlos den langen Gang; Marie, den Kopf mit dem glänzenden, dunkeln Haare muthig aufgerichtet, während dennoch ein leichter Zug von Trauer um den frischen Mund lag; Helene, fast einen halben Kopf kleiner als ihre Begleiterin, das blondumrahmte Gesicht leicht zur Seite gebogen, fast wie das junge Reh, das seinen ersten kecken Schritt thut – Beide schlank wie junge Tannen, die feinen Taillen knapp von den einfachen, aber tadellos saubern Hauskleidern umschlossen. Am Ende der Zimmerreihe war der Eingang nach dem Arbeitscabinet des Geheimeraths, durch ein Vorzimmer von dem Corridor getrennt, und an diesem öffnete Marie vorsichtig die Thür.

Von einem seitwärts stehenden, mit Papieren bedeckten Tische erhob sich eine lange, derbknochige Gestalt und richtete sich beim Erkennen der Eintretenden respectvoll auf. Der lange graue Schnurrbart, die breite Glatze und die tiefen Falten des Gesichts deuteten auf ein schon vorgerücktes Alter, aber die lebendigen Augen unter den weißen buschigen Brauen verriethen eine noch ungeschwächte innere Frische.

„Haben Sie den Vater schon gesprochen, Mangold?“ fragte Marie, vorsichtig ihren Ton dämpfend.

„Er hat noch nicht geklingelt,“ erwiderte der Angeredete halblaut und zog in vertraulicher Weise den Kopf in die Schultern; „aber es ist schon eine Stunde, daß er drin herumwandert und dazwischen sich zeitweise an das Schreibepult setzt – ich höre dann den Drehstuhl knarren. Sie kommen wegen –?“ setzte er zögernd und mit einem plötzlichen Ausdrucke von Sorge hinzu, während er einen Blick des Verständnisses mit dem Mädchen austauschte; „ich denke, Fräulein, Sie kommen nicht eine Minute zu früh, wie ich die Luft hier kenne – sie ist mir noch nicht wieder so schwül vorgekommen, seit damals, ehe die gnädige Mama starb!“

Ein eigenthümlicher, fast starrer Zug legte sich bei den letzten Worten des Alten zwischen Mariens Augen. „Komm!“ sagte sie, die Hand der Schwester erfassend, und schritt mit dieser der vor ihr liegenden Thür zu.

Der Geheimerath stand, die Hände auf dem Rücken zusammengeschlagen, mitten in dem geräumigen Arbeitscabinet, das wenig mehr als die gewöhnlichsten Bequemlichkeiten zeigte, das Gesicht dem Fenster zugerichtet, und wandte sich beim Geräusch der geöffneten Thür rasch und unwillig um. Der Mann war kaum von Mittelgröße und nur wenig corpulent; aber es lag in diesem graublauen Auge, auf der breiten, nur von dünnem Haar beschatteten Stirn und in den bestimmt ausgeprägten Zügen eine innere Sicherheit, die beim ersten Blicke Respect erzwang. Beim Anblick der Eintretenden bog er leicht den Oberkörper zurück, während es wie eine unangenehme Erwartung über seine Stirn ging. Marie aber begegnete voll dem auf sie gerichteten Auge und trat leichten Schrittes auf ihn zu.

„Wir haben Dir einen guten Morgen sagen und daneben ein herzliches, freundliches Wort mit Dir reden wollen, Vater!“ begann sie mit einem leisen Beben nervöser Erregung in ihrer Stimme.

„Wir wissen, daß Hugo in der Stadt ist und Dich um ein Gespräch gebeten hat; wir wissen aber auch, daß Du vorher schon ungehalten auf ihn warst, und fürchten, daß Du ihn jetzt um so mehr kurz abweisen möchtest. Nun bitten wir Dich von Herzen, Vater – wenn die Mutter noch lebte, würde sie es thun, so aber hat er doch nur uns – sprich mit ihm, Vater, er glaubt sich vor Dir rechtfertigen zu können, und dem ärgsten Verbrecher, was er doch nicht ist, wird ja ein Gehör nicht verweigert!“


(Fortsetzung folgt.)

[357]

Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand.

Nach seinem Standbild im Kloster Schönthal.


Der nördliche, vom fränkischen Volksstamm bewohnte Theil Württembergs wird vorherrschend gebildet durch die Flußgebiete des Kochers und der Jaxt, zweier namhafter Nebenflüsse des Neckars. Im freundlichen Jaxtthale, etwa vier Meilen oberhalb seiner Ausmündung in das Neckarthal, liegen die stattlichen Gebäude der früheren reichsunmittelbaren Cisterzienserabtei Schönthal.

Wie Maulbronn ist auch dieses vormalige Ordenshaus in neuerer Zeit der Sitz eines der vier sogenannten niedern Seminarien, dieser Württemberg eigenthümlichen und für sein Schulleben so einflußreichen Vorbildungsanstalten für künftige evangelische Theologen des Landes.

Während nun aber Maulbronn Jahrhunderte lang darauf bedacht war, in architektonischer Beziehung fort und fort auf dem gelegten Grunde seiner romanisch-gothischen Kloster- und Kirchengebäude weiter zu bauen und ein vielbewundertes Denkmal alter Baukunst herzustellen, ist in diesem Betracht Schönthal in Nachtheil gekommen. Zwar hat man einige ältere Klostergebäude, die aus zwei weit auseinander liegenden Zeiträumen stammen, sowie ein gothisches Kirchlein stehen gelassen, aber die alte, im edlen strengen Styl des Mittelalters gebaute große Kirche wurde zu Anfang des vorigen Jahrhunderts durch eine noch größere ersetzt, so daß das schönste hiesige Denkmal der reinen Kunst der Mode der Neuzeit zum Opfer gefallen ist. Gleichwohl ist Kloster wie Kirche von Schönthal auch jetzt noch eines Abstechers von dem vier Meilen entfernten Heilbronn aus gar wohl werth.

Das Standbild des Götz von Berlichingen im Kloster Schönthal.

Dies aber um so mehr, da sich hier einiges Andere erhalten hat, was selbst Maulbronn nicht besitzt. Außer einigen andern Bildern nämlich, z. B. von Kaiser Friedrich Barbarossa, von Papst Alexander III., von Bernhard von Clairvaux, und außer einem für die Geschichte des Costums wichtigen Ordenssaal mit Hunderten von Abbildungen aller möglichen Mönchs-, Ritter- und Nonnentrachten, ist in dem Kreuzgang dieses Klosters eine Reihe lebensgroßer Standbilder von früheren Schirmherren desselben aufgestellt. Es sind achtzehn sorgfältig in Sandstein ausgeführte Statuen, welche an sich schon dadurch, daß sie Ritter von vier verschiedenen Jahrhunderten genau in der Rüstung ihrer Zeit darstellen, für die Geschichte der Waffen und Wappen des Mittelalters und für die Kunst überhaupt von erheblicher Bedeutung sind. Sie stellen, mit Ausnahme eines einzigen Standbilds, sämmtlich nur Ritter des edlen Geschlechts der Herren von Berlichingen dar. Als nämlich der Gründer des Gotteshauses, Wolfram von Bebenburg, 1157 nach der Legende in Folge eines Gesichts genöthigt wurde, statt des früher von ihm gewählten, höher gelegenen Platzes für seine Stiftung einen andern im Thal aufzusuchen, bat er die im nahe gelegenen Jaxthausen angesessenen Verwandten seiner Frau, welche eine geborene von Berlichingen war, das zu dem neuen Kloster nöthige Ackerfeld nebst dem daran stoßenden Grund und Boden abzutreten. Diesem Wunsche wurde bereitwilligst entsprochen und nur die Bedingung hinzugefügt, daß den Herren von Berlichingen das Begräbniß in dem künftigen Kreuzgang des Klosters für alle Zeiten gestattet werde, Abt und Convent die vor die Klosterpforte gebrachte Leiche processionsweise in die Kirche begleiten und daselbst die gewöhnlichen Exequien für den Verstorbenen halten sollten.

Diesem Umstände und dieser bis zur Reformation befolgten Anordnung haben wir es zu danken, daß auch von dem durch ein großes Dichterwerk verherrlichten Sprößling dieses Adelsgeschlechts, dem durch seine Betheiligung am Bauernkriege berühmten Götz von Berlichingen, gleichfalls ein Standbild in der Reihe seiner Stammgenossen steht, das alle Spuren vollkommener Portraitähnlichkeit an sich trägt. Dafür spricht nicht allein die Verwandtschaft der Züge mit denen anderer Ahnen des Geschlechts, in deren Mitte er steht, sondern die überraschende Aehnlichkeit einzelner, noch jetzt lebender Glieder des Hauses mit der Gesichtsform, der Statur und Größe des Körpers, die wir an diesem steinernen Götz wahrnehmen. Dadurch wird aber reichlich aufgewogen, was dem Bildwerk etwa an künstlerischer Correctheit abgeht. Wäre man ja fast versucht zu behaupten, dieses minder schöne und ästhetisch nicht völlig befriedigende Abbild des Ritters mit der eisernen Hand entspreche im Grunde noch besser, als ein vollkommneres, dem Wesen und Charakter des Mannes, der mit Kunst und Wissenschaft sich niemals viel befaßt hat und in dessen ganzer Erscheinung das Biedere, Derbe und Ungeschlachte bei Weitem das Uebergewicht hatte.

Doch noch eine weitere, sonst minder bekannte Eigenschaft, die auch stark aus der von Götz hinterlassenen Selbstbiographie hervorleuchtet, eine innige und lebendige Frömmigkeit, lernen wir an ihm auch kennen, wenn wir unserem Bilde näher treten und die, nach dem wunderlichen Style zu schließen, von Götz selbst verfaßten [358] Inschriften entziffern, welche in der Nachbildung nicht wiedergegeben werden konnten.

In dem größeren Viereck über dem Standbild ist in lateinischer Lapidarschrift zu lesen:

Ano Dmi 1562 ist dots verschide der edel vn ernves gottfridt
von berlichen zu hornberg – der Sel Got genedig sei. Amen.
Mein Gott vn mein Vater – zun beweise meine arme Sele das sie ine
verde dv seit m fels burg schildt thurn hort schuez zversich hilff
haende bevil ich mein Geist Her du drever Got erlus meine arme –
ich hoff auf dich o Her erlös mich vn sei mir genedig - sel von
               dem grausame feindt

Unten steht:

Vnd er wartet alhie einer fröhlichen auferstehung


Eine Ergänzung dieser biographischen Notizen enthält eine wahrscheinlich späterer Zeit angehörige, schön ausgestattete Erztafel an der gegenüberstehenden Wand folgenden Inhalts:

Anno Domini 1562 uf donnerstag den 23 Juli umb sechs uhr zu abets
verschied der edel un ernvest gottfried vo berliching zu horberg d’elter,
So seins alters uber etlich u. achzig Jahr alt worden, dessen sele un
uns alle Got der allmechtig wolle gnedig un barmherzig sein. Amen.
Er wartet allhie sampt allen gläubigen in Christo eine fröhliche
                     Auferstehung.

Sodann in wohlfließenden lateinischen Distichen wird gesagt:

Diese Urne umschließt das Gebein des edelen Gottfried
Berlichingen, allwärts ist ja der Alte bekannt.
Er, der hochherzig im Leben der Fehden so viele bestanden,
Wird sich dagegen nunmehr stetigen Friedens erfreun.
Sicher vor Anderer Hohn und Keinem mehr furchtbar, genießet
Jetzt ohn’ Ende er auch ewiger Güter die Füll’.

Einen Lebensabriß und eine weitere Charakterschilderung des berühmten Rittersmannes zu geben, kann für diesmal nicht in der Absicht dieser Zeilen liegen. Nur über Eines, das ja auch auf dem Bilde zu sehen ist und worüber wir gleichfalls im Stande sind, aus eigener Anschauung und nach Quellen zu reden, möchte wohl der Leser zum Schluß noch Etwas erfahren, über die eiserne Hand nämlich, auf welcher der Ritter auch hier im Bilde kniet.

Götz selbst erzählt im sechsten Capitel seiner Lebensbeschreibung wortgetreu also: „Im Bayrischen Krieg 1504 ist mir vor Landshut mit einer Feldschlangen durch die Nürnberger der Schwerdknopf entzweygeschossen worden, daß mir das halbe Theil in Arm ging und drey Armschienen damit, und lag der Schwerdknopf in Armschienen, daß man ihn nit sehen kunt – – und wie ich so das siehe, so hengt die Hand noch ein wenig an der Haut und leit der Spieß dem Gaul unter denen Füßen, so that ich eben, als wäre mir nichts darum, und wandt den Gaul allgemach um, und kam dennoch ungefangen von denen Feinden hinweg zu meinem Hauffen.“ Später fügt er noch bei: „Und von der Zeit an am Sonntag nach St. Jacobstag, da bin ich zu Landshut gelegen, bis um Fastnacht außen, was ich der Zeit für Schmerzen erlitten habe, das kann ein jeglicher wol erachten, und wäre das mein Bitt zu Gott, die ich thet, wenn ich in seiner göttlichen Gnad wäre, so soll er im Nahmen Gottes mit mir hinfahren, ich wäre doch verderbt zu einem Kriegsmann, doch fiel mir ein Knecht ein, von dem ich etwan von meinem Vater seel. und olten Knechten gehört het, welcher der Köchle geheissen, der hette auch nit mehr denn ein Hand gehabt, und hette eben alsobald ein Ding gegen Feinden im Feld ausrichten können, als ein anderer, der lag mir im Sinn, daß ich Gott aber anrufft und gedacht, wann ich schon zwölff Händ hette, und sein göttliche Gnad und Hülff mir nicht wohl wöllt, so were es doch alles umsonst, und vermeint derenthalben, wann ich doch nit mehr dann ein wenig ein Behelfs hette, es were gleich eine eiserne Hand, oder wie es wäre, so woll ich dennoch mit Gottes Gnad und Hülff im Feld noch irgend so gut als sonsten ein heilloser Mensch, ich bin auch seithero mit desselben Köchles Söhnen geritten, die redlich uns berühmt Knecht gewesen. Und nachdem ich nun schier sechzig Jahr mit einer Faust Krieg, Vehd und Händel gehabt, so kan ich wahrlich nicht änderst befinden noch sagen, denn daß der Allmächtig, Ewig, Barmherzig Gott wunderbarlich mit großen Gnaden bey und mit mir in allen meinen Kriegen, Vehden und Gefährlichkeiten gewesen.“

Außer diesen Worten hat sich weder vom Ritter selbst noch von einem sonstigen Berichterstatter irgend eine verbürgte Nachricht über dieses in der That merkwürdige Kunstwerk der Mechanik erhalten, namentlich ist ganz unbekannt, wo und von wem es gefertigt worden ist. Glücklicher Weise ist es aber, nebst anderen Reliquien des ritterlichen Ahnherrn, in dem sehenswerthen Archiv des noch unversehrt erhaltenen alten Schlosses in Jaxthausen aufbewahrt. Diese eiserne Hand hat von außen ganz das Ansehen eines zierlichen Panzerhandschuhs, nur daß sie ganz von Eisen ist und im Innern ein sehr complicirtes und sinnreiches Federwerk hat, mittelst dessen es dem Ritter möglich war, nicht allein die ganze Hand bis zur Faustkrümmung einzubiegen und sehr fest zu schließen, sondern auch jeden einzelnen Finger, ja jedes Gelenk desselben für sich allein ebenfalls zu biegen, so wie auch dann wiederum durch den Druck eines einzigen Knopfs im Nu alle Finger in die Lage der offenen Hand zurückspringen zu lassen.

L. M.





Deutsches Weihnachtsfest auf Java.

Am 24. December des Jahres 185* saß ich des Morgens früh bei einer Tasse Kaffee und einer Manillacigarre unter der Halle meines Bambushauses, den plötzlichen Sonnenaufgang in den Tropen bewundernd. Ich hatte zwar schon oft auf Java dieses prächtige Schauspiel genossen, aber an jenem Morgen war es der Reiz einer bis dahin ungekannten Gegend, der mich bewog, trotz der Strapazen eines dreitägigen Rittes schon so frühe mein Lager zu verlassen. Und wahrlich, ich hatte nicht nöthig es zu bereuen, denn obschon ich viel von Toendagan (sprich Tundagan) und seiner reizenden Lage gehört hatte, wurden meine Ansprüche durch die Wirklichkeit doch so sehr überboten, daß ich zu behaupten wage, während meines ganzen Aufenthaltes in Indien nie einen Flecken gesehen zu haben, dessen Umgebung dem Beschauer eine größere Fülle und eine größere Abwechselung von Naturschönheiten geboten hätte.

Toendagan, inmitten der kolossalen Gebirgsketten, welche die Insel Java durchschneiden, liegt in der Provinz Cheribon, derjenigen holländisch-indischen Provinz, die dem Europäer wohl am meisten bekannt ist, denn dort gedeiht bei dem unausgesetzten Fleiße der Einwohner hauptsächlich der im Welthandel so hochgeschätzte Java-Kaffee.

Es ist ein Flecken, ein sehr kleiner Flecken, denn kaum sechzig kleine Bambushäuschen bergen mit Bequemlichkeit seine sämmtlichen Einwohner, und doch gewinnt es dadurch nicht unbedeutend an Ausdehnung, daß jedes Haus mit einem Garten umgeben ist, in welchem Kokusnußpalmen und Pisangstauden ihre Wipfel lustig gen Himmel heben. So zieht sich dieser kleine belebte Wald an den Ufern des Tji-aram wohl eine Viertelstunde entlang, während im Norden und im Süden zwei Gebirgsketten das schmale Thal um zwei- bis dreitausend Fuß überragen und den Flecken mit ihren kolossalen Felsmassen beinahe zu erdrücken drohen. Im Westen von Toendagan hebt sich das Thal, und dort ist der Sammelplatz der Gebirgswasser, die von allen Seiten her sich brausend zusammenwälzen und erst von dem kleinen Orte aus als ruhiger, ziemlich breiter Fluß ein langes fruchtbares Thal nach Osten hin durchschneiden.

Am Ostende von Toendagan ist ein mit uralten Varingabäumen begrenzter freier Rasenplatz, an dessen einer Seite das sogenannte Fremdenhaus steht, und dieses Haus war vom Ortshäuptling, dem ich meine Ankunft und Anwesenheit für zwei Monate angezeigt hatte, eingerichtet, d. h. mit den nöthigen Möbeln, Matten und Geräthen versehen worden. Ich war in der Nacht vom 23. auf den 24. December angekommen, um den District topographisch aufzunehmen, und saß nun, wie schon gesagt, am 24. December Morgens vor meinem Hause, beim Sonnenaufgang der imposanten Gegend meine Bewunderung zollend.

Neben mir auf einer Bambusmatte saß der Häuptling des Fleckens, mit Wohlbehagen eine meiner Manilla rauchend und mir mit jener den Malaien eigenthümlichen Ruhe die Namen der Gebirge [359] und die sich daran knüpfenden Sagen erzählend. Vor mir auf dem Rasen tummelten sich in der Morgenkühle meine stattlichen Pferde, während die Boedjang (spr. Budjang, javanesische Diener) damit beschäftigt waren, meine Kisten und Kasten aufzuschnüren, um in möglichster Kürze Gemüthlichkeit und Bequemlichkeit in meiner neuen Behausung herzustellen.

Ihre Thätigkeit wurde plötzlich durch einige laut gesprochene Worte des Häuptlings unterbrochen, der aufstehend nach dem Gebirge zeigte und mir sagte: „Toewan, goelang-goelang“ (Herr, ein Staffettenreiter!) Aller Augen wandten sich nach der angegebenen Richtung, und ich gewahrte einen jener unglücklichen, geplagten Javanen, die sich ihre kümmerliche Existenz dadurch verdienen, daß sie Tag und Nacht unterwegs sind, um für ein Geringes sowohl Privatbriefe als auch Staatsdepeschen in kürzester Zeit zu überbringen; er ritt den steilen Gebirgspfad mit Sicherheit herab, und als er meiner ansichtig wurde, spornte er sein übermüdes Pferd zur letzten Kraftanstrengung an.

Wie ich mir gleich dachte, war es ein an mich gerichteter Brief, den der Ueberbringer aus einem sorgfältig zusammen gelegten, roth kattunenen Kopftuche hervorholte und mir, nach dortiger Sitte, knieend übergab. Es war ein Billet meines Freundes W., ein Billet so kurz und bündig wie er selbst, das nur folgende Worte enthielt:

„Lieber Freund!

Bei mir in Soebang wird der Weihnachtsabend gefeiert; ganz Deutschland wird vertreten sein, daher erwarte ich auch Sie mit Bestimmtheit.

Ihr W.“

Diese Einladung, so unerwartet sie kam, war mir dennoch sehr lieb, und ich freute mich herzlich, meine elf Cameraden wiederzusehen und mit ihnen das Christfest zuzubringen, denn wir waren ja zwölf junge Deutsche, freilich aus den verschiedensten Königreichen und Fürstenthümern stammend, aber doch Deutsche, zufällig Tausende von Meilen von unserm lieben deutschen Vaterlande in Indien auf einer Scholle Land zusammengewürfelt, Alle in holländischen Staatsdiensten und vom Genie-Büreau mit der topographischen Vermessung der Provinz Cheribon betraut.

Die Entfernung von Toendagan nach Soebang betrug über dreißig englische Meilen, eine Entfernung, die ich gewohnt war auf ebenen Wegen in kurzer Zeit zurückzulegen; aber die Gegend, in der ich mich befand, war eine der unwegsamsten, der wildesten Java’s; ich mußte über den südlichen, dreitausend Fuß hohen Gebirgsrücken, Thäler und Flüsse passiren, dann eine neue Bergkette ersteigen, auf deren hohem Plateau Soebang, versteckt im dichtesten Urwalde, lag.

Ich ließ mir sofort ein warmes Frühstück nach Landessitte, aus gekochtem Reis und gebratenem Huhn bestehend, bereiten, setzte meine Waffen in besten Stand, und nach Verlauf von zwei Stunden saß ich schon wieder im Sattel und sprengte auf meinem prächtigen persischen Jagdpferde, einem Geschenke des Sultans von Cheribon, den wildromantischen Gebirgen zu. Vor mir ritten zwei des Weges kundige Einwohner Toendagan’s, die voraussehend, daß ich erst am späten Abend mein Ziel erreichen würde, einige Fackeln bei sich führten, hinter mir meine beiden Boedjang, der Eine mein geladenes Gewehr in der Hand, der Andere den in Indien unentbehrlichen Tali-api (eine brennende Lunte) und mein Cigarrenkästchen tragend. Trotz der großen Strapazen der vorhergehenden Tage legte ich diesen beschwerlichen Ritt mit dem nur der Jugend eigenen frohen Sinn zurück und langte, nachdem ich am Mittag eine Stunde geruht und mich mit der Milch einiger Kokusnüsse erfrischt, am Abend in der Dunkelheit auf dem Plateau von Soebang an. Dort erst fand ich einen breiteren Reitweg durch die Wälder der Hochebene vor, und so erreichte ich nach kurzem, scharfem Ritt Abends gegen acht Uhr Soebang, wo meine Freunde mich, den zuletzt Angekommenen, jubelnd begrüßten.

W. bewohnte ein sehr großes Bambushaus; dasselbe bestand aus einem langen, viereckigen Saal, an dessen längeren gegenüberstehenden Wänden auf jeder Seite vier Thüren nach ebensoviel kleinen Stübchen führten, während an den beiden kürzeren Seiten große, stets geöffnete Flügelthüren den Saal mit Vorhallen verbanden, von denen die eine an der Straße lag, die andere die Hinterseite des Hauses bildete. Diese geräumige Wohnung hatte W. mit allen möglichen Bequemlichkeiten versehen, ich möchte beinahe sagen, mit Luxus ausgestattet, was er zwar besser vermochte als wir, da er, der Aelteste von uns Allen, zugleich unser Vorgesetzter war, der, während wir uns nur kurze Zeit in einem Orte aufhielten, seinen Wohnsitz auf längere Dauer in Soebang genommen hatte, von wo aus er die topographische Aufnahme leitete und beaufsichtigte. W. selbst, ein Oesterreicher von Geburt, war einer der edelsten Charaktere, die ich je getroffen; er war zwar schon fünfzehn Jahre in Ostindien, als ich dort ankam, bedeutend älter als wir Alle, aber die Liebenswürdigkeit, mit der er stets in unsere damals oft noch unreifen Ideen einging, die Schonung, mit welcher er dem Unerfahrenen und Kenntnißärmeren entgegentrat, und die strenge Unparteilichkeit, mit der er unsere Leistungen kritisirte, machten ihn so ungemein beliebt bei uns, daß wir stolz darauf waren, seine Freundschaft zu besitzen.

Als ich vom Pferde gestiegen, drückte er mir herzlich die Hand, indem er ausrief: „Das ist schön, daß Sie auch gekommen sind; nun sind wir Alle zusammen und können einmal wieder auf deutsche Weise Weihnachten feiern! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, bester Freund, wie sehr ich mich auf den heutigen Abend gefreut habe, denn in den sechszehn Jahren, die ich in Indien bin, ist es das erste Mal, wo es mir vergönnt ist, das schöne Weihnachtsfest einzig und allein im Kreise von Landsleuten zu feiern!“

Er führte mich in die Vorhalle, und nachdem ich meine Cameraden sämmtlich begrüßt und dort mit ihnen einige Erfrischungen genommen, öffnete W. die bis dahin verschlossen gewesenen Flügelthüren zum Saale. Ein Ruf der Ueberraschung und Freude entglitt unsern Lippen! Das Gemach war hell erleuchtet; inmitten erhob sich eine hohe, prächtige Palme, von oben bis unten mit brennenden Kerzen geschmückt und mit allen erdenklichen Sachen behangen; vor derselben stand ein gedeckter Tisch, wo Jeder von uns ein Geschenk vorfand, ein Geschenk aus Deutschland stammend, das uns an das liebe Vaterland erinnerte. Schweigend traten wir in den Saal; es herrschte eine feierliche Stille, denn da war kein Auge thränenleer, kein Herz, das nicht stärker klopfte, keine Seele, die sich nicht wehmuthsvoll der Erinnerung an die vergangenen glücklichen Jahre in der Heimath hingab. Wir reichten tiefgerührt unserm liebenswürdigen, aufmerksamen Wirthe die Hände und gaben uns dann so recht der ungetrübten Freude hin, die ja am Christabend in jedes noch etwas empfängliche Herz in so reichem Maße einzieht und die, ich möchte beinahe behaupten, diesen Abend erst zu einem wahren Festabend weiht. W. war nicht weniger glücklich als wir Alle; unsere Freude schien ihm die größte Genugthuung für seine Mühe und Aufmerksamkeit zu sein, und man hätte glauben können, einen glücklichen deutschen Hausvater im Kreise der Seinen zu sehen, hätte die Palme uns nicht ernst daran erinnert, daß wir Tausende von Meilen von unserm Vaterlande waren.

„Aber jetzt, meine lieben Freunde,“ rief W. plötzlich, „wird es wirklich Zeit, daß wir meine Haushälterin berücksichtigen, denn ich glaube, sie macht schon ein böses Gesicht, daß wir so lange Anstand nehmen, ihrem sorgfältig zubereiteten Mahle die gebührende Ehre zu erweisen. Wessen Magen daher hülfsbedürftig ist, der komme!“ und mit diesen Worten wandte er sich, von uns gefolgt, der hell erleuchteten Halle hinter dem Hause zu, wo eine reich besetzte Tafel uns erwartete. Lachend und scherzend setzten wir uns, und ich kann wohl mit Recht sagen, dieser Abend, oder besser diese Nacht war, was ungezwungene Heiterkeit, Laune und Unterhaltung betraf, für mich eine der angenehmsten und genußreichsten, die ich je in Indien verlebt habe. Einer suchte den Andern an Witz zu überbieten, Einer den Andern an genialen Bemerkungen zu übertreffen und an Gedankenreichthum zu überflügeln.

Was mich betraf, so beobachtete ich erst längere Zeit, sowohl unsere heitere Gesellschaft als auch unsere Dienerschaft, denn es war interessant und ergötzlich zu sehen, wie unser Gefolge und unsere Boedjang, einige Schritte von uns auf über den Rasen ausgebreiteten Bambusmatten lagernd und ihre Mahlzeit verzehrend, uns neugierig, beinahe entsetzt angafften, indem sie sich sicherlich selbst sagten, daß sie nie ihre Herren in so ausgelassener Laune gesehen. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß während des Mahles ein Toast den andern verdrängte, und es wären wohl noch unzählige gefolgt, hätte W. nicht plötzlich mit sonorer Stimme das herrliche Lied: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ angestimmt. Kräftig fielen wir alle ein, und so tönte dies kernige Volkslied hoch oben auf Soebang’s Plateau durch die Stille der Tropennacht, während nur das ferne, dumpfe Gebrüll des Tigers im Urwalde dem deutschen Liede Beifall zollte. Plötzlich wurde unser Gesang durch einen furchtbaren Schrei vor dem Hause unterbrochen, ein [360] zweiter Schrei folgte, und der Ortshäuptling stürzte athemlos in den Saal, wo unsere Palme noch im Lichterglanze prangte.

„Toewan, toewan, badak badak besar, badak besar scali“ (Herr, Herr, ein Rhinoceros, ein großes Rhinoceros, ein sehr großes Rhinoceros!) rief er, indem er sich zu uns in die Hintere Gallerie flüchtete.

Ein Donnerschlag aus heiterem Himmel hätte uns nicht mächtiger emporschnellen können, als gerade dieser Ausruf. Wir stürzten in den Saal, wo unsere geladenen Gewehre standen, aber kaum hatte Jeder seine Waffe in der Hand, kaum standen wir versammelt hinter der Palme, so trat auch schon langsam, majestätisch, den ganzen Raum der Flügelthüren einnehmend, ein kolossales Rhinoceros durch die Vorhalle in den Saal.

„Es ist der Weihnachtsmann,“ rief W. mit funkelndem Auge. Sonderbar – wir standen plötzlich der todbringenden Gefahr einige Schritte gegenüber, von ihr nur durch einige Tische und die Palme getrennt, eine Scheidewand übrigens, so nichtssagend, daß ein leiser Anstoß des Unthiers genügte, Alles vor uns zu zerschmettern, aber doch zitterte keines Einzigen Hand; im Gegentheil, kaum war das erste Erstaunen über die Kühnheit des Urwaldbewohners vorüber, als unsere gewöhnliche Heiterkeit sich unser wieder bemächtigte und mit ihr zugleich die Ruhe und die Kaltblütigkeit, die nothwendigen Begleiter des Menschen, wenn er der Gefahr mit Erfolg entgegentreten will. Wir waren Alle schon einige Zeit in Indien und zwar im Innern des Landes, daher vertraut mit der Todesgefahr, die uns ja beinahe jeden Tag bei jedem Unternehmen auf die verschiedenste Weise entgegentrat, aber in diesem Augenblicke war die Gefahr größer als je, denn wir standen einem Feinde gegenüber, dessen undurchdringlicher Panzer allen Kugeln trotzte, der nur hinter dem Ohre eine einzige kleine, tödtlich verwundbare Stelle hatte und der mit einem Anlaufe, mit einem einzigen freundschaftlichen Tritte uns zermalmen konnte. Das fühlten wir und wir waren uns zu gleicher Zeit bewußt, daß nur ein einheitliches, ruhig überlegtes Handeln uns den Sieg über das Unthier zuwenden konnte. Unwillkürlich richteten sich daher Aller Augen auf W., der sich auch seiner Verantwortung völlig bewußt, seiner Aufgabe völlig gewachsen fühlte.

„Meine Herren,“ rief er plötzlich, „sehen Sie, er avancirt, ziehen wir uns daher leise zurück, zurück in die Halle, aber kein Wort, kein unnützes Geräusch – ich habe meinen Plan!“

Wir folgten seinem Rathe und zogen uns zurück, und als W., der Letzte, aus dem Saale trat, schloß er vorsichtig die Flügelthüren.

„Jetzt aufgepaßt!“ wandte er sich in malaiischer Sprache an die Javanen, „wehe dem, der meinen Befehlen zuwiderhandelt! Boedjang, so schnell wie möglich alle Pferde gesattelt, und Ihr, Häuptling, laßt Lärm schlagen, alle, aber auch alle Einwohner Soebang’s sofort mit Fackeln hierher!“

Die Angeredeten stürzten fort, seine Befehle zu vollziehen.

„Und nun, meine Freunde, wollen wir es den alten Jungen, der sich unverwundbar glaubt, büßen lassen, daß er es wagt, unser Fest zu stören; wir wollen ihn mit Feuer vertreiben, und ich verspreche Ihnen eine interessante Jagd.“ Dies sagend, schlich er sich um das Haus und schloß auch die Eingangsthüren, während das Rhinoceros in aller Gemüthlichkeit sich unsern Weihnachtsbaum betrachtete und sich anschickte, denselben zu vertilgen. Das Alarmsignal ertönte, ein Einwohner nach dem andern erschien, wir bestiegen die vorgeführten Pferde und harrten schweigend der nächsten Anordnung W.’s, da wir seinen ganzen Plan noch nicht durchschauten.

Als über hundert Menschen sich mit brennenden Fackeln auf dem großen Rasenplatze versammelt hatten, befahl er dem Häuptling, sofort einige Mann nach Koeningan zu senden und den Fürsten nebst dem holländischen Residenten zur Rhinocerosjagd in seinem Namen einladen zu lassen, indem er sich verpflichte, das Unthier vom Urwalde abzuschneiden und bis zur Ankunft der Herrschers auf der Hochebene zu halten.

„Nun, Leute,“ rief W., sich an die Javanen wendend, „hört meine Befehle! Der Weg hier rechts von meinem Hause führt zum Urwalde, der links, wie Ihr wißt, jedoch auf die Hochebene, und wenn wir das Thier erlegen wollen, müssen wir es zwingen, diesen letzteren Weg einzuschlagen; daher muß die Hälfte von Euch die Straße rechts besetzen, die andere Hälfte aber dringt, während wir alle Thüren öffnen, von hinten lärmend in’s Haus. Der alte Kerl fürchtet sich vor Feuer, er wird also vor den eindringenden Fackeln erschrecken und vorn hinausflüchten; dann dringt Ihr hier mit Eurem Feuer vor, und so wird er sich links zur Hochebene wenden, und ist er erst dort, so ist er verloren; also an’s Werk, aber steckt mir mein Haus nicht in Brand!“

Die Javanen, mit allen Gefahren vertraut und nie denselben aus dem Wege gehend und ebenso, was Jagd und List anbetrifft, von ungemein klarem Verstande, hatten sofort den Plan unseres Freundes begriffen und hatten augenblicklich dessen Anordnungen, befolgt. W. schwang sich nun auch in den Sattel, das Signal wurde gegeben, die Thüren geöffnet, ein Feuerwald drang in den Saal und schreckte das Unthier auf, welches entsetzt zur Vorderthüre hinausflog. Hier wollte es sich dem Urwalde zuwenden, aber ein neues Geschrei, ein neues Feuermeer drang auf den Sohn des Waldes ein – er schreckte zurück und stürzte in rasendem Galopp der Hochebene entgegen, gefolgt von uns auf unseren Rennern und von Hunderten schreiender, fackeltragender Javanen, die es, was Laufen anbetraf, mit dem fliehenden Thiere, selbst beinahe mit unseren Jagdpferden, aufnehmen konnten.

Es war ein großartiges Schauspiel, welches in jener Nacht der Mond mit seinem blassen Lichte beleuchtete!

Eine meilenlange Hochebene, auf derselben ein kolossales Unthier, dessen riesige Kraft uns Alle zermalmen konnte und das dennoch entsetzt floh vor diesen nächtlichen Jägern, die ihm auf den Fersen saßen, vor diesem Feuerwalde, der tobend hinter ihm herbrauste.

Diese Treibjagd mochte ungefähr eine halbe Stunde gedauert haben, als wir vor uns ein kleines Gebüsch erblickten, welches dicht und beinahe undurchdringlich sich um einige Hügel hinzog, zwischen denen die Quelle eines der größten Flüsse Java’s, der Tji-djollang, lagen. Dorthin richtete das geängstigte Thier seine rasende Flucht.

„Jetzt haben wir den alten Jungen!“ rief W., als das Rhinoceros sich in’s Dickicht warf, „nur aufgepaßt, damit er uns nicht wieder entwischt!“

Wir hatten jetzt Alle seinen Plan begriffen, und es dauerte kaum fünf Minuten, so war auch das Gebüsch ganz umzingelt, ein Feuer neben dem andern wurde angesteckt, und als wir das Interesse gewahrten, womit die Javanen W.’s Anordnungen befolgten, gewannen wir die Ueberzeugung, daß das Thier uns nicht mehr entrinnen würde.

W. ritt noch einige Mal rund um das Gebüsch und traf überall mit der größten Umsicht die nöthigen Vorsichtsmaßregeln, dann sich an uns wendend, sagte er: „Kommen Sie jetzt, meine Freunde, hier sind wir überflüssig, denn der Fürst kann mit seinem Gefolge, wenn er sich auch noch so sehr beeilt, erst gegen Mittag ankommen, und wir haben daher Zeit, uns einige Stunden der Ruhe zu gönnen.“

Wir ritten schweigend und langsam zurück, denn ein Jeder von uns fühlte sich durch die Strapazen der vorhergehenden Tage und durch diese nächtliche Hetzjagd mehr oder weniger angegriffen und ermüdet.

Ich war erst kürzere Zeit im Innern des Landes und hatte noch keine Rhinocerosjagd mitgemacht, war daher ganz unbekannt mit den Eigenthümlichkeiten dieser Jagd und konnte mir natürlicher Weise auch nicht erklären, wie es möglich sein würde, ein so gewaltiges Thier bis zur Ankunft des Fürsten in dem kleinen Gebüsche aufzuhalten. Während des Rittes schwebte diese Frage wohl hundert Mal auf meinen Lippen, aber ich bezwang meine Neugierde und ich beschloß, ruhig den Erfolg der von W. getroffenen Anordnungen und den Ausgang unseres Abenteuers abzuwarten.

Welch ein Anblick aber bot sich uns dar, als wir die erst vor Kurzem verlassene Wohnung wieder betraten!

Im Saale herrschte eine chaotische Verwüstung. Die Palme lag gebrochen am Boden, der Krone beraubt, die wahrscheinlich mit ihrer ganzen Ausschmückung im Magen unseres leckermäuligen Eindringlings Platz gefunden hatte; der große, schwere Tisch, welcher vor derselben gedeckt gestanden hatte, lag zertrümmert da, und erst unsere Geschenke! Beinahe Alles hatte das unbarmherzige Thier zertreten oder vernichtet, und zumal kam ich bei dieser Verwüstung am allerschlechtesten weg, denn mein Geschenk bestand aus einem Dutzend Flaschen feinem Rheinwein, und was blieb mir davon?

Nur die Scherben, die zerstreut lagen, und für einige Zeit noch das duftende Bouquet, welches die Luft des Zimmers erfüllte.

[361] Lachend unter unnütz ausgestoßenen Verwünschungen ließen wir unserm Aerger freien Lauf und suchten zu retten, was zu retten war. Doch schließlich siegte die Ermüdung, wir begaben uns zur Ruhe, und als Jeder es sich auf seiner Lagerstätte bequem gemacht hatte und endlich tiefe Stille eintrat, verkündete der schrille Ton der Wanduhr die fünfte Morgenstunde. – Ein wenn auch kurzer, so doch fester, wohlthätiger Schlaf hatte uns gestärkt, und gegen elf Uhr saßen wir, wieder geistig und körperlich frisch, am Frühstückstisch in der Vorhalle versammelt, während W.’s Haushälterin alle Hände voll zu, thun hatte, im Saale eine neue große Tafel herzustellen und zu ordnen, da wir mit Bestimmtheit den Fürsten erwarteten und W., was Gastfreundschaft anbetraf, gewohnt war, dieselbe stets in glänzendster Weise auszuüben. Gegen ein Uhr sprengte ein Goelang-goelang heran und brachte die Nachricht, daß der Fürst und die Fürstin von Koeningan, der holländische Resident und dessen Gemahlin nebst allen Häuptlingen, Würdenträgern und einem Gefolge von beinahe zweihundert Personen in einer halben Stunde bei uns eintreffen würden. Diese Nachricht versetzte uns sowohl, wie auch besonders W. in nicht geringe Aufregung, da er nicht wußte, auf welche Weise er alle diese Personen unterbringen sollte; wir erhoben uns schleunigst und bereiteten uns vor, den Herrscher so gastfrei und herzlich wie nur eben möglich zu empfangen. Wir hatten nicht nöthig, lange zu harren, denn kaum waren die letzten Vorbereitungen getroffen, als auch schon der lange Jagdzug, aus dem Urwalde hervorkommend, den freien großen Rasenplatz vor unserm Hause betrat.

Ich stand in Staunen verloren, mein Auge hatte nie etwas Phantastischeres und zugleich Reicheres gesehen!

Voraus ritten sechs mit Lanzen bewaffnete junge Männer der fürstlichen Leibwache, deren energisches Aeußere deutlich bekundete, wie stolz sie darauf waren, in der steten Umgebung eines jungen, liebenswürdigen Fürsten zu sein; kaum einige Schritte hinter ihnen der Fürst von Koeningan, an seiner linken Seite der holländische Resident. Der Fürst-Regent, Ario Rotumo di Redjio, ein junger Mann von kaum dreißig Jahren, Javane, von etwas dunkelem Teint, dabei wohlgeformtem, athletischem Körperbau, trug so deutlich auf seinen Gesichtszügen die geistige Kraft ausgeprägt, daß der ruhige Beobachter von den kühnen, entschlossenen Blicken dieses äußerlich und innerlich so begabten Mannes unwiderstehlich angezogen und gefesselt wurde. Ein enganliegendes grünes Jagdwamms umschloß den kräftigen Körper, und ich würde kaum in dem einfachen Jägersmanne den Millionen besitzenden Fürsten erkannt haben, wenn nicht das Funkeln des kostbaren Diamanten, der als Agraffe den Turban auf seinem Haupte zusammen hielt, meine Augen geblendet hätte. Ebenso ließ die Waffe, die an seiner Seite hing, den Fürsten erkennen. Es war nur ein Dolch, aber ein anderthalb Fuß langer Dolch, an dessen Griff sich Diamant an Diamant reihte und dessen Scheide von gediegenem Golde von oben bis unten mit den verschiedensten, kostbarsten Edelsteinen eingefaßt war.

Dem Fürsten folgten die sieben unentbehrlichen und von seiner Person unzertrennlichen Diener. Ich sage mit Absicht, die unentbehrlichen Diener, denn bei allen indischen Fürsten, die ich während meiner Anwesenheit auf Java kennen gelernt habe, fand ich überall eine gleiche Anzahl gerade denselben Diensten sich widmende Diener, deren rothseidene, phantastische Kleidung mir oft ein unwillkürliches Lächeln abgewann.

Der erste dieser Diener trug die lange Lanze des Fürsten, deren tödtlich vergiftete Spitze von einer kleinen goldenen Scheide umschlossen wurde, der Zweite das geladene Doppelgewehr, der Dritte den kostbar gearbeiteten Payong (ein indischer Sonnenschirm von ungewöhnlichem Umfange), der Vierte das goldene Schreibetui, der Fünfte das goldene Waschbecken, der Sechste ein goldenes Kästchen, mit Cigarren und Tabak gefüllt, und endlich der Siebente die von Bast geflochtene, immerwährend brennende Lunte. Dies waren die unzertrennlichen Begleiter, nicht nur des Fürsten von Koeningan, sondern eines jeden indischen Herrschers, und die Etiquette an jenen Höfen ist so streng, daß der Fürst nicht einen Schritt außerhalb seines Hauses thun kann, ohne von dieser doch zuweilen lästigen Schaar umgeben zu sein.

Einige Schritte hinter diesen Dienern ritt die Fürstin, ihr zur Seite die Gemahlin des Residenten. Beide junge Damen fesselten unwillkürlich durch die Grazie und Anmuth, mit der sie die Bewegungen ihrer feurigen, prächtigen Rosse beherrschten, Beide waren gleich alt und hatten eben das siebzehnte Jahr zurückgelegt, Beide waren gleich lebhaft, gleich gebildet und gleich schön, aber dabei doch wieder so verschieden, wie Himmel und Erde, wie Tag und Nacht.

Die Fürstin, eine Tochter des Sultans von Cheribon, war von bräunlich dunkler Farbe mit regelmäßigen Gesichtszügen, welche durch feurige, geistreiche Augen ungemein belebt wurden; dabei war sie von kräftigem, vollem Körperbau, dessen idealisch schöne Formen sich unter der leichten Hülle ahnen ließen. Die junge Holländerin dagegen war ungemein zart, von blendender Weiße, mit treuen, seelenvollen Augen. Und doch waren Beide unzertrennliche Freundinnen, freilich von unendlich verschiedenen Neigungen, denn bei der stolzen Fürstin herrschte hauptsächlich Geist und Verstand vor, bei ihrer schönen Freundin dagegen Herz und Gemüth.

Ebenso verschieden war aber auch die Kleidung dieser beiden Damen. Die Fürstin trug ein dunkles, schwerseidenes, japanesisches Gewand, das mit goldgestickten Löwen und Drachen übersät war; dieses Gewand umschloß in der Taille ein etwa drei Zoll breiter, mit funkelnden Edelsteinen besetzter goldener Gürtel, an dessen linker Seite ein kleiner, kostbar gearbeiteter Dolch hing; am Halse wurde es durch eine ungemein werthvolle Agraffe zusammengehalten. Ihre Begleiterin dagegen trug ein langes schlichtes, weißes Gewand mit einem einfachen, nur mit kleinen Edelsteinen besetzten Gürtel. Erstere, mit dem Perlen- und Diamantendiadem, das ihre dunkeln Haare umschloß, glich im wahren Sinne des Wortes der Königin der Nacht, während Letztere, mit dem kleinen blumenbesetzten Strohhütchen auf den blonden Locken, eine duftende Blume des Frühlings zu sein schien.

Dicht hinter den Damen ritten zwei Leibdiener, jeder von ihnen einen prächtigen Payong in der Hand. Diese umfangreichen Sonnenschirme waren an langen vergoldeten Stangen befestigt und wurden von den Dienern über die Köpfe der beiden Damen gehalten, um sie vor den glühenden Sonnenstrahlen etwas zu schützen. Ihnen folgte die ganze weibliche Bedienung der Fürstin und endlich alle Häuptlinge der Umgegend mit ihrem Gefolge, während die Leibwache des Fürsten den Schluß bildete.

Der Fürst schwang sich leicht vom Pferde, eilte auf W. zu und indem er demselben herzlich die Hand schüttelte, dankte er für die freundliche Einladung und nahm die dargebotene Gastfreundschaft an. Darauf ließ er sich und der Fürstin die ihm noch Unbekannten von uns, wozu ich auch gehörte, von W. vorstellen und unterhielt sich auf die liebenswürdigste, ungezwungenste Weise mit uns, und wir erkannten bald, daß wir einen durch und durch wissenschaftlich gebildeten Mann vor uns hatten.

Nachdem wir uns noch einige Zeit über die mannigfachsten Angelegenheiten unterhalten hatten, gingen wir zu Tische. Für die Damen, den Fürsten, den Residenten und uns war im großen mittleren Saale eine wohlbesetzte Tafel gedeckt; für die übrigen Häuptlinge eine zweite in der Hinteren Halle, während das ganze Gefolge vor dem Hause auf dem Rasenplatze lagerte und dort von W. auf das Gastfreieste bewirthet wurde.

Dieses Mittagsmahl wurde begreiflicher Weise für unsern Freund W. ziemlich kostspielig, und solche sich öfters wiederholende Feste würden uns unbedingt in die größten Verlegenheiten gestürzt haben, hätte nicht die Regierung uns für diese Fälle eine ganz bedeutende Gehaltszulage bewilligt. Es lag im Willen, und ich möchte beinahe sagen, im Interesse der Regierung, die wenigen Beamten, die sie in’s Innere des Landes schickte und die durch ihre Stellung gezwungen waren, in dauerndem Verkehr mit den indischen Fürsten und Häuptlingen zu stehen, auch in pecuniärer Hinsicht so zu stellen, daß sie selbst die Gastfreundschaft eines indischen Fürsten glänzend erwidern konnten, und gerade dies that die Regierung in reichem Maßstabe.

Während des Essens hatte ich meinen Platz an der Seile des holländischen Residenten, eines jungen Mannes von kaum fünfunddreißig Jahren, doch wurde mir durch diese Nachbarschaft beinahe der ganze Mittag verbittert, denn das stechende, lauernde Auge und die Arroganz dieser hochstehenden Persönlichkeit schreckten mich ab und erfüllten mich mit Widerwillen. Ich freute mich herzlich, als der Fürst sich erhob und ich von diesem hochmüthigen Gesellschafter erlöst wurde. Die Pferde wurden vorgeführt, und der ganze Jagdzug setzte sich in Bewegung.

Während des Rittes suchte ich mich der Fürstin zu nähern, sie schien es zu bemerken und winkte mich heran. „Nicht wahr, [362] Sie sind ein Preuße?“ redete sie mich plötzlich in deutscher Sprache an.

Ich war so überrascht, von einer Indierin meine Muttersprache zu hören, daß ich kaum eine Antwort zu geben vermochte, doch sie schien meine Gedanken zu errathen und sagte lächelnd:

„Sie wundern sich wahrscheinlich, daß ich mit Ihnen deutsch spreche, aber ich bin nun einmal in Holland erzogen und von den wenigen Sprachen, die ich dort gelernt habe, ist mir stets Ihre edle, kräftige Muttersprache die liebste gewesen, daher erhasche ich auch jede Gelegenheit, die sich mir bietet, mich in deutscher Sprache zu unterhalten.“ Ich war entzückt über diese Worte, und in wenigen Augenblicken waren wir im eifrigsten Gespräch. Die Fürstin sprach sehr schnell, aber jeder Satz, jede Aeußerung bekundete ihre gediegene Bildung, ihren klaren Verstand. Als wir uns dem Ziele näherten und ich mich zu den übrigen Herren begeben wollte, lud sie mich ein, den Sylvester-Abend an ihrem Hofe in Koeningan zuzubringen. Ich versprach es und war im Begriff, mich zurück zu ziehen, als sie mir zurief:

„Wenn Sie kommen, werde ich Ihnen auch meine Bibliothek deutscher Classiker und meinen Lieblingsdichter zeigen.“

Schiller?“ fragte ich entzückt.

„Nein, Goethe,“ gab sie zur Antwort und setzte lächelnd ihr Pferd in Galopp.

Als wir das Ziel erreicht halten, mußte ich staunen über die große Veränderung, die in den wenigen Stunden erfolgt war.

Tausende von Menschen, die aus allen Orten der Umgegend zusammengeströmt waren, lagerten im Kreise um die beiden Hügel, hatten mit geschäftigen Händen das Gebüsch gänzlich gelichtet und eine Tribüne von Bambusrohr erbaut, von der man Alles übersehen konnte, während das Rhinoceros in aller Ruhe an der Quelle der Tji-djollang sein Mittagsschläfchen zu halten schien. Mir fiel sogleich ein etwa zwei Fuß breiter und ein Fuß tiefer Graben auf, der sich um die Hügel hinzog und wohl eine Viertelstunde im Umfange hatte. Hunderte von Eingeborenen waren thätig, denselben stets aufzuschaufeln, und als ich mich nach dem Zwecke desselben erkundigte, erfuhr ich, daß dies die einzige Möglichkeit sei, ein Rhinoceros einzuschließen, denn wenn letzteres an einen solchen frisch aufgeworfenen Graben käme, beschnüffele es denselben, mache kehrt und getraue sich nicht über denselben hinweg zu gehen. Ich bezweifelte anfangs diese Aussage, indem ich sie dem Aberglauben der Javanen zuschrieb, aber merkwürdiger Weise habe ich mich, so unglaublich es erscheinen mag, von der Wahrheit dieser Behauptung zu wiederholten Malen überzeugt.

Nachdem wir die Tribüne bestiegen hatten, wurde das Unthier aus seiner Ruhe aufgeschreckt. Auf den Hügeln nämlich waren einige kolossale Bäume stehen geblieben, in deren Zweigen sich eine inländische Musikbande eingenistet hatte, welche nun Alles aufbot, durch ohrzerreißenden Paukenschlag und Beckengeklirr das Rhinoceros zu ängstigen. Dieser höllische Lärm, von dem Schreien Tausender begleitet, schien wirklich selbst für die Ohren des Thieres zu unbehaglich, denn es sprang empor, schüttelte sich und fing an den großen Kreis zu durchtraben. Als es bei unserer Tribüne vorbei kam, krachte eine Salve, und vierzehn Kugeln drangen in das dicke Fell, ohne daß es sich im Mindesten durch diesen Willkommensgruß beunruhigt gefühlt hätte. Als es zum zweiten Mal bei uns vorüberkam, erhielt es dieselbe Anzahl Schüsse, und dieses Mal schien wirklich ein oder die andere Kugel etwas tiefer in’s Fleisch eingedrungen zu sein, denn es blieb plötzlich stehen, sah sich grimmig nach seinen Feinden um und setzte sich dann in fliehenden Galopp, ohne es zu wagen, den kleinen Graben zu überspringen und sich dadurch die Freiheit zu verschaffen. Nach einigen Minuten erschien es wieder bei uns und erhielt eine dritte Salve, die es so zu entsetzen schien, daß es schleunigst sich umwandte und zur Quelle zwischen den Hügeln eilte, wo es sich niederwarf.

Dies war gerade der Punkt, den wir von der Tribüne aus nicht übersehen konnten, denn der vor uns liegende Hügel beraubte uns gänzlich der ferneren Aussicht.

Die Fürstin, glaubend, daß das Ende des Schauspiels da sei, war untröstlich das Unthier nicht vor ihren Augen verenden zu sehen; doch kaum gab sie diesen Wunsch zu erkennen, so sprangen wir Alle auch hinunter und eilten den Hügel hinan, hoffend, daß es uns gelingen würde, das Unthier noch einmal aufscheuchen zu können. Der Fürst nur und der Resident blieben zurück. Als wir die Kuppe des Hügels erreichten, bot sich ein interessantes Schauspiel unsern Augen dar. Das Rhinoceros lag noch immer unbeweglich an der Quelle, während zwei tollkühne Javanen sich auf seinen Rücken geschwungen hatten und damit beschäftigt waren, die Schlinge eines langen Rotangtaues (frisches Rohr) um seinen Hals zu befestigen. Nachdem ihnen dies gelungen war, versuchten Hunderte von Menschen, die den andern Hügel erstiegen hatten, das riesige Thier mit Gewalt emporzuziehen; aber plötzlich sprang es schnaubend auf, die beiden Tollkühnen weit von sich schleudernd, und mit einem einzigen Ruck des Kopfes riß es das Tau in Stücke, so daß Alle, die daran zogen, rücklings zu Boden schlugen; dann drehte es sich plötzlich um, sah uns und stürzte in rasender Wuth auf uns zu. Wir stoben fliehend aus einander, denn in jenem Augenblicke war Jeder nur auf seine eigene Rettung bedacht. Auf unsern Freund W. war es abgesehen.

Beinahe rasend vor Wuth verfolgte das Thier ihn mit ungestümer Hast, und so dauerte diese Jagd einige Minuten, für uns eine Ewigkeit der Angst und des Schreckens, denn nur ein Wunder konnte unsern Freund retten; wir sagten uns, daß er verloren sei, ohne daß es mit dem besten Willen uns möglich gewesen wäre, zu seiner Rettung etwas beitragen zu können.

Plötzlich stieß W. einen herzzerreißenden Schrei aus, das Thier hatte ihn beinahe erreicht! Dann wandte er sich plötzlich um und hielt dem Andringling sein Gewehr entgegen. Aber in diesem Augenblick stand unversehens der Fürst mit blitzenden Augen, die tödtlich vergiftete Lanze zum Stoße erhoben, ihm zur Seite. Der Schuß krachte; W. selbst stürzte zu Boden, das Unthier aber, durch eine Schrotladung plötzlich in’s Gesicht getroffen, sprang erschrocken hoch empor, dann aber, heulend vor Wuth, war es im Begriff seine Gegner zu zermalmen, als es mit einem Male still stehen blieb, heftig am ganzen Körper zitterte und keuchend zu Boden donnerte. Die Lanze des Fürsten hatte das Thier berührt, der riesige Urwaldbewohner lag todt und starr zu Füßen des indischen Herrschers. Wir stürzten hinzu und hoben unsern Freund auf; er war glücklicher Weise nur ohnmächtig und erholte sich bald. Wir athmeten auf. Nachdem wir den Koloß genugsam betrachtet und das große, werthvolle Horn abgelöst hatten, traten wir gegen Abend den Heimritt an. In Deutschland habe ich das schöne Weihnachtsfest inniger und gemüthlicher gefeiert – interessanter niemals!




Ein glücklich durchgeführtes deutsches National-Unternehmen.

Sieht man ein großes Werk an seinem Abschlusse angelangt, so wirft man wohl gern noch einmal einen prüfenden Blick auf Veranlassung, Fortgang und Ausführung desselben. Dies dürfte vorzugsweise der Fall sein bei einem Unternehmen, welches Schiller’s, des hochgefeierten Dichters deutscher Nation, Namen an seiner Spitze trägt und dessen Gelingen bei seinem Beginn so vielfach angezweifelt ward. Wir meinen die „Allgemeine deutsche Nationallotterie“, sogenannte Schillerlotterie, welche auf Anlaß von Schiller’s hundertjähriger Geburtsfeier zum Besten der Schiller- und der Tiedgestiftung gegründet worden, deren beider Zweck ist: würdige, aber hilfsbedürftige Dichter, Schriftsteller und Künstler (im Gebiete der Malerei, Musik-, Kupferstecher-, Bildhauer-Kunst und Architektur), sowie deren hinterlassene Wittwen und Waisen rechtzeitig, d. h. noch bei Lebzeiten, durch angemessene Unterstützungen zu ehren.

Ein hochherziger, für alles Schöne und Edle begeisterter Mann, der Major Serre auf Maxen, faßte die glückliche Idee, durch Begründung der Schillerlotterie dem Andenken Schiller’s ein Monument dauernder als Erz zu errichten, indem er die schönen Zwecke der Schiller- und der Tiedgestiftung in einer Weise und mit einem Male so förderte, wie es den betreffenden Vereinen, wenn überhaupt, doch kaum selbst in einem sehr langen Zeitraum möglich gewesen sein würde.

Zur Erreichung dieses hohen Zweckes bedurfte es der Betheiligung [363] der ganzen Nation, zur Ausführung der einzelnen Maßregeln der opferwilligen, uneigennützigen und unermüdlichen Mitwirkung gleichbegeisterter Männer. Letztere wurden gesucht zunächst in der Mitte der Dresdner Schillerstiftung; sie wurden aber, nachdem der Comité dieser Stiftung seine Mitwirkung wiederholt versagt, gefunden durch Begründung eines „Hauptvereins der Allgemeinen Deutschen Nationallotterie“, welchen außer dem Major Serre, dem die Geschäftsführung speciell anvertraut blieb, folgende Männer bildeten: Dr. v. Wietersheim, Königlicher Staatsminister a. D., Pfotenhauer, Oberbürgermeister, Dr. Hertel, Bürgermeister, Dr. Arnest, Stadtverordneten-Vorsteher, Banquier Lötze, Hofrath Dr. Ziegler, sämmtlich in Dresden, ferner Oberst v. Bielfeld zu Altenburg und Graf Hohenthal-Döbernitz.

Die Betheiligung des deutschen Volkes suchte Major Serre, ermuthigt durch die allgemeine Begeisterung, welche sich beim Herannahen der hundertjährigen Geburtsfeier Schiller’s kundgab, durch mehrere im Juni und September 1859 erlassene Aufrufe zu gewinnen, in welchen er zu sachförderlicher Mitwirkung, Beisteuer von Gaben aller Art für die Lotterie, sowie zur Entnahme von Loosen zu derselben aufforderte. Da über den weiteren Plan des Unternehmens, z. B. über die Anschaffung der Gewinne, über die Herstellung des riesigen Gewinn-Gegenstands-Verzeichnisses (4 Exemplare à 22 Foliobände, zusammen 88 Foliobände), über den sinnreichen Ziehungs-Modus, über die Anfertigung einer durchaus vollständigen Gewinn-Liste, welche nur 17 Quartbogen à 8 Seiten enthielt, über die Veranstaltung einer Ausstellung der Gewinne, sowie über Weiteres, die bekannte bereits in sechster Auflage erschienene Schrift „Die Schillerlotterie, von Alexander Ziegler“ (Dresden, K. Höckner, 1862. Preis ⅓ Thlr.) vollständigen Aufschluß giebt, so wird es genügen, hier auf dieselbe zu verweisen.

Als die Ausstellung am 1. October 1860 geschlossen war, hatten bereits 660,000 Loose Abnahme gefunden, und es mußte, sollte das Unternehmen dem Hauptvereine nicht über den Kopf wachsen und die Ziehung selbst nicht weit über die festgesetzte Zeit hinaus verschoben werden, der Betheiligung eine Grenze gezogen werden. Man mußte deshalb nicht weniger als 135,000 bereits eingesandte Thaler zurückschicken. Wie richtig hatte doch Major Serre die Verhältnisse beurtheilt, wie praktisch dasjenige reale Mittel herausgefunden, welches der Verwirklichung des Ideals am schnellsten und sichersten entgegenführen konnte! Die Ziegler’sche Schrift hat schon in sehr interessanter Vergleichung gezeigt, welch’ riesenhafte Dimensionen diese Sachen-Lotterie angenommen hatte, und es sei hier noch beispielsweise erwähnt, daß die abgesetzten 660,000 Loose aufeinandergelegt nahezu die Höhe der Pyramiden oder sicher die Höhe des Kreuzthurmes in Dresden erreichen und neben einander gefügt einen Weg wie etwa von Dresden nach Leipzig bedecken würden. Das Gewicht der 660,000 Loose beträgt 4 Centner 83 Pfund. Die Anzahl der an das Bureau eingegangenen und beantworteten Briefe mag sich annähernd auf 60–70,000 belaufen. Außer nach Sachsen, Preußen (232,000), Baiern (20,500), Württemberg (26,100), den freien Städten (18,400), Hannover (16,400) u. s. w. sind auch Loose nach Ungarn, Galizien, Polen, Griechenland, Rußland, der Türkei, Aegypten, Amerika u. s. w. abgesetzt worden.

Der vom Publicum vielfach und dringlich unterstützte Wunsch, den festgesetzten Ziehungstermin einzuhalten, dann aber auch der Umstand, daß trotz des ausgesetzten Preises von 200 Ducaten, der sogar noch bedeutend erhöht werden sollte, ein der Tendenz entsprechendes „Volksbuch“ oder ein „Roman“ nicht erlangt werden konnte, waren mit Veranlassung, daß eine größere Anzahl von literarischen und Kunstgegenständen angefertigt werden mußte, welche als sogen. Nietengewinne, gegenüber den andern „Sachgewinnen“, nicht allseitigen Beifall fanden. Sie waren aber sämmtlich unter Beirath und Zuziehung Sachverständiger entstanden und hatten mindestens einen Thaler Kaufpreiswerth. Dahin gehören insbesondere die Holzschnitte „ein immerwährender Wandkalender“ und „zwei Apotheosen“. Darauf freilich hatte man wohl gerechnet, daß die Interessenten nicht fordern würden, jeder Gewinn solle einen Thaler Verkaufswerth haben. In Anbetracht, daß der edle Zweck des Unternehmens nicht auf Gewinnsucht, sondern auf die Begeisterung des Volkes begründet worden, daß von den uneigennützigen Leitern der Lotterie über 300,000 Gewinngegenstände beschafft worden waren, die doch wenigstens 1½–2 Thaler Kaufpreiswerth haben, daß nur die rechtzeitige Herstellung von Holzstichen eben noch möglich war, wenn die allseitig gewünschte Ziehung nicht um ein halbes Jahr hinausgeschoben werden sollte, und daß jedes Loos die Chance gehabt hat, einen ansehnlichen Gewinn zu erhalten, werden bei dem Abschluß des National-Unternehmens sich diejenigen beruhigen, denen das grausam schäkernde Schicksal nicht den gewünschten Gewinn in den Schooß geworfen haben sollte.

Mancher, selbst harter Anfechtungen ungeachtet, ließ sich Major Serre in dem, was er sich einmal zur Lebensaufgabe gemacht, nicht beirren. Die Abwickelung des Geschäfts nahm ihren Fortgang, in dem verhältnißmäßig kurzen Zeitraume von sechs Monaten war auch das Ausgeben, die Verpackung und Versendung der Gewinne beendigt. Und nachdem der wegen zurückgebliebener, nicht abgeholter Gewinne gestellte Termin verflossen und die deshalb getroffenen Anordnungen ausgeführt waren (diese Gewinne, natürlich meist nur Nietengewinne, sollen zum Besten einer Stiftung verwendet werden), sah der Dresdner Hauptverein, sah Serre das mit festem Vertrauen auf die Begeisterung und Opferwilligkeit des deutschen Volkes begonnene Werk, wenn auch demselben nur etwa 3000 Geschenke von über einen Thaler Werth, ausschließlich der Bücher, zu Theil geworden, in einer Weise mit Erfolg gekrönt, welche seine kühnsten Erwartungen weit überstieg. Denn es blieb nach Abzug aller Unkosten dieses außerordentlichen Unternehmens für den Hauptzweck die runde Summe von nahezu einer halben Million Thaler übrig.

Wie der Major Serre, der, seiner hohen Jahre nicht achtend, den Rest seiner Tage daran setzte, um zwei nationale Stiftungen lebenskräftig und groß zu machen, und mit einer bewunderungswürdigen enthusiastischen, organisationssähigen und dabei zähen, harthörig durch alles Geschrei und die sich widersprechenden Vor- und Rathschläge hindurchschreitenden Natur unverrückt auf das Ziel losgegangen ist, so werden auch seine Mitarbeiter im Hauptvereine, insbesondere Herr Bürgermeister Dr. Hertel und Herr Hofrath Dr. Alexander Ziegler aus Ruhla, durch das erhebende Bewußtsein, etwas wahrhaft Gutes und Nationales gethan zu haben, sich hinlänglich belohnt und geschützt finden gegen alle Anfeindungen und Verdächtigungen, welche bei einem so gewagten Werke leider nicht ausbleiben konnten. Da wir die Bildnisse dieser drei eigentlichen Leiter und Factoren der Lotterie geben,[1] so durften einige kurze biographische Notizen dazu hier am Orte sein.

Major Serre, geboren in Bromberg im Jahre 1789, besuchte die Schule in Danzig, studirte die Rechtswissenschaft in Frankfurt a. O. und war drei Jahre lang Referendarius beim Oberlandsgericht in Glogau. Beim Ausbruch des Freiheitskrieges trat Serre 1812 als freiwilliger Jäger in das zweite Garde-Regiment und kämpfte die Schlacht bei Groß-Görschen mit. Später wurde er als Hauptmann dem Militär-Gouverneur von Sachsen, General v. Gaudy in Dresden, beigegeben, wo er seine jetzige hochgebildete Gattin kennen lernte, seinen Abschied als Major nahm und seit jener Zeit in Dresden geblieben ist. Es ist hinlänglich bekannt, daß Major Serre stets ein Wohlthäter der Armen, sowie fortwährend ein Gönner und Förderer der Kunst und gemeinnütziger Bestrebungen gewesen, und daß er auf seinem Belriguardo, genannt Maxen, schon manchem aufstrebenden Talent als ein Alphons der Zweite in verjüngtem Maßstabe erschienen ist. Serre ist vor Allem auch als der Begründer der Waisencolonien in und um Maxen zu bezeichnen, welche bezwecken, die Waisenkinder der Familie und dem gesunden Landleben zuzuführen und durch Verminderung der Waisenhäuser der Stadt eine große Ersparniß zuzuwenden. Wie wir aus guter Quelle vernehmen, sind bereits an 1000 dieser Waisenkinder seit etwa 25 Jahren dort untergebracht worden.

Bürgermeister Dr. Hertel, geb. 1807 zu Nemt bei Würzen, früher Sachwalter, seit 1837 Mitglied des Stadtrathes in Dresden und seit 1851 Mitglied der zweiten Kammer, hat trotz seiner vielen Geschäfte Zeit zu finden gewußt, Serre mit Rath und That, mit Liebe und Opferfreudigkeit, mit Geschäfts- und rechtskundiger Umsicht unausgesetzt zu unterstützen. Hertel, der von den sächsischen Landtagen her als Referent in Finanzangelegenheiten bekannt und ein ausgezeichneter Finanzmann ist, hat sich insbesondere um das Rechnungs- und Cassenwesen, sowie um die Anlegung und Aufbewahrung der Gelder sehr verdient gemacht.

Der längst bekannte Reisende und Reiseschriftsteller, Hofrath Dr. Alexander Ziegler, geboren am 20. Januar 1822 in Ruhla bei Eisenach, erzogen in der berühmten Salzmann’schen Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal und gebildet auf dem Gymnasium [364] zu Eisenach und auf der Universität zu Jena, hat ebenfalls dem Major Serre als allezeit bereiter administrations- und schriftgewandter Mann treu zur Seite gestanden, insbesondere die Anlegung des oben erwähnten riesenhaften Gewinn-Gegenstands-Verzeichnisses persönlich geleitet und in Correspondenz- und Preßangelegenheiten vielfache Dienste geleistet. Ziegler ist in der literarischen Welt durch seine Reisewerke über Amerika, Spanien, den Orient, den hohen Norden etc., sowie durch seine geographischen und historischen Arbeiten, z  B. über Martin Behaim aus Nürnberg, über Pytheas von Massilien, über den Rennsteig des Thüringerwaldes etc., längst bekannt; durch die Herausgabe seiner gegenwärtig in sechster Auflage vorliegenden Schrift über die Schillerlotterie und eine andere über die Erforschungs-Expeditionen nach Inner-Afrika, deren ganzer Reinertrag von ihm für die letztgenannten deutschen Expeditionen bestimmt ist, hat er sich auch als tüchtiger Historiograph bewährt, der mit Wahrheitsliebe, Ruhe, Sachkenntniß und Hingebung, sowie mit einer wohlthuenden, echt deutsch nationalen Gesinnung über diese deutschen Unternehmungen, Berichte ausgearbeitet, welche hinfort der Geschichte angehören.

Major Serre.

Was nun die künftige Verwaltung der ohne jegliche Mitwirkung der Schillerstiftungen gewonnenen großen Capitalien betrifft, so ist dieser wichtige Punkt schon seit langer Zeit von Seiten des Hauptvereins der reiflichsten Ueberlegung unterworfen worden. Seltsamer Weise – aber an eine bekannte Fabel erinnernd – hat die in Nr. 17 dieser Blätter enthaltene kurze und keineswegs officielle Notizüber die mutmaßliche Verwendung der Erträgnisse der Schillerlotterie den Verwaltungsrath der deutschen Schillerstiftung zu einer öffentlichen entschiedenen Wahrung seiner und zu einer nicht minder entschiedenen Bekämpfung fremder Rechte veranlaßt. Major Serre stellte dem mit richtigem Takte die kurze Bitte entgegen, doch erst ruhig die Abwickelung der Schlußrechnung und das, was sich etwa mit Vorlage derselben weiter finden werde, abzuwarten. Aus den jetzt veröffentlichten Vorlagen geht allerdings klar hervor, daß die Befürchtungen des Verwaltungsrathes ungegründet waren.

Es kann wohl nicht bezweifelt werden, daß die Leiter der Schillerlotterie die Einnahme der letzteren auch vorzugsweise zu Gunsten ihres Gründungszweckes, also der Schiller- und Tiedgestiftung, verwenden werden. Dafür bürgt ihre allbekannte Uneigennützigkeit, Parteilosigkeit und Gewissenhaftigkeit, ebenso wie das vollständige Bewußtsein der hohen Verantwortlichkeit, welche ihnen das außerordentliche allgemeine Vertrauen auferlegt hat. Eben darum wird man denselben nicht verdenken, man wird es vielmehr für heilige Pflicht der Gründer und Leiter der Lotterie halten, wenn sie Anträge stellen, um einem Vermögen volle Sicherheit zu verschaffen, welches durch ihre ununterbrochene jahrelange Arbeit mit Hintansetzung aller Privatinteressen unter vielen Kämpfen und Hindernissen und ohne des Verwaltungsrathes Hinzuthun gesammelt worden ist.

Durch dieses neue Capital steigt das Vermögen der ganzen Schillerstiftung von 70,000 auf mindestens 370,000 Thaler. Der Verwaltungsrath ist nach den Satzungen lediglich das Organ der Zweigstiftungen, deren Händen allein das Stiftungsvermögen und deren Verwaltung überlassen bleibt, und er ist folgerecht weder zur Erwerbung noch zu Verwaltung von Capital-Vermögen ermächtigt. Man bedenke ferner, daß der Verwaltungsrath kein bleibendes Domicil, sondern einen alle fünf Jahre wechselnden Vorort hat, daß die deutsche Schillerstiftung selbst aber in manchen Staaten, z. B. in Preußen, noch nicht als juristische Person anerkannt ist, mithin keinen Gerichtsstand besitzt, keine Processe führen, keine Legate einziehen kann. Man bedenke, daß weder eine deutsche Schillerstiftung, noch ein formeller Verband der verschiedenen Stiftungen noch ein Verwaltungsrath bestand (welcher letztere erst im October 1859 seine Begründung fand), als der Dresdner Hauptverein bereits in voller Thätigkeit war; daß auf den Loosen von einer deutschen Schillerstiftung daher keine Rede sein konnte, daß demnach auch das Anrecht des Ersteren auf das Gesammtergebniß des von Letzterem selbstständig unternommenen und ausgeführten Werkes ein über allen Zweifel erhabenes nicht sein dürdte, während nicht bestritten werden mag, daß der deutschen Schillerstiftung zwei Drittel der jährlichen Nutzungen statutenmäßig zukommen. Dagegen ist ebenso statutarisch die Verwendung des dritten Dritttheiles der Jahreseinnahmen, sowie die Verwaltung und Vermehrung der von den Zweigvereinen angesammelten Capitalien letzteren selbst vorbehalten.

Um allen hier angedeuteten Bedenken uns Anstanden zu begegnen, hat der Hauptverein der Schillerlotterie auf Grund der Satzungen beschlossen, sich als eine Zweigschillerstiftung zu constituiren und zu gleicher Zeit der hier bestehenden Dresdner Zweigstiftung, mit welcher das Lotterieunternehmen durchzuführen gleich Anfangs beabsichtigt wurde, eine Vereinigung angetragen, um in gemeinsamer Wirksamkeit mit vergrößerten Mitteln die edlen Aufgaben der Stiftung erfolgreicher zu erfüllen. Der Vorstand derselben hat dazu seine Zustimmung bereits ausgesprochen, und nach Erfolg einiger deshalb nöthigen Statuten-Aenderungen wird daher auch künftig wieder nur eine Zweigstiftung in Dresden bestehen. Im Uebrigen wird das der Zweigstiftung zukommende eine Drittheil unter Fernhaltung jeder particularistischen Rücksicht, wie sich nach Maßgabe der Satzungen §. 1 von selbst versteht, zu Unterstützungen verwendet werden.

Auf diese Weise glaubt der Hauptverein der Schillerlotterie nach bestem Gewissen seiner Pflicht zu genügen. Der gewonnene Reinertrag von 454,740 Thaler wird daher, mit einstweiliger Innebehaltung von 4,740 Thaler zur Deckung späterer Ausgaben, laut §. 10 des Lotterieplanes zu zwei Drittel, d. h. 300,000 Thlr. der Schillerstiftung und zu ein Drittel, d. h. 150,000 Thlr. der Tiedgestiftung übereignet werden und zwar der Art, daß obige 300,000 Thaler als neuer Zweigstiftungsfond in die deutsche Schillerstiftung eintreten, indem der Hauptverein in Gemäßheit der Satzungen der deutschen Schillerstiftung als Zweig-Schillerstiftung vorbehältlich zweier Anträge sich anschließt.

Ist mit gutem Grunde wohl vorauszusetzen – heißt es in den vorliegenden Mittheilungen des Hauptvereins an den Verwaltungsrath – daß die Zahl derer, deren Unterstützung die Aufgabe der Schillerstiftung ist, weder jetzt noch in naher Zukunft so groß [365] sein könne, daß der bedeutende Betrag der disponiblen Jahreseinnahmen (14,800 Thaler) dazu vollständig in Anspruch genommen werde, so wird erlaubt sein, unter diesen günstigen Verhältnissen den schon anderwärts aufgetauchten Gedanken auszusprechen, daß ein Theil des durch die Lotterie eingetretenen Vermögenszuwachses zurückgelegt und damit ein Fonds zu künftiger Errichtung eines zweiten großen nationalen Instituts zu Förderung deutscher Literatur und deutscher Sprache gegründet werde, welcher die Auszeichnung und Belohnung der in diesen Wissenschaften sich hervorthuenden Männer zum Zweck haben solle. Demzufolge geht der Antrag des Hauptvereins dahin:

Dr. Hertel.

Die deutsche Schillerstiftung wolle ihr Einverständniß damit erklären, daß zu Gründung einer nach Schiller’s Namen zu benennenden Akademie für deutsche Literatur und Sprache von dem durch die Lotterie der Schillerstiftung zugeführten Ertragsantheile ein Capital von 100,000 Thaler zurückgelegt und dasselbe durch Zinsenzuwachs, ingleichen durch Hinzuschlagung der bei dem Verwaltungsrathe und der Schillerlotterie-Stiftung alljährlich etwa übrig bleibenden Nutzungsüberschüsse, sowie durch Vereinbarung mit der Tiedgestiftung hinsichtlich des von ihr offerirten Jahresbeitrags und sonst in zweckdienlicher Weise bis zu Erreichung des Betrags von 300,000 Thaler vermehrt werde.

Den zweiten Antrag stellen die Leiter der Schillerlotterie, wie den ersten, in wohlgemeintester Absicht, weil sie glauben, daß die deutsche Nation, welche durch zahlreiche Betheiligung an dem Lotterie-Unternehmen bei Erwerbung des großen Vermögenszuwachses für die Schillerstiftung mitgewirkt, in der That auch einen begründeten Anspruch darauf besitzt, von der Verwendung fortdauernd specielle Kenntniß zu erlangen. Dieser Antrag formulirt sich dahin:

Es möge entweder §. 10 der Satzungen in Wegfall gebracht und dafür eine die Veröffentlichung der Unterstützungsempfänger als Regel aufstellende Festsetzung substituirt, oder mindestens zu §. 10 der Zusatz beigefügt werden: „die Namen derer, welche von den Zinsen des durch die Allgemeine deutsche National-Lotterie erworbenen Stiftungsvermögens Unterstützungen empfangen haben, sind in den Jahresberichten zur Veröffentlichung zu bringen, dafern nicht in einzelnen Fällen und aus überwiegenden und dringenden Gründen die Nichtveröffentlichung ausnahmsweise als nothwendig erkannt und beschlossen wird.“

Wir glauben diese referirten Beschlüsse und Anträge des Hauptvereins, welche letztere dem Verwaltungsrathe mit dem Gesuche eingereicht worden sind, sie der bevorstehenden Generalversammlung der Schillerstiftung zur Beschlußfassung vorzulegen, mit wahrhafter Freude begrüßen zu müssen und sind überzeugt, daß nicht leicht geeignetere und zweckmäßigere an deren Statt gemacht werden konnten. Die Begründung einer lebensfrischen thatkräftigen Akademie halten wir für einen wahrhaft nationalen Gedanken und müssen uns auch für die Veröffentlichung der Unterstützungsempfänger als Regel aussprechen, weil es eine Ehre sein soll, von der deutschen Schillerstiftung unterstützt zu werden, und weil auch so eine zweckmäßige Controle herbeigeführt und dem Coteriewesen vorgebeugt werden kann. Die Verschweigung des Namens der Empfänger von Beihülfen – Gaben – erinnert zu sehr an das Verhältniß verschämter Armen zum öffentlichen Almosen. Und doch soll die den Schriftstellern gewährte Gabe nicht ein Bettelpfennig, sondern eine zeitweilige Unterstützung und zugleich ein Zeichen der Erkenntlichkeit, der dankbaren Anerkennung sein.

Wir glauben, daß es, wie dem Gründer und den Leitern der deutschen Schillerlotterie, so denen der deutschen Schillerstiftung heiliger Ernst ist, etwas Großes und Nationales zu schaffen, sowie „innerhalb und außerhalb derselben den unverbrüchlichen Gottesfrieden aufrecht zu erhalten, welcher allein einer pia causa, einem Werke reiner Humanität geziemt.“ Wir geben uns diesem frohen Glauben um so zuversichtlicher hin, als durch die gewaltigen in ihrer Art einzigen Erfolge der Schillerlotterie, sowie durch Annahme und getreuliche Ausführung des obgenannten Antrags der Zeitpunkt weit näher gerückt ist, „wo die Sonne des 10. November unter den vollendeten Pantheen und Capitolien deutscher Nation auch ihr Prytaneion, die Schillerstiftung und Schillerakademie, fertig und fest beleuchten wird!“

Wenn irgend etwas großartig Gutes, patriotisch Förderndes in unserer Zeit des wachgerufenen und werkthätig gewordenen Gemeinsinnes geschehen ist, die Schöpfung der Schillerlotterie darf sich ihm getrost zur Seite stellen. Sie macht dem Talent, dem Genius die Bahn frei von allen fesselnden und bedrückenden Hemmnissen des Alltagslebens, und dafür wird sie zu aller Zeit mit Erhebung und Dank gepriesen werden. Wie dem wackern, 74jährigen Major Serre, so wird auch seinen opferfreudigen Mitarbeitern im Hauptverein das deutsche Volk im Namen aller Derer, welche dereinst oder bald die Segnungen dieser Stiftungen genießen werden, den aufrichtigsten Dank und die vollste Anerkennung zollen, welche solcher uneigennützigen Hingabe an ein wahrhaft nationales Unternehmen gebührt. Nicht minder gebühren Dank und Anerkennung dem edlen Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, der als Protector und liberaler Schenkgeber an die Spitze der Unternehmung trat, ebenso der königl. sächs. Staatsregierung, vor Allem dem Ministerpräsident Freihern von Beust, sowie dem Chef des Finanzministeriums, Freiherrn von Friesen, und dem des Cultusministeriums, Freiherrn von Falkenstein, endlich allen Denen, welche durch Portofreiheit und sonstige Erleichterung der Schillerlotterie Vorschub leisteten. Allen Dank, herzlichen Dank; denn

„Was für Andre man gethan,
Bleibt doch immer wohlgethan.“


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Ein Blick in’s freie Italien.

Tagebuch-Blätter von Adolf Stahr.
Nr. 3.
Jetzige Physiognomie Mailands – Die patriotischen Geheimverbindungen der Lombardei – Aus dem Mailänder Dom – Aus dem Selbstgespräche Pio Nono’s - Das Bild „Friedensschluß von Villafranca“ – Italienisches Urtheil über Louis Napoleon – Turin als „simple“ Stadt - Bei Magenta – Das aufstrebende Turin.
Mailand, im Spätherbst 1861.

Gestern Nachmittags nahmen wir Abschied von den lieben Freunden in Varenna, um über Como nach Mailand zu gehen, wo uns im Albergo Europa, dessen Inhaber ein Verwandter unseres Signor Marcionni, die freundlichste Aufnahme und dasselbe ruhige Zimmer, das wir vor drei Jahren inne gehabt, empfingen.

Es ist kaum zu sagen, wie sich seit jener Zeit die Physiognomie der gewaltigen alten Lombardenstadt verändert hat. Nicht die steinerne der Gebäude und Paläste, wohl aber der geistige Ausdruck. Die Menschen schienen mir anders auszusehen und drein zu schauen als damals. Es war, als sei von ihnen ein Schleier weggenommen. Der in’s Innere gezogene, düstere, feindselige Ausdruck, das Gepräge finstern Hasses, das der dauernde Anblick der ihnen verhaßten Fremdherren ihren Zügen aufgedrückt hatte und das man überall wahrnahm, wenn die österreichischen Patrouillen mit geladenem Gewehre und den aufgesteckten Bajonneten paarweise allstündlich die Straßen der Stadt durchschritten – dieser sinistre, trotzigscheue Ausdruck auf den Gesichtern der Menschen war verschwunden. Sie schienen mir Alle menschlich freier, unbefangener dreinzuschauen, und unser Deutschreden im Kaffeehause und an den öffentlichen Orten zog nicht mehr, wie sonst, verdachtvolle und böswillige Blicke auf uns. Alle Cafés waren mit Offizieren erfüllt; aber es waren nicht mehr schnurrbärtige Ungarn und Kroaten und Deutsche der „Erblande“, die sich in der „verfluchten Stadt“ und in dem „verteufelten Lande“ überaus ungemüthlich, ja geradezu unglücklich fühlten, – sondern Italiener – Sarden und Lombarden, Kinder des eigenen Landes, und sie gingen rauchend und plaudernd Arm in Arm mit jungen Männern in Civilkleidern – ein Anblick, den wir sonst in Mailand niemals gehabt hatten. Auf dem Hofe der Brera stand die riesige Statue des ersten Napoleon’s, die man aus den Kellergewölben, in denen sie fast ein halbes Jahrhundert gelegen, hervorgeholt und in der Mitte der vaterländischen Berühmtheiten aufgestellt hatte; und auch der Bilderschmuck und die Inschrift des gewaltigen marmornen Triumphbogens auf dem Castellplatze hatten allerlei Veränderungen erfahren. Das alte Castell aber sah leer und düster aus, eben so leer und düster wie der ehemalige k. k. Palazzo am Domplatze, vor dem jetzt wohlbeleibte Bürger in der Uniform der Nationalgarde, statt der stattlichen Garden des Vicekönigs, Wache hielten.

Ich ging durch die Säle der Brera-Gallerie, um einige meiner Lieblinge unter den Bildern derselben aufzusuchen. Aber ich hatte doch keine rechte Andacht vor dem Sposalizio Rafael’s und vor den Meisterwerken Luini’s. Meine Seele war zu unruhig, zu sehr in Anspruch genommen von der ungeheuern Wandlung, welche vor sich gegangen, seit ich Mailand zum letzten Male gesehen. Damals, 1858, dachte kein Mensch bei uns an die Möglichkeit solcher Dinge, die in dem kurzen Zeitraume von kaum zwei Jahren zu thatsächlichen Wirklichkeiten geworden sind. Eine Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft erschien den meisten als eine Utopie, die Herrschaft des Doppeladlers über die Lombardei und seine Hegemonie und Suprematie in Italien befestigter als jemals. Man lachte über das Wort des kleinen Piemontesenkönigs von dem „Schmerzensschrei Italiens“, der zu ihm dringe und ihn zum Helfen auffordere. Man belächelte die Hartnäckigkeit der Lombarden, die jede Annäherung Oesterreichs verschmähend in ihren Haßempfindungen gegen die Austriachi und in ihren Hoffnungen verharrten. Man glaubte es nicht, daß unter den Augen des österreichischen Regiments und trotz seiner zahllosen wohlbesoldeten Spione entschlossene Männer aus der Jugend der höheren Stände im Geheimen wohlgegliederte patriotische Verbindungen unterhielten, die, sich durch die ganze Lombardei erstreckend, im Cabinete Camillo Cavour’s ausmündeten, der durch sie von allen geheimsten Bewegungen und Maßregeln Oesterreichs in der Lombardei Kenntniß erhielt. F. M. sagte mir, daß kurz vor und während dem Ausbruche des Kriegs ein förmlicher Postdienst zur sichern Ueberbringung mündlicher und schriftlicher Nachrichten mitten durch das österreichische Heer nach Turin hin eingerichtet war, dessen Organisation so geschickt gestaltet war, daß eine Entdeckung geradezu als eine Unmöglichkeit gelten konnte. Die Mitglieder dieser Vereine in Mailand kannten sich unter einander selbst nur in ganz kleinen Gruppen, versammelten sich nie in geschlossenen Räumen, sondern meist unter freiem Himmel auf Jagdpartien und Spaziergängen, am sichersten unter den Kanonen des Castells. Die Häupter schliefen in den letzten Monaten vor Ausbruch des Krieges keine Nacht in ihren Wohnungen, verwahrten nie ein compromittirendes Schriftstück und standen im besten Vernehmen mit jener Classe der Arbeiter, Facchinen und sonstigen Proletarier, welche im Mailänder Jargon mit dem Namen der „Barrabasse“ (i barraba) bezeichnet werden. Daß die Oesterreicher geschlagen werden würden, galt ihnen für absolut sicher, und man trug sich für diesen Fall mit Plänen, die durch Mailand sich zurückziehenden Truppentheile in einem Straßenkampfe zu vernichten – Pläne, deren Ausführung vorzüglich an der Rücksicht auf das Schicksal der Stadt von Seiten der communistisch unterwühlten Proletariermassen scheiterte.

Von der Höhe des Domthurmes überschaute ich die ungeheuere Stadt und die unabsehbare Ebene, in deren Mitte sie sich hinstreckt. Es war zum ersten Male, daß ich diesen wunderbarsten Marmorbau der Welt bestieg; aber Niemand soll versäumen, es zu thun. Denn selbst bei getrübter Aussicht ist es noch überaus lohnend. Nordwestlich über das alte Castell, das Zwing-Mailand der Sforza, hinweg strahlt das Schneegebirge des Simplon und streckt sich weithin im Halbkreise die blaue Pracht der Alpen.

Unter unserm Haupte aber flatterte stolz und freudig im Morgenwinde das dreifarbige Banner des freien Italiens, das auf den Schlachtfeldern im Süden und Osten dieser weiten Ebenen neu errungen ward für den Stolz der alten Lombardenstadt. Im Jahre 1848, in den blutigen Märztagen der Erhebung Mailands, war das Dach des Domes die Stätte, von welcher aus österreichische Jäger, gedeckt hinter den marmornen Pfeilersäulen und statuengeschmückten Nischen, auf die Insurgenten den Tod hinunter schmetterten. Ein einziger Oberjäger rühmte sich später, von hier aus sechsunddreißig Insurgenten, die ihrerseits hinter den Kaminen der benachbarten Häuserdächer hervor ihre Büchsen gegen die Besatzung des Domes richteten, niedergestreckt zu haben! Aber am 20. März wehte dennoch von der Statue des goldenen Engels auf der Spitze des Domthurmes die dreifarbige Fahne der Befreiung. –

Ich habe schon zu Anfang dieser Mittheilungen erwähnt, wie sich selbst ein mir bekannter kunstsinniger Geistlicher über die Nothwendigkeit einer Lösung der römischen Frage zu Gunsten der politischen Einheit Italiens ausdrückte. Noch merkwürdiger aber war mir eine andere Mittheilung über die Haltung des unglücklichen Pio nono. Er sei tief gemüthskrank, hieß es, und leide schwer unter den Verhältnissen. Zuweilen rege sich der italienische Patriot in ihm unter der dreifachen Krone, und man habe ihn im Selbstgespräche aus tiefer Versunkenheit ausrufen hören: Eppure - l’Italia, unita sarebbe una bella cosa![2]

Zwei Tage später.

Heute haben wir fast den ganzen Tag mit unserm Freunde, dem Maler Girolamo Induno, zugebracht, der uns gleich nach seiner Rückkehr von Varenna aufsuchte und uns zu seinem Bruder Domenico führte, in dessen Atelier er interimistisch auch seine Werkstatt aufgeschlagen hat, da das seinige durch einen Umbau verstört war. Die Ereignisse der letzten Jahre haben auch auf die Kunst mächtig eingewirkt. Die Plastik ist überwiegend mit monumentalen Aufgaben beschäftigt, wovon wir, wie unser Freund uns sagte, in Turin, wohin wir morgen zu gehen gedenken, die sprechendsten Belege finden würden. Ebenso hat sich die Malerei Italiens, die, wie die Plastik, hier in Mailand ihren Hauptsitz hat, mit großer Macht auf das Historische gewendet, wovon wir in den Arbeiten der beiden sehr begabten Brüder die Beweise sahen. Leider waren [367] ihre Hauptwerke, sowie die besten Arbeiten anderer mailändischer Künstler, deren Ateliers wir besuchten, gegenwärtig nach Florenz zur Ausstellung gesendet. Doch war noch Manches vorhanden, was unser Interesse lebhaft in Anspruch nahm. Vor allen ein Bild Domenico’s, das schon mehrfach von dem Künstler wiederholt werden mußte. Es heißt „der Friedensschluß von Villafranca.“ Aber es ist keine Staatsaction, sondern ein ergreifendes historisches Genrebild, das den Eindruck darstellt, welchen die soeben eingetroffene Nachricht von dem unerwarteten und für die Italiener so tief schmerzlichen Friedensvertrage auf die in dem Garten einer Osterie versammelten Gäste, Italiener und Franzosen, Bürger und Soldaten, Männer und Frauen allen Alters und aller Stände hervorbringt. Die Ueberraschung und Niedergeschlagenheit, der Schmerz und Zorn, die Wuth und Verzweiflung der Italiener, und die staunende Verwunderung der französischen Soldaten bei dem Lesen der so eben angekommenen Zeitung, der verschiedene Ausdruck in den Physiognomien derer, die bereits Zeit gefunden haben, über die vernommene Kunde zu debattiren, sind in den verschiedenen Gruppen meisterhaft ausgedrückt. Besonders hervortretend aber ist der Gesichtsausdruck eines alten französischen „Troupiers“, der mit zwinkernden Augen einem Italiener tröstend zu sagen scheint, daß darum noch nicht aller Tage Abend, daß „aufgeschoben nicht aufgehoben“, und daß sein empereur ein schlauer Fuchs sei, der die Sachen dennoch schon zu machen wissen werde. Das Bild ist trotz seines genrehaften Charakters von echt historischem Gehalte, denn es ist der treue Ausdruck eines Moments von historischer Bedeutung. Es ist Napoleon übel zu Muthe gewesen, als er ohne seine stolze Verheißung „frei bis zur Adria“ von Villafranca über Mailand zurückkehrte und sein Leben von mehr als einem Orsini bedroht glauben durfte. Aber zum Glück für Italien – der Orsini fand sich nicht, und es ist besser so; besser für die Italiener und vielleicht, ja gewiß auch für unser Vaterland. Denn seit diesem Tage von Villafranca ist der Stern des dritten Napoleon im Niedergange, und wenn man die Italiener im Vertrauen über ihn reden hört, so ist die Summa immer: „Wir sind ihm dankbar, denn er hat viel für uns gethan – aber wir fürchten ihn noch mehr, als wir ihm dankbar sind, und viele von uns hassen ihn im tiefsten Herzen!“

Die heutige Nummer der neubegründeten Mailänder Zeitung „Il Regno d'Italia“ giebt dieser Empfindung im Hinblick auf die Haltung Napoleon’s in der Sache des Papstregiments zu Rom einen Ausdruck von solcher Kühnheit, daß man darüber nicht in Zweifel sein kann. Es heißt darin wörtlich: „Die französischen Waffen in Rom, als Schutz des bourbonischen Räuberthums, entehren Frankreich. Sie beflecken das Banner der ersten Nation der Welt. Sie nehmen Napoleon dem Dritten jede Popularität in Italien, sie. setzen ihn in Widerspruch mit sich selbst, sie machen ihn zum „Diener zweier Herren“, sie zwingen ihn zwei entgegengesetzte Wege zu wandeln, sie machen ihn zur Beute einer Partei, vor der Throne, Könige und Kaiser verschwinden müssen. Die Welt weiß, daß und wie dankbar wir Frankreich sind, aber die Dankbarkeit hat ihre Grenzen, und sie hört auf Tugend zu sein, wenn man darüber sein Recht und seine Würde vergessen soll. Möge Napoleon sich erinnern, daß er in Italien glänzende Triumphe erlebte und eine durch ganz Europa gehende Popularität erwarb. Will er, daß Italien das Grab solchen Ruhmes und solcher Popularität werde? Rom gehört uns! Fort mit den Franzosen! Fort mit dem Bourbon! und fort endlich auch mit dem Papste!“ – Man sieht, das ist eine entschlossene Sprache; und sie findet ihren Wiederhall in tausend und aber tausend italienischen Herzen.

Turin, zwei Tage später.

Warum ich nach Turin gegangen bin? Ich wollte die Hauptstadt, die provisorische, versteht sich, des neuen Königreiches Italien kennen lernen; die Stadt sehen, in welcher ein Cavour und ein Victor Emanuel, der kühnste Staatsmann und der tapferste König unserer Zeit, den größten politischen Gedanken des Jahrhunderts geplant haben, und in welcher sich vorläufig das Leben des neuen Reiches zusammendrängt; die Hauptstadt endlich desjenigen Theils von Italien, der den gediegenen Kern des italienischen Lebens, den Grundstein seiner Gegenwart und seiner Zukunft bildet. Es waren nicht Turins Kunstschätze, die mich lockten, denn sie sind minder bedeutend als selbst die von Mailand; nicht die „ägyptischen Alterthümer“, die sein Museum bewahrt, denn wie wenig interessirt mich hier die Geschichte des alten Reichs der einbalsamirten Pharaonen gegenüber dem vollen Leben der lebendigsten Gegenwart! auch nicht seine Architektur und seine Umgebungen, obgleich die erstere durchaus nicht das übliche Prädicat der „Langweiligkeit“ verdient, und die letzteren in der That zu den landschaftlich schönsten gehören, welche eine europäische Stadt besitzt. Ich wollte sehen, wie sich eine italienische Hauptstadt ausnimmt und benimmt, welche die Aussicht vor sich hat, in allernächster Zeit, wenn das Glück gut ist, von einer Königshauptstadt, die sie seit über anderthalb Jahrhunderten gewesen, eine simple „Stadt“ Italiens zu werden; und ich kann schon jetzt meinen Landsleuten sagen, daß das Verhalten Turins und der Turiner bei dieser Aussicht durchaus nichts von jener jämmerlichen Verzagtheit hat, mit welcher die Hauptstädte der Reiche von Flachsensingen und Disteldingen bei uns daheim an die entsetzliche Eventualität denken, daß es ihnen beschieden sein könnte, einmal nicht mehr (wie sich der alte Büsching in seiner deutschen Geographie ausdrückt) „von den Ausflüssen des Hofes zu leben“. Im Gegentheil hantieren und schaffen, bauen und planen diese Turiner mit einer Rüstigkeit und einem freudigen Muthe weiter an ihrer Stadt und ihren Plätzen, an ihren öffentlichen Gebäuden und Gärten, ihren Denkmälern und industriellen Anlagen, als wäre der Satz wirklich eine Wahrheit, daß eine Stadt und ein Gemeinwesen weit mehr auf die eigene Kraft und Rührigkeit, auf ihren eigenen Fleiß und Gemeingeist ihr Gedeihen und ihre Hoffnung zu gründen habe, als darauf, daß sie „der Sitz eines Hofes“ ist.

Der Eisenbahnzug, der uns hierher führte, hielt, ich weiß nicht aus welchem Grunde, fast eine halbe Stunde bei Magenta, und ich hatte also Gelegenheit und Muße, mich auf dieser blutgetränkten Schlachtstätte umzusehen. Nur an dem Thurm der Kirche und an den Mauern eines klosterähnlichen Gebäudes sah ich noch die Spuren, welche der eiserne Hagel des Schlachtgewitters hinterlassen, das sich vor dritthalb Jahren auf dieser fruchtbaren Ebene entladen hatte. Aber sonst auch kein Anzeichen mehr davon, daß hier die Heere der mächtigsten Reiche Europa’s in eiserner Umarmung gerungen hatten, daß diese jetzt im Schmuck der Herbstfrüchte von Oel und Wein prangenden gartengleichen Gefilde das Blut so vieler Tausende getrunken. Wie allgewaltig ist doch der „Balsam der allheilenden Natur“! Das kleine Städtchen lag so friedlich da in dem milden Herbstsonnenscheine! Die Menschen waren so heiter und unbekümmert, schauten so lustig und behaglich in ihrem Sonntagsstaate. Knaben brachten und boten uns „Andenken“ an die gran battaglia zum Kauf: Stücke von Säbelklingen, messingene österreichische Doppeladler von Czako’s und Patrontaschen, die die Inschrift F. L. J. (Feldmarschall-Lieutenant Jellachich) trugen, Kugeln größeren und kleineren Kalibers. Das war Alles! Ja, diese Menschenwelt kann mehr aushalten, viel mehr als die Generation der Aengsterlinge in Deutschland glaubt, welche die Zeiten von Anno 1806 bis 1815 nur von Hörensagen kennt und nicht weiß, wie schnell sich die furchtbarsten materiellen Verluste in dem Leben der Nationen herstellen, während freilich die Schäden des Geistes, die Wunden, welche eine jesuitische Reaction einem Lande und Volke durch ein auf Verdummung und Corruption gerichtetes tyrannisches Regiment schlägt, zu schwer-heilenden fressenden Krebsschäden werden. Was aber bei dem alleinigen Mammonsdienste, bei dem ausschließlichen Trachten nach den Gütern dieser Welt, welche dem „Motten- und Rostfraße“ unterliegen, herauskommt für ein Volk, das kann man in der allerneuesten Geschichte Nordamerika’s mit rabenschwarzer Schrift geschrieben lesen.

Ich bin noch kaum mehr als vierundzwanzig Stunden in Turin, aber das habe ich bereits heraus, daß dies Turin eine der bestverleumdeten Städte Europa’s ist. Die Regelmäßigkeit ihrer Bauart hat man langweilig gescholten und mit Berlin verglichen. Ich finde weder jenen Vorwurf begründet, noch diesen Vergleich zutreffend. Es ist wahr, Turin entbehrt den Schmuck gewaltiger italienischer Kirchen und Dome; es hat keine Monumente älterer Baukunst, außer etwa der Kathedrale und dem durch moderne Anflickung einer zopfigen Prachtfaçade entstellten Palazzo Madama, der alten Herrscherburg, die, einst mit Wall und Graben, starken Ringmauern und gewaltigen Thürmen stark befestigt, noch im 15. Jahrhundert außerhalb der Stadt lag. Es hat auch keine antiken Reste römischer Zeit, denn was von solchen noch bis zum 16. Jahrhundert vorhanden war, wie z. B. das Amphitheater, ist im Jahre 1536 bei der Einäscherung eines großen Theils der [368] Stadt durch die Franzosen zerstört worden. Turin ist mit einem Worte eine durchaus junge Stadt, die jüngste aller Hauptstädte Italiens. Sie ist wesentlich eine Schöpfung der letzten zweihundert Jahre und ihrer Könige. Die Regelmäßigkeit ihrer Anlage und der sich rechtwinklig schneidenden Straßen, deren Häuserquadrate wie in dem alten Rom „Inseln“ (isole) heißen, unterscheidet sie wesentlich von allen andern großen italienischen Städten, und zwar, was Lustigkeit, Licht und Behaglichkeit anlangt, nicht zu ihrem Nachtheil. Es ist ein heiterer Ernst in dem Charakter dieser Stadt der großen, schnurgeraden, menschenerfüllten Palaststraßen mit den räumigen Portiken zu beiden Seilen, in diesen stattlichen Plätzen und lichten Weitungen mit der Aussicht auf die grüne, mit Landhäusern und Gärten besäete, bis zu anderthalbtausend Fuß Höhe aufsteigende nahe Hügelkette der „Collina di Torino“ und westlich auf die schneebedeckten Gipfel der Alpen; ein Charakter der Tüchtigkeit, der dem Wesen der Piemontesen entspricht. Jung, rührig, aufstrebend, solid und energisch unternehmungslustig, den Blick vorwärts gerichtet, scheint sie hoffnungsvoll der Zukunft entgegen zu schreiten. Schon jetzt zählt Turin gegen 200,000 Einwohner, und wo man hinsieht, wird gezimmert und gebaut, gemauert und gepflastert, erstehen neue Straßen und Plätze fast nach allen Richtungen. Es ist, als hätte man hier seit Jahrzehnten keine Kriegsstörung erlebt und nur an der Vergrößerung und Verschönerung der Stadt zu arbeiten gehabt. Durch diese massenhaften Neubauten erhält das Aussehen der Stadt etwas Unfertiges, Provisorisches, was mit der gegenwärtigen Lage und Beschaffenheit des Reiches, dessen Hauptstadt sie jetzt ist, im Einklänge steht. Dazu ist sie jetzt, eben als provisorische Hauptstadt Italiens, mehr als je von fremden Gästen aus allen Theilen Italiens besucht, wie wir in verschiedenen Gasthöfen zu erfahren Gelegenheit hatten, ehe wir in der Pension suisse, die sich auch durch den Ankauf eines anstoßenden alten Palastes um das Doppelte seit einem Jahre vergrößert hat, ein Unterkommen fanden.

Das Leben und Treiben in der breiten, auf beiden Seiten mit hohen, prachtvollen Portiken besetzten Postraße mit den glänzenden Kaffeehäusern und den hellerleuchteten Luxusmagazinen aller Art hat Abends etwas, was an die Pariser Boulevards erinnert. Sie mündet in mäßiger Senkung niederwärts gehend auf die Piazza Vittorio Emmanuele, die ohne Frage zu den schönsten und großartigsten Plätzen europäischer Städte gehört und ihr abschließendes Point de vue in der jenseit der anstoßenden prächtigen Pobrücke nach dem Muster des römischen Pantheon erbauten Kirche der Gran madre di Dio findet.

In Summa aber gefällt mir die Stadt ausnehmend wohl, vielleicht um so mehr, je weniger ich es erwartet hatte. Es pulsirt in ihr ein kräftiges Leben, und das theilt sich unwillkürlich dem Besucher mit. Daß die Hauptsprache hier das Französische sei, habe ich nicht gefunden; im Gegentheil hörte ich überall italienische Rede. Freilich muß man nicht nach den Gasthöfen und Kellnern urtheilen; denn danach wäre selbst in der Schweiz die französische Sprache die herrschende.





Blätter und Blüthen.


Eine Bitte an Deutschlands Dichter und Dichterinnen. Der „Weihnachtsbaum für arme Kinder, Gaben deutscher Dichter, eingesammelt von Friedrich Hofmann. Hildburghausen, Christgeschenk des Bibliographischen Instituts“ wird im Jahre 1862 zum einundzwanzigsten Male seine Christbescheerungen veranlassen. – Dieser Weihnachtsbaum ist die von jeder Eigensucht reinste aller literarischen Wohlthätigkeitsbestrebungen. Er ward gegründet im Jahre 1842 durch Joseph Meyer, den großartigen Geist, welcher das Bibliographische Institut in Hildburghausen schuf und einst sein „Universum“ zu einem Weltbuch erhoben hatte, und seinen Freund Dr. Friedrich Hofmann, vieljährigen Mitredacteur seines großen Conversationslexikons und nach seinem Tode mehrere Jahre Redacteur seines Universums; und was der Vater begonnen, setzt der Sohn und Nachfolger in der Leitung des Bibliographischen Instituts, Hermann Meyer, mit Hofmann vereint treulich fort. Die ganze Stiftung besteht aber einfach darin, daß Friedrich Hofmann alljährlich von den deutschen Dichtern und Dichterinnen gratis eine Anzahl Gedichte sammelt, daß das Bibliographische Institut dieselbe gratis druckt und ausstattet und in jährlich 3000 Exemplaren an 70 bis 90 deutsche Städte und Ortschaften gratis vertheilt. Jedem dieser Bescheerungsorte kommt der Erlös, welcher daselbst aus dem Verkauf der ihm zugeschickten Exemplare des Weihnachtsbaumes erzielt wird, ohne irgend welchen Abzug, selbst und allein zu gute, und derselbe wird ausschließlich dazu verwandt, den armen Kindern des betreffenden Ortes, oder wenigstens den Aermsten dieser Armen, eine gemeinsame und festlich erhebende Weihnachtsfreude zu bereiten.

Die Herausgeber des Weihnachtsbaumes nehmen für ihre Arbeit und ihre Opfer Nichts in Anspruch, als jährlich einen Bericht aus jedem Bescheerungsort, und dies einzig, um der richtigen Verwendung ihrer Gabe sicher zu sein und an der Freude der armen Kinder sich mit zu freuen.

Daß das Unternehmen überall, wo es auftrat, die rechte Auffassung und Theilnahme gefunden, dafür zeugt der Erfolg, denn in den nun zwanzig Jahren seiner Wirksamkeit hat der Weihnachtsbaum nicht weniger als 70,000 arme Kinder in Hunderten von Städten und Ortschaften deutscher Bevölkerung, hoch oben von Eckernförde bis hinab nach Zürich, unter seinen Freudenlichtern vereinigt.

Obwohl der Weihnachtsbaum nicht in den Buchhandel kommt und deshalb der öffentlichen Kritik sich entziehen könnte, so macht doch der Erfolg wie die Verbreitung desselben es den Herausgebern zur Pflicht, das Büchlein auch hinsichtlich seines Inhalts zu einer werthvolleren Gabe zu erheben, als dies bisher immer möglich war.

Der Weihnachtsbaum wäre aber werth, ein neuer deutscher Musenalmanach zu werden, für welchen jeder deutsche Lyriker von seinen besten Erzeugnissen des Jahres wenigstens die kleinste Gabe spendete, ja, es sollte sich’s jeder Dichter zum Gesetz machen, wenn irgend möglich nicht mehr als je zwei Seiten des Weihnachtsbaumes für sich in Anspruch zu nehmen. Dadurch würden die 11–12 Druckbogen des Werkchens einer bedeutenden Anzahl von Dichtern Raum geben und zugleich den reichsten Wechsel bieten, und es würde selbst alljährlich ein Lieblingsgeschenk unter dem Christbaume von Tausenden von Familien sein, wenn es zugleich ausschließlich einen hellen, frischen, freien, erhebenden Geist zeigte, ungetrübt von allem Klageseligen, Weinerlichen und privatem Mißgeschick und Unglück Entsprungenen.

Der erwünschteste Inhalt des Weihnachtsbaumes würden aber allzeit gute Kindergedichte sein, zu denen auch kurze Erzählungen in Prosa gefügt werden dürften; sie würden das grüne Büchlein zum ersehnten Christgeschenk in allen Häusern machen, wo man die Wohlthätigkeit schon in den Herzen der Kleinen pflegt; um diese wird daher am allerdringendsten gebeten.

Haben deutsche Dichter und Dichterinnen aus dieser kurzen Darstellung ein Herz für die Sache und das Mittel, durch das sie in’s Leben gerufen ist, gewonnen, so mögen sie dem „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ nun auch nicht länger fern bleiben, sondern von ihren liebsten Schöpfungen ein Weniges als ihre Poetische Gabe für denselben bis spätestens Ende August an Dr. Friedrich Hofmann in Rendnitz bei Leipzig einsenden.




Kleiner Briefkasten.


Für W. Bauer’s deutsches Taucherwerk sind ferner (bis zum 24. Mai) eingegangen: durch E. Teschner, Apotheker in Peterswaldau (Schlesien) 3 Thlr. von einigen Mitgl. des ökonom. Vereins; durch H. C. Huch in Quedlinburg 4 Thlr. 21/2 Ngr., gesammelt in einem kleinen Kreise von National- und Bürgervereinsmitgliedern; 10 Thlr. vom Kunst- und Loschwitzer Fabrik bei Görlitz; 10.fl. östr. von F. Lindner in Semil (Böhmen); 1 Thlr. (Glückauf!) aus Kassel, durch die Expedition des Görlitzer Tageblatts 3 Thlr. 171/2 Ngr., ges. von den Arbeitern der Loschwitzer Fabrik bei Görlitz; durch Ad. Stumpf 2 Thlr., gesammelt vom Berggeschw. v. Ducker in Bochum; durch Dr. med. Th. Boehm zweite Sammlung in Offenbach 121 fl. 16 Kr. rhn. (brav!); von L. P. in G. (Baden) 1 fl. rhn. „zur würdigen Begehung der Fichtefeier“; 1 Thlr. von Michael W....n in Frankfurt a. M; 2 Thlr. von P^. in Dresden; 1 Thlr. von C. Hoffmann in Soran; 2 Thlr. von einem der Sieben aus Kategorie I. der berüchtigten Proscriptionsliste des dänischen Bürgermeisters Ang. Jörgensen in Schleswig; durch C. K. 4 Thlr. ges. von einer fidelen Biergesellschaft in Limbach; 14 Thlr. von einigen Bewohnern der Georgs-Marienhütte bei Osnabrück (Wintzer, Kümmerfeld, Schuchart, Lohmann, Schumann, Böger, Steckhan, Holste, Dütemeyer, Wesselmann, Engelking, Schütze, Dege, Hild, Steinhoff, Osterwald, Ouenfell, Lürmann); 1 Thlr. von Fritz Buresch in Strehlen (Schlesien); durch K. Schütze 5 Thlr. vom Gewerbeverein in Freiberg; 1 Thlr. von R. Böttger in Tragnitz bei Leisnig; 5 fl. rhn. aus Zweibrücken, von einigen Freunden des Fortschritts; durch C. Bauer 3 fl. 45 Xr. rhn. von A. W P. in Landstuhl; durch B. Würdig ü Thlr., ges. bei einer Versammlung der Wahlmänner in Greifenhagen; 7 Thlr. vom Gewerbe- und Handwerkerverein in Landsberg a/W.; 2 Thlr. 14 Rgr. von Kirchner ans Werschetz; 1 Thlr.:

Ein Leipziger Städter
Schickt dies sächsische Kind
Dem deutschen Bauer
Für sein europäisches Werk.

Ferner: 250 Thlr. von L. als zinsfreies Darlehn.


  1. Ziegler’s Portrait wird später erscheinen.
  2. Und doch - wäre ein einheitliches Italien ein herrliches Ding!