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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 22.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Er wandte rasch den Kopf zurück und sah sie mit eng zusammengerafften Kleidern in die Ecke gedrückt – es war dadurch allerdings ein Stück des improvisirten Sitzes frei geworden, aber doch kaum genug, um nicht ein dichtes Aneinanderschmiegen zweier Sitzenden nothwendig zu machen, und es erschien ihm wie ein Mißbrauch der augenblicklichen Lage des Mädchens, einen Vorschlag anzunehmen, den ihr nur seine ungeschützte Stellung entrissen haben konnte. „Ich danke Ihnen, Miß,“ erwiderte er, „ich würde Sie nur arg beengen, und die geringe Nässe hier ist kaum der Beachtung werth!“

„Ihre Rücksicht wird mich zwingen, selbst meinen Platz zu verlassen,“ gab sie mit einer Art Ungeduld im Tone zurück; „ich hasse alle die nur vom modernen Umgangstone gebotenen Opfer und ich mag nicht auf Ihre Kosten meiner Bequemlichkeit genug thun –“

„Sie werden ungerecht, Miß,“ unterbrach er sie, und es zuckte in ihm, diesen eigenthümlichen Charakter zu nehmen, wie er sich gab; „ich gedachte nur die selbstverständliche Bescheidenheit jedes gebildeten Menschen zu üben, der die Sonderbarkeit Ihrer Lage Ihnen nicht noch schwerer machen will; indessen haben Sie völlig über mein Verhalten zu gebieten!“ und sich seines Ränzchens entledigend, machte er sich bereit, den engen Sitz neben ihr einzunehmen. Sie zog die Schultern eng zusammen und preßte sich gegen die Seitenwand; er mußte aber dennoch seinen Arm hinter ihren Rücken schieben, um den nöthigsten Raum zu gewinnen.

„Sie haben es gewollt, Miß!“ sagte er zögernd, als bei der dichten Berührung seines Körpers ihr Gesicht einen Schatten bleicher ward und ihre Züge einen Ausdruck von Starrheit annahmen; sie aber wies statt der Antwort nach dem Eingange, der nur noch wenig über die Höhe des vorüberschießenden Wassers empor stand und soeben von einer Springwelle fast bis zu den Füßen der Dasitzenden überfluthet ward.

„Wir werden aber dennoch nicht lange in dieser Situation bleiben können,“ begann er wie im leichten Kampfe mit sich nach einer Pause, welche Beide in steifer Bewegungslosigkeit verbracht; „gönnen Sie sich Bequemlichkeit, Miß, legen Sie sich an meinen Arm zurück und vertrauen Sie meiner Ehrenhaftigkeit; wir wissen ohnedies nicht, wie lange wir hier werden verbringen müssen –“

Sie warf einen raschen, festen Blick m seine Augen. „Ich habe noch nicht an Ihrer Ehrenhaftigkeit gezweifelt, Sir, sonst säßen wir nicht hier!“ sagte sie mit eigenthümlich tiefem Klänge ihrer Stimme. „Aber Sie mögen Recht haben, daß es Thorheit ist, sich jetzt noch mehr zu ermüden!“ setzte sie, leicht den Kopf neigend, hinzu, und wie von einem beschwerlichen Zwange erlöst, gab sie ihre gepreßte Haltung auf und ließ ihre Gestalt frei an der ihres Begleiters ruhen, ein leichtes Roth trat wieder in ihr Gesicht, und dann hob sie mit einem freien, hellen Lächeln langsam den Kopf nach ihm.

Der junge Mann fühlte plötzlich diese weichen, eleganten Formen, ihm völlig hingegeben, in seinem Arme, fühlte ihren klaren Blick wie einen warmen Sonnenstrahl in seine Seele fallen, und einen Moment lang überkam es ihn, als könne er der Versuchung nicht widerstehen, seinen Arm fest um das Mädchen zu schließen – ein Moment nur war es, und noch keine Muskel hatte unter dem Verlangen gezuckt; aber es schien, als habe sie dennoch empfunden, was in seiner Seele vorgegangen; eine tiefere Färbung trat in ihre Wangen, ihr Blick wandte sich, seinem Auge ausweichend, dem Freien zu, und ihre Schultern zogen sich, als wollten sie seine Berührung vermeiden, wieder leicht zusammen; schon nach einigen Secunden aber fragte sie in völlig ruhigem Tone: „Sie wissen vielleicht, wie spät es ist? Ich fürchte, der Abend überrascht uns hier!“

Der junge Mann zog seine Uhr, glücklich, der Befangenheit zu entgehen, die ihn überkommen hatte. „Erst Vier vorüber Miß,“ sagte er, „wir haben noch drei Stunden vollen Tag, und das Gewitter ist zu heftig, als daß es nicht bald enden sollte. Ihr Herr Vater und der zweite Gentleman werden aber trotzdem wohl schon schwere Sorge um Sie gehabt haben!“

„Mein Vater? Was wissen Sie denn von meinem Vater?“ fragte sie rasch und befremdet aufsehend.

„Ich vermuthete nur aus seinem ängstlichen Forschen nach Ihnen, daß er es sei!“ gab Jener zurück und begann dann in kurzen Zügen seine Begegnung beim Ersteigen des Berges mitzutheilen.

Sie hörte aufmerksam zu; als er aber der Aeußerung des zweiten Reisenden über sie erwähnte, zuckte ein Ausdruck von Geringschätzung über ihr Gesicht. „Hat er das gesagt? Nun so scheint er doch allgemach zur Erkenntniß zu kommen!“ nickte sie, wie mehr zu sich selbst sprechend. „Ich gehe allerdings gern selbstständig meinen Weg, wenn ich auch künftig die Einsamkeit in den Bergen etwas mehr vermeiden werde,“ wandte sie sich nach ihrem Gefährten, und jetzt legte sich ein Zug voller Laune um ihren frischen Mund. „Mister Graham – das ist der zweite Gentleman, welchen Sie erwähnten – konnte sich nach Besichtigung des Gletschers nicht von einem nochmaligen Frühstück im Hospiz trennen, und ich suchte während dessen eine neue Fernsicht für mich zu gewinnen. Ziemlich sicher bin ich, daß ich bei meinem Aufwärtssteigen in die Felsen stets einem gebahnten Pfade folgte, obgleich [338] ich wohl nur ein Auge für die Weite und nicht für die mich umgebenden Formationen hatte. Ich erreichte endlich die Höhe des Gebirgskamms und empfand hier einen wunderlichen Reiz, mich am Rande der jäh hinunter fallenden Steinwand zu sehen. Ein Stück unter mir war ein eigenthümlicher Vorsprung, der wie ein Altan über dem Abgrunde hing, und ich bekam ein unwiderstehliches Gelüste, mir einen Weg dahin zu suchen; ich sah auch bald einen zugänglichen Absatz, der mich völlig gefahrlos nach der Stelle leiten mußte; kaum habe ich mich aber einige Schritte jenseits des Kammes hingewagt, als sich ein Stück Felsen unter meinen Füßen loslöst und mir eben noch Zeit läßt, nach dem wahrgenommenen Absatze hinab zu springen, und wäre es möglich, daß ein so leichter Sprung eine Erschütterung auf diese Felsenmassen ausübte, so müßte ich glauben zu dem darauf Folgenden die unmittelbare Ursache gewesen zu sein. Mit dem Momente, wo ich festen Boden erreiche, bricht neben mir ein Getöse los, daß ich meine, das ganze Gebirge stürzt mit mir zusammen, und als ich nach einer kurzen Betäubung, in die mich Lärm und Schrecken versetzt, wieder meiner Sinne völlig mächtig werde, sehe ich meinen Altan sammt einer Strecke des bisherigen Felsenabhanges verschwunden, und mit ihnen auch meinen Pfad zur Gebirgsspitze – ich war abgeschnitten.“

„Und wie fühlten Sie, Miß?“ frug der junge Mann, seinen Kopf auf den vom Knie getragenen Arm stützend und so das lebendige Gesicht des Mädchens beobachtend.

„Behaglich allerdings nicht,“ lachte sie heiter, „aber ich hatte eine bestimmte Vermuthung, daß die Richtung, in welcher ich mich vom Hospiz entfernt, bemerkt worden sei, und erst als mein Harren auf Erlösung stundenlang vergeblich war, mußte ich annehmen, daß meine Begleiter, in der Erwartung, ich sei vorausgegangen, den Weg nach dem Thale eingeschlagen hatten.“

„Sie nannten mir einen Namen aus Ihrer Begleitung,“ sagte er nach einer Pause, in welcher sie das bereits nachlassende Wetter zu beobachten schien; „würden Sie mir nicht auch noch einen andern nennen, Miß?“

Ein höheres Roth trat rasch in ihr Gesicht und ging wieder. „Namen?“ erwiderte sie, halb das Gesicht nach ihm wendend, „wozu? Namen bringen uns sofort unter den ganzen Zwang der Gesellschaft zurück; ich habe jedenfalls die Pflicht, den Ihren kennen zu lernen, aber ich habe aus demselben Grunde bis jetzt vermieden, danach zu forschen. Denken Sie,“ fuhr sie fort, das Auge wieder nach außen wendend, „wir seien zwei Menschen, die sich auf einer wüsten Insel getroffen, und nennen Sie mich nach Ihrem Belieben.“

„Ich kenne,“ sagte er langsam, „eine englische, wunderbar hübsche Geschichte von einem Ritter und einer Prinzessin, die sich allein aus dem Schiffbruch auf eine wüste Insel gerettet und dort gleichfalls ihrer Namen und des fernliegenden gesellschaftlichen Zwanges vergaßen –“

Sie erhob sich plötzlich und trat an den Eingang, wo das Wasser mit derselben Schnelle, in welcher es erschienen, auch schon fast ganz wieder verschwunden war. Er blickte ihr einige Secunden lang nach und preßte dann die Augen in seine Hand. So lange er denken konnte, war ihm noch kein Charakter in so seltsamer Veränderlichkeit des Ausdrucks begegnet, und doch lag in diesem raschen Wechsel ihrer Seelenstimmungen, von denen jede ihre volle Berechtigung zu haben schien und sich ohne Hehl in dem klaren Spiegel ihrer Züge abzeichnete, etwas so wunderbar Fesselndes für ihn. Es schien, als sei sie durch seine weitere Anwendung des Bildes von der wüsten Insel beleidigt worden; dennoch konnte der Sinnende bei dem Gedanken daran ein Lächeln eigenthümlicher Befriedigung nicht unterdrücken und unwillkürlich versuchte er, sich den Ausdruck ihres Gesichts, welchen sie ihm jetzt verbarg, vor die Seele zu stellen.

Erst als er eine leichte Berührung seiner Schulter fühlte, fuhr er aus seinen Gedanken auf. Sie stand halb nach ihm gewandt und deutete in die Schlucht hinaus, in welcher sich ein Sonnenstrahl an dem feuchten Gestein brach. „Wir können gehen!“ sagte sie und drückte den Hut wieder leicht in ihr Haar; umsonst aber strebte der junge Mann in ihren Zügen zu lesen, sie waren unbeweglich und kalt, und kaum hatte er nach seinem Gepäck gegriffen, als sie auch schon in’s Freie trat, ihm voran die Schlucht weiter verfolgend.

Das Wetter hatte sich völlig verzogen, der Boden zeigte nur noch einzelne mit Wasser gefüllte Vertiefungen, und schweigend waren Beide eine Weile zwischen den Felsenwänden hin geschritten, als plötzlich die enge Gasse sich erweiterte und nach wenigen Secunden eine freie Aussicht über die von der sinkenden Sonne vergoldeten Firnen und Gletscher sich öffnete, und hier war auch ein roher Steg über einen Felsenspalt geschlagen. „Da ist der Pfad, jetzt erkenne ich ihn wieder; wir waren also doch auf rechtem Wege!“ wandte sie sich kurz zurück und überschritt dann leicht und sicher das noch vom Regen nasse Bret. Eilfertiger, als wolle sie dadurch jedes Gespräch vermeiden, wanderte sie jetzt voran, bald zeigte auch der rauhe Boden häufigere Spuren der ebnenden Menschenhand, und der Nachfolgende begann seine Gedanken bereits dem Ende ihres Weges am Hospiz, wo wahrscheinlich seine Verabschiedung statt finden würde, zuzuwenden, als das Mädchen plötzlich ihren Schritt anhielt und leicht den Kopf vorstreckend nach der Tiefe hinab lauschte. Jetzt klang es auch zu den Ohren des jungen Mannes wie einzelne entfernte Menschenlaute. Die Horchende schien kaum ihrer Wahrnehmung sicher zu sein, als sie sich rasch umwandte und ihrem Begleiter zurückzubleiben winkte. „Wir müssen uns hier trennen, Sir,“ sagte sie rasch herantretend, „ich höre meines Vaters und Mr. Graham’s Stimmen, die jedenfalls auf dem Wege sind, mich aufzusuchen, und ich mag diesem Mr. Graham nicht die Freude gönnen, ihn eine Verlegenheit wissen zu lassen, aus der ich mir nicht selbst helfen konnte.“ Sie hielt inne, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck von Unsicherheit an, aber sie wich dem Auge des jungen Mannes nicht aus, in welchem sich alle die widerstreitenden Empfindungen, welche dieser plötzliche Abschied in ihm hervorrief, widerspiegelten. „Ich habe Ihnen noch nicht für den Dienst, den Sie mir erwiesen haben, gedankt, Sir!“ fuhr sie dann zögernd fort, während langsam ein höheres Roth in ihre feinen Züge trat, „haben Sie Ihre Karte bei sich?“

Er griff wortlos nach seinem Portefeuille; sie nahm die Karte mit der fein gestochenen Adresse: „Hugo Zedwitz, Kammergerichtsreferendar, Berlin,“ und barg sie unbesehen in der Tasche ihres Kleides; dann reichte sie ihm die Hand und schloß ihre Finger fest um die seinigen. „Wir werden uns kaum jemals wieder sehen, Sir,“ sagte sie in den weichen, tiefen Tönen ihrer Stimme, „und so endete ja auch die Geschichte von der wüsten Insel, als das Paar noch rechtzeitig genug entdeckt wurde. – Good bye denn!“ schloß sie, aber der junge Mann sah ihr Auge, in dessen dunkler Tiefe ein eigenthümlich weicher Ausdruck aufgestiegen war, noch immer in dem seinen hängen, fühlte noch immer den Druck ihrer Finger, ihre frischen Lippen blühten ihm entgegen, und von der plötzlichen Ahnung eines unerwarteten süßen Gewährens erfaßt, hatte er leicht ihre Gestalt umschlungen und seinen Mund auf den ihren gedrückt, ehe er sich nur des Entschlusses dazu klar geworden war. Sie hing ohne Sträuben in seinem Arme; als er aber, wie von einem Rausche des Glücks überkommen, sie fester an sich zog, wand sie sich leicht und kräftig los. „Genug des Abschieds, Sir!“ sagte sie hastig; noch einen kurzen Handdruck fühlte er, und dann hatte sie sich weggedreht, mit leichten, eiligen Schritten den Weg nach der Tiefe verfolgend.

Als sie, ohne sich umzublicken, hinter der nächsten Felsenecke verschwunden war, setzte er sich am Rande des Pfades nieder und drückte das Gesicht in beide Hände, als müsse er das Erlebniß erst in sich zum vollen Bewußtsein kommen lassen.




2. Eine Wiederbegegnung und deren Folgen.

Vier Wochen waren vergangen.

„Aber was ist es denn, mit klaren, bestimmten Worten ausgedrückt, das mir zur Last gelegt wird? Ich glaube mich zu den solidesten jungen Männern ähnlicher Stellung in Berlin rechnen zu dürfen, ich arbeite so fleißig als irgend einer meiner Collegen, und wenn Jemand sich über mein Herz oder über mangelnde Pietät meinerseits zu beklagen hat, so ist es sicherlich nicht mein Vater!“

Der Referendar Zedwitz war es, der soeben einen raschen Gang durch sein Zimmer unterbrochen hatte und während der unmuthig gesprochenen Worte in der Mitte desselben stehen geblieben war.

Vor ihm auf dem Sopha lehnte ein junger Mann in wohl gleichem Alter mit dem Sprechenden; während aber die ganze Erscheinung des Letzteren Eleganz und die leichte Beweglichkeit des Großstädters zeigte, drückte sich in dem schlicht geordneten Haar, dem einfachen Schnitt der Kleidung und der anspruchslosen Haltung [339] des Dasitzenden die Weise eines gänzlich verschiedenen Gesellschaftskreises aus, der auch das milde, dunkelblaue Auge nur zu entsprechen schien.

In der Ecke neben dem mit Büchern und Actenheften bedeckten Schreibtische, von welchem eine Solarlampe ihr helles Licht über das behaglich eingerichtete Zimmer ergoß, saß noch ein Dritter der gleichen Altersstufe, aber in merkbar abgetragenem Rocke, hatte beide Ellbogen bequem auf seine Schenkel gestützt und ließ die grauen, schlau blickenden Augen abwechselnd auf den beiden Ersteren ruhen.

„Wenn ich so bestimmte Angaben machen könnte, würde ich Dich nicht erst fragen lassen,“ erwiderte der Angeredete; „es ist Vieles anders geworden, Hugo, seit Du zum letzten Male in Deines Vaters Hause warst, aber die Aenderung läßt sich nur fühlen, ohne daß sie von den äußeren Erscheinungen viel berührt hätte. Der alte Herr sitzt noch gerade wie früher an dem funfzigjährigen Schreibepulte in seinem Arbeitszimmer, Alles selbst einsehend und decretirend, und der alte Mangold trägt die verschiedenen Ordres in derselben dienstlichen Haltung wie immer nach den Büreaux, wie nach der Familienwohnung –“

„Hat einmal aus Versehen einen Ladestock verschluckt, ist aber sonst ein ausgezeichneter Alter!“ warf der Zuhörer neben dem Schreibtische halblaut dazwischen.

„Die Großmama ist nur ein klein wenig älter geworden,“ fuhr der Erstere fort, „strickt indessen noch immer Strümpfe für die Mädchen, obgleich das Hundert für jedes längst voll ist, und sonnt sich an dem Fenster nach dem Garten hinaus, und Deine Schwestern walten im Hause wie früher, Muster von Wirthinnen und echte Damen zu gleicher Zeit – im Aeußeren ist Alles wie sonst, aber es herrscht ein anderer Ton im Hause, Hugo! Wo ich sonst als Dein Freund und Schulcamerad zwanglosen Zutritt hatte, da begegnet mir jetzt ein Etwas, das ich kaum recht mit Worten ausdrücken könnte. Die Dienstleute scheinen Ordre zu haben, die Form wie bei jedem Fremden gegen mich zu beobachten; Dein Vater, wenn ich ihn im Familienkreise treffe, nimmt einen kalthöflichen Ton an; die Großmama wird augenscheinlich ängstlich, wenn ich mich in gewohnter Weise zu ihr setze, scheint ihr freundliches, liebes Herz nicht unterdrücken zu können und sich doch zu fürchten, auf ein vertrauliches Gespräch mit mir einzugehen; Helene ist blässer, als ich sie jemals gekannt, und verschwindet in der Regel, sobald ich mich zeige, und Marie ist die Einzige, welche es zu wagen scheint, sich meiner anzunehmen. Aber es ist ein eigenthümlicher Ernst, mit welchem sie mich behandelt, und sie vermeidet es sichtlich, mit mir allein zu sein, als fürchte sie die Forderung einer Erklärung. Der frühere Umgangskreis ist auch theilweise ein anderer geworden – da ist ein Schuldirector Meßner, der rasch Carriere machen muß, denn er ist ein noch junger Mann; dieser scheint völlig Hausfreund geworden zu sein und es besonders der alten Dame angethan zu haben. Ich habe oft gestrebt, das Eis durch ein Gespräch über Dich zu durchbrechen, und hier war allerdings der einzige Punkt, dessen Berührung Deinen Vater zu einer längern Aussprache vermochte, aber es war niemals eine freundliche. Du lebst ihm zu viel in Gesellschaften, welche Dir unnöthige Depensen auflegen, Du gehst ihm mit Deinen modernen Anschauungen von Welt und Dingen weiter, als es mit geordneten Zuständen verträglich sei; Du treibst ihm überhaupt zu viel wissenschaftliche Allotria, anstatt Dich nur um Dein Assessor-Examen zu kümmern, und seit Du über Dein mütterliches Vermögen verfügen kannst, scheint er an ein absichtliches Lostrennen Deiner Interessen von denen der Familie zu glauben –“

„Und die Großmutter, Fritz – hast Du diese niemals ein Wort zu meinen Gunsten sagen hören?“ unterbrach ihn Hugo Zedwitz, der mit unverwandter Aufmerksamkeit den Worten des Freundes gefolgt war; „die Mädchen mögen es nicht wagen, ich kenne das, aber die alte Frau hat immer ihren Einfluß auf den Vater zu bewahren gewußt und sie hat mich lieb –!“

Der Angeredete schüttelte langsam den Kopf. „Es ist etwas Fremdes in Euere Familie getreten,“ erwiderte er, „das den frühern Geist darin zersetzt hat, über das ich mich aber, der jetzt außerhalb des Kreises gestellt ist, nicht weiter aussprechen mag –“

Hugo trat rasch einen Schritt auf den Redenden zu. „Es gab einmal eine Neigung zwischen Dir und der Helene, Fritz,“ sagte er die Augen zusammenziehend, als habe sich ihm ein leitender Gedanke geboten; „ist irgend etwas für des Mädchens Zukunft im Werke, dem Du im Wege bist? Dann könnte allerdings auch meine Freundschaft für Dich zur neuen Sünde für mich gemacht werden!“

Der Andere war roth wie ein Mädchen geworden. „Laß das aus dem Spiele,“ sagte er, den Blick senkend, „ich bin nur Kaufmann, der keine andere Carriere machen wird, als sie meines Vaters Geschäft bietet, und so würde ich für Deinen Vater am wenigsten ein so großes Hinderniß für einen seiner Pläne bieten, daß er Dir unsere Cameradschaft entgelten ließe. Wenn ich von mir sprach, so geschah es eben nur, um Dir ein Bild von dem veränderten Tone in Euerem Hause zu geben, der sich Dir in der scharfen Beurtheilung Deines Lebens und Thuns gezeigt hat – auch Deine Schweizer Reise wird eine Extravaganz genannt, und selbst die Großmama mag darin nicht Deine Partie nehmen –“

„Und nun möchte ich auch einmal ein Wort sagen,“ begann jetzt der Dritte, sich rasch aufsetzend. „Wenn mein Vater auch nur der Büreau-Diener Mangold ist und ich vom arbeitslosen Tischler aus purer Gnade zum Hausknecht und Factotum des Herrn Referendars avancirt worden bin –“

„Sei kein Esel, Heinrich!“ unterbrach ihn Hugo.

„Danke schön, habe aber schon eine ganze Sammlung von dergleichen Ehrenzeichen!“ nickte der Tischler gleichmüthig. „Also, wenn ich auch, und so weiter, so sind wir doch alle Drei aus einer Stadt und Schulkameraden, und ich gehöre wenigstens hier in Berlin zur Familie. Fritz Römer, wie er hier sitzt, dreht noch immer den Kopf weg, wenn er Andere auf den Kirschbaum steigen sieht, und wischt sich lüstern den Mund, wenn nichts mehr zu holen ist. Wo es so eine Großmutter giebt – Gott segne sie! sie hat mir manches Butterbrod und manchen Dreier zugesteckt! – da sollte mir Niemand in’s warme Nest kommen, das mir offen wäre. Nebenbei freilich gehört für hartes Holz ein scharfes Stemmeisen, und so ein alter Herr mit starrem Kopfe kümmert sich wenig um das, was immer bescheiden vor seinem Tritte ausweicht. Es ist doch gar kein so großer Unterschied zwischen einer Geheimrathsstelle und einem gehörigen Kaufmannsgeschäfte! – Das ist indessen eine Sache, die mich nichts angeht,“ unterbrach er sich, als Römer sich unbehaglich zu bewegen begann. „Wenn aber der alte Haken zwischen Vater und Sohn jetzt immer schärfer wird, ohne daß etwas Unrechtes geschehen ist, so muß doch irgendwie ein heimlicher Schleifergeselle dahinter sitzen, dem ein richtiger Freund geschwind genug auf die Finger kommen müßte. Da ist nun die Schweizer Reise!“ fuhr er rasch fort, als der Kaufmann den Kopf wie zu einer Unterbrechung hob. „Wenn Du keine dummen Streiche machst und kein Geld von mir verlangst, so thue, was Du willst, Heinrich! sagte mein Vater, und anders könnte auch ein Geheimrath nicht sprechen, wenn ihm nicht ein besonderer Floh in’s Ohr gesetzt wäre. Von den moralischen Folgen dieser Reise, daß jetzt selbst die niedlichste Schürze keine Gnade mehr vor unseren Augen findet, daß es sich nur noch um Prinzessinnen handeln kann, wenn einmal das zweite Geschlecht in Frage kommen soll – davon läßt sich zu Hause Niemand etwas träumen –“

„Heinrich –!“

„Sei kein Esel! weiß schon! Ich habe aber doch erst vorgestern mit eigenen Augen gesehen,“ wandte er sich wieder an Römer, „daß er wie vom Schlage getroffen in eine königliche Equipage hineinstarrte, mir in den Rockkragen fuhr, als wäre der Schneidercredit etwas ganz Ordinäres, und weiß wie sein Hemdenkragen, sagte: „Das ist sie, oder ich bin toll!“ Und umsonst habe ich den Anzug für die heutige Soiree auch nicht zweimal putzen müssen! Nun ja, das geht mich wieder nichts an!“ fuhr er fort, als der Referendar mit einer Bewegung der Ungeduld seinen Gang wieder aufnahm, „bei einer so unschädlichen Lebensweise aber wäre es kaum zu verstehen, was dem alten Herrn im Kopf steckt, wenn nicht der besagte Schleifergeselle wäre, und ein rechter Freund würde dem trotz aller Bescheidenheit das Handwerk legen. Damit bin ich fertig!“

„Sieh, Fritz,“ begann jetzt Hugo vor dem Kaufmann stehen bleibend und schnitt damit sichtlich eine beabsichtigte Frage desselben ab, „es kann kaum ein Sohn seinen Vater mehr lieben, als ich den meinen, und mag auch in früherer Zeit durch meine Schuld manche Verstimmung zwischen uns geschaffen worden sein, so ist doch jetzt nirgends eine Ursache dafür vorhanden. Er kann nicht verlangen, daß ich in allen Dingen dieselben Anschauungen mit ihm theile, kann nicht so viel Unrecht in einzelnen Nebenstudien [340] finden, die ich zur Erholung vom Actenstaube treibe, und bei allen Narrheiten hat Heinrich Recht, daß sich in unserm Hause irgend ein fremder Einfluß zu meinem Schaden geltend machen muß. Du bist selbst verschüchtert worden; jetzt aber merke auf: Ich will Dein treuester Helfer in Bezug auf meine Schwester sein, wenn Du den Dingen zu Hause auf den Grund gehst, ohne Dich irre machen zu lassen – ich werde noch heute Nacht an das Mädchen schreiben, und Du magst morgen den Brief selbst mit Dir nehmen. Erst nur klar sehen, Fritz, und dann müßten die Umstände sehr sonderbarer Natur sein, wenn wir nicht mit vereinter Kraft uns Beiden helfen sollten – trotz der Eigenthümlichkeiten meines Vaters!“

Römer’s Gesicht hatte sich während der letzten Worte höher gefärbt, und mit einem kräftigen Drucke legte er seine Hand in die dargebotene des Freundes. „Ich gestehe Dir jetzt offen,“ sagte er, „daß ich meine Reise hierher zum Theil mit in der Hoffnung unternahm, mich Deinen Interessen in Bezug auf die Vorgänge in Eurem Hause anschließen zu können. Jetzt habe ich eine gewisse Berechtigung zum Handeln, und Du sollst bald genug von mir hören, verlaß Dich darauf!“

„Wenn nur der Kirschbaum nicht schon besetzt ist!“ brummte der Tischler.

„Nun aber die Schweizer Reise – was ist das mit der Prinzessin und der heutigen Soiree?“ fuhr der Erstere fort, als wolle er damit jeder weitern Bemerkung über seine eigenen Angelegenheiten vorbeugen.

„Eine von Heinrich’s Faseleien!“ versetzte der Referendar „Ich hatte eine flüchtige Begegnung in den Alpen und glaubte die Erscheinung hier wieder zu erblicken, das ist Alles!“

„Und von der Soiree halte ich Dich jedenfalls ab,“ sagte Römer sich erhebend, „Du hättest mir früher ein Wort davon sagen sollen!“

„Ich würde sie schon Deines Besuchs wegen ganz bei Seite lassen,“ erwiderte Jener, wie eine leichte Befangenheit niederkämpfend, „wenn es nicht eine Art Dienst wäre, der mich hinruft. Zu drei alten Damen den Vierten im Whist machen, oder eine unglückliche Sitzengebliebene von ihrem Stuhle erlösen, das sind die Beschäftigungen, zu denen unsereins gebraucht wird; aber sie geben den Eintritt in einen Gesellschaftskreis, durch den es doch nur möglich ist, sich einmal rasch vorwärts zu poussiren.“

„Vergiß nur in Deinem heutigen Dienste den Brief nicht, ich erwarte Dich morgen früh im Hotel!“ lächelte der Andere, sich zum Gehen anschickend; Hugo schien aber die neckende Beziehung in dem Tone des Sprechenden zu überhören und geleitete diesen mit einem Händedrucke vor die Thüre.

Als er zurückkehrte, machte er mit unmuthig zusammengezogenen Augen einen raschen Gang durch die Stube. „Heinrich –“ sagte er dann stehen bleibend.

„Ganz recht,“ rief der Angeredete, sich steif aufrecht stellend, „ich bin diesmal mit meinem Geschwätz ein wirklicher Esel gewesen; so geht es aber, wenn man seinem Factotum nur ein halbes Vertrauen schenkt. Ich habe erst gemerkt, daß ich der Wahrheit auf den Kopf geschlagen habe, als es schon zu spät war. Glaubst Du wirklich, sie heute zu treffen, und weißt Du jetzt, wer sie ist?““

„Hole mir eine Droschke!“ rief der Andere, den Schlafrock von sich werfend und nach der bereitliegenden Weste und weißen Atlasbinde greifend; aber erst nach einem forschenden Blicke in das sich wieder aufklärende Gesicht des Schulfreundes eilte der Tischler davon. –

Eine halbe Stunde darauf betrat der Referendar das von Equipagen belagerte Hotel des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten und schritt in einem Gefühle von seltsamer Beklemmung und ahnender Erwartung die mit Teppichen und Orangerien geschmückte Haupttreppe hinan, ohne fast die den gleichen Weg mit ihm verfolgende Menge in rauschender Seide, blitzenden Uniformen und geleckter Civiltracht zu beachten. Er war kein Neuling in der ihn umgebenden Gesellschaft. Den „Dienst“, von welchem er gegen den Freund gesprochen, gab es allerdings nur in kleineren Abendcirkeln der höhern Beamten seines eigenen Departements, dafür fand aber auch selten eine andere große Fete, wozu einzelne Auserwählte des jungen Beamtenstandes herangezogen wurden, statt, bei welcher er ohne Einladungskarte geblieben wäre, und er hatte jeder derselben gern als einer Auszeichnung genügt, welche er weniger seinen fachlichen Fähigkeiten, als seiner gesellschaftlichen und vielseitigen anderweiten Bildung verdankte. Heute aber begleiteten ihn andere Empfindungen zu der glänzenden Soiree. Zwei Tage waren es her, daß die Züge seiner Geretteten, welche er wie ein wundervolles, aber für immer geschwundenes Traumbild in sich getragen, sich verkörpert wieder vor seine Augen gestellt hatten. Nur eine rasche, flüchtige Erscheinung war es gewesen. Eine offene Hofequipage hatte seine Wohnung passirt, in welcher er, zum Ausgehen fertig, am Fenster gestanden, und unter den reichen Toiletten, welche das Innere des Wagens füllten, hatte sich plötzlich ihr Gesicht gehoben, so hell beleuchtet und bestimmt abgezeichnet, daß kaum ein Irrthum möglich gewesen wäre, wenn er ihre Züge auch jemals hätte verwechseln können. Ein stiller, fester Ernst hatte auf ihrer Stirn gestanden, und in beachtungsloser Gleichgültigkeit war ihr Auge über die begegnenden Menschen geglitten. Mit einem einzigen, vollen Blicke hatte Hugo das Bild erfaßt, ohne doch unter den sich plötzlich in ihm überstürzenden Gedanken einer Bewegung oder eines Lautes fähig zu sein, und erst als im nächsten Augenblicke der Tischler mit der Bürste an ihn herangetreten war, hatte sich seine Ueberraschung gegen diesen, dem er schon nach seiner Rückkunft eine Andeutung von seinem Abenteuer gegeben, Luft gemacht. Er war, ohne sich einer bestimmten Absicht bewußt zu sein, nach der Straße geeilt; als er aber den rasch dahin rollenden Wagen um die nächste Ecke biegen sah, ward ihm völlig klar, daß sie ohne einen besonders glücklichen Zufall wieder ebenso hoffnungslos für ihn verschwunden sei, als damals, wo er, ihrem Gebote folgend, sie von sich gelassen. Hatte er doch nicht eine Ahnung von ihrem Namen oder der Stellung ihrer Familie, so bedeutend beide ihrer jetzigen Erscheinung nach auch sein mochten. Da kam am nächsten Morgen die Karte für die ministerielle Soirée. Die meisten in der Stadt gegenwärtigen Ausländer von Distinction seien eingeladen, hieß es, auch der Hof werde erscheinen, und in Hugo’s Seele stand es plötzlich wie eine unfehlbare Gewißheit, daß er auch sie dort wiederfinden werde. Was er beabsichtigte, wenn sich seine Erwartungen wirklich erfüllen sollten, er, der bei Fêten in diesen Regionen mit Vielen seines Gleichen doch meist nur verurtheilt war „an der Wand zu stehen“, was er zu gewinnen gedachte, wenn es ihm auch wirklich gelang, sich ihr zu nähern, er, der bürgerliche Referendar einer vielleicht hochadeligen Lady gegenüber, die wohl nicht umsonst gesagt: „Namen bringen uns sofort unter den ganzen Zwang der Gesellschaft zurück!“ – das Alles wußte er nicht, dachte auch gar nicht einmal daran; alle seine Gedanken liefen nur in der Vorstellung des Augenblicks zusammen, wo er ihr wieder Auge in Auge gegenüberstehen werde.


(Fortsetzung folgt.)



Das Theater und sein Einfluß aus das Volk.

Von Roderich Benedix.


Kunst und Wissenschaft werden sprichwörtlich immer zusammen genannt. Kunst und Wissenschaft sind es, welche die Völker aus dem Zustande der Barbarei in den der Civilisation überführen, sie sind das ehrendste Zeugniß für ein Culturvolk. Kunst und Wissenschaft befördert zu haben, ist das schönste Lob, das die Geschichte einem Fürsten ertheilt. Man sollte meinen, daß Kunst und Wissenschaft als die höchsten Güter der Menschheit im Volksbewußtsein anerkannt würden. Und doch ist das nicht so der Fall, wie es sein sollte.

Zunächst ist der äußere Erfolg, den Künstler und Gelehrte im Leben erringen, der möglichst geringfügige und außer allem Verhältniß mit der Bedeutung ihrer Leistungen. Die Fürsten streuen mit verschwenderischer Hand äußere Ehren, Orden und dergleichen auf Militär, Diplomatie und Adel – die Gelehrten werden damit karg, noch karger die Künstler bedacht. Für Militär und Diplomatie ist die Staatscasse ein immer offener, freigebiger Säckel, für Kunst und Wissenschaft ist sie eine geizige Stiefmutter. Der hochverdienteste Gelehrte erhält für seine Leistungen [341] ein Gehalt, das neben dem eines Generals geradezu lächerlich erscheint. Und läßt sich die Nothwendigkeit einer belohnenden Anerkennung gar nicht mehr umgehen, so wird der verdiente Gelehrte mit einem – Titel – abgefunden, während seine Einnahmen oft nicht soviel betragen, als die Rationen für die Pferde eines Generals.

Fanny Janauschek als Medea.

Doch wenn die Fürsten wenig für Künstler und Gelehrte thun, so wird das Volk desto dankbarer sein? Man sollte es denken – und doch ist es nicht so. Zwar steht der Gelehrte hoch in äußerer Achtung, man gesteht ihm einen hohen Rang in der bürgerlichen Gesellschaft zu – aber mit dem äußeren Ertrag seiner Arbeiten sieht es darum nicht besser aus. Selbst der kleinste Bierwirth kann sich ein Vermögen erwerben und die Zukunft der Seinigen sichern, der Gelehrte vermag das selten. Noch trauriger sieht es in dieser Beziehung mit dem Künstler aus. Die Zeit liegt noch gar nicht weit hinter uns, wo die bürgerliche Ehrbarkeit die Kunst für etwas Ueberflüssiges, wenn nicht gar Schädliches hielt, wo der Künstler für ein unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft gehalten wurde. Essen und trinken kann man die Kunst allerdings nicht, auch sich keinen Rock aus ihr machen lassen – und weiter gingen die Begriffe vom Nützlichen nicht. Je weniger entfernt diese Zeit von uns ist, desto mehr wirken diese alten Vorurtheile noch nach, und es giebt noch heute Menschen genug, die dieselben hegen. Kommen doch viele Leute nicht über die Begriffe von Dingen hinaus, die sich mit Händen greifen lassen. Den Nutzen eines Advocaten, eines Arztes begreifen sie, weil jener Processe führen, dieser das kalte Fieber heilen kann, allein den Nutzen der Naturwissenschaften vermögen sie nimmer einzusehen. Daß unsere [342] ganze Industrie, unser Ackerbau ohne die indirecte Beihülfe der Naturwissenschaften noch auf der untersten Stufe ständen, daß sie gar nicht im Stande wären, die jetzige Bevölkerung der Staaten zu ernähren, bleibt ihnen immer unfaßbar. Noch weniger ist ihnen der Nutzen der Kunst begreiflich. Daß der Mensch sich vorn Thiere auch dadurch unterscheidet, daß er auch andere als körperliche Bedürfnisse hat, daß er andere als sinnliche Freude erstrebt, und daß eben die Befriedigung der geistigen Bedürfnisse und das Gehobensein durch geistige Freuden den Menschen zum wahrhaft sittlichen Wesen macht, wird leider noch von viel zu Wenigen eingesehen. Wer also keinen Begriff von dem Werthe der Kunst hat, wird ganz richtig den Künstler für einen unnützen Menschen halten. Will man sich keiner Täuschung hingeben, so muß man zugestehen, daß so noch jetzt von einer großen, großen Zahl von Leuten geurtheilt wird.

In dieser Nichtachtung stehen sich übrigens nicht alle Künste gleich. Etwas höher geschätzt werden die plastischen Künste. Der Baumeister schafft allerdings Werke, die neben der Schönheit handgreiflichen Nutzen haben, der Bildhauer und Maler schafft Werke, mit denen man seine Häuser schmücken, seiner Eitelkeit Befriedigung gewähren kann, und die – zuweilen – theuer bezahlt werden – vor dem Erwerb aber hat der Philister ungemeine Achtung. Allein die andern Künste? Das Thema über die schlechte Stellung eines Dichters ist so unendlich oft besprochen worden – es mag hier unerörtert bleiben. Etwas besser steht ein Theil der Musiker. Doch nur ein Theil. Während die Orchestermusiker schlechter als die Hausknechte bezahlt werden und ihr Leben lang mit den Sorgen des Lebens kämpfen müssen, werden Componisten und Virtuosen von der sogenannten guten Gesellschaft gehätschelt, und man reißt sich um sie. Ob das wahre Kunstliebe ist, oder ob man diese Musiker liebt, weil ihre Talente sich leicht zum geselligen Vergnügen ausbeuten lassen, soll nicht weiter untersucht werden.

Am schlechtesten in der Meinung des Volks stehen aber immer noch die Schauspieler. Sonderbar! Das Theater ist für jede größere Stadt zum Bedürfniß geworden, über nichts wird so viel gesprochen, wie über das Theater, über nichts wird so viel geschrieben, – und doch ist das Vorurtheil gegen das Theater das stärkste von allen. Es ist freilich uralt, es stammt noch von den Römern her (die übrigens in Bezug auf andere Künste, die sie von griechischen Sclaven treiben ließen, nicht besser dachten), und es wird von Seiten der frommen Richtungen fort und fort genährt, die das Theater für ein Werk des Teufels halten, weil sie im Bewußtsein ihrer eigenen Sündhaftigkeit fortwährend von der Furcht vor dem Teufel geplagt werden. Man sollte nun meinen, bei der allgemeinen Theilnahme, die das Theater einflößt, müßte dieses Vorurtheil schwinden. Allein das ist nicht der Fall. Der Nutzen der Schauspielkunst, des Theaters wird nicht anerkannt. Man betrachtet es wie ein Vergnügen jeder andern Art, wie einen Ball, ein Vogelschießen. Seitens des Gesetzes steht es mit diesen Dingen auf gleicher Stufe, vielleicht noch tiefer, denn die Vertragsverhältnisse der Schauspieler werden gesetzlich nach den Normen der Dienstboten beurtheilt, seitens vieler Behörden werden die Verhältnisse des Theaters nach denselben Grundsätzen behandelt, wie die der Seiltänzer, Bärenführer, Kunstreiter, Affenkomödien u. s. w. Es ist eine alte Klage der wohlmeinendsten und tüchtigsten Männer, daß dem Theater von Seiten des Staats keine bessere Beachtung geschenkt wird. Man macht dabei immer den sittlichen Einfluß geltend, den das Theater auf das Volk ausübe. Vielleicht schlägt man dabei den directen sittlichen Einfluß zu hoch an, der indirecte aber ist jedenfalls ein sehr großer. Wenn man sich die Thatsache nicht verhehlt, daß in den letzten Jahrzehnten, wo fast jährlich neue Schauspielhäuser gebaut werden, das Theater zu einem Bedürfniß für die bloße Belustigung geworden ist (wenigstens steht es für die Mehrzahl des Publicums nicht höher), so muß man auch anerkennen, daß das Theater das schönste und reinste Vergnügen gewährt, und daß die Tausende, die jeden Abend das Schauspiel besuchen, ohne dasselbe zu Zerstreuungen ihre Zuflucht nehmen würden, die nachtheilig wirken müßten. Doch mag der sittliche Einfluß des Theaters, der schon so vielfach besprochen worden ist, dahin gestellt bleiben; es giebt noch einen andern Nutzen, den das Theater bringt, einen andern Werth, den die Schauspielkunst hat, der bisher noch wenig oder gar nicht gewürdigt worden und der von der höchsten Bedeutung ist.

Das ist der Einfluß auf die Sprache. Es sind zwei Punkte, welche in dieser Beziehung berücksichtigt werden müssen.

Nur die gesprochene Sprache ist die wirkliche Sprache, die geschriebene oder gedruckte ist nur ein Abbild derselben. Seit der ungemeinen Entwickelung des Buchdruckes, seit der, wenigstens in Deutschland, fast allgemein verbreiteten Kenntniß des Lesens und Schreibens, ist uns dieser Umstand fast aus dem Bewußtsein geschwunden. Der größte Theil alles staatlichen, gerichtlichen, gewerblichen Verkehrs wird jetzt schriftlich abgemacht, wir lernen und bilden uns mehr durch Lesen, als durch das lebendige Wort des Lehrers. So großen Vortheil auf der einen Seite die Buchdruckerkunst gebracht, so ist es doch eine Schattenseite derselben, daß sie die gesprochene Sprache, das lebendige Wort in vielen Fällen überflüssig gemacht hat. Ja, die allgemeine Fertigkeit des Lesens und Schreibens hat die lebendige Rede oft da verdrängt, wo sie unersetzlich ist, z. B. in gerichtlichen Verhandlungen. Das lebendige Wort aber, namentlich die öffentliche Rede, hat eine Bedeutung, eine Wirkung, eine Macht, die man nicht genug würdigen kann. In den letzten Jahren, wo das Volk zur lebhafteren Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten gelangt ist, hat sich die Macht der öffentlichen Rede auf das Glänzendste bewiesen. Diese Beziehung mag hier nicht weiter entwickelt, allein darauf muß aufmerksam gemacht werden, daß die Werke der Dichter eigentlich nicht zum Lesen, sondern zum Vortrag gemacht sind, daß sie wenigstens erst durch diesen ihre volle Wirkung erhalten. Ein gesprochenes Gedicht, ein vorgetragenes Drama hat eine hundertfach stärkere Wirkung, als ein gelesenes. Große Dichter gab es lange vor der Zeit, wo man allgemein lesen konnte, lange vor Erfindung der Buchdruckerkunst. Alle diese Dichter übten die große Wirkung auf das Volk durch ihre Werke, indem sie dieselben öffentlich vortrugen. Man erinnere sich an die griechischen Rhapsoden, an die Barden, die Troubadours, die Minnesänger. Während unsere Dichter den Namen Sänger nur bildlich führen, waren die Dichter der Vorzeit wirklich Sänger, indem sie ihre Werke selbst vortrugen. Die Zeit hat die Sitten und Lebensweise der Völker wesentlich geändert, der Dichter kann heute nicht zugleich Sänger in obigem Sinne sein. Die einzige Möglichkeit in unserer Zeit, die Werke der Dichter dem Volke durch das lebendige Wort zu vermitteln, ist das Theater. Während früher Sänger und Dichter eine Person war, hat sich das geändert, der Dichter bedarf des Vortragenden, um seine Worte durch das lebendige Wort in das Volk bringen zu können. Dadurch hat sich die Schauspielkunst, abgesehen von ihrer eigenen Bedeutung, als Vermittlerin zwischen dem Volke und dem Dichter herausgebildet. Wenn nun das Theater die einzige nennenswerte Gelegenheit giebt, wo man des Dichters Werke nicht blos lesen, sondern auch hören kann, so ist das Theater wiederum die einzige Anstalt, wo die öffentliche Rede als Kunst gepflegt wird, ja sie ist die einzige Schule des öffentlichen Vortrags, der lebendigen Sprache. Denn die Leistungen unserer staatlichen und gerichtlichen Oeffentlichkeit, so anerkennenswerth sie auch sein mögen, sind doch nur noch Anfänge, und der öffentliche Vortrag auf der Kanzel ist in den überwiegend meisten Fällen mehr ein Beispiel des schlechten Vortrags, als eines nachahmenswerthen. So wenig sich nun auch behaupten läßt, daß unser Theater auf der höchsten Stufe der Ausbildung stehe, so wenig die Mehrzahl der Schauspieler als Meister in der Kunst des Sprechens gelten können, so sind sie doch bis jetzt noch die einzigen, welche diese Kunst überhaupt ausüben. Muß man aber zugeben, daß die Dichtung erst durch den Vortrag zur vollen Geltung kommt, so kann man auch nicht leugnen, daß die Kunst des Vortrags von der höchsten Bedeutung für uns ist – und daß demnach schon in dieser Beziehung das Theater eine ganz andere Beachtung seitens des Staats und des Volks in Anspruch nehmen kann, als ihm bisher gewährt worden ist.

Allein nicht blos für die Geltendmachung der Dichtung hat das Theater großen Werth, sondern für die Sprache selbst.

Die Sprache ist die edelste Blüthe des Volksgeistes. Nichts charakterisirt die Verschiedenheit der Völker so stark, nichts bringt die Vorzüge und Mangel der Völker so zur klaren Anschauung, als die Sprache.

Eine Sprache ist nie ein fertiges Ganzes. Sie entwickelt sich fortwährend im Laufe der Zeiten, wird immer eine andere. In jeder Sprache machen sich bei der Entwickelung zwei Elemente geltend: das logische, welches immer mehr nach Richtigkeit und klarem [343] Ausdruck, das phonetische oder euphonische, welches nach Wohlklang strebt. In der Entwickelung der Sprachen erhält meistentheils das erste Element das Uebergewicht. Die Sprache gewinnt an Formgewandtheit und Wortreichthum, verliert dagegen an Wohlklang. sie schleift sich immer mehr ab. In unserer Sprache kann man diesen Entwickelungsgang nicht klar erkennen, wenn man nicht die neue Sprache mit der alten geradezu vergleicht, weil unsere Orthographie den eintretenden Veränderungen folgt. In Sprachen, wo das nicht der Fall ist, kann man dagegen dieses Abschleifen der Sprachen recht klar sehen. Man nehme die französische oder englische. Welch eine Menge von Buchstaben brauchen diese Sprachen zum Schreiben, die in der Rede nicht ausgesprochen werden, in der Rede, im lebendigen Worte, also in der eigentlichen, wirklichen Sprache gar nicht vorhanden sind. Diese Buchstaben sind vordem allerdings alle mehr oder weniger wirklich ausgesprochen worden. Im Laufe der Zeiten hat aber die sich stets verändernde Aussprache sie weggelassen, während die Orthographie sie beibehalten hat. Die Sprachen schleifen sich also fortwährend ab, wobei sie natürlich an Wohlklang immer mehr verlieren, wovon namentlich die englische ein schlagendes Beispiel giebt.

Auch unsere Muttersprache ist diesen Wandlungen unterlegen. Auch sie hat sich abgeschliffen und an Wohlklang verloren. Beobachtet man die große Masse der schlechtbetonten Endungen unserer Wörter auf e, en, er, el u. s. w., so wird man das leicht erkennen. Allein jede Sprache erreicht einmal einen Höhepunkt der Ausbildung, gewissermaßen eine Blüthe. Das ist die Zeit der classischen Dichtung jedes Volkes. Vergleicht man das Deutsch, wie es vor 150 Jahren geschrieben wurde, mit dem Deutsch eines Lessing, Schiller, Goethe, so wird man den gewaltigen Unterschied sehen, man wird erkennen, zu welcher Höhe der Bildung diese Männer und andere neben ihnen unsere herrliche Muttersprache gebracht haben. Sie auf dieser Höhe möglichst zu erhalten, ist gewiß eine Aufgabe, welche das ganze Volk auf das Wesentlichste angeht. Allein wie wird diese Aufgabe gelöst? Vor der Hand nur durch das Theater. Die Nachlässigkeit der Umgangssprache ist es, die das Abschleifen, das immer Tonloserwerden der Sprache an sich herbeiführt. Dieser Nachlässigkeit kann nur durch einen mit Bewußtsein geübten, durch einen künstlerisch geschulten Vortrag ein Halt geboten, ein Damm entgegen gesetzt werden. Diesen künstlerischen Vortrag, die Berücksichtigung der Schönheit der Sprache, finden wir aber bis jetzt nur im Theater, in der Schauspielkunst. Sie also ist es, welche das fortschreitende Verderben der Sprache, wenn nicht ganz verhindert, doch wenigstens aufhält, verzögert. So lange Schiller, Lessing, Goethe noch auf unseren Bühnen Platz finden, muß auch die Sprache in der Ausbildung gesprochen werden, die sie ihr verliehen haben.

Wer möchte leugnen, daß in dieser Beziehung das Theater vom höchsten Werthe für das ganze Volk ist?

Für unsere Verhältnisse kommt noch ein anderer Umstand dazu. Jede Sprache zerfällt in verschiedene Mundarten, unsere in unzählige. Bei allen Völkern hat sich eine der verschiedenen Mundarten besonders ausgebildet und ist dadurch zur Schriftsprache geworden. So die atheniensische bei den Griechen, die toscanische bei den Italienern, so die Mundarten von Paris und London für die Franzosen und Engländer.

Anders bei uns. Unser Hochdeutsch ist keine Mundart, die von irgend einem Volksstamme wirklich gesprochen wird. Obwohl in der meißnischen Mundart wurzelnd, hat es sich von der Zeit an, als diese zur allgemeinen Schriftsprache erhoben wurde, weit mehr durch Schreiben als durch Sprechen, weit mehr durch die Feder der Schriftsteller, als durch den Mund des Volkes ausgebildet.

Ob dies ein Vorzug oder ein Nachtheil ist, mag dahingestellt sein, Thatsache ist es, daß unsere Schriftsprache, wie sie uns gedruckt vorliegt, von keinem Volksstamme gesprochen wird. Allerdings sprechen die sogenannten Gebildeten in den meisten Gegenden hochdeutsch. Allein abgesehen davon, daß die Gebildeten nicht das Volk sind, so finden sich auch bei ihnen überall mundartische Anklänge. Eine Sprache aber, die nicht gesprochen wird, ist eine todte. Sollen wir das von unserer Sprache sagen, in der noch immer das volle Leben der Entwickelung und Bildung pulsirt? Nein, sie ist noch lebendig, aber – nur auf dem Theater. Das Theater ist der einzige Ort, wo Hochdeutsch überall, von den Alpen bis zur Nord- und Ostsee, vom Rheine bis zur Oder, gesprochen wird. Und so ist das Theater die Bewahrerin des Lebens unserer Schriftsprache und – die einzige Schule für die Aussprache derselben. – –

Wie weit das heutige Theater diese würdigen Aufgaben alle wirklich löst, mag hier unerörtert bleiben. Diejenigen aber, die ein Recht zu haben meinen, darüber zu grollen, daß das Theater seinen Aufgaben nicht gewachsen sei, mögen dazu beitragen, daß die Gesichtspunkte sich ändern, daß seitens des Staates und des Volkes das Theater nicht als eine bloße Vergnügungsanstalt betrachtet, sondern daß seine Bedeutung und der Werth, den es theils hat, theils haben könnte, immer mehr anerkannt und gewürdigt werde.

So fern es der Gartenlaube auch liegt, sogenannte Theaterberichte zu bringen, so wird sie doch die Schauspielkunst in den Beziehungen, die sie wirklich zum Entwickelungsgange des deutschen Lebens theils hat, theils haben sollte, nicht von den Gegenständen ausschließen, die in ihren Spalten einen Platz finden. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, verdienen auch die hervorragenden Künstler in dem besprochenen Fache die Aufmerksamkeit derselben, und so bringt sie das Bild einer bewährten Künstlerin. Fanny Janauschek, im Anfang der dreißiger Jahre in Prag geboren, ist in ihrem Fache eine der bedeutendsten Künstlerinnen. Namentlich versteht sie es, die tragischen, hochpoetischen Gestalten unserer Dichter zur kräftigsten, lebensvollsten Anschauung zu bringen. Sie hat ihre volle Ausbildung an dem Theater zu Frankfurt a. M. vollendet, gehört jetzt dem Hoftheater zu Dresden als Mitglied an und hat sich in den letzten Jahren durch zahlreiche Gastspielreisen einen wohlverdienten Ruhm erworben. In Rollen wie Maria Stuart, Orsina, Eboli, Milford, Elisabeth, Phädra, Medea u. a. m. mag sie gegenwärtig wohl den ersten Rang unter den deutschen Künstlerinnen einnehmen.




Eine deutsche Bitte für das arme Volk der Esthen.

Von Friedr. Hofmann.
(Schluß.


Trotz ihrer für den eigenen Erwerb so fest gebundenen Hände wälzte man den Esthen noch eine Last um die andere auf. Eine sehr schwere ist die Fouragelieferung für die Postpferde, zu der ausschließlich die Bauern verpflichtet sind. Sie beträgt an Geldwerth mehr als die Kopfsteuer, im Durchschnitt gegen 134,000 R. S., und sie kommt ausschließlich den Edelleuten zu Gute, die außerdem nur die Hälfte des gesetzlichen Postgeldes zu zahlen haben und in den schlimmen Jahreszeiten die Post am häufigsten benutzen, um ihre eigenen Pferde zu schonen.

Der schwerste Hemmschuh für das Vorwärtskommen der Bauern ist aber, neben der Hauszucht, der Hülfs-Gehorch. Er verpflichtet den Pächter, mit seinem gesammten Gesinde gerade zur Heu- und Erntezeit zuerst und einzig des Herrn Arbeit zu verrichten: er darf nicht zugleich dem Herrn und seinem eigenen Vortheil dienen, sondern er muß das Seine auf Feldern und Wiesen zu Grunde gehen lassen, wenn die Witterung nicht so gnädig ist, nach dem Hülfs-Gehorch auch ihm noch einige gute Feldarbeitstage zu schenken. Durch diesen unmenschlichen Zwang geht Jahr um Jahr dem Bauern ein Theil, ja oft der größte Theil seiner Ernte verloren.

So hatten denn die esthnischen Herren in allen ihren Forderungen an die Bauern nicht nur die Grenzen des Menschenmöglichen erreicht, sondern sie waren weit darüber hinaus gekommen. Der Bauer konnte nicht leisten, was von ihm herausgezwungen werden sollte, und deshalb fiel es dem Adel nicht hart, freiwillig von seinen Rechten den Pächtern Manches nachzulassen, und das waren dann die Opfer und Gnaden, auf die sich derselbe in seinen öffentlichen Aeußerungen, namentlich der Regierung gegenüber, so viel zu Gute that.

[344] Es ist Pflicht, hier auch der Wahrheit die Ehre zu geben, daß in Esthland einige edeldenkende Adelige leben, die ihren Bauern Etwas gönnen und unter deren Obhut einzelne Pächterfamilien zu wirklichem Wohlstand gelangt sind. Die Namen dieser wirklich Edlen kennt man im ganzen Lande, und kein Esthenmund spricht sie aus, ohne sie mit Segensworten zu begleiten. Trotz alledem ist dies nur Gnade, die beliebig gewährt wird, kein Recht, auf das der Pächter für seine und der Seinen Zukunft bauen könnte.

Von diesen wenigen humanen Edelleuten ging der Anstoß zu der neuesten Bauern-Verordnung von 1856 aus, die im Jahre 1858 die kaiserliche Genehmigung erhielt und publicirt wurde. Die Vorbereitungen dazu hatten schon 1842 begonnen. Das Drängen der Regierung im Jahre 1848 brachte größere Eile in die Berathungen; sie hatte abermals den esthnischen Adel auf die weit besseren bäuerlichen Verhältnisse in Livland hingewiesen. Das neue Verfassungswerk der Ritterschafts-Landtage charakterisirt sich jedoch wiederum dadurch, „daß, wenn ein Gesetz-Artikel dem Bauer ein Recht einräumt, gewiß zwei Artikel da sind, um dasselbe möglichst zu beschränken.“ – War das Mißtrauen der Bauern gegen das neue Adelsgeschenk in vielen Kirchspielen schon dadurch erweckt, daß der kaiserl. Bestätigungs-Ukas der neuen Ordnung nicht, wie gewöhnlich, drei, sondern nur ein Mal in den Kirchen verlesen wurde, so ward es gerechtfertigt, als viele Edelleute sich plötzlich auf einige Gesetzesparagraphen stützten, nach welchen die Bauern die Frohne und die Abgaben nach den alten Abmachungen noch zehn Jahre lang zu leisten hätten. Die Bauern steiften sich aber auf den einfachen Schluß: „daß der Kaiser unmöglich ein Gesetz im Jahre 1858 gebe, wenn es erst 1868 in Kraft treten solle,“ – sie machten von ihrem Rechte der Vorstellungen bei ihren Pachtherren und der Klagen bei Gemeinde- und Hakenrichtern Gebrauch, und diese machten dagegen Gebrauch von ihrem Rechte, den Bauern 40 und 80 Stockstreiche dafür aufzählen zu lassen, – und so trieb man endlich durch empörende Mißhandlungen das Volk zu offenen Widersetzlichkeiten gegen die Herren. Anstatt nun diese zum Theil blutigen Vorfälle durch eine kaiserliche Commission als einen Streit zwischen Pächtern und Verpächtern behandeln zu lassen, erklärte der Adel sie als Aufstand gegen die Regierung, ein Kriegsgericht, in welchem auch esthländische Edelleute, also hier Beklagte und Richter zugleich, saßen, verhängte entsetzliche Strafen, das Militär stand jedem adeligen Gutsbesitzer zu Gebote, und es wurden nun an den Pächtern jene Scheußlichkeiten verübt, von denen wir im Eingang dieses Artikels unseren Lesern einige Muster mitgetheilt haben.

Im September 1858 beschloß der Adel auf einem außerordentlichen Landtage, den Bauern in Nichts nachzugeben; Soldaten und Kosaken gewährten ihm hinlängliche Sicherheit für solche Beschlüsse. Im Januar 1859 erschienen Ergänzungen zu der Bauern-Verordnung von 1858; eine Regulirungs-Commission, welche prüfen sollte, „ob das im Besitz der Bauern befindliche Land an Aeckern, Wiesen und Weiden den für dasselbe zu prästirenden Leistungen entspräche,“ wurde im Januar 1859 wieder aufgehoben, wie der Ritterschafts-Hauptmann am 19. Januar 1860 erklärte, „wegen der bedeutenden Ersparnisse vergeblichen Aufwands“.

Wir haben bis hieher nur die Beziehungen des Esthen zu seinem Herrn betrachtet. Treten wir einen Schritt näher, um zu sehen, wie viel seine Arbeit ihm und den Seinen für das Leben abwirft. Wir wiederholen, daß einzelne Herren ihren Bauern ein erträglicheres Loos bereiteten, ja daß sogar einzelne Pächterfamilien zu einigem Wohlstand kommen konnten; das sind indeß Ausnahmen. Unser Bild vom Leben der Esthen soll sich an die Regel halten.

Nahrung, Wohnung, Kleidung, Unterricht der Esthen geben vereint ihren Herren das schlimmste Zeugniß. Die materielle Noth in diesem Volke ist unglaublich. Es muß ein glücklicher Mann sein, der für den kärglichsten Hausbedarf von einer Ernte bis zur andern ausreicht; nur bei Wenigen reicht sie bis Weihnachten, bei sehr Vielen wird sie zum größten Theil von den Abgaben und dem, was er an das Gemeindemagazin, an Krüger und Müller an Erborgtem zurückzuerstatten hat, aufgezehrt. Um das armseligste Leben zu fristen, muß er wieder borgen, bisweilen, trotz der schweren drohenden Strafen, etwas nur irgend Entbehrliches von seinen Erzeugnissen verkaufen, oder – stehlen. Er entwendet entweder Getreide, meist beim Frohndreschen, oder Holz (denn der Wald ist nur Herrengut), um sich Mehl zu verschaffen. Und so hart und schwer ihm das Erringen seines Stückchen Brodes gemacht wird, so hart und schwer ist es selbst. Es enthält so wenig Mehl und so viel Spreu (Kaff, daher es auch Kaffbrod genannt wird), daß es zerbröckelt und wie Torf aussieht und brennt. Kein Stadthund frißt einen solchen Bissen. Im Frühjahr wird aber sogar dieses Brod eine Seltenheit. Gesetzlich darf der Bauer im Februar aus dem Gemeindemagazin (das überall unter der Aufsicht der Herren von den Pächtern erhalten werden muß) gegen 6 Procent borgen, erhält aber nie so viel Mehl, als zum Brodbacken nöthig wäre; nur einen Mehltrank kann er sich bereiten, eine dünne Brühe (esthnisch Körti) aus heißem Wasser, in welches eine Handvoll Roggenmehl und ein wenig Salz eingerührt ist; Viele sammeln dann die vom letzten Herbst her in der Erde zurückgebliebenen und nun halbverfaulten Kartoffeln, als Zugabe zum Körti! Das ist des Bauern eigene tägliche Nahrung bei seiner schweren Arbeit. Den Knechten und Mägden, welche zum „Gehorch“ gehen, muß der Pächter Brod (Kaffbrod) verschaffen, und dazu erhalten sie als Zukost eine kleine Holzkapsel voll harter, gesalzener Strömlinge, oder gar Salz, höchst selten ein wenig Butter, Fleisch fast nie, und einen kleinen Anker von ungefähr 3 – 4 Quart saurer Milch, die sie vom Montag bis Sonnabend so lange mit Wasser vermischen, daß endlich eine abscheuliche Flüssigkeit daraus entsteht. So hat der arme Esthe sein Leben lang mit dem Hunger zu kämpfen.

Seinem Vieh geht es nicht besser. Da die Adeligen alle guten Wiesen und Felder für sich behalten oder den Bauern abgenommen haben, so ist sein Viehstand nur klein und wird mit Hülfe kärglicher Weide und schlechter Wiesen in jämmerlichem Zustand forterhalten. Ist sein Bischen Heu und Stroh aufgezehrt oder hat er aus Noth des eigenen Hungers wohl gar heimlich davon verkaufen müssen, dann bleibt ihm im Frühjahr nichts übrig, als das halbverfaulte Stroh von den Dächern der Gebäude zu füttern.

Dies Alles geschieht in gewöhnlichen Erntejahren; tritt aber ein Mißjahr ein, dann wäre es freilich für den Esthen am besten, die Natur hätte seine Verdauungswerkzeuge für „Stroh, Wasser und Salz“ eingerichtet.

Der Nahrung entsprechend sind die Wohnungen der Bauern. Es sind elende Hütten ohne Schornsteine; der Rauch hat seinen Ausgang durch die Thür zu suchen, wenn das Dach noch für ihn undurchdringlich sein sollte. Nur die Pächterhäuser der humanen adeligen Gutsbesitzer zeichnen sich auch durch Schornsteine aus. Die innere Einrichtung ist so, daß Nichts verdorben wird, wenn in kalten Wintern Kälber, Lämmer, Ferkel und Hühner sich in der Wohnstube der Familie einquartieren. Diese Wohnstube ist bei den meisten Esthen eine kleine rauchige Korndarre, und in dieser essen, wohnen und schlafen Herr und Frau, Kinder, Knechte und Mägde nebst allem Kleinvieh! Welches Elend, wenn in einem solchen Raume eine Krankheit ausbricht! – Das Licht dringt durch ein kaum 1 – 2 Quadratfuß großes Fenster in das Innere; bei Nacht erleuchtet es ein Holzspan, den in holzarmen Gegenden die Meisten – auf Gefahr von 80 Stockschlägen – stehlen müssen; und doch sind die Pächterfrauen verpflichtet, in den langen Herbst- und Winterabenden der Edelfrau so und so viel Pfund Flachsgarn zu spinnen und unentgeltlich, als „Gerechtigkeit“, in’s Schloß zu liefern. Dazu muß die Frau da, wo es keine Schulen giebt, zugleich ihre Kinder selbst im Lesen und im Katechismus unterrichten. Ueber das Schulwesen weiter unten.

Der Nahrung und Wohnung entsprechend ist die Kleidung der Esthen. Sie ist bei sehr Vielen mehr als dürftig, der Strenge des Klima angemessen nur bei Wenigen. Wie viel leiden diese Armen in den nordischen Wintern! Während die adeligen Herrschaften, in Schuppen- und Fuchspelze gehüllt, in festen, verdeckten Schlitten zwischen Kissen und Pelzdecke sitzend, von raschen, wohlgenährten Rossen gezogen, nach Reval zu ihren geselligen Herrlichkeiten eilen, muß „der faule dumme Esthe“ (denn das ist die einzige cavaliermäßige Bezeichnung für denselben von Seiten der Herren) neben einem schwer beladenen Schlitten oft in tiefem Schnee sich fortschleppen, meist viele Meilen weit, um der luststrahlenden Herrschaft Proviant nachzufahren; bei dem grimmigsten Froste muß er mit seinem jämmerlichen Pferde, in luftigster Kleidung, weite Reisen machen, um des Herrn Producte zu verführen. Wie oft sieht man diese Armen in den schwach erwärmten Krugstuben an den Landstraßen zur Winterszeit ihr festgefrorenes Kaffbrod kauen! Es ist ihnen nicht möglich, dazu ein Maß schlechten Krugbiers zu erstehen [345] sie müssen den Fusel als ihr höchstes Labsal preisen, und wer will den Stein auf sie werfen dafür, daß sie das thun? – Das ist der Esthen Erdenloos! – Das sind die Früchte von dem freien Walten des Adels über ein ganzes Volk, ein Volk, das, wie uns die überaus schöne, tiefe und sinnige Volkspoesie der Esthen lehrt, von der Natur einst reich begabt war und das vielleicht noch jetzt zu einer edlen Blüthe am Baume der Menschheit erzogen werden könnte, wenn es nicht unter solchen Händen verkümmern müßte! –

Es charakterisirt diesen Adel am schärfsten, wenn wir hören, wie er selbst sein Verhalten zu den Bauern in öffentlichen Schriften der kaiserlichen Regierung und der Welt gegenüber darstellt. In einem Commissionsbericht von 1848 heißt es wörtlich: „Die esthländische Ritterschaft hat längst schon die ihr im Staate angewiesene Stellung begriffen etc., die ihr auch gleichzeitig die Pflicht auferlegt, für das Wohl und die zeitgemäße Entwickelung des ihr verpflichteten (!) Bauernstandes Sorge zu tragen. Unsere Corporation, die bereits vor sechs Jahrhunderten das Christenthum, deutsches Recht und Sitte in dieses Land trug (!!) etc., entwarf das bis jetzt gültige Bauern-Gesetzbuch, durch welches der esthländische Bauer, nebst den Rechten der persönlichen Freiheit, denjenigen Rechtsschutz empfing, der ihm jene heiligen Privatrechte gewährleistete, die die Grundlage aller Wohlfahrt für jeden Staatsbürger sind – etc. Die Landtagsbeschlüsse des Jahres 1847 werden noch den späteren Generationen von den edlen Gesinnungen der esthländischen Ritterschaft Zeugniß ablegen (!!) etc. etc.; gleichzeitig setzte die Ritterschaft den bestehenden Frohnsatz um 26 p. Ct. herab, um hierdurch den Wohlstand der Bauern auf das Wirksamste zu fördern; sie scheute sich nicht, dieses große Opfer zu beschließen, um etc. durch Ablösung der Frohne der Intelligenz und dem Wohlstande der Bauern einen mächtigen und nachhaltigen Aufschwung zu geben“ etc. etc. – dieses Bauernstandes, der (es liegt wirklich so gedruckt vor mir) „durch ein von den Gutsbesitzern gegründetes Bauernschulwesen an Intelligenz gewonnen und durch die gewissenhafte Handhabung der Gesetze durch die Landesbehörden – die Ueberzeugung eines allseitigen Rechtsschutzes für sein Personal- und Eigenthumsrecht erlangt hat“ etc. etc. (!!) – „Allseitiger Rechtsschutz!“ – Wir haben oben gesehen, wie es damit in Esthland steht. Selbst die wohlwollendsten kaiserlichen General-Gouverneure der Ostseeproviuzen können, so lange die gegenwärtigen Verhältnisse zwischen Adel und Volk dauern, dem esthnischen Bauer nicht zu seinem Rechte helfen. Denn wenn auch der Bedrängte durch keine Drohungen und Prügel sich von seiner Klage abhalten läßt, wenn er auch wirklich von seinem adeligen Gutsherrn den nöthigen Reisepaß erlangt, und wenn er die Mittel erschwingt, um bis nach Riga zu kommen, ja, wenn er sogar vor dem General-Gouverneur seine Sache in der rechten Weise vorzubringen vermag, und wenn es diesem in der rechten Weise gedolmetscht wird: so ist doch die kaiserliche Oberbehörde wieder genöthigt, von der esthländischen Behörde Auskunft zu fordern, und glaubt man wirklich, daß je ein esthländischer Adeliger gegen einen Mann seines Standes zu Gunsten eines Bauern berichten wird? Wo ist da des Esthen „allseitiger“ Rechtsschutz?

Und das „von den Gutsbesitzern gegründete Bauernschulwesen“ – wo sind seine Früchte? – Die Gemeinden, so befiehlt die gerühmte Bauern-Verordnung von 1856, sollten auf ihre, auf der armen Bauern, nicht auf des Adels Kosten, Schulen gründen; die Ritterschaft machte sich nur verbindlich, „zur Heranbildung tüchtiger Lehrer auf ihre Kosten zwei Schullehrer-Seminarien zu errichten“. Unser Gewährsmann sagt über den gegenwärtigen Stand dieser wichtigen Angelegenheit: „In ganz Esthland sind nicht, wie es sein sollte, 1000 Bauernschulen, sondern nur der fünfte Theil davon ist vorhanden. Es giebt hier nicht nur ganze Kirchspiele ohne Schulen, sondern einen ganzen District (Polizei-Verwaltungs-Bezirk unter einem Hakenrichter) von 6 Kirchspielen, mit 39 Gütern und gegen 23,000 Seelen, wo noch gar keine Schule ist. Drei Distriete, zusammen 10 Kirchspiele mit 125 Gütern und mehr als 70,000 Seelen, haben nur 13 Schulen mit kaum 300 Schulkindern.“ Das möge genügen, um die Berechtigung des Adels auf den Stolz der von ihm geförderten Intelligenz der Esthen zu ermessen. Wie noch weit erbärmlicher stände es mit dem ersten Unterricht der armen Kinder, wenn die Mütter nicht wären in der rauchigen Hütte beim Lichte des gestohlenen Holzspans, die nicht blos die ersten und oft einzigen Lehrer ihrer Familie sind, sondern zugleich die Bewahrer der alten Geistesschätze des Esthenvolkes an jenen herrlichen Liedern, Sagen und Räthseln, mit denen sie im tiefsten Elend die Herzen der Kinder noch zu erfreuen und zu veredeln wissen.

Der Artikel muß geschlossen werden, wie reicher Stoff zu seinem weiteren Ausspinnen, zur unwiderleglichen Begründung der großen Schuld des Adels am Esthenvolke auch noch vorliegt. Wem das hier Gegebene nicht genügt, den verweisen wir auf das oben genannte Buch, dessen Inhalt, wir wiederholen es, nicht auf Hörensagen und einseitigen Berichten, sondern auf eigener Anschauung, auf Actenstücken und Thatsachen beruht.

Vor Allem ist aber Das zu wünschen: daß dieses Buch und dieses Blatt auf dem Arbeits- und auf dem Nachttische des Monarchen liegen möge, der über Esthland sein Scepter ausstreckt. Von wem auf dieser Welt soll dem Esthenvolke die Rettung aus seinem Elend kommen, wenn nicht von der Majestät des Herzens, durch welche sein Kaiser glänzt? In seine Hand hat er das Werk genommen, an das in Rußland seit Jahrhunderten sich nie die mächtigste Hand gewagt: das Glück seiner Völker zu begründen auf die gesetzliche Befreiung derselben. Möge ihm dazu die genaueste Erkenntniß der Verhältnisse seiner Völker die rechten Wege zeigen! Möge die Leuchte auf seinem Pfad stets die Wahrheit sein, wie wir sie ihm heute in diesen Worten und Hinweisungen bieten! Wem ist mehr als ihm das unvergleichliche Heil zu wünschen, daß sein Streben zu dem Ziele führe: als ein wahrer, aber auch als ein glücklicher Vater aller seiner Völker gesegnet zu werden!




Ein Parvenu.


Als einen solchen bezeichnen wir Heinrich Karl Schimmelmann, eine ihrer Zeit in ganz Europa bekannte Persönlichkeit, den Stifter einer neuen gräflichen Dynastie. Schimmelmann’s Name, sein Wirken und sein fast fabelhaftes Emporsteigen werden in der Geschichte fortleben, wenn auch die Periode längst vorüber ist, in welcher er in dem Gemälde der wichtigsten Begebenheiten unseres Erdtheils seine hervorragende Stelle einnahm.

Zur Schilderung des Glückes, welches den Grafen Schimmelmann vom Beginn seiner letzten Lebenshälfte an nicht nur keinen Augenblick verließ, vielmehr sich ununterbrochen steigerte, möge folgende biographische Skizze dienen, die ein Zeitgenosse desselben entworfen, aber nie dem Druck übergeben hat.

Schimmelmann stammte von einer unbemittelten Familie zu Demmin in Pommern und ward daselbst 1724 geboren. Noch ehe er das Mannesalter erreicht hatte, kam er als Hutmacher nach Hamburg. Ausgestattet mit einem unternehmenden Geiste, befaßte er sich bald mit ausgedehnten Handelsgeschäften. Als aber deren gänzliches Mißlingen ihn zum Concurs brachte, begab er sich nach Berlin. Um diese Zeit brach der dritte schlesische Krieg aus. Es gelang Schimmelmann, Lieferant bei der ausrückenden Armee zu werden,[1] ein Amt, zu dessen Verwaltung er vollkommen befähigt war. Bei seiner rastlosen Thätigkeit und mit seinem hellen Kopfe wußte er das Geschäft so trefflich zu leiten, daß die Armee stets zufrieden sein konnte und dennoch schon in den ersten Jahren des Krieges sich große Summen in seinem eigenen Säckel anstaueten.

[346] Die Gelegenheit zu einer außerordentlichen Vermehrung derselben ließ nicht lange auf sich warten.

Friedrich II., im Besitz von Sachsen und dieses gesegnete Land auf alle Weise aussaugend, hatte u. A. auch laut werden lassen, daß die Porcellanfabrik in Meißen mit allen Vorräthen, Utensilien und den Niederlagen in Dresden und Leipzig verkauft werden solle. Kaum erfuhr Schimmelmann diesen Beschluß, als er ungesäumt zum König eilte mit dem Anerbieten: Er wolle das ganze Geschäft übernehmen, auf die von Sr. Majestät bestimmte Kaufsumme einen großen Theil derselben à conto sofort auszahlen, dann mit den gesammten Gegenständen auf der Elbe sich einschiffen, über Havelberg nach Berlin fahren und daselbst eine Porcellanfabrik für Sr. Majestät Rechnung anlegen. Die vier Arcanisten wie die meisten der Fabrikarbeiter würden, da sie doch außer Brod kämen, dem neuen Wirkungskreise gewiß gern folgen.

Für Friedrich II. hatte diese Perspective ausnehmenden Reiz; er ging den Vorschlag ein. Schimmelmann brachte ihm all sein vorräthiges Geld, hatte jedoch auch an den reichen Kaufmann St…n in Hamburg geschrieben (dem er am meisten verschuldet war): „Wenn Sie mir umgehend noch 20,000 Mark Banco anvertrauen, kann ich ein so eminentes Geschäft abschließen, daß Sie die alte und neue Schuld nebst einem ansehnlichen Disconto binnen wenigen Monaten erhalten sollen.“

St…n entsprach dem Wunsche, und Friedrich II. trauete dem gegebenen Versprechen seines Käufers, der nun keine Zeit verlor, die kostbaren Waaren auf einer Menge großer Elbkähne zu verladen. Außer den Porcellan-Schätzen nahm er auch viele Statuen vom Brühl’schen Garten mit, die noch bis zu unseren Tagen hinter dem Wandsbecker Schlosse standen. Als er jedoch mit seiner Porcellanflotille bei Havelberg ankam, ließ er dieses sammt der Einfahrt nach Berlin rechts liegen und hielt für gerathener, nach der freien Reichsstadt Hainburg zu schwimmen. Bald nach seiner Ankunft bezahlte er alle seine Schulden, kaufte den Flecken Wandsbeck, bauete in Hamburg das sogen. Schimmelmannsche Palais in der Mühlenstraße und ein großes Haus auf dem Valentins Camp. Schon damals galt er, ohne Uebertreibung, für einen Millionär.

Friedrich II. war außer sich über den ihm gespielten Streich und ging so weit, die K. K. Maria Theresia in einem confidentiellen Schreiben zu bitten, den wortbrüchigen Schimmelmann ausliefern zu lassen; da jedoch diese den Verlust Schlesiens noch nicht verschmerzt hatte, so nahm sie von der Sache keine Notiz, wodurch, wenigstens vor der Hand, des Bedroheten Aufenthalt gesichert war. Da las man kurz nachher in den Berliner Zeitungen folgende Bekanntmachung: „Der Kaufmann Schimmelmann habe, wegen der Kriegsunruhen, sich nach Hamburg gewendet, werde aber nach dem bald zu hoffenden Frieden eine Porcellanfabrik in Berlin anlegen, und suche schon jetzt paßliche Räume zu den Gebäuden.“ Das beschwichtigte den aufgebrachten König für den Augenblick; indeß hatte er bald genug die Erfahrung zu machen, daß zu seinen verlorenen Schlachten auch das Scharmützel mit seinem ehemaligen Lieferanten zu rechnen sei; denn urplötzlich hatte derselbe einen Alliirten gefunden, dessen Aegide ihn gegen alle ferneren Verfolgungen sicherte.

Dänemarks Monarch, Friedrich V., suchte eine Anleihe von einer Million. Kaum war dies in Hamburg bekannt geworden, als Schimmelmann dem Könige meldete: „Wenn Se. Majestät ihm, nächst einem billigen Zins, das Indigenat in Dänemark und dessen deutschen Herzogthümern, sowie das Diplom als dänischer Reichs-Freiherr bewilligen würde, sei er erbötig, die Anleihe aus eigenen Mitteln zu machen.“ Alles ward ihm gewährt, und nun nahm er sein Hauptdomicil zu Kopenhagen in einem prächtigen Palais. Im Jahre 1762 wurde er Freiherr, bald darauf Finanzminister, Geheimerath, Schatzmeister, 1779 in den Grafenstand erhoben; dabei Besitzer von Wandsbeck, auf das er große Summen verwendete, namentlich für zahlreiche Bauten (darunter das Schloß), für prächtige Gartenanlagen, ausgedehnte Pflanzungen, Fabriken etc. etc., wie er denn überhaupt diesen Ort mit besonderer Vorliebe unausgesetzt gepflegt hat; ferner Besitzer des adeligen Gutes Ahrensburg (von mehr als 6000 Tonnen Landes), der Herrschaft Lindenborg, der Gewehrfabrik in Helsingör, ansehnlicher Pflanzungen auf den dänisch-westindischen Inseln und des erwähnten kostbaren Palais in der Residenz, ungerechnet große Capitalien, die er gleich nach dem Tode des Papstes Clemens XIV. noch um eine Tonne Goldes vermehrte. Letzteres geschah durch eine kaufmännische Speculation, an welche tausend Andere in der katholischen Christenheit eben so gut und noch eher hätten denken können, als ein im fernen Norden lebender evangelischer Staatsminister. Jener Papst war der edle Ganganelli, welcher bekanntlich, nach langem Zögern, 1773 die Aufhebung des Jesuiten-Ordens proclamirt und dabei ausgerufen hatte: „hiermit unterzeichne ich mein Todesurtheil.“ Die böse Ahnung ward bald zur Wahrheit. Ganganelli’s Kräfte schwanden von dieser Zeit an, und nach längeren schweren Leiden verschied er 1774. Schimmelmann, von Allem unterrichtet, basirte darauf bei Zeiten den Ankauf sämmtlicher Vorräthe weißen und gelben Wachses, was ihm mit seinem großen Vermögen und seinen ausgedehnten Verbindungen in und außer Europa leicht gelang. Bequem konnte er nun dem Zeitpunkt entgegen sehen, wo Milliarden Wachslichter geliefert werden mußten. Damals erforderte die Leichenfeier eines Papstes in der ganzen katholischen Welt zahllose castra doloris, welche mindestens sechs Wochen lang mit brennenden Kerzen umstellt wurden. Der damals fast alleinige Besitzer des unentbehrlichen Wachses wucherte keineswegs damit; er begnügte sich mit einem mäßigen Vortheile; dennoch stieg derselbe, wegen der Menge des Absatzes, zu einer enormen Summe.

Nicht immer ist die zu schnelle Glücksperiode hochstehender Staatsmänner von Dauer; Schimmelmann’s vorsichtiges Benehmen bewahrte ihn vor all’ und jeder höfischen Intrigue, führte selbst eine höchst gefährliche Epoche der dänischen Monarchie (Struensee!) ohne irgend eine Anfechtung an ihm vorüber, und immer blieb er in gleichem außerordentlichem Ansehen.

Diesen Höhepunkt sublunarischen Glückes hatte der Mann erreicht, der 1755 noch in sehr beschränkten Umständen zu Berlin sich aufgehalten; er hatte ihn erreicht durch seinen unternehmenden Geist und seine unermüdliche Thätigkeit. Beide Eigenschaften veredelten sich mit seinen Standeserhebungen und blieben ihm treu bis zur Urne. Trachtete er auch seine Reichthümer zu vermehren, so verwendete er diese doch unausgesetzt zum allgemeinen Besten: Fabriken, Handlung und Ackerbau zu befördern, Menschen nützlich zu beschäftigen, dazu war er mit seinen Schätzen immer bereit, weshalb sein frühes Dahinscheiden eine große, fast unersetzliche Lücke zur Folge hatte. Daß er bei den bedeutenden Staats- und Privatgeschäften den Kaufmann nie vergaß, bewies die eben erwähnte Speculation bei des Papstes Tode. Schimmelmann überlebte diesen Papst nicht einmal ein Decennium; erst 58 Jahre alt starb er 1782. Man schätzte seinen Nachlaß auf 8 Millionen Speciesthaler. Mit einem solchen Vermögen pflegt sich der glückliche Besitzer über die Kritik der Zeitgenossen, wegen etwaiger Unregelmäßigkeit in der Erwerbsweise solchen Reichthums, zu erheben. Von allgemeinem Interesse bleibt aber immer die folgende Mittheilung. Der plötzliche Reichthum Schimmelmann’s wurde zwar fast allgemein auf Rechnung des Porcellans geschoben, doch ging auch das Gerede: es seien in der Meißner Fabrik bedeutende Schätze an Gold und Juwelen verwahrt worden, und diese hätten den Werth der Porcellanvorräthe bei weitem überstiegen etc. Wenn man die damalige Lage Sachsens in Betrachtung zieht, so verstößt jenes Gerede wenigstens nicht gegen die Wahrscheinlichkeit.

Die Festung Königstein war nämlich von jeher vor Allem die sicherste Stelle im Lande für die ersten Kostbarkeiten der Residenz, und in jedem Kriege wurden die Archive, die Bildergallerie, die Schätze des grünen Gewölbes und des regierenden Hauses dahin abgeführt. Friedrich’s ungeahnter Einfall hatte jedoch damals die königliche Familie so überrascht, daß, der Sage nach, von deren Privatschätzen ein großer Theil nach Meißen gesendet worden, um sie in der Porcellanfabrik zu verbergen, und wie? – – in den hohlen Untersätzen kolossaler Urnen, die allerdings Raum genug darboten, um einige Millionen dem Auge zu entziehen. Diese unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit vollführte Sache sollte gleichwohl Schimmelmann zugeflüstert und aus der Stelle von ihm benutzt worden sein, durch sehr splendide Gratiale an die vertrauten Mitwisser. Ueberdies war er ja der Käufer aller Gegenstände in der Fabrik, die nicht zu den „niet-, wand-, band- und nagelfesten“ gehörten. Erwiesen ist jedoch dieser Umstand nicht, aber er führt zu einer interessanten Parallele zwischen König und Unterthan: Friedrich II. erfuhr durch Felonie die Anschläge seiner Feinde, und Schimmelmann durch Verrath das Geheimniß verborgener königlicher Schätze, und Beide machten von ihren Entdeckungen den Gebrauch, der ihnen der richtigste schien.

[347] Wir schließen diese Mittheilungen mit zwei Geschichten aus der Schimmelmann’schen Familie, die sich bis zur Stunde, besonders in den deutschen Herzogthümern Dänemarks, erhalten haben. Die erste fällt in die Zeit, da Schimmelmann noch arm in Berlin lebte. Im Hause des dänischen Gesandten am preußischen Hofe diente damals eine Kammerjungfer, welche Schimmelmann’s oft besuchte. Der Gesandte (Graf B…) war aus völlig unbekanntem Grunde gegen Schimmelmann sehr eingenommen und untersagte der Kammerjungfer jene Besuche ein für allemal. Nicht im Strome, nein, im Fluge der Zeit überholte der Freiherr von Schimmelmann den Grafen B. im Range und weit mehr noch in pecuniärer Hinsicht; der frühere Widerwille ward vergessen, eine Tochter des reichen Freiherrn und Staatsministers vermählte sich dem Grafen B. und brachte ihm Rixdorf, ein großes, schönes adeliges Gut als Brautschatz.

Dieselbe Frau Gräfin spielte leidenschaftlich Pharo. Eines Abends verlor sie in Berlin in einem vornehmen Privatcirkel an den Cavalier …, der eigentlich nur zur Unterhaltung der Gesellschaft ein sogenanntes Bänkchen aufgelegt hatte, die ungeheuere Summe von 70,000 Louisd’or. Tags darauf ließ der Cavalier sich bei ihr melden, ward empfangen, und sogleich sprach sie von der Schuld.

„O, nicht deshalb sehen Sie mich hier, gnädige Gräfin, ich kam nur, um Ihnen zwei Bitten vorzutragen, durch deren Gewährung Sie mich auf’s Angenehmste verpflichten würden.“

„Und die wären?“ erwiderte die Gräfin.

„Die erste, daß Sie mir Ihr gräfliches Ehrenwort geben, niemals wieder ein Hazardspiel zu spielen; die zweite, daß Sie mir vergönnen, durch die Schuld – wie Sie sagten – einen Strich zu machen und ihrer nicht mehr zu erwähnen.“

„Das Erste thu’ ich sogleich, hier meine Hand und mein Wort! (Sie blieb ihm treu.) Das Zweite betrifft die Ehre unseres Hauses, mein Gemahl ist, wie Sie wissen, verreist, von ihm muß ich die Antwort auf Ihr großmüthiges Anerbieten erwarten.“

Kurz darauf kam Graf B. zurück, vernahm den Hergang der Geschichte und entschied: „Dieser seltene Mann darf uns an Edelmuth nicht übertreffen, er muß vollkommen bezahlt und Rixdorf verkauft werden.“

Beides geschah, und das Gut, eine Million werth, kam in den Besitz des Grafen Westphalen, dessen Nachkommen es noch gehört.

Kehren wir nun noch einmal zu Schimmelmann’s geliebtem Wandsbeck zurück. Auf dem Kirchhofe daselbst steht eine Kapelle, welche die irdischen Reste des Grafen und seiner Gemahlin in porphyrnen Särgen bewahrt. Diese Ruhestätte liegt außer dem Bereiche der großen industriellen Umwälzungen, die der Flecken seit Kurzem erfahren und die fast alle Lustbauten Schimmelmann’s der Erde gleich gemacht haben; und wahrscheinlich überdauert jenes Trauer-Denkmal noch mehr als eine Regeneration echter und verfehlter Anlagen, wie der Geist der Zeit sie zu Tage fördern wird.

Erst nachdem Schimmelmann den Ort gekauft, erstand dort reges Leben, Wohlstand und Ansehen, erst von da an trat Wandsbeck mit in den Vordergrund der Hamburgischen Umgebungen, ward auch in weitern Kreisen genannt und seines glänzenden Besitzers stets dabei gedacht. Wenige Lustren später siedelte sich ein stiller, frommer Mann daselbst an, dem es vorbehalten war, den Namen des Ortes nicht nur in ganz Deutschland, sondern diesseits und jenseits der Oceane, kurz überall wo Deutsche von Bildung seßhaft sind, bekannt zu machen. Sein Name genügt, diese Behauptung zu rechtfertigen: er hieß Matthias Claudius, der Wandsbecker Bote.





Die zweite internationale Ausstellung zu London im Jahre 1862.

Am 1. Mai hat die zweite Londoner Weltausstellung begonnen. Leider hat sie der Schöpfer dieser Idee, der so tief betrauerte Prinz Albert, der geheime Wohlthäter Englands, nicht mehr erlebt; doch sein Geist wird in diesem seinem größten Werke segensreich fortleben.

Die Londoner Ausstellung von 1851 wird immer die tonangebende Original-Ausstellung in der Welt verbleiben, so viele Ausstellungen ihr auch im Verlaufe der Zeit in anderen Ländern gefolgt sind und noch folgen werden; sie wird für immer eine ebenso große wissenschaftliche als industrielle Bedeutung haben und behalten. Durch die erste Londoner Ausstellung wurde zuerst eine tiefdurchdachte, die Industrie dauernd fördernde Idee in die Welt gesetzt, welche die industriellen Geister der Welt zusammenführte, deren Erzeugnisse zur allgemeinen Anschauung brachte und die verschiedenen strebenden Völker der Erde einander näherte. Insbesondere aber war es die erste Londoner Ausstellung, welche die industriellen Erscheinungen der Vor- und Neuzeit so zu sagen mit einem Gürtel begrenzte, der die erste Aera der Industrie zu einem gewissen Abschluß brachte. Diesen Centralkreis, der offen den Augen des Forschers vorliegt, wird nunmehr nach Verlauf eines Jahrzehntes die zweite Londoner Ausstellung mit einem neuen Abgrenzungskreise umgeben, in welchem sie die Industrie-Erzeugnisse aus dieser Periode zur Anschauung bringt. Die Vergleichung dieser und der so von Zeit zu Zeit sich immer neu anlegenden Abgrenzungskreise unter einander, von denen jeder die Erzeugnisse der Industrie aus seiner Periode gleichsam fixirt, wird für die Wissenschaft im Allgemeinen, wie für die Industrie insbesondere ein ungeheures Ergebniß herausstellen und die Industrie zu einem lebenskräftigen Studium, zu einer besonderen Wissenschaft herausbilden, und London wird als deren Hochschule dastehen. Diese Vergleichungen der Kreise werden den sichersten Maßstab für das Fortschreiten oder Stillstehen der Industrie im Allgemeinen, sowie für die industrielle Entwickelung der einzelnen Industriezweige und der einzelnen Nationen insbesondere abgeben. Dieselben werden genau erkennen lassen, welchen Zweigen der Industrie sie sich in ihrem eigenen besten Interesse besonders zuzuwenden haben.

Indem wir den Leser auf diesen Gesichtspunkt hinweisen, glauben wir ihm am besten die Wichtigkeit der Londoner Ausstellung anzudeuten, in ihm das Interesse dafür zu erwecken und ihn am geeignetsten vor dem Vorurtheil zu bewahren, als sei die Londoner Ausstellung nichts weiter, als eine bekannte, etwas aus der Mode gekommene Sache, die man sich wiederholen lasse, um der Metropole Englands eine weitere Gelegenheit zu einem neuen Erwerbe zu bieten. Die Londoner Ausstellung erhebt sich durch ihre wissenschaftliche Tendenz und die Großartigkeit ihrer Auffassung und Ausführung entschieden über ein solches Vorurtheil. Daß man aber die Londoner Ausstellung von Zeit zu Zeit sich wiederholen zu lassen beabsichtigt, beweist der Umstand, daß man den neuen Ausstellungspalast massiv erbaut hat, während der von 1851 zwar ein die größten Bäume unter seinem Dache bergendes, aber doch nur aus Glas und Eisen bestehendes Riesengebäude war.

Von dem Platze im Hyde-Park, wo der erste Ausstellungspalast stand, etwa 1 engl. Meile südwestlich entfernt, in einer der schönsten Vorstädte Londons, in Kensington, nahe dem Kensington - Museum, befinden sich die Gärten der königlichen Gartenbaugesellschaft, welche nur durch eine sie nördlich begrenzende Straße vom unterm Hyde-Park getrennt sind. Diese bilden die Form eines großen, isolirt liegenden Parallelogramms, dessen östliche Längenseite von der Exhibition-Road, dessen westliche Längenseite von der Alberts-Road und dessen südliche kürzere Seite von der Cromwell-Road begrenzt sind. Auf diesem südlichen Theile erhebt sich in massiver Begründung, von gebrannten blaßgelblichen Ziegeln erbaut, der neue großartige Ausstellungspalast, dessen Hauptfront die ganze südliche Seite des Parallelogramms einnimmt und sich der Cromwell-Road entlang hinzieht, die auf der anderen Seite mit palastartigen Gebäuden besetzt ist.

Diese Hauptfronte hat eine Länge von 1152 Fuß und eine Höhe von 60 Fuß bis zum Dache und von 100 Fuß mit dem Dache, und zeigt eine gradlinige Facade, die zunächst in ihrer Mitte von einem 150 Fuß breiten, jedoch wenig hervortretenden Vorsprunge unterbrochen wird. In der Außenseite erheben sich 3 große, bis nahe an das Dach reichende Bögen neben einander, die so den Eingang zu einer Vorhalle bilden, in der sich die weiter rückwärts gelegenen Eingänge befinden, über welchen große Bogenfenster zu sehen sind. Diese Vorhalle bildet den Haupteingang der Südfronte. Unter dem mittleren Bogen befindet sich die große, 15 Fuß im Durchmesser betragende Palastuhr mit 5 Glocken.

Von der Höhe der Vorhalle oder des Pavillons wehen die Fahnen aller ausstellenden Nationen herab, und das Ganze gleicht so [348] einem festlich geschmückten Triumphbogen. Zu beiden Seiten dieses Vorsprungs reihen sich 13 gleichmäßig vertheilte, 10 Fuß über dem Boden aufsteigende, 25 Fuß hohe Bogenfenster. Vorspringende Eckpavillons schließen die Seitenfronten. Durch Vorsprünge, Bogenfenster und Frontverzierungen in großartigen Dimensionen und symmetrischen Proportionen ist die der langen Fronte sonst eigenthümliche Monotonie ganz vermieden und sie macht einen befriedigenden Eindruck.

Die Fronten der beiden Seitenflügel sind sich ganz gleich. In der Mitte derselben in gleicher Fluchtlinie mit ihren Eckpavillons befindet sich ein imponirender Vorbau, der die große Eingangshalle jeder Seitenfront bildet. Derselbe ist an seinen Seiten von einem breiten Pfeiler eingeschlossen, welcher oberhalb in eine mit Steingeländer umgebene Plattform ausgeht und zwei Nebeneingangspforten mit darüber befindlichem Bogenfenster enthält. Ueber diesen Pfeilern erhebt sich ein dieselben verbindendes mit steinerner Gallerie eingefaßtes Dreieck, unter welchem sich ein gewaltiger Rundbogen von 60 Fuß Höhe und 50 Fuß Weite rückwärts bis an den Dom reichend wölbt. Das Ganze gleicht einem Portale der alten Kathedralen. Hinter dem erwähnten Dreieck, etwas rückwärts, steigt der Dom mit seiner gigantischen Kuppel bis zu 250 Fuß Höhe von seiner 160 Fuß im Durchmesser betragenden Basis empor.


West-Fronte des Ausstellungspalastes.


Das Gerippe der gewaltigen Kuppel besteht aus Eisen, ist durchgehends mit Glas eingedeckt und endet in dem den Domen eigenthümlichen Knaufe mit vergoldeter Spitze.

Diese zu beiden Seiten der Seitenfronten sich erhebenden und sich gegenüber liegenden Dome machen einen gewaltigen Eindruck, ja sie lassen in ihrer großartigen Höhe die größten Dome, und selbst den von St. Peter in Rom und den von St. Paul in London, weit hinter sich zurück, indem der Erstere bei einem Durchmesser von 260 Fuß nur die Höhe von 158 Fuß, und der Letztere bei einem Durchmesser von 112 Fuß nur die Höhe von 215 Fuß erreicht.

Die zwischen dem Domvorbau und den Eckpavillons befindlichen Façaden springen etwas zurück und sind in ihrer halben Höhe gebrochen, der untere Theil ist mit geradem Glasdach eingedeckt, und von diesem erhebt sich der obere Theil noch mehr zurücktretend als große Gallerie, die mit Bogenfenstern nach beiden Seiten hin versehen ist; der untere Theil hat gleiche Bogenfenster wie die Hauptfront, nur sind sie kleiner und je zwei neben einander.

Der obere Theil, sowie der vordere Theil des Hauptgebäudes sind zur Aufnahme der Gemäldegallerie bestimmt.

Die Nordseite, bei welcher die Bogenfenster ebenfalls beibehalten sind, ist von den Gärten eingeschlossen und bildet eine verkürzte Hufeisenform, indem die Seitenflügel etwas über die Rückfront des Hauptgebäudes hinausreichen. Durch eine in der Mitte der Rückfront des Hauptgebäudes befindliche, reich mit Alabaster verzierte Säulenhalle tritt man unmittelbar in den Garten, der ein großes Quadrat dadurch bildet, daß sich an beiden Seiten von der Rückseite der Flügelenden ausgehende Arcaden hinziehen, die nach rückwärts geschlossen sind und welche am Ende des Quadrates durch eine nach beiden Seiten offene quer laufende Arcade geschlossen werden, durch welche man in die übrigen Theile der Gärten gelangt.

Der Anblick dieses Gartens ist überraschend und imponirend zugleich. An die Vorderfronten des östlichen, wie des westlichen Seitenflügels der Straße entlang schließen sich mittelhohe Colonnaden an, die der Länge der Ersteren gleichkommen. Jede dieser Colonnadenreihen bildet, von außen gesehen, vierfach nahe neben einander hinlaufende Einzelcolonnaden, welche in ihrem Innern jedoch ein Ganzes bilden; dieselben sind nach der Straße ohne Fenster und Eingänge, begrenzen gleich einer Mauer die Gärten, lehnen sich an die Rückseite der erwähnten Gartenarcaden an und empfangen ihr Licht durch ein Glasdach. Dieselben gleichen, von der Straße gesehen, langen bedeckten Kegelbahnen und gereichen dem Hauptpalaste allerdings nicht zur Zierde, erlangen aber dadurch einen großen praktischen Nutzen, daß sie zur Aufnahme der Maschinen und insbesondere der treibenden Maschinen bestimmt sind, und daß durch solche Absonderung alle durch letztere entstehende Nachtheile vom Ausstellungsgebäude abgehalten werden. Den zum Betriebe der Maschinen erforderlichen Dampf liefert ein im Garten zu diesem Zwecke erbautes Kesselhaus.

Das auf der Ostseite schon vor Erbauung des Ausstellungspalastes vorhandene Hallengebäude der königl. Gartengesellschaft, welches sich von der Straße seiner Länge nach in die Gärten hinein bis zu den oben beschriebenen Arcaden erstreckt und in gleicher Fluchtlinie mit dem Seitenflügel sich befindet, wird von der einen Seite vom östlichen Seitenflügel, von der anderen Seite von den Colonnaden eng eingeschlossen, und ist so dem Ausstellungscomplexe vollständig einverleibt.


Süd-Fronte des Ausstellungspalastes.

Da nun diese Gartengesellschaft unter Zuziehung der königl. Agriculturgesellschaft ebenfalls und zwar gleichzeitig eine Ausstellung in ihren Localitäten und Gärten macht und diese mit dem Hauptpalast in unmittelbare Verbindung gebracht wird, so wachsen dadurch der Hauptausstellung zwei ihr noch fehlende Industriezweige zu, so daß die Ausstellung von 1862, da sie auch Gemälde- und Kunstausstellung, welche die Ausstellung von 1851 eigentlich nicht repräsentirte, aufgenommen hat, sonach alle Zweige der Industrie in sich vereinigen wird, ein Umstand, durch welchen sie sich vor der letzteren Ausstellung wesentlich auszeichnet.

Durch diese aus eigener Anschauung gewonnene Beschreibung glauben wir unsern Lesern selbst ohne Abbildung ein treues Bild von dem Ausstellungspalaste, wie er sich in seinem Aeußeren und in seiner Gesammtheit dem Beschauer darstellt, gegeben und auch zugleich diejenigen Einzelheiten mitgetheilt zu haben, welche wir zur Verständigung über das Ganze für unbedingt nöthig erachteten. Hierbei dürfen wir nicht unterlassen, dem Leser mitzutheilen, daß der Capitain Fowke der Schöpfer dieses großartigen Werkes ist, welcher die Zeichnung und den Bauplan entworfen hat und unter dessen Oberleitung der Bau durch die Bauunternehmer Kelk und Gebrüder Thomas Lucas ausgeführt worden ist; sowie, daß den beiden Letzteren das große Verdienst zufällt, diesen Riesenbau in correcter und solider Art ausgeführt und in der kurzen Zeit von noch nicht einem Jahre, und zwar rechtzeitig, vollbracht zu haben. Dies zu bewerkstelligen, war nur in England möglich, wo die Arbeit getheilt und jeder Theil wiederum mächtig organisirt und associirt ist, so wie durch die weiteste Anwendung von Maschinen unterstützt wird. Unter den letzteren ist besonders eines zur Zuführung der Baumaterialien verwendeten, durch Dampf in Bewegung gesetzten Krahnes zu gedenken, der, in Form einer verkürzten Locomotive auf einer Eisenbahn hin- und herfahrend, bald von diesem, bald von jenem Orte die schwersten Lasten von Baumaterialien durch die Lüfte nach ihren vorgeschriebenen Bestimmungsorten brachte, und [349] zwar so rasch auf einander, daß man fast immer, und zwar nach den verschiedensten Richtungen, eine schwere Last in der Luft schweben sah, mit welcher oft Arbeiter, die nicht rasch genug von ihrer Verfestigungsarbeit zurückgetreten waren, unfreiwillig die Fahrt durch die Luft mitmachten.

Was es heißt, dieses Riesenwerk überhaupt und in so kurzer Zeit bewältigt zu haben, wird sich, abgesehen von der für sich selbst sprechenden Größe des Werkes, auch am besten aus dem ungeheueren Material ermessen lassen, welches dieser Bau in Anspruch nahm. Als erforderlich sind veranschlagt gewesen 10,000,000 Ziegel, 1,700 Loads oder Ladungen Holz, gegen 4000 Tons oder 80,000 Centner gegossenes und 1200 Tons oder 24,000 Centner geschmiedetes Eisen, also zusammen 104.000 Ctr. Eisen, von welchem allein je 600 Tons oder 12,000 Ctr. auf jeden Dom kommen; und an Glas so viel, daß damit 30 engl. Meilen Wegs belegt werden können. Jedenfalls aber ist dieser Anschlag noch nahe um ein Viertheil überstiegen worden, da der Kostenanschlag von 300,000 Pfd. St. oder 2,000,000 Thlr. auf 400.000 Pfd. St. oder ungefähr 2,700,000 Thlr. gestiegen ist, sich also um ein Viertheil erhöht hat.

Zum Schlusse sei es noch vergönnt, als besonders interessant der Grundlage der Dome zu gedenken, die in acht eisernen, 108 Fuß hohen Säulen besteht. Jeder Dom bildet in seinem unteren Theile ein Achteck; in jeder dieser acht Ecken erhebt sich vom Baugrunde aus eine eiserne, von außen ganz glatte Säule von 2 Fuß Durchmesser und in ihrem Inneren hohl bis zu 108 Fuß Höhe, welche durch fünf Stücken von verschiedener Länge gebildet wird, die aufeinander gesetzt und an ihren verschiedenen Verbindungspunkten im Innern verschraubt oder verfestigt sind. Auf diesen acht Säulen ruht die ungeheuere, durch ihr starkes Eisengerippe schwere Kuppel. Da die Höhlung der Säulen nur 22 Zoll beträgt und an ihren Verbindungspunkten durch ihre nach Innen gekehrten Verschraubungsvorrichtungen bis zu 14 Zoll verengert wird, so ist, um deren Verfestigung zu bewerkstelligen, nichts Anderes übrig geblieben, als einen schmächtigen Knaben oder Lehrling mit einer Laterne versehen in die Röhren bis zu ihren Vereinigungspunkten einzulassen, um dort die Verschraubungs- oder Verfestigungsarbelten vorzunehmen. Da von der sorgfältigen und richtigen Ausführung dieser Arbeit die Sicherheit des ganzen Domes abhängt, so wird dieser kleine Held hoffentlich seine Sache gut gemacht haben. In dem westlichen Dome fanden die Eröffnungsfeierlichkeiten dieser Weltausstellung statt.[2]




Auch ein Hausmittel, das man aber nicht im Hause haben kann.
2. Klima-Curen.

Das Reisen, sogar nach den entfernteren Breiten und Erdtheilen, ist heutzutage durch den Allerweltsgleichmacher, den Dampf, mittels Eisenbahnen und Dampfschifflinien so bequem, billig und rasch geworden, daß jetzt eine Menge Menschen daran denken können, eine Curmethode zu gebrauchen, welche ehedem nur den Allerreichsten zugänglich zu sein pflegte. Diese Curmethode, dieses souveränste aller „Hausmittel“ ist: der gänzliche Wechsel des Klima’s für ein halbes Jahr oder länger. – Man kann aber zu Gesundheitszwecken aus nördlichen Breiten nach dem Süden reisen (der bei uns gewöhnlichste Fall), oder aus heißen Ländern in kühlere, beziehendlich gebirgige Lagen übersiedeln, oder Seefahrten nach fernen Continenten unternehmen. Hierüber gestatte ich mir ein paar Worte, namentlich über die Winterreisen nach dem Süden.

Gleichwie sich viele Menschen, anstatt ihre Gegenwart sachgemäß und thatkräftig auszunutzen, nach verlorenen goldenen Zeitaltern oder nach zukünftigen Paradiesen sehnen: so bewegt auch viele Personen ein Fortweh, ein umgekehrtes Heimweh, welches ihnen vorspiegelt, daß es anderwärts weit besser und hübscher sein müsse. Diese Vorstellung steckt namentlich in den meisten nördlichen Völkern und erzeugt in ihnen einen Trieb nach schönen, warmen Ländern, welcher unzweifelhaft die Ursache gewesen ist, welche seit uralten Zeiten die Völkerwanderungen nach dem Süden und Westen hervorgerufen hat. In ähnlicher Weise sind in den gemäßigten Strichen Europas eine Menge Privatleute von dem Wunsche beseelt, den „köstlichen Süden“, von dessen Herrlichkeiten sie längst geträumt, zu besuchen, insbesondere aber einmal den Winter über in einem wärmeren Klima zuzubringen und so ihren Kalender um einen Winter zu betrügen. Dieser Wunsch ist sicherlich durch die Unbilden unseres nordischen Klima’s ganz gerechtfertigt. Wer die Mittel dazu hat und nichts dadurch versäumt, thut sogar ganz wohl, denselben zu erfüllen, schon der geistigen Bildung wegen. (Beispiele: Goethe, Winkelmann u. A.) Aber hier sprechen wir nicht von denen, welche aus Luxus dahin reisen, sondern von denen, welche ihrer Gesundheit wegen, zu Vorbauungs- oder Heilungs-Zwecken südliche Winterasyle aufsuchen. Denn gerade diese begehen oft durch eine Südreise so arge Mißgriffe, daß sie nicht blos bittere Enttäuschungen, sondern oft sogar grenzenloses Elend und gänzlichen Ruin ihrer Gesundheit dadurch herbeiführen.

Die Patienten, denen von ärztlicher Seite manchmal (also nicht in allen Fällen) eine Uebersiedelung für die Winterszeit in ein südliches Klima, in einen sogenannten südlichen klimatischen Curort oder ein südliches Winterasyl anzurathen ist, sind hauptsächlich folgende:

1) Brustkranke, namentlich a) Tuberculöse, so lange sie sich noch in den früheren Stadien ihres Uebels befinden, b) Emphysematiker, welche von ihren begleitenden Brustkatarrhen und Asthmen viel geplagt werden, c) Herzkranke, welche sich in ähnlichem Falle befinden.

2) Erkältbare, theils a) von Rheumatismus und Gicht Geplagte, theils b) von allerlei unaufhörlich wiederkehrenden Katarrhen der Gesichts-, Hals-, Brust-, Unterleibs- oder Geschlechts-Organe (oft auch wohl von stetem Wechseln der Katarrhe von einem Organ zum andern) Heimgesuchte.

3) Blutarme, beziehentlich Bleichsüchtige, Skrofulöse, an Brightscher Niere Leidende.

4) Jugendliche, eben in der Entwicklung begriffene Personen.

5) Schwächliche, nervöse, zärtliche, siechende, altersschwache oder vorzeitig alternde Individuen.

6) Genesende aus schweren Krankheiten, besonders nach Typhus oder nach stark eingreifenden, besonders Ouecksilber-Curen.

7) Gemüthskranke, besonders Melancholiker.

Die Vorzüge, welche das südliche Klima dem kranken oder kränkelnden Nordländer bietet, sind folgende. Bei uns zwingt der lange, lichtarme Winter und das wechselvolle Frühjahr, welches meistens bis Mitte Juni immer wieder aus warmen Tagen in empfindliche Kälte und Nässe zurückfällt, zwingt der nie trocknende und erst spät ausgewärmte Erdboden, zwingt die Kühle der Höfe und Hausfluren etc. solche Kranke, entweder ganz die Stube zu hüten und dadurch welk und stubensiech zu werden, oder falls sie ausgehen, laufen sie Gefahr, durch eine kleine Unvorsichtigkeit schwere Erkrankungen, Rückfälle, sogar den Tod davon zu tragen. Diese Gefahr ist nun zwar auch im Süden nicht ganz beseitigt; denn der Unvorsichtige kann sich auch dort an kalten Tagen, oder in der stets gefährlichen Morgen- oder Abendluft, oder beim Besuch der Kirchen und Museen, bei Volksfesten etc. ganz tüchtig erkälten, und es giebt auch im Süden Orte genug, wo Rheumatismen, Katarrhe, Tuberculosen etc. an der Tagesordnung sind. Aber durchschnittlich gewährt der Süden doch eine wärmere, mildere Luft, welche zugleich auch an manchen Orten durch die fortbestehende Vegetation und Pflanzenblüthe reiner und gewürzhafter ist. Er gewährt dem Kranken die Möglichkeit, täglich (wenige ganz schlechte [350] Tage ausgenommen) mindestens ein paar Stunden ohne Gefahr im Freien zuzubringen, sogar unter freiem Himmel sitzen zu können. Damit ist zugleich die Möglichkeit gegeben, reichlichere und doch nicht anstrengende Körperbewegungen und ergiebigere Einathmungen zu machen; damit jedenfalls verbunden eine größere und nachhaltigere Aufheiterung des Gemüthes, wozu ohnedies die Schönheit der Landschaft das Ihrige beiträgt. Auch die veränderte (meist bessere) Nahrung, das saftigere Ochsenfleisch der Maisländer, das Obst, die Trauben, Feigen und Südfrüchte, die grünen Gemüse, die Fische und sonstigen Seeproducte tragen das Ihrige bei zur körperlichen wie geistigen Erneuerung und Anfrischung eines eingewanderten Nordländers. Für die einzelnen obengenannten Classen von Patienten wird der Winteraufenthalt in einem südlichen Klima dadurch zum Heilmittel, daß es

1) den Brustkranken die Möglichkeit gewährt, ohne Rückfälle ihrer Katarrhe circa 1½ Jahr lang die Schleimhäute ausruhen und gründlich ausheilen zu lassen. Denn gerade darin besteht das Gefährliche unseres Klimas, daß die Schleimhäute immer neu gereizt werden, wie eine Wunde, die man nicht zuheilen läßt! An sich sind diese Krankheiten, die Lungentuberkeln, die Emphyseme, die Herzübel, gar nicht so gefährlich. Sie werden es nur durch die ewigen Katarrhe, welche namentlich gern in die tuberkulösen Lungen hinunterwandern und dadurch nicht nur neue Tuberkelnachschübe bewirken, sondern auch eine eiterige Erweichung und peripherische Entzündung der vorhandenen Tuberkelmasse hervorrufen, welche schließlich zu Zerstörung und Schwindsucht führt. Einmal gut ausgeheilt (wozu ein- oder zweimaliger Aufenthalt im Süden, oder mehrwinterliches Tragen des Respirators die besten bekannten Mittel sind), kehren solche böse Katarrhe nicht so leicht zurück; daher findet man Tausende, die ein hohes Alter erreichen mit verkalkten und verhornten Tuberkelmassen in den Lungenspitzen, sogar mit verheilten oder zur Gewohnheit gewordenen (ein innerliches Fontanell darstellenden) Tuberkelhöhlen. – Aehnliches gilt von den Emphysematikern, wo das „Lösen“ des Katarrhs in milder, feuchtwarmer Luft eine Hauptsache ist; desgleichen von den Herzkranken, deren Todtmacher meistens ein Katarrh ist.

2) Daß es den Erkältbaren, Gichtischen, Rheumatischen und allerorts Flüssigen die beneidenswerthe Möglichkeit gewährt, sich sechs Monate lang behaglich in freier Luft (wie bei uns etwa im Juli bis September) zu bewegen, ohne Rückfälle zu erleiden. Hierdurch ist dann die Möglichkeit gegeben, daß die vorzugsweise erkrankenden Gewebe und Organe (die loci minoris resistentiae, wie die Pathologen sagen) erstarken und sich regeneriren können. Darin besteht die sogenannte Nachwirkung der Klimacur.

3) Die hier benannten Blutleeren bedürfen vor allen der Wärme, haben fast immer kalte, oft auch wässerig anschwellende Füße und Hände, frieren viel und erkälten sich oft. Bei manchen derselben, z. B. bei den Bright’schen Nierenkranken, gilt es geradezu, mittels des Klimas eine Trockencur durchzuführen; man sendet diese besonders nach Aegypten, wo der Winter zugleich warm und trocken ist.

4) Für Jugendliche, in der Entwicklung Begriffene, besonders wenn sie von letzterer angegriffen werden, blaß und mager aussehen, schlank in die Höhe schießen, ohne sich auszufüllen etc. Solchen erzeigt man durch einen südlichen Winteraufenthalt oft eine Wohlthat für’s ganze Leben. Der ganze Wachsthumsproceß des Menschen ist ja, wieder der Pflanzen, nur ein Hervorknospen einer Zelle aus der andern; und dieser wie jener wird ja durch Nichts mächtiger gefördert, als durch Licht und Sonnenwärme, wie sie der Süden bietet, der Norden aber im Winter verweigert! – Aehnliches gilt

5) von den Schwächlichen und

6) Genesenden. Bei letzteren kommt zum Theil noch hinzu, daß die südliche Wärme es gestattet, die einverleibten Arzneistoffe (namentlich das aller frommen Wünsche unerachtet noch immer nicht entbehrliche Quecksilber) aus dem Körper wieder auszuscheiden, was im nordischen Winterklima fast gar nicht, oder nur durch die zu Winterszeit so gefährlichen Warmbad- und Schwitzkuren möglich ist.

7) Wenn man Gemüthskranke, d. h. Melancholiker (denn die Narren, Wahnsinnigen und Geistesschwachen passen doch wohl kaum zu Südreisen), in die warmen Winterasyle schickt, so verfalle man nur nicht in den gewöhnlichen Fehler aller Laien, welche solche Personen mit aller Gewalt lustig machen wollen, sie in Gesellschaften, Bälle, Concerte schleppen, sie auf Reisen aus einer Stadt in die andere, in alle Museen, Kirchen und sonstigen Sehenswürdigkeiten führen. Alle diese Dinge dürfen erst in der Genesungsperiode und sobald der Patient selbst einigen Trieb danach äußert, zur Geltung kommen. Während der Melancholie ist das Hirnleben, das Gemüth des Patienten wie ein seiner Haut beraubter Finger, wie ein entzündetes Auge; jeder gewöhnliche, einem Gesunden ganz gleichgültig scheinende Reiz wirkt auf ihn schmerzerregend, verstimmend und betrübend. Er sucht Ruhe, stille gemüthliche Existenz, und wird nur durch diese geheilt. Auch im südlichen Aufenthaltsort muß man ihm diese verschaffen, und die Vorzüge eines solchen vor dem nördlichen beruhen eben nur darin, daß die milden, lieblichen Einwirkungen, daß Licht, Farbenschmelz, Wärme, Pflanzengrün, Blüthenduft etc. vorwiegen und die ganze Umgebung total neue Eindrücke mit sich bringt.

In vielen der benannten Fälle macht übrigens das Klima mit seinen Nebeneinflüssen die Cur nicht allein, sondern nur zum Theil, oder dient nur als Förderungsmittel neben dem Fortgebrauch irgend anderer ärztlicher Heilmittel. Zu letzterem aber gehört wesentlich ein guter Arzt, ein Artikel, an welchem es im Süden bei der dort waltenden Volks- und Gelehrtenschulenbildung leider allenthalben noch sehr fehlt! Den gewöhnlichen aderlaßsüchtigen oder brechweinsteinwüthigen Praktikern jener Länder in die Hände zu fallen, heißt in die Gefahr kommen, zu Tode „cavourt“ zu werden.

Aber auch noch andere Nachtheile hat der Süden für den Heilung suchenden Nordländer. Einerseits giebt es überall kalte oder doch durch den Wärmeunterschied empfindlich kalt erscheinende Tage und Stunden. Namentlich sind oft die Morgen und Abende auffällig kalt; in allen Südländern nimmt man gern den Mantel mit, wenn man ausgeht, und Viele halten es dort (sogar an der Goldküste Afrika’s) zur Sicherung der Gesundheit nothwendig, immer Wolle auf der bloßen Haut zu tragen! – Dazu kommt noch der Uebelstand, daß im Süden die Wohnungen und Betten gar nicht so gegen Kälte eingerichtet sind, wie im Norden. Daher friert der Deutsche in Italien (so wie der Russe in Deutschland) mehr, als in seinem Vaterlande. Insbesondere ist Zugluft in allen südlichen Ländern ein stehender Artikel; die Häuser sind eben, weil sie mehr vor Hitze als vor Kälte schützen sollen, luftiger eingerichtet: Thüren und Fenster schließen nicht, und durch die Wände pfeift oft der Wind. Dem Italiener ist die Zugluft etwas so Gewöhnliches, daß er nicht einmal ein Wort in seiner Sprache dafür hat (wie der Engländer kein Wort für „Langeweile“, weil sie sein Normal-Zustand ist). – Manche Orte haben noch ihre besondern klimatischen Schädlichkeiten, wie z. B. Südfrankreich und Nizza den scharfkalten Mistral, Rom die Malaria, Italien überhaupt den Sirocco, auch Aegypten und Algier die erschlaffenden und erstickenden Wüstenwinde, Venedig den Mangel an Pflanzengrün, namentlich aber alle südlichen Länder das viele Ungeziefer und vor Allem die Höllenkinder, die Moskito’s. Und auch an zweibeinigem Ungeziefer fehlt es nicht: Prellerei, Diebstahl, Perfidie, Lärm und Schmutz sind in den Südländern mehr eingebürgert, als im Norden, oder drängen sich wenigstens dem Reisenden und Hülfsbedinfügen mehr auf, als dort. – Auch in der Kost ist Manches dem nordischen Magen zuwider, z. B. das Schmoren in Oel, der matte, saure auf Schläuchen und ohne Keller aufbewahrte Wein, die ledernen Macaroni, die klumpige Polenta, die Wassermelonen, das halbreif gepflückte Obst u. dgl. mehr.

Endlich ist der Süden bekanntlich nicht frei von Krankheiten; vielmehr sind die herrschendsten derselben, die Sumpffieber, die Diarrhöen und Ruhren, so wie deren Folgeübel, die Milz- und Leberkrankheiten, – fast noch schlimmer als unsere einheimischen Katarrhe und Brustübel, an denen es übrigens auch dort nicht ganz fehlt!

Hierüber kommt noch, daß viele im Süden Reisende sich und Andern ihren Aufenthalt vergällen und verleiden, indem sie à la Nicolai über allerlei Kleinigkeiten nörgeln und klagen. Solche Leute vergessen, daß es eben an jedem Orte der Welt anders zugeht, daß jeder Fleck neben seinen Vorzügen auch eigene Schattenseiten hat, und daß man, wenn man erstere genießen will, letztere mit in Kauf nehmen oder mittels Geld und Witz abpariren muß! – Man kann eben auf so einer Reise nicht alle gewohnten häuslichen Bequemlichkeiten und Marotten befriedigen; man kann nicht, so zu sagen, die ganze Heimath mit ihren guten Freunden, Klatschgevattern [351] und Spießbürgerlichkeiten in der Reisetasche mitnehmen. Vielmehr muß man darauf bedacht sein, sich für die vorübergehende Curzeit rasch eine neue Häuslichkeit und Geselligkeit zu schaffen.

Die Länder und Ortschaften, welche zum Behufe südlicher klimatischer Curen aufgesucht werden, lassen sich folgendermaßen classificiren:

1) Süddeutsche: nämlich Meran und Gries in Südtyrol und die am Nordost-Ende des Genfer Sees beisammen liegenden, unter dem Namen Montreux oder Vevey bekannten verschiedenen Ortschaften bis hinter nach Bex. (Für viele, besonders für schwere Brustkranke, nur als Durchgangspunkte im Spätherbst und Vorfrühjahr zu benutzen, weil der Winter hier oft noch sehr streng ist).

2) Südfranzösische: namentlich Pau, sodann Montpellier, Nimes, Hyères, Cannes, Antibes und das jetzt dazu annectirte Nizza, welches alle Klimate, vom italienischen bis zur ewigen Schneelinie, in wenigen Stunden Raum vereinigt. (Sämmtlich mehr oder weniger einem scharfen Nordwinde, Mistral genannt, im Winter ausgesetzt.)

3) Südalpinisch-oberitalienische: erstens die kleinen Städte längs der goldenen Riviera von Nizza bis Genua (also Villafranca, Monaco, Mentone, San Remo, Oneglia, Savona etc.), welche alle den Vorzug haben, gegen Nord von den hohen Seealpen geschützt zu liegen und gegen Süd das warme Mittelmeer nebst afrikanischen Winden zu genießen; – zweitens die am steilen Südabhange der Alpenkette, besonders an den Seen (Maggiore, Lugano, di Como und Garda) gelegenen, z. B. Pallanza, Lugano, Varese, Como, Riva etc; – und drittens Venedig, das mit den Vorzügen jener noch die eines Inselklimas theilt, aber gleich ihnen einzelne recht harte Winter haben kann.

4) Italienische: besonders Pisa, Florenz, Rom, Neapel und vor Allem das reizend in seiner Goldmuschel (Concha d'Oro heißt nämlich das Thal) eingebettete Palermo.

5) Andre Mittelmeer-Inselorte: z. B. auf Corfu, Malta, jedenfalls auch auf mehreren griechischen Inseln.

6) Spanische: vor Allem Malaga, dann Cadix, Alicante, Valencia, Sevilla u. a.

7) Afrikanische: einerseits Algier und einige Nachbarstädte, andererseits Aegypten (eigentlicher: die Nilreise stromaufwärts während der Wintermonate).

8) Atlantisch-insulare: vor Allem das unvergleichliche Madeira, sodann die Azoren und endlich sogar westindische Inseln, namentlich Havanna.

Es versteht sich von selbst, daß damit nicht alle zu Südklimacuren geeigneten Orte genannt sind, sondern nur die, welche jetzt vorzugsweise von Kranken besucht und einigermaßen für solche Besucher eingerichtet sind.

Es begreift sich leicht, daß die genannten Orte unter sich unendliche Verschiedenheiten und jeder seine eigenthümlichen Vorzüge wie Nachtheile haben werden. Und zwar nicht blos in klimatischer Hinsicht (wo man mit den üblichen Eintheilungen in ein feuchteres oder trockneres, erregenderes oder erschlaffenderes Klima nicht weit kommt), sondern auch in socialer, politischer, religiöser, kurz in jeder menschlichen Rücksicht, welche bei Kranken doppelt genau genommen werden muß. – Da nun andererseits auch die Kranken untereinander in medicinischer und allgemeinerer Hinsicht höchlichst verschieden sind, so ist es klar, daß der kahle Rathschlag, „nach dem Süden zu reisen“, gar nicht genügt, sondern daß eine sehr specielle Erwägung und Wahl, „wohin und wie weiter?“ statthaben muß. Da nun nur äußerst wenige Aerzte hierüber eigene Erfahrungen haben, die Urtheile und Vorschläge der Laien aber in der Regel an großer Einseitigkeit für oder wider einen bestimmten Ort laboriren, so ist hier ein gedruckter Rathgeber unentbehrlich. Der beste mir bekannte ist: Sigmund’s Broschüre „über südliche klimatische Curorte“ (2. Auflage. Wien, 1859), besonders wenn man dazu die durch vergleichend-klimatologische Bemerkungen und selbsteigne treue Beobachtungen ausgezeichneten Werkchen von Vivenot, über Palermo (Erlang. 1860) und von Mittermaier, über Madeira (Heidelb. 1855, mit einem Nachtrag, Berlin 1861 bei Reimer) hinzuzieht. Diesen kann man noch der Vollständigkeit halber (da Sigmund nur die von ihm selbst besuchten Orte bespricht) hinzugesellen: Neil, über Aegypten, von Tschirsky und Pichler, über Meran, Macario, über Nizza, Joseph, über Venedig u. a. Das ältere englische Buch von Francis, „on climate“ (Lond. 1853) enthält außer allgemeinen Bemerkungen über Klimacur hauptsächlich werthvolle Notizen über Spanien, welches er mehrere Jahre nebst Italien etc. besucht hat. Das neueste Werk von Dr. R. E. Scoresby-Jackson, „medical Climatology“ (London, 1862), enthält ziemlich speciell eingehende Orts- und Klima-Beschreibungen der meisten Orte, welche heutzutage von kranken Engländern zur Sommer- oder Wintercur aufgesucht werden.

Wer aber die ganze Klima-Angelegenheit von einem höheren und naturwissenschaftlich-exacten Standpunkte aus kennen lernen will, der muß unbedingt die zwei wichtigen Bücher von Mühry, „die Grundzüge der Klimatologie“ (Lpz. u. Heidelb. 1858) und „die geographische Meteorologie“ (1860) studiren. Zwei Werke deutschen Fleißes, welche wenigstens in der Bibliothek keines Arztes fehlen dürfen, wenn er auf dem Standpunkt der neuern Naturwissenschaft zu stehen behaupten will!

Zur Ausführung der also beschlossenen Reise gehört nun wieder Mancherlei. Vor allem Geld! Wer den Zweck, die Gesundheit, erreichen will, darf vorkommenden Falls, unterwegs und in dem Südasyl, die nothwendigen Kosten nicht scheuen, so sehr ich auch Vorsicht gegen die allerseits drohenden Prellereien lobe. (Worüber bei Sigmund a. a. O. mehrere gute Verhaltungsregeln.) Nächstdem ein Vorrath von Geduld, um auch bei mannigfachen Schwierigkeiten und vorfallenden Gemeinheiten sich nicht zu ärgern, die zur Heilung unentbehrliche gute Laune nicht zu verlieren. Wer zu Haus gut und reichlich zu essen gewohnt ist, lasse sich auf der Reise nichts abgehen. Die Kleidung sei für schroffe Wechsel eingerichtet: fast wie für den nordischen Winter, außer daß man die Pelze zu Haus läßt. Denn die Witterungssprünge von + 30 auf + 10 sind gerade so empfindlich und so gefährlich, wie von + 10 auf 0 oder weniger. Eine Wohnung bestelle oder suche man sich zeitig, da deren Zahl jetzt im Verhältniß zur Zahl der nach Süden Reisenden nicht rasch genug zunimmt. Diese Wohnung richte man sich bei Zeiten nach nordischer Art auf den Winter ein; man sorge, daß Thüren und Fenster gut schließen, beziehentlich verklebt werden, daß wirkliche Oefen gesetzt, Teppiche gelegt werden etc. Denn nach Südländer-Art auf steinernen Fußböden zu gehen und an den Kaminen vorn zu braten, hinten zu frieren, ist für einen kranken Nordländer wie Gift.

Man trete die Hinreise nach Süden im September, höchstens October, die Rückreise nach dem Norden nicht vor dem Juni an; denn Mitte Juni haben wir manchmal noch rauhes Wetter, welches dem aus Süden Anreisenden doppelt empfindlich fällt. Beide Reisen mache man wo möglich mit Umgehung der Alpenpässe; die Eisenbahntour über den Semmering und die über Straßburg-Lyon sind jedenfalls allen anderen Linien vorzuziehen; wenn die Brennerbahn fertig sein wird, auch diese; vor der Hand kann diese niedrigste aller Alpeneinsenkungen bei mildem Wetter und in verschlossenem Glaswagen in einem Tage von Innsbruck bis Brixen oder umgekehrt wohl von den meisten Kranken ohne Gefahr überschritten werden. Man richte sich so ein, nur kurze Tagereisen zu machen und allenthalben bleiben zu können, sobald sich der Kranke zur Weiterreise unbefähigt fühlt. Meist wird man durch den Telegraphen geheizte Zimmer und gute Betten vorausbestellen können.

Gute Gesellschaft zu finden, ist bei einem solchen Winterexil eine Hauptbedingung. Wer es haben kann, bringt sich solche am liebsten mit; jeder Andere ist auf den Zufall angewiesen. Dem ließe sich aber recht gut abhelfen, wenn es Sitte würde, daß gegen den Herbst hin ein oder mehrere Parteien, welche einen Winter im Süden zuzubringen beabsichtigen, dies vorher in den Zeitungen oder durch ein Circular bekannt machen und Andere zum Anschluß auffordern wollten. Denn es giebt jetzt eher zu viele als zu wenige „Südensehnsüchtige“ in deutschen und anderen nördlichen Ländern.

Unzweifelhaft reisen schon jetzt eine Menge Leute nach dem Süden, welche nicht dahin passen, welche besser thäten, zu Hause zu bleiben und dort mit den nöthigen Vorkehrungen ruhig zu leben oder doch zu vegetiren. Andere versprechen sich Wunderdinge, rasche Erfolge, welche das Klima gar nicht leisten kann. Sie möchten, daß die Krankheit wie weggeblasen würde, und erwägen nicht, daß dieselbe gewöhnlich ein weit durch die edelsten Gewebe fortgewucherter Zerstörungsproceß ist, bei welchem der Sachkundige froh ist zu sehen, daß nach und nach allmähliche Vernarbungen, Verschrumpfungen, Vertrocknungen und Verkalkungen des krankgewesenen, für seine ehemalige Function unrettbar verloren gegangenen Organes oder Gewebes eintreten! – Ja, sogar um dieses Ergebniß zu erzielen, ist oft ein einziger Winter nicht genügend, sondern Patient [352] muß zwei oder mehr Winter hintereinander im Süden und während der Zwischenzeit in einem sorgfältig ausgewählten Sommeraufenthalt zubringen, wo möglich auch ohne strapaziöse Zwischenreisen. Dies sind solche Fälle, wo z. B. der Patient im Winter in Italien lebte, sich dann im Frühling nach den oberitalischen, im Sommer nach den Schweizerseen oder den Südtyroler „Sommerfrischen“ hin zieht; oder wo er den Winter in Malaga, den Sommer in Granada zubringt u. dergl.; oder solche, wo er wie ein echter Zugvogel im Herbst beim Genfer See anfängt, dann nach Nizza, später nach Pisa, Rom, Neapel, Palermo, Aegypten zieht, um im Frühling auf ähnliche Weise wieder nördlich zu wandern. (Wohlgemerkt, wenn seine Krankheit überhaupt und sein Geldbeutel ein derartiges Wanderleben verträgt!)

Soviel über die Südklimacur! Es giebt deren noch andere, wie oben erwähnt. So flüchten sich alljährlich Tausende während der heißen Jahreszeit in die „Sommerfrischen“ der Berge und waldigen Thäler, z. B. in unserer Nähe die Südtyroler und Oberitaliener in die Gebirge von Friaul, Krain (besonders nach Veldes), Tyrol (besonders in’s Pusterthal und dessen Nebenthäler), oder nach dem Engadin (St. Moritz, Samaden) und vielen Schweizer-Orten. Gleiches geschieht in anderen Welttheilen. Denn vor der Hitze und den Insektenstichen zu fliehen, ist fast noch wünschenswerther, als vor der Kälte, vor welcher man ja (wie besonders die Russen uns Deutschen lehren) sich mittels guter Einrichtungen schützen kann. – In andern Ländern flüchtet man im Sommer nach der See, weniger wegen des Badens, als wegen der stets fächelnden kühlen und stärkenden Seeluft. – Aber auch die Seereisen, besonders längere und nach den Passatgegenden gerichtete, gehören zu den wichtigeren Curmitteln, besonders für manche Arten der Lungentuberculose! – Mit der Zeit, mit den Fortschritten der vergleichenden Erd- und Klimakunde (Geographie und Klimatologie) wird man vielleicht noch mehrere, für besondere Leiden besonders dienliche Klima-Sorten und Klimacuren kennen und anwenden lernen. Für unseren Leserkreis wird jedoch Obiges wohl als Anregung völlig hinreichend sein.

Dr. Richter.




Blätter und Blüthen.

Das Tabaksgift in den Schnupfern. Der Chemiker Morin legte der Akademie zu Rouen seine Untersuchung der Leber und Lunge eines Greises vor, welcher seit vielen Jahren und bis an sein Ende geschnupft hatte. In beiden Organen fand sich das Nicotin (der giftige Bestandtheil der Tabakspflanze) reichlich und wurde sowohl durch Geschmack und Geruch, als auch durch chemische Reagentien deutlich nachgewiesen.


Der Vereinstag deutscher Vorschuß-, Credit- und Rohstoff-Vereine findet diesmal in Potsdam in der Pfingstwoche, während der Tage vom 10–12. Juni statt, und sind Anmeldungen dazu an den Director der Provinzialgewerbsschule, Herrn Langhoff in Potsdam, als Vorsitzenden des Centralcomité, sowie an Schulze-Delitzsch selbst zu richten.


Kleiner Briefkasten.

Für Wilhelm Bauer’s deutsches Taucherwerk sind (wie bereits in Nr. 21 angezeigt wurde) ferner, und zwar bis zum 10. Mai, eingegangen: 1 Thlr. von L. S. Chemnitz; 3 Thlr. 20 Sgr. durch die Katz’sche Buchhandlung von Bruchsal; 3 Thlr. 9 Ngr. vom Leseverein zu Laubegast; 2 Thlr. 20 Sgr. durch Adolf Degner von Lesern und Nichtlesern der Gartenl., am Wahltage des 28. April; 6 Thlr. 20 Ngr. von der Turngemeinde zu Biberach, durch die Dorn’sche Buchhdlg.; 1 Thlr. von Karl Dietrich aus Schönlinde; 1 Thlr. von einem Leser der Gartenl. in Elsterwerda; 2 Thlr. vom Gewerbeverein zu Pösneck, durch den Vorst. R. Härtel; 10 Thlr. von dem Directorium der deutschen Bekleidungsakademie (Müller, Klemm u. Schmidt) zu Dresden; 17 Ngr. von Best in W., durch G. C. Schulze in Leipzig; 1 Thlr. 3 Ngr. vom Prediger Steinbarth aus Kreischt bei Zielenzig; 1 Thlr. von Pfr. S. in Br.; 2 Thlr. ans Hainichen, von einer kl. Gründonnerstags-Abendgesellschaft; Thlr. von T. G. in Purschenstein; 2 Thlr. vom Apoth. Felgenbauer in Marklissa; 5 Thlr. von einer Quodlibet-Spielgesellschaft zu Reimerod in Nassau, durch Wasmuht das.; 10 Thlr. 3½ Sgr. aus Wittstock; 20 fl. rhn., Postz. Stuttgart, sonst ohne alle Bezeichnung; 1 Thlr. 25 Ngr. von dem Arbeiterpersonal der Schlegel’schen Portefeuillen. Stahlwaarenfabrik in Freiberg; 25 Thlr. von A. B. in Schneeberg; 1 Thlr. von Rechtsanwalt Reymann in Trzemeszno; 25 Thlr. vom Vorstand des Allgem. Gewerbevereins in Danzig (A. Kirchner und Adolf Gerlach); 2 Thlr. 27½ Ngr. aus einem Whistclub in Bremen und auf dem Comptoir von J. Kühlmann u. Comp. gesammelt; 2 Thlr. von K. u. P. in Leipzig; 1 fl. rhn. von H. G. in Baireuth; 7 fl. östr. von einigen Deutschen in Ofen; 26 Ngr. von J. Ostendorff in Ostercappeln, durch Ad. Meyer; 10 Thlr. vom Fortbildungsverein für Buchdrucker in Leipzig; fl. rhn. von G. T. in Hanau; 2 Thlr. von einigen Süßwassermatrosen der B. L. u. U.; 1 Thlr. 22 Ngr. von mehreren Lesern der Gartenlaube in Berka an der Ilm; 3 Thlr. 22½ Ngr. gesammelt von C. F. Wollsdorf in Conitz; 10 Thlr. von B., am 28. April, Postzeichen Pinne; 1 Thlr. von L. B. in Baireuth; 1 Thlr. von F. Schumann zu Schöppenstedt; 5 Thlr. 10 Ngr. von mehreren Bergbeamten zu Lugau und Umgegend, durch C. H. Büttner; 20 Neukreuzer von „einem Deutschen in Böotien“; 4 Thlr. 13 Ngr. 6 Pf. von Lesern der Gartenlaube in Meseritz, durch Dr. Menzel daselbst.

Eingegangen ferner bis zum 17. Mai: 2 Thlr. von S. in Eutin; Thlr. von einem Gärtnerburschen in Dresden; 3 Thlr. von L. Schneider auf dem Schwarzhammer b. Marktleuthen; 2 Thlr. von S. S. („Möchten die Deutschen immer einig sein!“); 20 Thlr. gesammelt vom Nationalverein am 10 Mai zu Leipzig; 2 fl. östr. von einem Leser der Gartenl. aus Deutschlandsberg in Steiermark; 43 Thlr. vom Turnverein zu Offenbach ; 3 Thlr. 7 Gr. vom Gewerbeverein zu Wolkenstein durch K. Röscher das.; 11 fl östr. von mehreren deutschen Theologen in Olmütz („Hoch, dreimal Hoch unser großes Vaterland!“); 6 Ngr. von C. u. G. in H.; 1 Thlr. von Max Meißner in Avignon; 5 Thlr. vom Gewerbeverein zu Bischofswerda, durch Em. Pache; 1 Thlr. 10 Ngr. von vier Leserinnen der Gartenlaube und dem Pastor H. zu Lissa; 1 Thlr. 7 Ngr. von Georg Reitel zu Hanau; 1 Thlr. von einer deutschen Gesellschaft auf der Ockelmühle bei Grosen (Dyhrenfurt in Schlesien); 3 Thlr. vom Leseverein zu Meuselwitz bei Altenburg, durch W. Pabst; 1 Thlr. 12 Ngr. von elf Lesern der Gartenlaube in Leipzig, gesammelt durch L. Eck, Lehrer der II. Bürgerschule; 1 Thlr. von der Harmonie zu Buchholz; 5 Thlr. 5 Ngr. von Lesern der Gartenlaube zu Schloen in Pommern, durch Lehrer Schmidt; 1 fl. rhn. von E. B. u. C. in Heidelberg; 1 Thlr. von Theod. Kley, Silberarbeiter in Karlsruhe; Thlr. 22 Ngr. von einigen Mitgl. d. Nationatvereins zu Crimmitschau, durch Cond. G. Meyer; 1 Thlr. von Rechtsanw. Segnitz zu Wermsdorf; 15 Sgr. von H. L.; 3 Thlr. vom Gewerbeverein zu Gifhorn, durch dessen Präsid., Buchhändler H. Schulze; 1 Thlr. 8 Ngr. durch H. F. L Hauser zu Gersfeld v. d. Rhön; 3 Thlr. 10 Ngr. gesammelt durch den Gestüts-Roßarzt Fr. Steinhoff zu Redefin in Mecklenburg-Schwerin.

Ad. Arnold in Stolp. Dank für W. Bauer’s Portrait-Photographie.

H. in W. Theodor Oelckers, der am 25. November vorigen Jahres mit der „Ernte“ in Hamburg unter Segel gegangen, erreichte Brasilien (Rio Grande do Sul) am 14. Februar und langte am 17. Februar auf einem brasilianischen Kriegsdampfer in Porto Alegre an, wo er sofort die Redaction der „Deutschen Zeitung“ übernahm und sich, wie er uns schreibt, ganz wohl befindet. Das ist Alles, was wir von ihm wissen.

S…x. Die Gedichte heineln stark, würden vielleicht wegen ihrer fließenden Leichtigkeit manchem Componisten zusagen; für die Gartenlaube eignen sie sich nicht.

G. J. St. (Kunstmühle) in Schw. wünscht, daß man, statt für eine deutsche Flotte „unter preußischer Junkerlichkeit“, in ganz Deutschland sammele, um für die Häfen von Hamburg, Bremen und Lübeck drei deutsche Mahner (Monitors) zu bauen. Wir legen den Wunsch der Oeffentlichkeit zur Prüfung vor.


Berichtigung. In Nr. 20 der Gartenlaube sind Traeger’s Gedichte 2. Auflage irrthümlich mit den Preisen der 1. Auflage angezeigt. Dieselben sind jetzt nur gebunden zum Preise von 1 Thlr. 10 N gr. zu haben.



  1. Nach anderen Nachrichten war er, der Sohn eines Kaufmanns, anfangs ebenfalls Kaufmann, und zwar erst in Stettin, später, nachdem er einige Zeit in der preuß. Armee gedient, in Dresden. Als es hier mit seinem Materialhandel bedeutend rückwärts gegangen, soll er die Generalacccise in den kursächsischen Ländern gepachtet und den Titel eines Acciserathes erhalten haben. Seiner örtlichen und praktischen Kenntnisse halber sollen ihm dann beim Beginn des siebenjährigen Krieges die Kornlieferungen für die preußische Armee in Sachsen anvertraut worden sein.
  2. Es kann nicht in der Absicht unserer Zeitschrift liegen, regelmäßige und ausführliche Berichte über die Ausstellung zu bringen. Dazu fehlt es uns an Raum und unsere Leser werden dies berücksichtigen und Ausführlicheres in größeren Blättern suchen. Dazu empfehlen wir ihnen die allbekannte Illustrirte Zeitung J. J. Weber’s, deren Programm das deutsche Publicum vollkommen zu befriedigen verspricht. Ihre Berichterstattung wird in zahlreiche Abschnitte zerfallen, deren jedem eine kurze Darstellung des bisherigen Standes der betreffenden Industrie vorangestellt werden soll. Eine allgemeine Einleitung (Statistisches und Eröffnungsfeierlichkeiten) beginnt die Artikelreihe, die, während der ganzen Dauer der Ausstellung, jede Woche fortgesetzt wird und außerdem den Schwerpunkt ihrer Berichterstattung in den deutschen Theil der Ausstellung legt. Jeder dieser Berichte wird die dazu nöthigen Abbildungen enthalten. Wir selbst werden uns auf einige besonders interessante Bilder aus der Weltausstellung beschränken.
    D. Red.