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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Unter Fremden.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben.
Von Otto Ruppius

Ein finsterer, schwerer Himmel lag über der Häusermasse der amerikanischen Stadt, daß die Gaslichter in den endlosen schnurgeraden Straßen kaum ihren nächsten Umkreis zu erhellen vermochten und die dunkeln, schweigenden Gebäude in unerkennbare Fernen hinauf zu wachsen schienen. Es war schon spät; nur dann und wann noch klang durch die Stille ein verschwindendes Wagengerassel oder das Lachen einer verspätet heimkehrenden lustigen Gesellschaft, während in langen Zwischenräumen raschen Schritts ein einzelner Fußgänger, vorsichtig sich von den Häusern entfernt haltend, den Seitenweg entlang eilte.

Da bog um die Ecke einer der breiten Straßen eine dicht verschleierte weibliche Gestalt, hielt scheu ihren Schritt an und schien auf ein ihr nachfolgendes Geräusch zu horchen, um dann fliegenden Schrittes und scheinbar unbekümmert um die eingeschlagene Richtung den sich vor ihr aufthuenden Weg zu verfolgen, und erst als sich ihrem Auge ein noch erleuchtetes Kellerlocal gezeigt und sie einen Blick durch die unverhüllten Fenster geworfen hatte, blieb sie stehen, athemschöpfend und dann wie unentschlossen bald durch die erhellten Scheiben, bald in die einsame Straße hineinblickend.

In diesem Augenblicke öffnete sich die Glasthür des Locals, um eine kräftige, untersetzte Figur in langer Schößenjacke und groben, leinenen Beinkleidern, die sich in den Schäften der starken Stiefeln verloren, hindurch zu lassen. Pfeifend schritt der Mann die kurze, steinerne Treppe hinan und prallte hier leicht vor der Frauengestalt zurück, welche einen raschen Schritt nach dem Eingange gethan hatte.

„Um Gotteswillen, Sir,“ begann die Letztere in geläufigem Englisch, ihren Schleier halb zurückschlagend, „können Sie mir nicht sagen, wo das Unionhotel ist? Ich habe mich in der Stadt verloren und finde Niemand, der mich zurechtweist.“

Der Angeredete maß die Sprecherin einen Augenblick vom Kopfe bis zu den Füßen, und ein eigenthümliches Lächeln glitt dann über das derbe, noch jugendliche Gesicht. „Verstehe verdammt schlecht Englisch, Miß,“ sagte er, „und nach Ihrem Unionhotel werden Sie wohl wo anders suchen müssen, als hier. ’s ist übrigens schon ziemlich spät dazu!“

„O, so verstehen Sie Deutsch!“ rief sie eifrig, in ein reines Hochdeutsch überspringend, als habe sie nur den ersten Theil seiner Antwort vernommen, und schien jetzt erst aufmerksamer die Gestalt des vor ihr Stehenden zu überfliegen, „ich möchte Sie herzlich bitten, nur eine kurze Strecke mit mir zu gehen, bis ich nicht mehr fehlen kann; ich bin schon mit Mühe nur den größten Unannehmlichkeiten aus dem Wege gegangen.“

„Kenne das, Kind!“ erwiderte der Andere, mit einem halben Lachen sich zum Gehen wendend, „solche Unannehmlichkeiten passiren eben nur nach Zwölf. Es thut mir ordentlich leid, daß Sie so hübsch deutsch sprechen können!“

„Noch einen einzigen Augenblick,“ rief die Fremde, welcher plötzlich der Sinn der erhaltenen Antworten klar geworden zu sein schien, während es sichtlich wie ein nervöses Zittern ihren Körper überlief, „ist nicht eine Frau hier unten?“

„Eine Frau?“ erwiderte der junge Mann, sich, wie von ihrem Tone betroffen, zurückwendend und nochmals ihre ganze Erscheinung musternd, die trotz ihrer Einfachheit eine tadellose Eleganz zeigte, „eine Frau ist nicht hier, aber wollen Sie mir wohl sagen, was Sie so spät auf der Straße zu thun gehabt? – es ist kaum eine Zeit zum gemüthlichen Spazierengehen!“

„Mein Gott,“ erwiderte Jene, als dränge sie gewaltsam einen Thränenstrom zurück, und schlug den Rest ihres Schleiers bei Seite, „ich bin vor einer Viertel- oder einer halben Stunde, ich weiß es selbst kaum mehr, mit dem Dampfboote angekommen und habe den Gepäckmann, der mich nach dem Unionhotel führen sollte, in der Dunkelheit verloren; nachher ist mir von mehreren Männern der Weg vertreten worden, ich habe mich in eine Nebenstraße geflüchtet und geglaubt, irgendwo einen Schutz zu finden, die Menschen haben aber meine Spur nicht verlassen, bis ich alle Richtung verloren –“ sie hielt inne, als wolle die Erinnerung ihre Fassung überwältigen.

Der Mann warf einen prüfenden Blick in das schwarzumrahmte bleiche Gesicht, in welchem die innere Erregung noch im Kampfe mit der äußern Controle zuckte, und trat einen halben Schritt näher. „Well, Miß, so habe ich wohl eine Dummheit gemacht, und nichts für ungut!“ sagte er zögernd, „bei der Nacht hat sich aber der Mensch vor Fledermäusen zu hüten! – Unionhotel!“ setzte er hinzu, mit der Hand unter seinen grauen Filzhut fahrend, „wenn Gott nicht besser weiß, als ich, wo es ist, so sieht es schlimm mit ihm aus, und nebenbei,“ fuhr er fort, einen plötzlich niedergefallenen Regentropfen von der Hand schleudernd, „wird’s keine fünf Minuten dauern, so bekommen wir ein Bad ohne Bestellung, wenn wir bis dahin nicht ein Unterkommen für Sie finden können. Gleich um die zweite Ecke von hier ist etwas wie ein Hotel, freilich nicht sehr vornehm; ich denke aber, es wird Ihnen wenigstens ein reinliches Nachtquartier geben.“

„Aber mein ganzes Gepäck ist nach dem Unionhotel gegangen!“ unterbrach sie ihn unschlüssig.

„Nun, morgen giebt es hoffentlich noch einmal einen Tag,

[674] daß sich danach sehen läßt – wir haben jetzt kaum eine Wahl, Miß!“ erwiderte er, mit der Hand die häufiger fallenden Regentropfen auffangend; sie blickte einen Moment mit sich im Kampfe zuerst die öde Straße hinab, dann auf den jungen Mann vor ihr und sagte, wie in einem kurzgefaßten Entschlusse den leichten Ueberwurf dichter um die Achseln ziehend:

„So lassen Sie uns gehen, Sie werden mich sicher nur dahin führen, wo ein anständiges Mädchen bleiben kann!“

Er nickte nur und schritt, ihr zwei Fußlängen voran, eilig die Straße hinauf. Erst an der angedeuteten zweiten Ecke blieb er, wie von einem Gedanken berührt, stehen. „Sie sind ganz allein angekommen?“ fragte er, sich nach ihr umblickend.

„Ich habe Freunde einige Meilen im Lande, die ich morgen früh aufsuchen will?“ erwiderte sie, er aber schüttelte kurz den Kopf.

„Ich frug wegen etwas Anderem, es muß aber auch so gehen! “ brummte er und schritt einem der räucherigen Häuser in der Seitenstraße zu, dort die Klingel ziehend. Erst nach einer Weile öffnete sich langsam die Thür, und mit einem Wink zum Folgen gegen seine Begleiterin trat er ein. In der schmalen Hausflur stand, eine trübe brennende Lampe in der Hand, ein Dienstmädchen, das sich sichtlich erst dem Schlafe entrissen und verwundert den Kopf hob, als die elegante weibliche Gestalt hinter dem jungen Mann hervortrat. „Hier ist eine Lady, Susy, die ein Bett für diese Nacht braucht,“ begann der Letztere, aber ein eifriges: „Wir dürfen Nachts keine einzelnen Frauenzimmer aufnehmen, sie kann nicht hierbleiben!“ schnitt seine Rede ab, und damit schien auch die Müdigkeit der Thürhüterin völlig verschwunden, deren Augen sich jetzt groß auf jede Einzelnheit in der Erscheinung der Fremden zu heften begannen.

„Weiß Alles, Susy, hier aber steh’ ich gut für die Lady, verstanden? “

„Kann nichts helfen, Mr. Reinert, Madam hat’s verboten, und ich nehme sie nicht auf.“

„Kann nichts helfen, wenn ich gut stehe?“ rief der Mann in einem Tone, in welchem sich Humor und Aerger mit einander stritten, „dann hätte freilich die Liebe ein Ende, und ich müßte für alle Zukunft sehen, ob mein Wort anderwärts nicht etwas gilt. Jetzt brennen Sie ein Licht an und bringen die Lady nach einem Zimmer mit einem ordentlichen Bett, oder Sie wecken Madam, daß die Ihnen ein Licht aufsteckt, wie man anständige Leute behandelt! So steht’s, Susy!“

Die Fremde war mit bleichem, regungslosem Gesichte der Verhandlung gefolgt und trat jetzt mit gehobenem Kopfe heran. „Sie können mir ruhig ein Unterkommen für die Nacht geben, Kind; ich werde morgen Ihre Madam selbst sprechen,“ sagte sie mit der eigenthümlichen, sichern Gehaltenheit, welche die Frauen der höhern Stände im Verkehr mit niederer Stehenden kennzeichnet, „übrigens sollen Sie sich nicht umsonst noch in später Nacht Mühe machen!“ und nach einem langen, zweifelhaften Blicke, bald über die ganze Erscheinung der Herangetretenen bald in das Gesicht des jungen Mannes, störte die Widerspenstige endlich den Docht ihrer Lampe auf, um zögernd aus dem Hintergrunde der Hausflur zwei Leuchter, jeden mit einem Stümpfchen Licht versehen, herbeizuholen, es ungewiß lassend, ob die Aeußerungen des jungen Mannes oder das Wesen der Fremden eine Aenderung ihres Entschlusses herbeigeführt.

„Und wollen Sie mir nicht Ihren Namen sagen, im Fall ich Sie nicht wieder sehen sollte?“ begann die Letztere sich an ihren Helfer wendend und streckte diesem eine weiße, vom Handschuh befreite Hand entgegen, als die Thürhüterin Miene machte, die Treppe hinauf voranzugehen; „ich möchte doch wenigstens wissen, wem ich meinen Dank schuldig bin!“

„Wird kaum viel an meinem Namen gelegen sein, und jedenfalls sehe ich Sie morgen früh noch einmal wegen des Gepäcks!“ lachte der Angeredete, die dargebotene Hand kräftig schüttelnd, „indessen heiße ich Michael Reinert und habe mit einem Geschäftscollegen einen Milch- und Gemüsehandel, da wo Sie mich trafen. Wär’s nicht gerade gewesen, daß Einer von uns auf die Farmerwagen warten mußte, so wären Sie wahrscheinlich noch nicht gleich in’s Trockene gekommen!“

Die Fremde hatte das ihr angewiesene Zimmer betreten, das Dienstmädchen mit einer Gabe weggesandt und ließ jetzt mit einer Art halber Scheu die Augen über jeden Gegenstand im Zimmer gleiten. Es zeigten sich eben nur vier kahle, weiße Wände, ein breites, hochbeiniges Bett, das kaum mehr als eine Strohmatratze zu enthalten schien, ein Waschtisch mit thönernem Waschbecken und gleichen, Wasserkrug und ein Stuhl mit hölzernem Sitze. Als sie langsam ihren Hut abgelegt, schien sie ein kurzer Schauer zu überkommen, aber wie sich gewaltsam ermannend machte sie einen raschen Gang durch den kleinen Raum, schob den Riegel vor die Thür und schlug dann die wattirte Decke des Bettes zurück, als wolle sie sich von dem Zustande desselben überzeugen. Das kurze, trübe brennende Licht, das sie zur Eile zu mahnen schien, wenn sie noch im Hellen zur Ruhe kommen wollte, gab ihr wenig Hülfe für ihre Untersuchung; sie entledigte sich, wie in kurzem Entschlusse, nur ihrer äußeren Umhüllung, ihres Kleides und ihrer zierlichen Stiefeletten, und streckte sich dann, nochmals mit einem forschenden Blicke jeden Winkel des Zimmers durchlaufend, auf dem harten Lager aus. Sie hatte kaum langsam die Decke über sich gezogen, als das Licht mit einem kurzen Aufflackern erlosch und die weißen Wände nur in den einzelnen schwachen Strahlen, welche eine entfernte Straßenlaterne durch das Fenster hereinwarf, sichtbar wurden. Draußen goß der Regen nieder, und unwillkürlich verfolgte die Daliegende das Geräusch des fallenden Wassers, bis sich ihr Ohr einen ganzen Rhythmus daraus zu bilden begann und die unsichern, Lichtstreifen an den Wänden sich danach zu bewegen schienen; aber die monotonen Laute übten eine eigenthümlich beruhigende Wirkung auf ihre erregten Nerven, und ungerufen begannen vor ihrer Seele klare, bestimmte Bilder aufzutauchen.

Da war ein heller Frühlingsmorgen, an welchem sie, noch ein halbes Kind an Geist und Körper, zuerst amerikanischen Boden betreten. Sie kam über das Meer vom Todesbett einer heißgeliebten Mutter, deren letzte Worte für sie gewesen waren: „Lucy, lerne Dich fügen, und es wird Dir wohlgehen!“ Aber dieses „sich fügen lernen“ hatte sie schon so oft als Kind hören müssen und stets hatte sie dabei gefühlt, als werde ihr klarstes Recht damit unterdrückt, daß es selbst gegen die letzte Ermahnung des geliebten Mundes sich wie Opposition in ihr geregt halte. Und erst später sollte sie den Sinn der Worte völlig kennen lernen. Nun war sie mit einem Bruder ihrer Mutter, welchen die langwierige Krankheit derselben aus seiner amerikanischen Heimath über das Meer geführt, als Waise nach der neuen Welt gekommen und war in eine Familie eingetreten, in der jedes Gesicht und jedes Herz ihr fremd gegenüberstand. Und sie war kein Kind, das sich leicht anschmiegte oder durch Liebenswürdigkeit fesselte. Sie hatte ihrer Pflegemutter, die sie als eine unvermeidliche Last empfangen, versprochen, ihren Pflichten gehörig nachzukommen, und sie that dies, ohne doch damit mehr zu erreichen, als die beiden jungen Cousinen, welche sie vorgefunden, neidisch und ihre Pflegemutter sich mit jedem Tage abgeneigter zu machen. Anfänglich wohl hatte die Anerkennung ihres Verhaltens nicht ausbleiben können; als aber Lucy diese kaum wärmer als wie etwas Selbstverständliches aufzunehmen schien, als im Familienverkehr ihr gerader, eigenthümlicher Charakter sich oft störend geltend machte, während sich doch kaum ein anderer Grund als ihre Schroffheit zu einem Verweise finden ließ: da hatte sie bald selbst die laue Freundlichkeit ihrer Pflegemutter schwinden fühlen, hatte bald mehrfach Ungerechtigkeiten derselben ertragen und zuletzt sich als „daß unangenehme Ding, mit dem kaum auszukommen sei“, bezeichnen hören müssen.

Dann kam die Zeit, in welcher sie Jungfrau wurde. Sie begann sich rascher und vortheilhafter zu entwickeln als ihre Cousinen, und ein wunderbar natürlicher Takt schien das bei ihr zu vollbringen, was sonst nur eine bildende und regelnde Muttersorge schafft; ihre Bildung war nach den Ansprüchen der sie umgebenden Welt fast eine vollendete; sie hatte gewußt, daß es die Trümmer ihres elterlichen Vermögens waren, durch welche ihr die Erlangung von Kenntnissen und Fertigkeiten wurde, daß das, was sie lernte, ihr einziges Kapital für die Zukunft war, und sie hatte sich in unermüdlichem Eifer ihren Studien, die sie[WS 1] oft ihre unangenehme Stellung vergessen ließen, hingegeben; jetzt aber wollte es ihr oft scheinen, als betrachte ihre Pflegemutter ihre ganze Persönlichkeit nur als ein Hinderniß, ihre eigenen Töchter in das rechte Licht zu setzen; wo sie früher nur auf Kälte und Vernachlässigung getroffen, da meinte sie jetzt absichtlichen Demüthigungen zu begegnen, sie glaubte bei einzelnen Gelegenheiten in dem Auge ihres Pflegevaters zu lesen, daß er das ihr angethane Unrecht empfinde, aber es nicht wage, ihre Partei zum Nachtheil seiner eigenen Töchter zu nehmen, und die Ueberzeugung begann von einem Tage zum andern mehr [675] Platz in ihr zu greifen, daß für lange nicht mehr ihren Bleibens in der Familie sein könne, wenn sie sich nicht innerlich aufreiben wolle, daß sie freiwillig gehen müsse, wenn sie nicht einmal durch den Ausbruch ihrer verwundeten Seele unvorbereitet dazu gezwungen werden solle. Wohin aber in dieser unbekannten Welt, war ihr so lange unklar, bis ihr eines Tags bei einem Blick in die Zeitung die Ankündigung einer offenen Stelle für eine Erzieherin in einer Familie der südlichen Grenzstaaten vor die Augen kam.

Schon zwei Stunden darauf war ein Brief von ihr an die bezeichnete Adresse abgegangen. Sie dachte nicht daran, daß Empfehlungen und Zeugnisse für ein derartiges Unterkommen nothwendig seien; sie hatte, wie die Erregung des Augenblicks es ihr eingegeben, ihre Lage kurz geschildert und ihre Kenntnisse aufgezählt, und erst bei ruhigerem Blute wollten Bedenken in ihr aufsteigen, ob sie nicht zu voreilig gehandelt, ob sie sich nicht mit ihrer Offenheit, völlig fremden Menschen gegenüber, der Lächerlichkeit preisgegeben. Und zugleich, wenn sie an die Möglichkeit einer Annahme ihres Anerbietens dachte, überkam sie ein Zagen vor den neuen unbekannten Verhältnissen, vor dem ungewohnten Wirkungskreise, dem sie vielleicht nicht einmal gewachsen – diese Regung schwand indessen, je mehr sie sich zwang, das, was sie im schlimmsten Falle treffen und von ihr gefordert werden könne, klar vor die Augen zu stellen, und zuletzt blieb ihr nur noch die Sorge, vielleicht ganz ohne Antwort gelassen zu werden. Aber eine Antwort kam, schneller als sie gehofft; mit einem verwunderten Blicke auf das Postzeichen legte ihr Pflegevater das geschlossene Convert in ihre Hand, und mühsam ihre Erregung verbergend, suchte sie ihr Zimmer. Es war eine sonderbar lakonische Antwort. Wenn sie den Muth in sich fühle, einen Versuch bei ihrer mangelnden Erfahrung, selbst auf die Gefahr des Mißlingens hin, zu machen, so möge sie kommen, hieß es, und eine Banknote im ungefähren Betrage des Reisegeldes war beifügt. Nur einige Secunden lang stand sie mit ihrem letzten Entschlusse kämpfend, dann ging sie zu ihrem Pflegevater.

Schon am nächsten Tage hatte sie ihre Heimath im Rücken. Ihr bisheriger Schützer hatte nur wenige schwache Bedenken ihrem Plane entgegen zu setzen gehabt, und fast hatte es ihr scheinen wollen, als fühle er sich mit ihrem Gehen einer stillen Last enthoben. Indessen hatte er ihr beim Abschiede eine Hundertdollarnote in die Hand gedrückt und ihr gesagt, sie möge, falls sie in Verlegenheit gerathe, nie vergessen, wo ihre zweiten Eltern wohnten; ihre Pflegemutter aber hatte sich über eine augenblickliche Betroffenheit, welche sie bei der Ankündigung von dem Entschlusse des Mädchens überkommen, leicht hinweggeholfen und gemeint, einige Zeit unter fremden Leuten werde nur heilsam auf Lucy’s Charakter einwirken. Ihren beiden Cousinen war es bei der Nachricht von ihrer bevorstehenden Abreise sichtlich leicht geworden, und so hatte sie ihren eigenen Weg zur Bildung ihrer Zukunft angetreten, hatte einen wunderbaren Muth in dem Gedanken, sich jetzt frei und selbstständig bewegen zu können, gefunden, zugleich aber sich vorgenommen, jeden Cent ihres Geldes zu Rathe zu halten, um im Falle des „mißlungenen Versuchs“ welcher ihr in Aussicht gestellt worden, nicht in die Nothwendigkeit versetzt zu werden, vor Erlangung eines andern Unterkommens in ihre bisherige Heimath zurückkehren zu müssen – und so war sie mit dem Dampfboote in der großen Stadt, kaum einige Meilen von ihrem Bestimmungsorte, am späten Abend angelangt. Sie hatte, um Kosten zu ersparen, ein ihr bezeichnetes Hotel zu Fuße erreichen wollen, war aber schon bei den ersten Schritten auf dem Boden ihrer neuen Selbstständigkeit in Verlegenheiten gerathen, die sie in ihrer geschützten Stellung bis jetzt kaum geahnt, und es hatte zuletzt des kräftigsten Aufraffens ihres Muthes bedurft, um das Vertrauen auf sich und eine erträgliche Zukunft wieder zu gewinnen.

Draußen schlug der Regen noch immer auf das Pflaster, bald einen Marsch trommelnd, bald mit dem herbeieilenden Winde eine Galoppade versuchend, und sobald der Schlummer sich auf die Augen des ermüdeten Mädchens senken wollte, schreckten ihn unheimlich auftauchende Traumgestalten wieder hinweg. Erst nach geraumer Zeit nahm sich endlich die körperliche Erschlaffung ihr Recht und legte über sie den tiefen, traumlosen Schlaf der kräftigen Jugend.

Ein heller Morgen weckte die Ruhende, und mit den jungen Sonnenstrahlen war auch ihr Muth in voller Frische wieder erwacht. Das kahle Zimmer um sie erweckte jetzt mehr ihr Interesse als das gestrige Gefühl der Unheimlichkeit – sie hatte noch nie in das Innere eines dieser zahlreichen Kosthäuser für die junge arbeitende Bevölkerung gesehen, und ohne besonderen Widerwillen machte sie Gebrauch von den für ihre kurze Toilette vorhandenen Geräthschaften. Als sie endlich die Treppe hinab schritt, um die nöthigen Maßregeln zu einem baldigen Verlassen des Hauses zu treffen, blickte ihr aus der Hausflur bereits ihr Koffer nebst ihrer Reisetasche entgegen, in der offenen Thür nach der Straße aber stand ihr gestriger Helfer im Gespräche mit einer frischen, sauber gekleideten Frau und hob mit einem jovialen Schmunzeln die Augen nach ihr.

„Ich habe schon für die beste Legitimation gesorgt,“ sagte er auf das Gepäck deutend, „sie hier ist wie ein grimmiger Wolf in gewissen Dingen, ich aber vor Allen wäre halb zerrissen worden, wenn nicht Alles sauber gewesen!“

Die Frau sah mit einer Kopfbewegung voll launiger Drohung nach dem Sprecher und kam dann ihrem Gaste entgegen. „Sie werden es nicht gefunden haben, wie Sie es gewohnt sind, Miß, und auch nicht so aufgenommen worden sein, man kann sich hier aber nicht genug vorsehen,“ sagte sie, die Thür zu dem nächsten Zimmer öffnend. „Wollen Sie jetzt hier herein treten und sagen, was Ihre Wünsche sind, so brauchen Sie nicht erst noch einmal ein anderes Hotel aufzusuchen!“

Eine halbe Stunde darauf hatte Lucy von ihrem Zufluchtorte Abschied genommen, hatte dem „Milch- und Gemüsehändler“, der ihr lachend Vorsicht für die Zukunft empfohlen, da sie nicht immer einen so ehrlichen Kerl auf ihrem Wege treffen würde, den Wunsch ausgedrückt, ihm den geleisteten Dienst einmal vergelten zu können, und rollte in einem gemietheten Wagen der Farm entgegen, welche in glücklichem Falle ihre neue Heimath werden sollte. Der Kutscher hatte wohl gemeint, den „angegebenen Platz“ zu kennen; auf ihre vorsichtig gethanen Fragen nach der Familie aber halte sie von keiner Seite Auskunft erhalten können und unwillkürlich prüfte sie sich jetzt, ob sie im Stande sein werde, auch weniger angenehme Verhältnisse dauernd zu ertragen. „Lerne Dich fügen!“ klangen ihr die Worte ihrer Mutter wieder in´s Ohr, und sie glaubte dies unter fremden Menschen eher ermöglichen zu können, glaubte in einer bestimmt bezeichneten Stellung eher ihre Genugthuung, selbst unter schwierigen Verhältnissen, zu sinken, als unter Leuten, welche sie die Ihren nennen sollte und die es doch niemals gewesen waren.

Eine Stunde lang mochte sie unter den verschiedenartigsten Bildern, welche sie sich von dem sie erwartenden Orte zu machen gesucht, gefahren sein, als der Kutscher plötzlich die Pferde anhielt und um sich blickte. „Der Platz muß jedenfalls hier herum sein, und ich kann nicht begreifen, daß ich nirgends ein Anzeichen sehe!“ sagte er, während er von Neuem die ganze Umgebung durchspähte.

Lucy wandte zum ersten Male mit Bewußtsein ihr Auge der Landschaft zu. Rechts von der schmalen Straße erstreckten sich weite eingezäunte Felder ohne irgend eine Spur eines Wohnhauses, links zog sich aus einem rasigen Abhange niedriges Gebüsch hin, das in kurzer Entfernung von dem Wagen wieder an endlose Felder schloß.

Mit einem Kopfschütteln stieg der Kutscher ab, band die Pferde an die nächste Einzäunung und wandte sich rückwärts, um sich zu orientiren; das Mädchen aber saß noch nicht lange allein, als sie am Ende des Gebüsches eine Männergestalt, sichtlich mit irgend einem Gegenstande beschäftigt, auftauchen und zwei Negerköpfe ihr folgen sah. Ohne langes Bedenken verließ sie den Wagen, um selbst die nöthigen Erkundigungen einzuziehen, und stand nach wenigen Secunden vor einem hohen Manne in farmermäßigem Sommeranzuge, mit breitem Filzhute über einem von schwarzem Bartwuchse eingerahmten, kaum mehr jugendlichen Gesichte, das sich in einer eigenthümlichen Aufmerksamkeit hob, als sie ihre Frage that.

„Ihr Kutscher hat eine halbe Meile von hier die falsche Straße eingeschlagen!“ sagte er, nachdem sein großes dunkeles Auge ihre ganze Erscheinung überflogen hatte; „er kann nicht fehlen, wenn er dort die Richtung links nimmt!“ und mit einer leichten Verbeugung wandte er sich wieder den beiden Negern zu; Lucy aber meinte noch niemals in ein Auge geblickt zu haben, das so wie dieses auf den Grund ihrer Seele zu dringen schien, ohne doch in seiner Schärfe etwas Verletzendes für sie zu haben. Sie sah, sich umwendend, wie der Kutscher bereits ihr Gespräch bemerkt, und bald hatte dieser mit einem: „So ist es, wenn man seine geraden Straßen gewohnt ist!“ die Pferde wieder zurück gewandt.

[676] Ein zweistöckiges, aus gebrannten Steinen erbautes Landhaus, mit einer zierlichen Veranda versehen, tauchte nach kurzer Fahrt am Ende eines mit wohlgepflegten Schattenbäumen besetzten Rasenplatzes auf. „Das ist der Ort!“ sagte der Kutscher, und mit hellem Blicke überflogen die Augen des Mädchens das Haus wie die sauber gehaltenen Umgebungen. Nach dem Eindrucke, welchen das Gesammtbild auf sie hervorrief, meinte sie, es müßten sehr schlimme Verhältnisse kommen, wenn sie hier nicht nach ein oder der andern Seite hin eine Befriedigung finden sollte. Ein wohlerhaltener Fahrweg führte in einer Kreiswindung nach dem Eingange des Hauses, und schon in halber Entfernung sah sie dort eine den Wagen erwartende Gestalt in der Veranda erscheinen, fast berührte es sie aber wie ein leichter Schreck, als ihr beim Halten dieselbe Persönlichkeit, welche sie kaum erst auf dem Felde getroffen, langsam entgegenkam und ihr dasselbe durchdringende Auge wie dort begegnete. „Miß Lucy Hast wahrscheinlich!“ sagte der Herantretende, ihr leicht die Hand zum Aussteigen bietend, „und so erlauben Sie,“ fuhr er auf ihre bejahende Verneigung fort, „daß ich mich Ihnen gleich selbst als Major Wood, den Beantworter Ihrer Offerte nenne.“ Er wandte sich, während der Kutscher den Koffer ablud, nach dem Hause und zog kräftig die Thürklingel. „Hierher, Flora!“ rief er, als im Hintergrunde der das Haus durchschneidenden „Halle“ sich das Gesicht einer alten Mulattin zeigte, „die Lady hier wird das neueingerichtete Zimmer im obern Stock bewohnen, und Du sorgst pünktlich für ihre Bedienung, siehst auch jetzt sogleich auf Unterbringung des Gepäcks.“

Dann aber drehte er sich mit einem: „Wenn Sie mir nachher einen Augenblick folgen wollen, Miß –“ dem Mädchen wieder zu, welches so eben den Kutscher ablohnte, und schritt ohne weitere Ceremonie nach dem Innern des Hauses voran. Es lag eine Unumwundenheit und Bestimmtheit in seinem Auftreten, die von den gewöhnlichen Höflichkeitsformen kaum viel zu wissen schien, und Lucy fragte sich unwillkürlich, ob dies die allgemeine Weise eines Mannes sein könne, der seiner Sprache und Bewegung, seiner weißen, geschonten Hand und dem sauber bekleideten kleinen Fuße nach zur modernen Welt gehören mußte, oder ob dieser Ton nur ihrer künftigen Stellung in seinem Hause gelte? demohngeachtet fühlte sie sich dadurch schnell über die leichte Befangenheit, welche meist der erste Eintritt in neue, unbekannte Verhältnisse erregt, hinweggehoben und dieser Geradheit gegenüber eine eigenthümliche Sicherheit in sich erwachen. Mit einem freundlichen Nicken gegen die Dienerin, deren gelbes Gesicht in wohlgefälligem, halb verlegenem Grinsen zu der neuen Erscheinung aufsah, folgte sie rasch dem Vorangegangenen und trat eben in das von diesem geöffnete Zimmer, als er sie dort mit einem leichten: „Miß Hast ist angekommen, die Erzieherin, von welcher ich bereits gesprochen!“ anzukündigen schien, sich aber beim Rauschen ihres Kleides rasch nach ihr umwandte. „O, Sie haben Ihr Geschäft bereits abgethan, very well!“ sagte er, und Lucy fühlte wieder diesen Blick voll eigenthümlicher Beobachtung auf sich ruhen. „Hier ist Mrs. Lowell, meine Schwester, welche an der Stelle meiner verstorbenen Frau meinem Hauswesen vorsteht,“ fuhr er dann fort, nach einer ältlichen Dame deutend, die steif in einen Lehnstuhl zurückgelehnt, der Eingetretenen das Gesicht langsam zudrehte; „Sie wollen sich mit ihr verständigen, und später sehe ich Sie dann selbst wieder!“

Das Mädchen trat der Dasitzenden entgegen, während das Klappen der Thür die Entfernung des Hausherrn andeutete, wartete aber umsonst auf ein Begrüßungswort. Kalt ruhte das graue Auge der Dame auf der Nahenden, und nur wie der Nothwendigkeit nachgebend, deutete sie auf einen unweit befindlichen Stuhl. „Die Erzieherin – so?“ begann sie, ohne den steifen Ausdruck ihres Gesichts zu ändern, „es ist das erste Wort, was ich davon höre, wenn er auch sagt, er habe davon gesprochen. Er kann natürlich thun und lassen, was er will, aber er soll dann die Leute mir nicht auf den Hals schicken. Ueberhaupt sehe ich nicht ein, wozu eine Erzieherin nothwendig ist, wo es so viele ausgezeichnete Institute giebt – das ist aber einmal wieder eine von den Ideen des Majors, die kein anderer Mensch hat!“ Sie schüttelte kurz den Kopf und blickte nach dem Fenster.

Lucy war einen Schatten blässer geworden. „Ich weiß kaum, wie ich Ihre Worte deuten soll, Ma’am,“ sagte sie nach einer augenblicklichen Pause, sichtlich eine aufsteigende Erregung niederkämpfend, „und Sie setzen mich dadurch in eine eigenthümliche Lage. Ich bin einer bestimmten Aufforderung, mich hier einzufinden, gefolgt und hatte natürlich darauf gerechnet, mich der Dame des Hauses anschließen zu dürfen; meinerseits hätte es sicher an nichts fehlen sollen, mich einer erwiesenen Freundlichkeit werth zu zeigen, und vielleicht können Sie sich vorstellen, wie weh es einem jungen Mädchen, das zum ersten Male unter Fremde tritt, thun muß –“

Eine Handbewegung der alten Dame unterbrach die Sprecherin. „Ich will Niemand wehe thun, ich möchte nicht, daß so etwas von mir gesagt würde, ich spreche nur meine Ansichten aus, die ich wohl eben so gut haben darf, wie Andere,“ sagte sie, den Kopf würdevoll zurücklehnend; „ich habe vom Anfange mit Ihrer ganzen Angelegenheit nichts zu thun gehabt und möchte jetzt also am wenigsten mein Wort hinein geben – indessen, wie gesagt, will ich Niemand wehe thun, ich weiß nur von Allem, was da geschehen sein mag, nichts;“ – sie machte auf’s Neue eine Handbewegung, die kaum anders denn als ein Entlassungszeichen gedeutet werden konnte, und Lucy erhob sich zögernd von der Ecke des Stuhls, welche sie eingenommen. „Guten Morgen, Miß!“ schloß die Redende mit einer halben Kopfneigung, ein geöffnetes Buch von ihrem Schooße aufnehmend, und das Mädchen sah keine andere Wahl, als das Zimmer zu verlassen.

(Fortsetzung folgt.)




Das hundertjährige Jubiläum der Bleistiftfabrik von Faber,
in Stein bei Nürnberg.
Von Herbert König.

Im September des Jahres 1761 richtete der alte Faber, zünftiger Bleistiftmacher und Bleiweißschneider zu Nürnberg, sein „Krämchen“ her. Es bestand dies aus einem kleinen Laden, in dem er die fertige Waare kunstreich aufgestapelt hatte, und mehreren dunkeln Stuben und Kammern, die er gern seine Fabrik nennen hörte. Er hatte bei vieler Arbeit sein leidliches Brod, denn seine Bleistifte galten schon damals Etwas – auch war er sonst ein zufriedener Mann, der sich in seinen Söhnen geschickte Nachfolger heranzog. Nur ein Schmerz durchzuckte ihn, ein leiser Aerger beschlich das sonst so neidlose Gemüth, wenn er vom stolzen England hörte mit seinen berühmten Bleistiften, die aus den massiven Blöcken des reinsten Cumberlandschen Graphit gefertigt wurden, den keine heimische Composition ersetzen wollte, weder die von Graphitpulver und feinstem Thone, noch eine andere, und wäre sie noch so sinnreich gewesen. Im Wachen und Träumen stand ihm der englische Bleistift als unerreichtes Musterbild vor der Seele, und selbst in seinem letzten Stündlein soll er den Umstehenden zugeflüstert haben: „Kinder! thut’s den Englischen nach – wenn auch nicht zuvor!“

Ein volles Jahrhundert ist seitdem verflossen, und die Nachfolger des alten deutschen Fabrikanten haben auf’s Rühmlichste die Mahnung ihres Urahnen beherzigt, und das englische Fabrikat an Güte nicht allein erreicht – sondern es sogar übertroffen.

Es ist die berühmte Bleistift-Fabrik von A. W. Faber in Stein bei Nürnberg, welche in diesem Jahre ihr hundertjähriges Jubiläum feierte und abermals den Beweis lieferte, wie deutscher Fleiß, wie rastlose Energie und Ausdauer unserer Landsleute niemals fremdländische Concurrenz zu fürchten hat.

Jemehr es nun Pflicht der heimischen Presse und Journalistik ist, alles Das hervorzuheben und zu beleuchten, was unserm Vaterlande zur Ehre gereicht, um so mehr – und wir können es nicht unterdrücken – finden wir es unverzeihlich, wie in einem bekannten Conversations-Lexikon unter der Rubrik „Bleistifte“ unter Andern gesagt werden kann: „Die englischen sind die besten. Diesen stehen die Wiener und Pariser am nächsten; gröbere Sorten jedoch werden in Deutschland, namentlich in Nürnberg, gefertigt.“

Dieses – Versehen einigermaßen wieder gut zu machen, war zum Theil die leitende Idee, die zu diesem Aufsatze Veranlassung

[677]

[678] gab und somit einem Unternehmen gerecht zu werden wünscht, das bereits seit länger als zehn Jahren eine europäische Berühmtheit erlangt hat und seine Artikel nach den fernsten Theilen der Erde versendet.

Und, meine Herren und Damen, ein guter Bleistift ist wahrlich keine Kleinigkeit, so wie ein schlechter selbst den ruhigsten Menschen zur Verzweiflung bringen kann. Deshalb wird ihn nicht allein der zeichnende Künstler zu schätzen wissen, sondern auch der Geschäftsmann, wenn er die Course notirt, oder die Hausfrau, wenn sie ihre Ausgaben bucht. Und so der Eine wie der Andere kann es nicht vertragen, wenn der Bleistift knirscht und das Papier zerkratzt, und zuletzt die Spitze abbricht, was jedem feinfühlenden Wesen einen Stich in’s Herz geben muß. Aber ein wahres Gaudium ist es, wenn das schöne Blei vom glänzendsten Schwarz bis in die feinsten Silbertöne über die weiße Papierfläche fährt und weder den Zeichner noch den Schreiber in ihrem Gedankenfluge hindert, sondern demselben ganz gazellenfüßig vorauseilt. Wer das nicht begreift und einsieht und nachempfindet, der stehle sich weinend aus dem Bleistiftbunde, oder überschlage diese Seite. Denn wie man den Menschen in seinem Umgange zu erkennen pflegt, kann man vielleicht mit gleichem Recht den Menschen nach seinen Bleistiften beurtheilen und das Paradoxon aufstellen: Sage mir, mit welchem Bleistifte Du umgehst, und ich will Dir sagen, wer oder was Du bist. So wird der abstrakte Verstandesmensch einen harten Bleistift einem weichen vorziehen, wie umgekehrt eine weiche, empfindsame Natur den weichen einem harten. Der Geizhals hingegen wird jedesmal den billigsten Bleistift wählen, also den schlechten, gleichviel, ob er sich mit diesem Instrument sein ganzes Leben hindurch jämmerlich abarbeitet.

Selbst eine ernste Sache verträgt ein humoristisches Gewand und bewahrt uns oft vor falschem Pathos. In diesem Sinne wurde vorstehende Composition entworfen, die das hundertjährige Jubiläum gedachter Fabrik allegorisch behandelt und wozu wir einige begleitende Worte folgen lassen wollen.

Wohl noch zu größerm Ruhme, als die Ertheilung von Preis-Medaillen der Industrie-Ausstellungen fast aller Nationen, gereichten dem Chef der Fabrik, A. W. Faber, die Zeugnisse der ersten Autoritäten deutscher und ausländischer Kunst. Namen, wie Cornelius und Overbeck, Kaulbach, Bendemann, Lessing und Horace Vernet, gewiß über jedes Vorurtheil erhaben, sprechen sich in anerkennendster Weise über dessen Fabrikat aus, und namentlich der edle Bendemann behandelt das Thema mit besonderer Wärme und Liebenswürdigkeit, während er sagt: „Indem ich Ihre Faber-Polykrates-Bleistifte[1] entschieden allen übrigen, selbst den englischen vorziehe, habe ich mich mit einem gewissen Stolze von den letzteren emancipirt.“

Eingedenk des vortrefflichen Künstlers, der mit so patriotischem Interesse hier auftritt, schlug unserm Zeichner der Schalk in den Nacken, daß er auf seinem Bilde einige der Bendemann’schen Figuren (aus dem Dresdner Thronsaal) anbrachte: Moses in der Mitte, weiter unten Constantin, Lykurg und Solon, jeden mit seinem Wahlspruche, wenn auch, dem Zwecke entsprechend, etwas variirt.

Inmitten sitzt, nach rastloser Arbeit ruhend, die alte respektable Firma Faber, in der Person des Gründers der Fabrik. Statt eines Feldherrnstabes (obwohl er vollkommner Herr auf seinem Felde ist) hält er einen Bleistift in der Hand; auch ruht er nicht auf Lorberen, sondern auf seinen lieben Bleistiften. Von beiden Seiten strömen Glückwünschende heran mit allerlei Gaben, und anmuthige Frauengestalten, moderne und phantastische, reichen ihm die Kronen der Kunst und des Bürgerthums. Auch fehlt im Vorgrunde der Humor nicht, in Gestalt des kleinen Knaben mit einer Narrenkappe, der auf seinem Griffel wie auf einem Steckenpferde reitet. Links spitzt ein alter Dorfschullehrer mit wichtiger Miene einen schönen neuen Bleistift, und die Kinder sehen ihm andächtig zu. Der Schreibende auf der andern Seite, auf bequemem Lehnsessel am geschnitzten Pulte, deutet auf die beiden Faber’schen Häuser in Paris und New-York. Einen prächtigen Cedernstamm, denn dies edle Holz wird bekanntlich zu den bessern Bleistiften verwendet, tragen Gestalten, welche die vier Hauptsorten der Bleistifte repräsentiren. Auch des Bergmanns ist gedacht, denn der Graphit kommt aus der Erde und muß tausend und abertausendmal durchgeknetet werden, wie uns der kräftige Arbeiter zeigt. Ueber dem Ganzen aber thront, als nervus rerum, die Fabrik selbst (die im Umfang fast einer kleinen Stadt gleicht), und ihre Schlote dampfen lustig bei Tag und Nacht, wie es bei einer wackern Fabrik Sitte ist.

Und wer in Zukunft einen guten Bleistift in die Hand nimmt, gedenke dabei des Meisters Faber und seiner Fabrik und des hundertjährigen Jubiläums. Und es wird ihm nicht übel anstehen, dabei sein Glas zu erheben und „Prosit!“ zu rufen – denn er trinkt es nicht allein zu Ehren der Faber’schen Fabrik – er bringt es deutschem Gewerbfleiß und wohlerworbenem Ruhme.




Das Schwimmende Land in Wakhusen.
Von J. G. Kohl.
(Schluß.)

Wakhusen ist wieder so ein Chaukendorf, wie Plinius es beschreibt, in dem, wie er sagt, die Häuser auf ihren künstlichen Sandhügeln den Anblick von Schiffen unter Segel gewähren, während sie bei niedrigem Wasser gestrandeten Fahrzeugen gleichen. Jedes Haus bildet für sich eine solche kleine Insel wie die St. Jürgener Kirchen-Insel, die ich beschrieb.

Ueber die Hauptsache, die mich hierher geführt hatte, nämlich über das „schwimmende Land“, erfuhr ich nun im Verlaufe meiner Spaziergänge und Unterredungen mit den Wakhusenern etwa Folgendes: Der ganze Untergrund, auf dem das Dorf, seine Häuser, seine Wiesen, seine Aecker ruhen, ist eine 25 bis 30 Fuß dicke Schicht von Torfmoor, die ihrerseits wieder in der Tiefe auf festem Sande liegt. Diese Torfmoor-Schicht, auf der Alles ruht, gewährt begreiflicher Weise eine sehr unsolide und zitterhafte Basis. Ueberall, wo man geht und steht, bebt der Boden ein wenig unter den Füßen. Wenn man in den Häusern ein mit Wasser gefülltes Glas auf den Tisch stellt, und draußen die Pferde trampeln oder auch nur ein Mensch fest auftritt, so schlägt das Wasser im Glase Wellen. Einige Scharfsichtige wollen denselben Effect auch schon dann wahrgenommen haben, wenn draußen die Hunde bellten. Um nun die Häuser ganz fest zu begründen, wäre natürlich das Beste, sie entweder, wie es bei Venedig geschehen ist, auf Pilotis zu bauen, die tief bis in den festen Sandgrund hinabreichten, oder auch den 20 bis 30 Fuß dicken Moorgrund ganz wegzugraben, das Loch mit Sand wieder hoch aufzufüllen und auf dem Gipfel dieses Hügels dann zu bauen. Aber man begreift leicht, daß das für die Wakhusener eine zu kostspielige Operation sein würde, besonders da ihre einstöckigen Häuser, wie die aller Niedersachsen, sehr breit, sehr lang und geräumig sind. An Pilotis können natürlich nur Leute wie die reichen Venetianer denken.

Aber auch der Sand ist hier, wie ich schon andeutete, eine große Rarität. Jede Ladung muß in Schiffen von entlegenen Dünen hergefahren werden. Und wenn sie einmal eine Schiffsladung Sand haben, so wissen sie in ihrer Ackerwirthschaft so viel Verwendung dafür, um einen nöthigen Communicationsweg festzumachen, um die Oberfläche eines Getreidefeldes zu verbessern, daß es als eine wahre Verschwendung und Riesenarbeit erschiene, ein 30 Fuß tiefes Loch von der Größe eines niedersächsischen Hauses damit auszufüllen. Zuweilen verfahren sie indeß wohl so, daß sie da, wo die Mauern des Hauses stehen sollen, einen tiefen Graben durch die ganze Moorschicht hin aushöhlen, diesen Graben voll Sand schlemmen und darauf dann die Mauern bauen. Gewöhnlich aber wird nur ein einige Fuß dicker Sandhügel, eine „Warf“, über dem Moor hin ausgebreitet, und die Häuser darauf errichtet.

Dies giebt anfänglich für eine neue Anlage einen ziemlich unsicheren Untergrund. Das Torfmoor ist der Zusammenpressung fähig. Der Sandhügel (die Warf) sinkt im Laufe der Jahre mit sammt dem Hause ein. Zuweilen sinkt er auf der einen Seite mehr ein, als auf der andern, und das Haus kommt dann mit der Zeit so schief und tief zu stehen, daß die Leute sich zum „Aufschrauben“ entschließen [679] müssen. Zum Aufschrauben der Häuser sind die Dorf- Zimmerleute in diesen Wasserländern durchweg eingerichtet. Sie haben hölzerne, etwa vier Fuß lange Schrauben. Von denen setzen sie ein oder zwei Dutzend unter das Haus und schrauben es mit Allem, was es enthält, in die Höhe. Indem sie immer wieder Sand oder Stein-Grus, oder was sie sonst zum Ausfüllen des Zwischenraums zur Hand haben, nachschieben, können sie das Haus 5 bis 6 Fuß oder auch so hoch, wie sie wollen, bringen. Aber natürlich strapazirt dies die alten Gebäude sehr. Es giebt dabei Vieles im Innern und in dem Mauerwerk zu flicken und zu bessern, und sie sitzen daher in ihren schiefen mit versinkenden Häusern so lange, wie sie es aushalten können.

„Ich habe schon drei Mal in meinem Leben schrauben lassen,“ sagte mir einer dieser Wasserleute. „Ich habe mich aber jetzt entschlossen, wenn ich wieder zu tief sinke, lieber ganz neu zu bauen. Es macht mir zu viel Kosten und Umstände.“ Mancher Arme hat auch nicht das Vermögen zum „Schrauben“ und muß dann wider Willen in seiner schiefen Wohnung aushalten. So lange das Haus oder die Warf noch neu sind, muß wohl alle zehn Jahr einmal „geschroben“ werden.

Mit der Zeit wird der Boden fester und fester, die Torfmoore unten compacter zusammengepreßt, die „Warf“ dicker und solider, und Alles setzt sich dann in’s Gleichgewicht. Die Leute freuen sich daher, wenn sie auf recht alten Warfen wohnen. „Meine Warf,“ rühmte sich gegen mich Einer, „ist über 100 Jahr alt. Mein Vater und Großvater und Urgroßvater haben schon so viel Grus, Balken, Ziegelsteine und Sand hineingesteckt, daß mein Haus feststeht, wie auf Felsen gebaut.“

Dies Alles sind zwar keine ausschließlichen Eigenthümlichkeiten in Wakhusen. Man findet es so vielmehr mit Abwechselungen in allen den wässrigen Moor-und Marschdistricten Nordwestdeutschlands. Aber man wird bald sehen, daß es nöthig war, hier einleitungsweise an diese Dinge zu erinnern, um die Erscheinungen beim „schwimmenden Lande“ zu verstehen.

Die Torfmoor-Schicht – auch dies muß ich noch vorher bemerken – besteht aus verschiedenen Lagen von sehr abweichender Schwere und Qualität. Oben kommt zuerst eine Schicht, in der die Pflanzentheile, welche die Moore bilden, noch unvollkommen zersetzt oder vermodert sind. Sie hat eine hellbraune oder graue Farbe, und die Leute nennen sie „de witte Moor“ (das weiße Moor). Sie ist federleicht und schwimmt wie Korkholz auf dem Wasser. Weiter unten wird das Moor brauner und gewichtiger und zuletzt ganz schwarz und ganz schwer.

Das Moor ist durchweg eine ziemlich locker zusammenhängende Masse, in der sich eine Schicht leicht von der andern löst. Wenn nun im Frühling bei der Schneeschmelze auf den weiter im Innern des Landes liegenden Hochmooren die Hamme, der Fluß, in dessen Niederungen Wakhusen liegt, anschwillt und alle Canäle und Gräben sich mit Wasser füllen, auch das Moor selbst sich durchweg wie ein Schwamm vollsaugt, so bläht sich vermuthlich wohl die ganze Gegend mit Allem, was auf dem anschwellenden Moore liegt, ein wenig auf. Am meisten aber fühlen sich die leichten Schichten, „das weiße Moor“, gehoben, und sie kommen, indem das Wasser zwischen ihnen und den braunen und schwarzen Schichten eindringt und sie aus einander reißt, am ehesten zum Schwimmen. Sehr viel hilft dabei auch der Frost, der, wie ich sagte, nicht nur das obenstehende Wasser, sondern auch die oberen Moorschichten zu einer dadurch noch leichter werdenden Masse gefrieren läßt. – Gewöhnlich ist die Schicht, welche sich abhebt und zum Schwimmen kommt, nur 5, 6 bis 8 Fuß dick, und zuweilen noch viel dünner. Mitunter sollen aber auch 20 Fuß dicke Erdschollen zum Schwimmen gebracht werden. – Man kann sich übrigens denken, daß je nach der Höhe und Gewalt des Wasserstandes, nach der Stärke des Frosten und nach den verschiedenen Graden der Festigkeit und des Zusammenhangs der weißen, braunen und schwarzen Torfschichtung dies Alles sehr verschieden ausfällt.

Häufig ist der Teppich der schwimmenden Wiesen so dünn, daß, wenn man mit einem Wagen darüber hinfährt, der Boden sich unter den Pferden tief senkt, hinter dem Wagen aber wieder emporhebt. Ja zuweilen vermögen die jungen Füllen, indem sie darüber hinlaufen, das Ganze in Schwankung zu versetzen, so daß der Boden hinter ihren flüchtigen Hufen Wellen schlägt, wie ein ausgespanntes Tuch. – Die im Orte selbst aufgewachsenen Thiere wissen aber sehr gut zu beurtheilen, wie weit sie sich hinauswagen dürfen, und sie vermeiden bei ihren Spielen die Stellen, wo das schwimmende Erdreich so schwach wird, daß es sie nicht mehr tragen könnte.

In uralten Zeiten ist wahrscheinlich ein stundenlanger Strich Landes in vollem Zusammenhange längs der ganzen Hammeniederung zum Schwimmen oder, wie sie hier gewöhnlich sagen, „zum Treiben“ gekommen. Seitdem sich aber der Mensch auf dieser Scholle niedergelassen, seitdem er tiefe Canäle und Gräben gezogen, Häuser gebaut und das Land auf mannigfaltige Weise zerstückt hat, ist dies nicht mehr der Fall. Der Boden kommt nun nur noch stückweise „zum Treiben“. Ueberall, wo das Torffloß mit schweren Dingen belastet ist, kann das Wasser das Gewicht nicht mehr heben, reißt die leichteren Partien von den schwereren los, läßt diese liegen und bringt jene in die Höhe. Dies ist begreiflicher Weise namentlich bei den mit Sand und Häusern beschwerten Warfen der Fall. Diese schwimmen gar nicht mehr, sondern wackeln und beben höchstens noch zu Zeiten oder sinken, wie gesagt, wohl einmal ein wenig ein. Ebenso bleiben auch alle anderen stark beschwerten Landparcellen im Wasser stecken. So die Fahrwege, die, um sie gangbarer zu machen, im Laufe der Jahre mit viel Sand bedeckt wurden, und die das Wasser nun nicht mehr tragen kann. So weit die Chausseegräben gehen, lösen sich diese Wege von den Aeckern zu den Seiten los. Die Sandchaussee bleibt liegen, und die Felder zu beiden Seilen steigen in die Höhe.

Man kann sich denken, was dies allein schon für eine Verschiebung im Lande giebt. Liegen Stege oder Brücken über die Gräben, so bleibt beim Hochwasser zuweilen das eine Ende derselben in der Tiefe stecken, während das andere sich hoch emporhebt und auf den schwimmenden Acker wie auf einen Berg hinaufführt. Hat man die Pfähle der Brücke sehr tief in die untere stets ruhige Erdschichte eingerammt, so bleibt die Brücke fest, und das steigende Land schiebt sich an den Pfeilern in die Höhe. – Behandeln sie ein Stück Land immerfort als Wiese oder Weide, so verändert es sein Gewicht nicht und kommt jedes Jahr „zum Treiben“. Bebauen und beackern sie es aber, so wird es allmählich durch den jährlich aufgeführten Dünger und den Sand, den sie auch gern unter ihre torfige Ackerkrume mischen, immer schwerer und verliert am Ende die Fähigkeit zum Treiben. Es sinkt, bleibt im Wasser stecken und wird dadurch unfähig, ferner als Ackerland benutzt zu werden. Man sieht hieraus, daß das „schwimmende Land“ für die Walkhusener eine große Wohlthat ist. Ein Acker, der nicht mehr „treibt“, ist für sie verloren. Sie können ihn ferner nur noch als Sommerwiese benutzen. Nur auf dem „schwimmenden Lande“ können sie Korn säen, auf ihm haben sie ihre Gärten. Das schwimmende Land erzeugt, wie jene „Dobben“ in den alten Flußarmen, von denen ich oben sprach, die besten Kräuter und Wiesen. Am liebsten erhielten sie ihre ganze Feldmark mit Allem, was daraus steht, wie ein mächtiges Floß beständig im Schwimmen.

Das Dorf und seine Bewohner eilt daher auch, so zu sagen, immer dem schwimmenden Lande nach. In früheren Zeiten lagen sie dem Flusse Hamme weit näher als jetzt. Weil dort aber durch Bewohnung und Bebauung in der angegebenen Weise das Land Stück für Stück schwerer wurde und sich nicht mehr über das Wasserniveau erhob, immer tiefer versumpfte, so haben sie sich immer weiter vom Flusse weggezogen. Dort ist die Wüstenei immer größer geworden, und sie zeigten uns noch einige ein wenig erhöhte Bodenstellen, auf denen früher Häuser lagen, jetzt aber nur einige Disteln wuchsen. Wenn sie erst einmal alles schwimmende Land niedergearbeitet, befestigt und ertränkt haben, dann ist es aus mit den armen Wakhusenern, denn ihre ganze Wirthschaft ist, wie die der Floßbewohner und Gärtner der chinesischen Flüsse, auf’s Schwimmen berechnet.

Zuweilen, wenn ein Acker schon anfängt unsicher, d. h. hier zu Lande fest zu werden, wagen sie es wohl noch, ihm eine Einsaat anzuvertrauen. Mitunter gelingt dies, das Land hebt sich noch einmal zu ihrer Freude empor. Mitunter aber auch ist es vorbei. Es kommt nicht wieder, und die Einsaat, die den Winter und Frühling und zuweilen auch den ganzen Sommer über im Wasser bleibt, ist dann verloren. Natürlich heben sich die Aecker nicht alle zu gleicher Zeit. Vielmehr steigt je nach der Dicke der weißen Torfschicht und je nach tausend andern Zufälligkeiten ein Stück Land früher und leichter im ersten Frühjahr empor, als das andere. Einige Stücke bleiben wohl beinahe das ganze Jahr hindurch schwimmen. Das sind die besten.

[680] Es hat begreiflicher Weise einige Schwierigkeiten, einen so zerlappten, mit tiefen Wasserrillen zerschnittenen schwimmenden Acker zu bepflügen. Aber, wie gesagt, die Pferde des Landes sind klug und sie wissen während der Arbeit gleich auch einen solchen verrätherischen Riß, unter dem tiefes Wasser lauert, zu erkennen und zu vermeiden, auch wenn ihr Herr ihn übersehen haben sollte.

Die Differenz zwischen dem niedrigsten Wasserstande im Sommer, bei welchem das meiste Land in Wakhusen fest auf dem Boden ruht, und dem höchsten Wasserstande, bei welchem fast Alles schwimmt und treibt, wie Rahm auf der Milch, beträgt wohl zehn Fuß, und so hoch also können denn auch die Aecker und die auf ihnen wachsenden Bäume über ihren gewöhnlichen Standpunkt hinausgehoben werden. Steigen die Aecker und Wälder oder Gehölze umher, wie es ausnahmsweise geschieht, sogar 12 Fuß und mehr, so verändert dies die ganze Physiognomie des Landes. Die Häuser auf ihren festen Sandhügeln liegen dann tief, und die Gärten und Aecker schwimmen hoch aufgetrieben um sie her, und man erhebt sich zu ihnen vom Hause aus auf Stegen und Leitern.

So lange das Wasser in den Wohnungen noch leidlich niedrig steht, behelfen sie sich erst auf allerlei Weise. Sie machen für das Vieh im Stalle ein Bretergerüst, auf das sie die Kühe wie auf eine Tribüne hinauftreiben. Zuweilen fahren sie auch wohl mit einem großen Boote in die weite Haustenne hinein, binden dasselbe an die Balken und machen daraus, indem sie das Vieh einschiffen, einen temporären Stall. Auch für ihr Heerdfeuer mitten im Hause errichten sie ein Bretergerüst, bedecken dasselbe mit Sand und zünden darauf dicht über dem Wasserspiegel die häusliche Flamme an. Zuweilen wird auch wohl ein großer, eiserner Braukessel an einer Kette über dem das Haus füllenden Wasser aufgehängt und in ihm das Feuer angemacht. Sie selber hausiren und schlafen auf dem Boden, steigen auf Leitern zu dem Feuerheerde und zum Vieh in der Haushalle, die zu einem Wasserkeller geworden ist, hinab.

Können sie das Haus auf keine Weise mehr halten, so bleibt zuletzt nichts übrig, als auf den schwimmenden Acker oder Wald daneben hinauszuziehen. Da errichten sie temporäre Hütten und Schuppen, treiben auf rasch construirten Brücken ihr Vieh hinaus und campiren daselbst – oft wochenlang – bis die Fluth wieder sinkt und die Häuser und Stallungen frei werden. Ein alter Mann in Wakhusen erzählte mir, daß er sich während seines Lebens schon vier Mal auf diese Weise mit seiner Familie, seinem ganzen Haus- und Viehstande unter die Bäume seines schwimmenden Waldes habe retten müssen.

Wie gesagt, hätten die Wakhusener nicht die Wohlthat des schwimmenden Landes, so wären sie längst hundert Mal mit ihren Thieren verhungert oder ertränkt. Diese guten Leute begreifen daher gar nicht, wie andere Menschen ohne „schwimmendes Land“ existiren können, und beklagen die, welche keines besitzen.

Ihr schwimmendes Land ist immer, selbst in regenloser Zeit, von unten her herrlich gewässert. Es ist auch vor zu viel Regen gesichert, da dieser leicht davon abläuft. Auch bei Überschwemmungen können die schwimmenden Stücke nie durch Verschlämmung verdorben werden, da sie immer über sie höchste Fluth sie Oberhand behalten. Ein Stück Wiesenland, das vorher, so lange es fest war, vielleicht blos wildes Gras, Schilfe, Binsen und Riethe erzeugte, verbessert alsbald, wenn es zum Treiben kommt, ganz von selbst seine Pflanzendecke, besamt sich in der Luft und dem Sonnenschein, dem es sich öffnet, mit feineren und gesunderen Gräsern. Kein Wunder also, daß unsere gefälligen Wakhusener, die uns in der Dorfflur herumführten, von jedem Garten-, Acker- und Gehölzstücke genau zu sagen wußten, ob es zum Treiben komme oder ob es stecken bleibe.

Für gewöhnlich und im Ganzen hat es mit der bloßen Erhebung des Landes sein Bewenden. Die gelösten Aecker steigen im Winter ruhig und allmählich in die Höhe und sinken am Ende des Frühlings wieder in ihre Plätze zurück, kleine Veränderungen und Dislocirungen des Erdreichs kommen zwar jeden Winter vor, wie man dies bei einer so großen Zerreißung des Rasenteppichs natürlich finden wird. Beständig werden kleine Stücke Landes vom Wasser nicht mit gehoben, sondern auch von der thalwärts ziehenden Strömung mit fortgeführt und weit von ihren, Heimathsorte wieder deponirt.

Meistens sind es solche Dobbenstücke, wie ich sie oben beschrieb, die mit dem Eise zusammengefroren sind und von den Schollen weggeführt werken.

„Bei mir,“ sagte mir ein Dorfbewohner, der mir seine Aecker zeigte, „schwimmt alle Frühlinge irgend etwas heran und setzt sich auf meinem Lande fest. Ich weiß gar nicht, woher es kommt, und erfahre auch fast nie, wem es gehört hat, und ich habe immer meine liebe Noth damit!“ – „Freuen Sie sich denn nicht über den Zuwachs?“ – „I bewahre!“ erwiderte er, „ja, wenn es Sand wäre, dann wollte ich mich wohl freuen. Aber es sind immer nur garstige Moorflecken und Torf-Inseln, die mir in meinen Garten dringen, oder sich wie Schlammhaufen auf meine Aecker und Wiesen legen. Wir haben nachher viel Arbeit und Mühe. sie wieder wegzugraben ober auszuebenen. Und ist einmal etwas Werthvolles darauf, gedüngtes Land oder Baumwuchs, so kommt gewöhnlich der Eigenthümer in einem Schiffe hinterdrein gefahren, reclamirt und führt das Brauchbare wieder zurück. Meistens vereinigen wir uns gütlich über die Sache und theilen den Schaden, den Vortheil und die Arbeit bei der Wegschaffung und Zerlegung dieser gestrandeten Insel gemeinschaftlich.“

So, sage ich, geht es gewöhnlich her. Wenn sich aber im Frühling, wie es zuweilen geschieht, ein heftiger Westwind aufmacht, dann wird der Aufruhr und die Unordnung unter den zerstückten Landpartien der Wakhusener größer. Dann setzt sich der Luftstrom hinter die Bäume, die auf den zum Theil noch gefrornen und durch tiefe Gräben von einander geschiedenen Erdschollen stehen, bringt Locomotion in sie hinein und läßt sie auf einander stoßen, wie im Hafen liegende Schiffe, wenn ein Sturm zwischen die Flotte fuhr. Zuweilen nimmt dann der Wind wohl ein größeres Stück Land mit fort und treibt es, die Bäume wie Segel blähend, weit in’s Wasser hinaus, wie Plinius dies beschreibt, wenn er sagt, „die großen Eichen mit ihren Zweigen auf den schwimmenden Inseln der Weser hätten wie rudernde Riesen ausgesehen.“

Gewöhnlich aber bleibt es auch dann nur bei den kleinen Verschiebungen und Verwirrungen, die indeß immerhin störend genug sind. So zeigten uns unsere Leute ein Stück bewaldeten Landes, das wohl einen halben Morgen groß, mit einem dichten Gehölze von Tannen, Birken, Erlen, Eichen besetzt war, und das der Wind vor einigen Jahren aus seiner Stelle getrieben hatte. Es war ganz in den breiten Canal hineingefahren, der es von der Besitzung des Nachbarn trennte, und hatte diesen geschlossen.

Da diese Canäle, wie gesagt, die Landstraßen der Gegend sind, so sollte in dem besagten Falle die Verstopfung wieder beseitigt werden, und dem Eigenthümer des dislocirten Waldes drohte der Verlust eines schönen, breiten Streifen Landes, den man weggraben wollte. Um diesem Verluste zu entgehen, entschloß sich der Besitzer lieber zu einem anderen Verfahren.

Er griff zu den Schrauben, mit denen sie hier ihre Häuser aus dem Sumpfe zu bringen gewohnt sind. Es wurden auf beiden Seiten der beiden auf einander gedrängten Felder Balkengerüste befestigt, eine Anzahl von Schrauben längs der ganzen Linie gesetzt und diese dann von den Zimmerleuten und helfenden Nachbarn gleichzeitig angespannt. Zugleich hatte man auch auf der anderen Seite der Insel Stricke an sie Bäume gebunden, die man von den benachbarten festen Haus-Warfen aus ebenfalls anzog. Und so wurde die ganze Insel wieder in ihre frühere Lage zurückgebracht. Aehnliche Operationen sind in Wakhusen im Laufe der Jahrhunderte schon oft vorgekommen, und die Leute sind darauf eingeübt.

Den großen Bäumen, die zuweilen auf dem schwimmenden Erdreiche stehen, geht es, wie man sich leicht vorstellen kann, häufig nicht anders als den Häusern. Sie gerathen, wie diese, in allerlei schiefe Stellungen. Bei den Erdrissen, die da entstehen, wo sich das feste vom treibenden Erdreich löst, fallen sie oft ganz um oder werden auch in’s Wasser hinausgeworfen. Da sie meist in einer sehr lockeren Krume wurzeln, so treibt sie der Wind zuweilen wie die Halme eines Aehrenfeldes haufenweise über einander. Allein auch die Bäume des Landes sind auf solche Vorfälle gefaßt. Im Sommer, wenn der Boden sich setzt, und ihre Wurzeln unten wieder in’s Gleichgewicht bringt, stehen sie gesund und frisch wieder auf und richten sich in Reih und Glied wie zuvor.

Ein Wakhusener erzählte mir, wie einmal auf seinem Lande eine große schöne Eiche umgestürzt sei und flach am Boden dagelegen habe. Er glaubte, daß sie sich nie wieder aufrichten würde, [681] und machte sich in dieser Meinung darüber her, den Baum zu vernutzen. Er entlaubte einige Zweige der großen Krone, hieb auch mehrere Aeste aus und beschäftigte sich damit einen ganzen Tag. Wie groß aber war seine Verwunderung, als er am andern Morgen mit der Absicht, das Zerstörungswerk fortzusetzen, zu seiner Eiche zurückkehrend, diese munter und gerade wie ein Soldat da stehen sah! Wahrscheinlich hatte sich der Boden über Nacht gesenkt, und es waren dabei einige der untern Wurzelzweige angedrückt. Vielleicht war auch einige Spannung in denjenigen Wurzeln gewesen, die beim Umsturz des Baumes noch mit dem Boden in Verbindung geblieben waren. Durch die theilweise Entblätterung seiner Krone hatte der Baum an diesem Ende Erleichterung bekommen, und kurzum, er war umgeschnappt, und noch am heutigen Tage zwitscherten wiederum die Vögel und säuselten die Winde in seinen wieder belaubten Wipfeln.

Dies sind denn so einige von den bunten Ereignissen und sonderbaren Zuständen, zu denen das Phänomen des schwimmenden Landes bei Walkhusen Veranlassung giebt. Der Leser mag sich denken, daß es noch viele ähnliche giebt, von denen ich bei der Kürze meines Aufenthalts nichts in Erfahrung brachte, oder von denen es zu weitläufig sein würde hier zu sprechen.




Aus der afrikanischen Wildniß.

Charles John Anderson, der bekannte Reisende, der uns schon öfter Erlebnisse, Forschungen und Abenteuer aus Südafrika, vom Ngami-See etc. erzählte, ist jetzt mit einem neuen Werke: „der Okavango-Fluß“, eine Beschreibung seiner letzten Reise, herausgetreten, das namentlich auch eine Reihe höchst interessanter Jagdabenteuer enthält.

Er drang vom Cap durch das westliche Damara-Land weiter als früher und als Andere, wenigstens in bis dahin unerforschte Gegenden des inneren Afrika ein und erwies sich besonders als Nimrod gegen Elephanten. Niedrigeres Hochwild wurde blos gelegentlich auf’s Korn genommen und trotz der entsetzlichsten Gefahren immer überwunden; wie denn überhaupt der gebildete Mensch in dieser seiner geistigen Ueberlegenheit sich fast immer siegreich gegen Wildniß und Barbarei trotz oft tausendfacher physischer Ueberlegenheit geltend zu machen weiß. Er und zwölf andere geschulte Männer schlugen auf dem Wege eine bewaffnete Schaar von sechshundert Wilden theils in die Flucht, theils todt.

Der Mensch ist blos schwach, wenn er sich fürchtet und nicht zu rechter Zeit richtig schießen kann in der Wildniß. Anderson nahm’s gelegentlich mit großen Armeen von Elephanten auf, wenn sie mit starr ausgestreckten Rüsseln und segelartig ausgespannten Ohren wüthend um ihn her trompeteten.

Das erste Elephanten-Abenteuer erlebte er in einer prächtigen Thierwildniß in der Nähe des Omaruru-Flusses voller Giraffen, Zebras, Gnus, Kuudus etc. Die Spuren wurden verfolgt, bis sie in einer Entfernung von drei Viertel englische Meile ruhig fressend entdeckt wurden. Sie fielen ohne besondere Abenteuer, und Schaaren von Berg-Damaranern stürzten wie aus der Luft und Erde geierartig herbei, um sich an Hunderten von Centnern Fleisch zu mästen. Der Held selbst schmauste am folgenden Morgen von einem gebratenen Elephantenfuße und wildem Honig.

„Das Erhebendste, was ein Jäger erleben und genießen kann, fand sich kurz darauf in einer herrlichen Mondscheinnacht, deren Licht das natürlichste und wildeste Thierleben zauberhaft beleuchtete.

Wie geheimnißvoll die tiefsten Sinne und Nerven aufregend und spannend, sich mitten in der Nacht, mitten in schauerlich auflebender Wildniß allein, unbemerkt, ungeahnt als Zeuge dieser wilden, räthselhaften Bewegungen, Gewohnheiten und Neigungen der Bewohner einer solchen unvermenschlichten Natur zu fühlen! Die Natur in ihrer ganzen reichen Gestaltungs- und Bildungspracht! Keine künstliche Fütterung, keine Ketten, Kasten und Kerker, keine Tyrannen-Disciplin eines Wärters hat die stolze Kraft, wundervolle Elasticität, Lebensfrische und Laune dieses animalischen Lebens entnervt und zu armseligen Kunststücken verhungert und verhauen. Welch spannende Erregung bei jeder neuen Anmeldung einer neuen Erscheinung! Der entfernte Fußhall, jetzt deutlich über steinigen Boden klappernd, jetzt leise vibrirend in das gespannte Ohr, während er über weichen Grund schreitet – eine zarte Antilope, ein plumper Elephant, ein wildes Schwein, ein boshaftes Rhinoceros, ein Gnu, eine Giraffe, ein Schakal, ein Löwe – was ist’s – was mag es sein? Jeder Sinn, jedes Atom in uns lauscht, beobachtet, erstaunt und sieht scharf, wie genau sich nicht nur die verschiedenen Arten, sondern auch die einzelnen Exemplare derselben Art individualisiren! Und wenn sie sich begegnen und der Elephant mit dem Rhinoceros, der Löwe mit dem Tiger, zwei männliche Löwen um eine Geliebte auf Leben und Tod kämpfen! Wie sie sich belauschen und belisten, fliehen und aufsuchen, lieben und hassen – Alles in furchtbarster Kraft und Unmittelbarkeit! Anderson gesteht, er habe in einer einzigen solchen Nacht mehr Naturgeschichte kennen gelernt, als durch jahrelanges Wandern, Forschen und Studiren „am Tage“.

„Weit, weit in der Ferne von menschlichem Sein, mitten in den Behausungen des wilden Gethiers, neben den Klüften der Büffel, in Thälern, wo der Oribi spielt, wo Gnus und Gazellen und Hirschthiere grasen, wo Eland und Kudor unverjagt nachten in grauen, von wildem Wein überwachsenen Urwaldsäumen, wo der Elephant in Frieden weidet und das Flußpferd ungescheucht plätschert im Bade und das Nashorn sich nach Willen wälzt und der wilde Esel sich seines Nachttrunks erlabt – über den braunen Karru, wo des Springbocks Stimme klagend blökt und des furchtsamen Quaggas pfeifendes Gewieher an der Quelle den Morgen ruft und Zebraheerden muthwillig ihre Mähnen schütteln und mit wilden Hufen die trostlose Ebene durchdonnern und der fußbeschwingte Strauß hoch wie ein Reiter dahin galoppirt, um seine Heimath in hundertmeiligen Entfernungen immer neu zu suchen, wo der wilde Eber die Erde doppelpflügt, die Hyäne lacht, der Löwe donnert und der Tiger schleicht, über den braunen Karru hin mit ausgedörrtem, versandetem Bette wollen wir wandern, weit, weiter weg von den Gehäusen der Menschen –“

Mit diesen Worten eines echten Wildniß-Poeten schließt Anderson sein Entzücken über die mondbeleuchtete afrikanische Nacht. Er stand im Schutze und Schatten eines Ameisenhügels, bis krachende und knackende Zweige des Waldes und der Büsche des Waidmanns Leidenschaft wieder erweckten. Es waren Elephanten, wie ein Dutzend aus der Dunkelheit hervor grauender Riesenkörper verriethen. Es schienen noch dazu junge männliche zu sein. „Ich war zu weit für einen Schuß. Auch schienen sie mich sofort zu wittern, da sie sich nach einiger Prüfung der Luft zurückzogen. Kurz darauf erscheint ein Trupp ausgewachsener Bullen-Elephanten und marschirt mit festem, geradem, vorsichtigem Schritt zum Wasser. Ich lief hinter einen Baum, um ihnen in den Weg zu kommen. Just als der erste in gefährlicher Nähe an mir vorbeischritt, schickt’ ich ihm eine sichere Kugel mit schwerer Ladung in den Leib. Er stieß einen schwachen Schrei aus, spannte die Ohren weit aus und floh mit hoch hin und her schwenkendem Rüssel.

Einer von dessen Begleitern floh in entgegengesetzter Richtung, so daß ich zwischen beide kam. Da nun auch noch zwei andere zum Vorschein kamen, vorsichtig, voll Verdacht, als witterten sie mich, hielt ich meine Lage nicht für übermäßig sicher. Dennoch schoß ich, als sich einer in einer gar zu verführerischen Stellung vor mir aufpflanzte. Ich traf, und eine zweite Kugel warf ihn, nachdem er etwa fünfzig Schritt gewankt hatte, todt nieder. Sein Begleiter kehrte nach kurzer Flucht zurück, witterte mich, floh und fiel von einer Kugel.“

Kurz darauf erschien eine ganze große Heerde von Mutter-Elephanten mit Jungen und näherte sich unbesorgt dem Wasser, wo sich bald aus anderen Richtungen her noch andere Heerden einfanden. Welch ein unerhörter Anblick, als sie sich alle wie auf Commando in gerader Linie, wie eine Front Infanterie auf der Parade, dicht neben einander aufstellten und so am Rande des Wassers hin tranken, ohne es durch plumpes Hineinsteigen zu trüben! Und das war wahrscheinlich ihr Grund. Die Linie mochte ungefähr aus 150 Exemplaren bestehen. Der Mond war gerade klar [682] hervorgetreten und verbreitete ein zauberhaftes, träumerisches Licht über die gigantischen Creaturen hin. Mir verging die Lust, ein so großartiges, seltsames, lebendiges Naturgemälde zu stören, so daß ich meine mörderische Büchse fallen ließ und mich ganz der Betrachtung ergab. Aber als sie nach reichlicher Tränkung zurückzuziehen begannen und in ungewissem Mondlicht grau verschwammen, sprang ich auf, um wenigsten einen der Letzten abzufangen. Ich schoß und traf einen Mutter-Elephanten. Das Stürzen und Rauschen und Brausen und wuthschmetternde Trompeten, das folgte, war wahrhaft entsetzlich. Es war ein besonders grausames Chor, wie ich bald nachher beinahe auf Kosten meines Lebens erfuhr.

Eines Morgens befand ich mich in der Nähe eines Ortes, genannt Oromboto, wo Elephanten ganz besonders gern zum Trinken sich versammeln, obgleich nirgends Wasser zu sehen ist. Sie graben’s sich jedesmal mit ihren Rüsseln, mit denen sie es mehrere Fuß tief unter der Oberfläche zu riechen scheinen. Hier lauerte ich auf deren Ankunft und fand mit der Zeit eine Heerde von Mutter-Elephanten mit Jungen, wahrscheinlich alte Bekannte aus der Mondnacht. Ich hatte nicht Lust zu schießen, weil Mutter-Elephanten sehr gefährlich sind und auch wenig Elfenbein liefern, aber eine große Menge halbverhungerter Ovatdschimbas, die jämmerlich um Nahrung heulten, bewogen mich, einen Schuß zu versuchen.

So kroch ich leise bis auf dreißig Schritt an einen noblen Mutter-Elephanten heran und wartete auf eine gute Position. Während dieser Minuten waren mir unvermerkt vom Rücken her zwei andere nahe gekommen, der erstere 30 Schritt vor, die beiden anderen 15 Yards hinter mir. Das war eine Lebensfrage, die in zwei Secunden gegen mich entschieden worden wäre, wenn ich nicht im Augenblicke des Gewahrwerdens mit einem furchtbaren Satze über den nächsten Busch gesprungen und nach windesschneller Flucht vor den raschen Verfolgern hinter einem größeren Busche Schutz gesucht und mich platt auf den Boden hingeworfen hätte. Als ich wieder etwas aufsah, stand mir eine ganze Heerde auf der andern Seite des Busches wüthend gegenüber. Mit ihren kleinen, durchdringenden, unruhigen, drohenden Augen, ihren klappenden, schlaffen Ohren und hocherhobenen Rüsseln bildeten sie einen furchtbaren Feind für einen einzelnen Menschen. Aber nachdem sie eine Zeitlang gedroht und vergebens gesucht hatten, machten sie alle plötzlich Kehrt und gaben mir sofort meine ganze Jägerleidenschaft wieder. Ich richtete mich auf und schoß auf den Leit-Elephanten.

Das war eine unbesonnene Tollkühnheit. Schrill und Mark und Bein durchdringend trompetend waren sie im Nu herum und in voller Jagd auf mich los. Jetzt erfuhr ich, was es heißt, für sein Leben zu laufen. Ich behielt mit der Kraft der Eile Geistesgegenwart genug, immer hinter Büsche springend davonzulaufen, wobei mir meine schwere, gereifelte Büchse sehr hinderlich ward; aber obgleich ich meine Feinde dicht hinter mir stampfen und Zweige und Aeste krachend niederbrechen hörte, ich hielt sie nur fester und lief und lief und stürzte immer vorwärts, athemlos, sinnlos und von einem neuen Todesschrecken überfallen, als ich eine große Strecke offenes, baum- und buschloses Land vor mir sah. Hätten sie mich bis dahin verfolgt, es wäre mein Tod gewesen. Aber plötzlich merkte ich, daß sie sich durch dichteres Gebüsch hinter mir hatten aufhalten lassen, und dann, daß sie sich zurückzogen. Jetzt wieder Leben und einige Sicherheit fühlend bestieg ich einen hohen Ameisenhügel, um zu sehen, was sie eigentlich vorhätten. Nach einigem Suchen zwischen Walddickicht und Gebüsch entdeckte ich blos einen Elephanten unter einem Baume. In der Meinung, es könnte der von mir angeschossene sein, rückte ich vorsichtig näher, sah aber bald meinen Irrthum, nämlich fast noch die ganze Heerde. Und sie sahen so erbittert und boshaft aus, daß ich mich eilig wieder zurückzog. Dabei schienen sie mich zu bemerken oder zu wittern, denn sie stürzten plötzlich wieder vorwärts. Dann und wann hielten sie, gleichsam um zu recognosciren und in alle Winkel und Ecken zu blicken. Es gelang mir, mich in Sicherheit zu verkriechen und so, daß ich ihre Bewegungen genau beobachten konnte. Sobald sie an gewisse Stellen kamen, wahrscheinlich solche, wo ich und mein eingeborener Diener (der auf eigene Rechnung geflohen) gestanden, machten sie Halt und untersuchten den Boden umher mit dem größten Eifer. Dann ging’s eilig weiter mit aufgehobenen Rüsseln, klatschend an die Seiten schlagenden Ohren und mit raschem Hin- und Hergepeitsche der stumpfen, haarlosen Schweife. Als ich sie aus dem Gesicht verloren, athmete ich erst auf und wurde mir erst der Gefahr bewußt, der ich entkommen. Ich dankte meinem Schöpfer und beschloß, nie wieder Mutter-Elephanten mit Kälblein anzugreifen.“

Es wurde ihm nicht schwer, Wort zu halten, da sich stattliche männliche Elephanten und auch andere achtbare Feinde oft genug einfanden. Zum Beispiel Löwen. Zwar hat schon Livingstone diesem feigen Katzengeschlechte die ihm von Freiligrath unverdient zuerkannte Wüsten-Königskrone vom Kopfe geschlagen, und auch Anderson fand keine besondere Veranlassung, es zu ehren und zu fürchten, da ihm Löwen theils heil und mit ganzer Kraft, theils angeschossen davonliefen; aber alte, blos Menschen fressende Löwen sind ihm das Scheußlichste und Schauerlichste in der Wüste. „Stellt mich jedem beliebigen Feinde gegenüber,“ sagt er, „Mensch oder Thier, und ich nehme es mit ihm auf, wenigstens unter dem Lichte der Sonne. Aber ein versteckt lauernder, feig kriechender, nächtlicher Schleicher, dessen katzenartige Bewegung und Annäherung kein Ohr entdecken kann, dessen Muskelkraft die aller andern Thiere übertrifft, der im Stande ist, mitten durch Heerden Vieh hindurch zu schleichen, ohne sie zu berühren, nur um sich einen Menschen aus dem Schlafe zu holen – ist mehr, als der muthigste Jäger ruhig fürchten kann, wenn er sich in der Wildniß sein Lager zurecht macht, zumal wenn man Vorfälle, wie den folgenden, noch nicht vergessen.

Vorige Nacht führten zwei alte Löwen eine Schreckenstragödie in meinem Viehgehege auf. Der Himmel regnete in pechfinsterer Nacht herab, und in der Furcht, Löwen möchten eine solche Nacht zu einem Ueberfalle benutzen, hielt ich mich Stunden lang wach. Endlich übermüdet, tröstete ich mich damit, daß die Ochsen einen solchen Ueberfall laut genug ankündigen würden, und legte mich zum Schlafen zurecht. Kaum fühlte ich mich im Halbschlummer, als der furchtbarste Schrei, der in ein Todesröcheln auslief, mich wach rief. Ich werde diesen entsetzlichen Aufschrei, dieses rasch verstummende Todesröcheln nie vergessen. Zwei Löwen hatten sich in das Viehgehege eingeschlichen und einen Treiber aus seiner Hütte, wo er mit Weib und Kindern schlief, herausgerissen, um ihn in kurzer Entfernung von unserm Lager hörbar mit gierig wohlgefälligem Gebrülle zu zerreißen und zu verzehren. Das eine Ungeheuer hatte sich einen Weg durch die schwachen Pfähle und Wände erzwungen und den Unglücklichen mit einem Sprunge und Schlage seiner Vordertatzen, wobei er auch noch die Frau verwundet, ergriffen und davongeschleppt. Der Mann mochte sich an Pfähle der Hütte angeklammert haben, denn sie war ganz umgerissen und zum Theil weit mit fortgeschleppt worden. Die nächtliche Scene, welche jetzt folgte, kann sich Niemand denken. Das Geschrei der Frau und der Kinder, das tumultuarische Entsetzen der Thiere, das Gekrache und Gebrüll der beiden fressenden Löwen in der Nähe, fortwährendes Schießen von unserer Seite in die Nacht hinein, um weitere Ueberfälle abzuschrecken – das war mehr, als selbst ein in den Schrecken der Wildniß abgehärteter Nimrod mir ruhigem Blute erleben konnte.

Mit anbrechendem Tageslichte verfolgten wir die Spur der Löwen, nachdem wir 200 Yards von uns die Stelle gesehen, wo sie ihre Beute bis aus einige Knochen und Fetzen von Kleidungsstücken aufgefressen. Aber eine zwölf Meilen weite Verfolgung blieb ohne Erfolg. Die feigen Ungeheuer hatten sich sicher vor dem Tageslichte verkrochen, um in der Nacht wieder herbeizuschleichen und Gelegenheiten abzulauern. Die alten Menschenfresser von Löwen folgen immer in den Spuren, wo sie auf Menschenfleisch rechnen. Schon in der dritten Nacht nach der erwähnten Tragödie schlich sich ein solches Ungeheuer in das drei Tagereisen weiter aufgeschlagene Lager, um vor Ochsen und anderem Vieh vorbei ein neues Opfer zu holen, während Ochsen und Schafe in maßlosem Schrecken ihre Fesseln und Schranken durchbrachen und nach allen Seiten davon stürzten. Das Gekreische der Weiber und Kinder, das Brüllen der Männer und des Löwen, aufzischende und die Schreckensscene beleuchtende Feuerwerkskörper, das Büchsengeknalle, das Heulen, Brüllen, Blöken, Quieken, Lachen und Schreckensgetön anderer aufgescheuchten wilden Thiere aus der Nabe und Ferne gab eine Scene, gegen welche die großartigsten Wolfsschluchts- Freischütz-Schrecken zu einem lächerlichen Kinderspiel werden.“

„Gestern Abend um 11 Uhr,“ erzählt er an einer andern Stelle, „ward ich durch einen furchtbaren Aufschrei aus meinem Schlafe aufgeschreckt. Ich dachte sogleich an die zwei Löwen, die uns wie geheime Spione und gedungene Mörder zu folgen pflegten und uns schon öfter unbequem geworden waren. Mit Büchse [683] und Pistole hinausspringend fand ich bald heraus, daß einer der Löwen den jungen Buschmann, den wir am vorigen Tage gefangen genommen, überfallen und fortgerissen hatte. Wir eilten mit mehr störenden als erhellenden Lichtern hinaus in die dunkele Nacht zur Verfolgung, wobei mir Herr Hahn (ein Deutscher) mit seiner Laterne leuchtete. Die Buschmänner und die Hunde heulten, unsere Zugthiere stampften, ächzten und zitterten, die Wildniß draußen lag theils drohend, theils selbst in Furcht und Schrecken dicht vor und dicht um uns. Wir konnten nichts von dem feigen Mörder entdecken, aber mit Grausen stolperten wir über den Rest seiner Beute, dem ein Arm und die Eingeweide abgefressen worden waren. Trotz unseres Wartens und Wachens in entsprechender Entfernung ließ sich das feige Ungeheuer nicht wieder wittern. Wir beschlossen mit anbrechendem Tage ihn und seinen Collegen aufzuspüren und abzuthun. Spuren fanden sich bald mit Hülfe der Hunde, auch sahen wir einen oder den andern dann und wann aus dichtestem Dickicht hervorschimmern, aber sie hielten sich stets in der Weise verfolgter Katzen mit bösem Gewissen möglichst unzugänglich und wußten weichend und kriechend sich stets vollkommen zu decken und wieder unsichtbar zu machen.

Endlich mußten wir uns zurückziehen, um eine bessere Gelegenheit abzuwarten. Diese fand sich in der Gegend von Otschiomaware, wohin uns die Menschenfresser von Löwen, wie sich hernach ergab, gefolgt waren.

Ungefähr 3 Uhr Morgens bekam ich Lust zu einem nächtlichen Ausfluge. Bald stand ich mit meiner Doppelflinte und der Revolver-Rifle-Büchse als einsamer menschlicher Zuhörer der Wildniß-Nacht-Musik, besonders zweier um die Wette brüllender Löwen, die sich in nicht freundlicher Absicht unserm Lager nähern zu wollen schienen. Ich hatte bald 4 oder 5 gut bewehrte Begleiter, mit denen ich eine Jagd gegen sie unternahm. Hier glückte mir zum ersten Male ein oft versuchter Schuß, den ich nach dem Gehör richtete. Ich glaube nun ein gutes Ohrenmaß zu haben. Mit ihm auf dem Brüllen der Löwen Richtung und Ferne berechnend und demgemäß zielend, schoß ins und hörte sofort das Schmerzgeheul eines bisher Brüllenden. Alle erklärten, ein Löwe sei sicher getroffen. Erneutes Brüllen neben schwachem Gewinsel schien diese Hoffnung nur zu bekräftigen. Wir malten uns die Scene zwischen den beiden Löwen nach ihrem Gebrüll deutlich aus. Der gesunde suchte durch ermuthigendes Brüllen den getroffenen winselnden zur Flucht zu bewegen, aber letzterer konnte nicht, so daß sich das Gebrüll des Ersteren in eine Art von mitleidigem Seufzen und tröstendem Röcheln herabstimmte. Mit anbrechendem Tage spürten wir den verwundeten Feind auf. Die Hunde machten’s uns leicht und führten uns bald in die Nähe Beider, wie sie eben an dem Flußufer hin langsam die Nacht des nahen Waldes zu gewinnen suchten. Ich machte mich bald mit meinen Hunden bis auf 50 Schritte an den letzten, langsamsten heran, zielte und traf ihn durch beide Vorderblätter, also tödlich. Mit furchtbarem Geheul fiel und zappelte und schlug er mit dem Schweife die Seiten. Kaum hatte ich mich noch mehr genähert, um ihn vollends abzuthun, als der andere Löwe mit riesigen Sätzen aus einem Hinterhalte auf mich zusprang. Ich kniete grade, zielte gut und meinte ihn mitten in die breite Brust zu treffen. Aber welch Entsetzen! Der Schuß versagte, eben so der zweite und dritte. — Mein Revolver ging nicht los. Mit dem nächsten Sprunge war ich zerschmettert, ganz sicher, wenn ich Miene zur Flucht machte. So blieb ich knieen mit festem, herausforderndem Auge gegen das Ungeheuer. Das war meine Rettung. Mein Blick erschien ihm unheimlich. Er machte eine feige Abbiegung und zog sich dann mit beschleunigter Geschwindigkeit zurück. Während die Hunde den sterbenden Löwen zaus’ten, verfolgten wir den Flüchtling, nachdem ich den Fehler an meinem Revolver entdeckt und beseitigt, aber vergebens. Nur des Nachts kehrte er wiederholt zu seinem todten Freunde zurück und brüllte und winselte in echter Löwentrauer, aber ohne uns je schußgerecht zu werden.

Leoparden und Panther, gejagt und zerrissen von Hunden, Antilopenheerden, aus Dickicht oder hohem Gras hervor plötzlich überfallen von Panthern, Leoparden oder Löwen, Alligatoren, Flußpferde, Ottern und Rhinocerosse in warmen, schlammigen Gewässern, Auswanderung ganzer Stämme, nachdem Löwen Hunderte von Weibern und Kindern gefressen, gefährliche Jagden gegen das Rhinoceros, das im Kampfe mit Löwen und Elephanten zuweilen blos durch die ungeheuere Gewalt seines Stoßrappiers auf der Nase siegt, Abenteuer mit der agilen Gymnastik der Springböcke und mit der Hunde übertreffenden Schnelligkeit oder brutalen Grausamkeit wilder Schweine, Giraffen, Zebra’s, Gnu’s und Kudu’s, Löwen, Hyänen und Schakale, weiße Ameisen siegreich gegen thurmhohe Giraffen, dazu Hunger, Durst, Hitze, Gefahr und Kampf gegen wilde Menschen, die oft gefährlicher sind, als Heerden von reißenden Bestien — immer kämpfend Tag und Nacht gegen unzählige, namenlose, ungeahnte, unüberwindlich erscheinende Hindernisse — immer siegreich aus tausend Niederlagen, unter der Tatze des Löwen hervor aufstehend, Truppen von Löwen in die Flucht schlagend, Heerden von Elephanten wie erschreckte Schafe in die Wildniß hineintreibend — sich als Einzelner und Einziger unter Tausenden von grimmigen Menschenfeinden, von denen Jeder unendlich überlegen ist an Kraft — haltend, bewährend, Tag für Tag und Nacht für Nacht, wachend und schlafend immer auf’s Neue und stolzer als Herren der Schöpfung in ihrer wildesten Grausamkeit und Größe Geltung ertrotzend: — das ist ein echtes, glorioses Nimrod-Leben — und das ist der immer wieder mächtige, unwiderstehliche Zauber, den solche Touristen-, Jagd- und Forschungs-Bücher auf uns in Unterjacken und Unterziehhosen und Pelzen und hinter Doppelfenstern ausüben.




Wissenschaft im Spiele.

Wir meinen mit unserer Ueberschrift nicht die Wissenschaft, das Trento et quarante oder die Roulette zu berechnen. Den grünen Tisch lassen wir mit all seinen Chancen der Geburts- und Geldaristokratie. Wir wollen die Wissenschaft in den Spielen des Volks aufsuchen, bei denen es auf rasches richtiges Urtheil und auf Gewandtheit des Körpers ankommt, nicht auf den bloßen unberechenbaren Zufall, deren Zweck die Erholung, nicht die Befriedigung unsittlicher Leidenschaften ist; und wir legen deshalb besonderes Gewicht auf diejenigen Spiele, die im Freien geübt werden, weil sie uns als die geeignetsten erscheinen, die durch die Mühen und Sorgen des geschäftlichen Tages genährte Aufregung der Sinne sowohl als des Geistes und des Gemüthes dadurch niederzuschlagen und zu besänftigen, daß sie die Aufmerksamkeit immer auf etwas Wechselndes, Neues lenken und den ganzen Organismus durch eine anmuthige Bewegung und Uebung der körperlichen und geistigen Kräfte wieder in eine friedliche harmonische Verfassung bringen. Bei den Alten gab es nur Spiele dieser Art. Sie wurden als ein Zweig der Bildung gepflegt, und aus den öffentlichen Wettkämpfen als Sieger hervorzugehen, war eine der größten Ehren. Bei uns haben sie leider ihr Ansehen zum großen Theil eingebüßt. Das früher hochgeschätzte Ballspiel ist ganz vernachlässigt. In Italien dagegen wird es noch als eine Ueberlieferung des alten Rom getrieben. Und die Engländer und Amerikaner, denen die Pflege und Ausbildung des Körpers die wichtigste Pflicht des Lebens ist, sind leidenschaftliche Ballschläger und Criquetspieler. Einen Ersatz haben wir in dem nationalen

Kegelschieben,

das, so verschieden es in verschiedenen Gegenden gespielt wird, doch überall darauf hinauskommt, mittelst einer durch die Kraft des Armes geworfenen oder auf einer langen Bahn fortgerollten Kugel ein Ziel zu treffen, das am Ende der Bahn durch aufgestellte Kegel bezeichnet ist. Während in einigen Landschaften die Kugel geworfen wird, so daß sie einen Bogen in der Luft beschreibt, um bei ihrem Herabfallen die Köpfe der Kegel zu treffen, wird in anderen das Spiel so geübt, daß die Kugel aus der Hand geschleudert auf einer geneigten Bahn hinaufrollt und erst beim Herabrollen die Kegel umwirft. Die einfachste Art aber und zugleich [684] diejenige, welche ihrer Mannigfaltigkeit wegen an, meisten Geschicklichkeit und Berechnung nöthig macht, ist die, nach welcher die Kugel auf einer langen horizontalen Bahn direct in die Kegel geschoben wird.

Die Kegel, deren Zahl seit undenklichen Zeilen 9 ist, müssen in einem länglichen Viereck weit genug von einander aufgestellt sein, damit die Kugel dazwischen durchlaufen kann, ohne einen davon treffen und umwerfen zu müssen. Es muß möglich sein, wie es in der Kunstsprache heißt, eine „Ratte“, ein „Loch“ sowohl, als eine „Methode“ zu schieben. Die Wissenschaft des Kegelschiebens ist zweierlei Art, einmal gründen sich alle dabei vorkommenden Erscheinungen auf die physikalischen Gesetze der Elasticität und des Parallelogramms der Kräfte, das andere Mal aber kommt eine noch geheimnisvolle Beziehung zwischen dem Spieler und der rollenden Kugel in Betracht.

Wer ein einziges Mal auf einem Kegelschube gewesen ist und beobachtet hat, welche Vorbereitung der „Schieber“ trifft, ehe er in der richtigen Stellung sich befindet, wie er die Kugel vorher untersucht und ihr in der Hand die angenehmste Lage zu verschaffen bestrebt ist (natürlich hat jeder Einzelne seine Lieblingskugel, mit der er allein etwas trifft); wie er sie behutsam mit dem zweiten und dritten Finger der linken Hand auf den Scheitel tupft, da, wo er weiß, daß ihr Gehirn liegt: der muß unbedenklich von einem geheimen Einverständniß zwischen beiden überzeugt sein. Der Laie freilich hält eine Kugel für ein rundes Stück Holz, das aus der Hand geworfen sich, den Geier um alle Menschen scheert. Aber der Kegelschieber weiß sehr gut, daß er, selbst wenn die Kugel schon in vollem Laufe sich befindet, ihr noch zureden und sie bestimmen kann, rechts oder links zu laufen. Sie hat hinten Augen und beobachtet das Telegraphiren ihres Herrn und Meisters, wie er die Arme krampfhaft nach einer Seite reckt, oder den Fuß einkneipt. Wenn er den ganzen Oberkörper mit einer Viertelwendung auf die gefährlichste Weise rechts biegt, als wäre er auf der Heuernte, so weiß sie, daß sie zu weit links läuft; das Unterstemmen der Arme, das Einknicken der Kniee, das Heraufziehen des Fußes bis an’s Gesäß, Alles hat seine besondere Bedeutung. Aber wie es nimmermehr gelingen wird, eine Grammatik der Augensprache zwischen Liebenden zu schreiben, so wird es auch nie möglich werden, den Schlüssel zu dieser Geheimsprache zu finden. Nur so viel ist sicher, daß ein wirbelartiges Herumrühren des Oberkörpers in der Luft, als ob er über die Zweckmäßigkeit eines Aufschwungs in höhere Regionen ganz anderer Meinung wäre als Beine und Bauch und sich deswegen nothwendig von diesen abdrehen müßte, allemal die directe Aufforderung an die Kugel ist, „alle Neune“ umzuwerfen. Was der Uneingeweihte für Grimassen und für Verrenkungen halt, worüber er sich todt lachen möchte, das muß der Tieferblickende für einen magnetischen Rapport, für eine spiritualistische Beziehung zwischen der Seele des Schiebers und der Seele des Holzes erklären.

Darüber ist nun nicht mehr zu lachen.

Die zweite Hälfte der Wissenschaft im Kegeln ist aber nicht so kurzweg mit einem einzigen Schlagwort abgemacht. Wir müssen dabei auf physikalische Grundsätze zurückgehen. Als erste Bedingung nehmen wir an, daß die Bahn eine gute, d. h. vor allen Dingen eine völlig horizontale sei. Läßt man auf einer solchen Bahn eine Kugel hinrollen, so daß sie sich immer von oben nach unten um eine horizontale Achse dreht (Fig. 1.) und genau so viel Weg zurücklegt, als sich von ihrem Umfange auf der Unterlage abwickelt, so wird die Richtung ihrer Bewegung eine vollständig gerade Linie sein; und es scheint nur geringer Uebung zu bedürfen, um auf eine so einfache Weise jeden einzelnen Kegel zu treffen oder zu „stechen“, wie sich das Kegler-Rothwälsch ausdrückt.

Allein die Sache hat doch ihren Haken. Es bekommt nämlich die Kugel durch den Wurf aus der Hand außer der Kraft, die sie fortschleudert und die in Folge der Reibung auf der Unterlage die Ursache der nach vorn rollenden Drehung um die horizontale Achse ist, noch einen andern Impuls dadurch, daß man gewöhnlich beim Loslassen die Kugel nicht ruhig auf der schiefen Ebene der Hand herabgleiten läßt, sondern ihr unwillkürlich mit dem kleinen Finger und dem vierten oder mit dem Zeigefinger und dem drillen einen seitlichen Druck giebt. In Folge dessen dreht sich die Kugel schon in der Luft, entweder von links nach rechts (Fig. 2.) oder umgekehrt (Fig. 3.), und sie möchte, auf dem Boden angelangt, in der entsprechenden Richtung, also nach rechts laufen, wenn der Druck vom kleinen Finger ausgeübt wurde, dagegen nach links, wenn der Zeigefinger die Kugel von rechts nach links drehte.

Da aber die vorwärts drängende Kraft des Armes viel stärker ist, als die seitlich wirkende der Finger, so wird der Einfluß, der durch diese Drehung ausgeübt wird, sich auch nur verhältnißmäßig wenig bemerkbar machen. Zumal im Anfange des Laufes scheint die Kugel, selbst wenn sie mit Absicht gedreht wurde, oft eine ganz gerade Linie zu verfolgen, und erst wenn die Bewegungskraft nach vorn durch die Reibung mehr und mehr aufgezehrt wird, kann die seitliche Drehung Veranlassung zu einer Abweichung von der geraden Linie werden. Die Kugel biegt allmählich von der ursprünglichen Bahn ab und beschreibt einen Bogen, der je nach der Stärke der Drehung, die von den Fingern ausging, mehr oder weniger gekrümmt ist. Das ist das ganze Geheimniß der sogenannten Bogenkugeln, welche immer als der Beweis einer großen Geschicklichkeit angesehen werden.

Ganz ähnlich wie der Druck der Finger wirkt das sogenannte „Kantiren“. Dasselbe besteht bekanntlich darin, daß die Kugel nicht auf der Mitte des den Anfang der Bahn bezeichnenden Bretes aufgelegt wird, sondern daß sie auf der Kante desselben hinaus läuft. Dadurch aber schon, daß der Schieber, um dies zu erreichen, nicht gerade ausschiebt, sondern dem Arme eine Wendung geben muß, erhält die Kugel einen seitlichen Druck, der auf einen Bogen lauf hinwirkt und der noch durch die rinnenförmige Beschaffenen des Bretes in seiner Wirkung verstärkt wird.

Selbst auf dem besten Kegelschube nämlich wird das Brel in der Mitte durch das Auswerfen der Kugel in kurzer Zeit eine Vertiefung erleiden. Dadurch legen sich die Kanten höher, und die Kugel hat, wenn sie nicht in der Mitte des Bretes läuft, immer das Bestreben nach der Mitte herabzufallen. Diese Neigung macht sich auch geltend, indem die Kugel im ferneren Laufe nicht in der Richtung der Kante fort rollt, sondern immer nach der Richtung zu laufen sucht, nach welcher von der Kante aus die Mitte lag.

Beim Auslegen auf die linke Kante bekommt also die Kugel eine Tendenz nach rechts zu laufen, – umgekehrt, wenn sie rechts aufgelegt wird – und sie wird, da die ihr durch die Hand mitgetheilte Drehung immer in demselben Sinne einwirkt, wie das Kantiren, in einem ganz entschiedenen Bogen ihren Weg nehmen.

Geübte Kegelschieber wenden das Kantiren oder das Schieben im Bogen an, um die Kugel mehr von der Seite in die Kegel zu bringen, von wo aus die fallenden Kegel dann der Aufstellungsrichtung eher folgen und andere mit umwerfen. Einen ähnlichen Effect erreichen Mindergeübte oft ohne Absicht durch das „Anecken“, bei welchem die Kugel noch vor den Kegeln an die Seitenbande anschlägt, von dieser aber in Folge der Elasticität wieder zurückgeworfen wird. Allein dieses ist schimpflich.

Regelrechtes Anecken ist nicht so leicht, als es nach dem hier geltenden Grundgesetz scheinen sollte, daß eine elastische Kugel von einer ebenen Fläche, wie ein Lichtstrahl von einem Spiegel, unter demselben Winkel wieder zurückgeworfen wird, unter welchem sie anprallte, denn es kommen hier auch die mannigfachsten Drehungen der Kugel, welche Veranlassung zu Richtungsänderungen werten, in Betracht.

Nehmen wir das einfachste Beispiel, daß der König, von allen neun Kegeln allein noch übrig, genau von der Mitte aus durch Anecken getroffen werden sollte. Jeder wird glauben, daß der Punkt, an welchem die Kugel die Bande berühren muß, um den richtigen Abschlag zu bekommen, genau in der Mitte zwischen dem Anfangspunkte des Laufes und dem Könige, in U (Fig. 4) liegen müsse, und sich sehr wundern, wenn, obgleich er die Kugel BA genau in der Richtung nach U geworfen hat, er damit doch den König nicht trifft, sondern vorbeischiebt und das ganz regelrecht. „Wo muß ich aber nun anecken, um den König zu treffen?“ – „etwas [685] vor der Mitte“ – urtheilt der Eine; „Ach Gott bewahre, ein großes Stück hinter der Mitte,“ meint ein Andrer, und Beide haben in ihrer Art Recht.

Man betrachte nur Fig. 4, und es wird in die Augen springen, daß die Größe der Kugel allein schon die Ursache wird, warum scheinbar das oben ausgesprochene Gesetz des Abschlags seine Gültigkeit verliert. Es liegt nämlich der Punkt des Anschlages an die Bande, wenn die Kugel BA in der Richtung nach U hinrollt, nicht in U (wie es nur für eine unendlich kleine Kugel der Fall sein würde), sondern der Punkt B der Kugel trifft bereits in N die Bande. Prallt sie nun unter demselben Winkel wieder ab, so ist natürlich, daß sie rechts vom König vorbei gehen muß und zwar um so weiter, je größer ihr Durchmesser ist, je weiter also der Punkt N von U entfernt liegt. Man müßte also nach einem Punkte zielen, der um so viel wenigstens hinter U liegt, als N nach vorn zu gelegen ist. In Folge einer optischen Täuschung hält man außerdem auch die nach vorn zu liegende Hälfte der Bahn für länger, als die andere, und man wird also um so mehr hinter der scheinbaren Mitte erst den Anschlagspunkt zu suchen haben.

Andererseits kommt dagegen in Betracht, daß die Kugel, sobald sie an die Bande anschlägt, eine Reibung und dadurch die Veranlassung zu einer Drehung erleidet, in Folge deren sie an der Bande hinlaufen möchte. Der Punkt B wird an N einen Augenblick festgehalten, die gegenüberliegende Seite A dagegen drängt nach vorwärts, und die Kugel fängt an sich von rechts nach links zu drehen, als ob sie an der Bande hinlaufen wollte, und ihre Bahn, wie eine Bogenkugel, nach links zu legen. Dadurch erleidet das Gesetz vom Abschlag elastischer Kugeln eine Abänderung; der Abschlagswinkel wird immer kleiner als der Anschlagswinkel und zwar um so mehr, je größer die Kugel und je größer die sie bewegende Kraft ist, und man müßte also, wenn man allein darauf Rücksicht zu nehmen hätte, vor der Mitte anecken. Durch eine entsprechende Drehung mit der Hand kann man diese Abweichung natürlich vergrößern oder verringern, und Mancher, der gegen sich in den unnatürlichsten Grimm verfällt, weil er seine Kugeln nicht von der Bande losbekommen kann, braucht sie beim Schieben nur nach der entgegengesetzten Seite zu drehen.

Es muß ganz natürlich erscheinen, daß bei der Concurrenz so verschiedener wichtiger Bedingungen der Eine hier, der Andere dort aneckt, um denselben Kegel zu treffen, je nachdem er mit einer großen oder einer kleinen Kugel schiebt, je nachdem er viel oder wenig Kraft anwendet, je nachdem er sich über die Dimensionen der Bahn im Klaren ist, und seine Kugel bewußt oder unbewußt in der Hand dreht. Es wird jedem Kegelspieler Vergnügen gewähren, seine empirisch gefundene Methode sich nach dem Gesagten zu begründen; den Ungeübten werden diese Begriffe zwar nicht zu einem Kegelkünstler ersten Ranges machen, aber sie werden ihm die Erkenntniß der Ursachen seiner Ungeschicklichkeit erleichtern und ihm den Weg der Besserung bezeichnen.

Die Bewegung, der Lauf der Kugel ist aber noch nicht der Zweck des Kegelschiebens. Was nützt die schönste Kugel, wenn sie „n’ Ganzen“ oder höchstens „ein Paar“ nimmt, und der nächste Schieber mit seiner laienhaften Unsicherheit „Acht um den König“ und „Alle Neun“ hinlegt!

Die Kugel muß auch richtig in die Kegel hineingerathen, sie muß „greifen“ und möglichst lange in dem Kegelquarré sich herumbewegen. Trifft die Kugel den Kegel voll, gerade in der Verbindungslinie ihrer Mittelpunkte, so schleudert sie ihn vor sich her, ohne eine andere Bahn einzuschlagen. Ein augenscheinliches Beispiel einer solchen Vollkugel ist der sogenante „Stich“ oder „Hamburg“, Fig. 5. Wird dagegen ein Kegel seitlich getroffen, so schlägt die Kugel eben so ab, als ob sie an eine ebene Fläche, die

Stich.

man sich durch den Berührungspunkt gelegt denken kann, angeprallt wäre, und der Kegel fällt in der Richtung, die seinen Mittelpunkt mit dem Berührungspunkt verbindet.

Das Beispiel des feinsten Schnittes ist „der König aus der Mitte“, Fig. 6. Er kann nur durch eine Bogenkugel geschoben werden, die ihren Weg um den vordersten Kegel herum nimmt

König aus der Mitte.

und den König so fein trifft, daß er ganz leise auf die Seite fällt, und die dann selbst zwischen den beiden hintersten Kegeln durchgeht. Der König allein wird sehr selten geschoben. Auf dem geraden Wege und durch unverhüllte Kraft ist ihm nicht beizukommen, am ehesten fällt er noch durch Frauen, welchen ja immer das Schwerste unbewußt durch ihre Schwäche gelingt.

Um „alle Neune“ zu schieben ist es nothwendig, daß die Kugel bald voll die Kegel trifft, bald sie schneidet, und zwar so, daß die fallenden Kegel die stehenden dort mit umwerfen, wohin die Kugel auf ihrem Wege selbst nicht kommt. Eine Art, auf welche

[686]

Fig. 7.

Alle Neune.

dies möglich ist, zeigt Fig. 7. Die Kugel schneidet den vorderen Kegel 1, prallt ab und trifft 2 voll, daß durch ihn 3 mit umgeworfen wird, springt zurück an den König, von diesem wieder an den Kegel 4 und nimmt endlich noch 5, während der König durch einen Fall den Kegel 9, der vordere Kegel 1 aber den links von ihm stehenden 8 und dieser 7 umreißt. Es versteht sich von selbst, daß dies nicht die einzige Art ist, den Meisterschub auszuführen; es ist aber immerhin die sicherste, so „in die Vollen zu gehen“, daß man die Spitze womöglich durch eine Bogenkugel von der Seite trifft.

Und das wünsche ich allen Keglern! – ich habe gestern mit all’ meiner Wissenschaft herzlich schlecht geschoben.




Die drei Großmächte.

Sittenbild aus dem vorigen Jahrhundert.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


5

Es waren einige Stunden nach der gewaltsamen Scene, welche wir eben erzählt haben, verflossen, als Reichsgraf Cosimus mit seiner Begleitung in großer Hast mit schweißbedeckter Stirn wieder in den Schloßhof von Hohenklingen einritt. Er stieg von seinem schäumenden Honigschimmel ab und befahl, daß ihm augenblicklich ein anderes Pferd gesattelt werde, und dazu ein zweites für den Grafen Albrecht von Werdenfels.

Die Stallknechte eilten, des Gebieters Befehle zu vollziehen, Cosimus trat unterdeß in das zu den Gemächern seiner Tochter führende Portal des Schlosses – auf der Mitte der in’s obere Stockwerk hinaufleitenden Treppe jedoch flog ihm Aglaë entgegen, die in großer Spannung und Unruhe auf seine Rückkunft gewartet hatte.

„Haben Sie gehört, was während Ihrer Abwesenheit geschehen ist, mein Vater?“ sagte sie, „welche Beleidigung uns angethan ist?“

„Uns eine Beleidigung? Und welche?“

Sie erzählte mit geflügelten Worten das Ereigniß des Morgens.

Der Reichsgraf stand wie vom Donner getroffen. Er schien eine solche Frevelthat wider seine Herrscherrechte nicht für möglich zu halten und erst, als seine Tochter mehrmals die ganze Geschichte wiederholt und haarklein Alles angegeben hatte, brach er in einen ganz entsetzlichen Zorn aus. Er stampfte mit dem Fuße, er stieß Verwünschungen und Drohungen aus und schien nicht übel Willens, seine bewaffnete Macht aufzubieten und mit den vier alten eisernen Kanonen, welche die Armirung seines Schlossen bildeten und von einer Plattform über dem Thore niederdrohten, vor Großlingen zu rücken, um den Pfefferkrämern das ganze reichsfreie Nest in Schutt und Asche zu legen.

Als er mit seiner Tochter in deren Wohnzimmer eingetreten war, hieß er die Gesellschaftsdame derselben hinausgehen und rief mit einem vor Wuth gerötheten Gesichte aus:

„Es ist ja just wie eine vollständige Verschwörung gegen mich. Der Prälat von Triefalten zeigte sich völlig unversöhnlich – ich habe nichts als die spitzesten Reden zu hören bekommen – den Italiener, als den Hauptschuldigen, werde man nun und nimmer herausgeben, nun und nimmer der Glimmbach’schen Justizverwaltung die Satisfaction einräumen, daß sie beide arme Sünder - so drückten Seine Hochwürden sich aus – zu justificiren bekomme. Ich mußte schon mit meinem letzten Argument herausrücken und gestehen, was ich durch den Werdenfels erfahren, und wie die Sache mit diesem Fano Solari sich eigentlich verhält, und weshalb ich Alles daran wenden werde und Himmel und Erde in Bewegung setzen wolle, wenn es nöthig, den jungen Menschen ausgeliefert zu bekommen. Das aber half Alles nicht, der Hochwürdige steifte sich nur immer mehr und ließ nicht undeutlich vermerken, daß er meine ganze Erzählung für eine Kriegslist halte, ersonnen um den Inhaftirten in meine Gewalt zu bekommen und triumphirend aus der Stiftischen Custodia nach Hohenklingen zu führen! So etwas muß ich, der Reichsgraf Cosimus von Glimmbach, mir von diesen Pfaffen gefallen lasten!“ setzte die Erlaucht, indem sie zornig mit dem Fuße auf den Boden stampfte, hinzu. „Endlich,“ fuhr Cosimus dann fort, „gab der Prälat die Erklärung ab: wenn ich wirklich durch die alten Briefe, von welchen ich geredet, darthue, daß der junge Mensch mir so nahe stehe, so werde man stiftischer Seits sich vielleicht eines andern besinnen und seine freundnachbarlichen Gesinnungen durch ein so bedeutsames Opfer als die Herausgabe des Gefangenen zu bethätigen sich entschließen können. Das war denn endlich ein Wort, welches ich mit Dank annehmen mußte; und sogleich bestieg ich meinen Gaul wieder, um heimzureiten und den Werdenfels zu holen, damit er die Briefe dem Prälaten vorlege. Und nun, wie ich in bester Hoffnung daher komme, trittst Du mir mit der Nachricht von diesem tückischen Streiche des Krämerpacks von Großlingen entgegen – darüber könnte man ja rasend und verrückt werden. Den Menschen könnten [687] sie meinethalb bis zum jüngsten Tage eingesperrt halten – aber die Briefe, die Briefe muß ich heraus haben!“

Also sprach Cosimus der Zwanzigste zu seiner Tochter, nicht ahnend, wie tief er durch seine letzte Bemerkung über den „Menschen“ Aglaë's zarteste, aufkeimende Gefühle verletze.

Sie schwieg deshalb eine Weile, dann theilte sie ihrem Vater den Inhalt ihrer Gedanken, welche sie sich während seiner Abwesenheit über die Sache gemacht hatte, mit. Aglaë’s Rath war, sich auf weitläufige Proceduren in so drängender Sache nicht zu verlassen und Kaiser und Reich darum nicht aus ihrem ruhigen Schlummerzustande zu bemühen, sondern sich selbst Recht zu verschaffen und, um dies mit dem gehörigen Nachdruck und sichrer Bürgschaft des Erfolgs thun zu können, zuvörderst und ohne Zeitverlust die Stammvettern und die anderen Reichsgrafen und Dynasten im Schwabenlande zu beschicken und heranzuziehen zu einem großen und mächtigen Bündniß wider der Städter Uebermuth und maßlose Verwegenheit.

Cosimus der Zwanzigste betrachtete die verschiedenen Seiten, welche für einen gewiegten Politiker dieser Plan darbot. Die Idee, an der Spitze einer großen Liga dynastischer Interessen zu stehen, gefiel ihm aus der Maßen wohl. Er hatte nur die Sorge, daß es unmöglich sein werde, die andern Herren im Schwabenlande, deren jeder nur seinem eigenen Kopfe zu folgen pflegte, zu irgend etwas Gemeinsamem, und mochte es noch so ersprießlich für Alle sein, zu bewegen. Dafür waren sie deutsche Reichsgrafen und Landgrafen etc. Auch war nicht zu hoffen, daß man mit der Drohung einer solchen Eventualität die Herren von Großlingen erschrecken werde – höchstens konnte es den Erfolg haben, daß sich die hochnotpeinliche Justiz der edlen freien Reichsstadt ein wenig in den Proceduren beeilte, in denen sie zweifelsohne jetzt wider den unglücklichen Gefangenen sich ergehen werde, und die, wenn man den natürlichen Lauf der Dinge nicht störte, für ein paar Jährlein sicherlich zur absonderlichen Befriedigung des Reichsstadt-Großlingenschen politischen Selbstbewußtseins sich fortspinnen mußten.

Cosimus beschloß deshalb für’s Erste, mit Hintansetzung aller weiteren Erörterungen mit seinen Nachbarn wegen gewaltthätiger Gebietsverletzung, Landfriedensbruch u. s. w. sich zur Abordnung einer feierlichen Gesandtschaft zu bequemen und von den Städtern blos die Briefschaften zu reclamiren, welche der Gefangene bei sich führe.

Zwei seiner Beamte wurden deshalb mit einem großen Schreiben, dessen Ausfertigung sich bis tief in die Nacht hineinzog, am andern Tage nach Großlingen abgefertigt.

Gegen Abend desselbigen Tages kehrten sie zurück und berichteten ihrem Gebieter, daß nach einer äußerst stürmischen Sitzung des gesammten großen Raths und Magistrats die wohlweisen und fürsichtigen Herrn einen vollständig abweisenden Beschluß gefaßt, mit dem sie, die Abgeordneten, heimgeschickt worden, da alle Papiere des Inhaftirten bei den Acten bleiben müßten. –

Cosimus war außer sich. Dem ersten formidablen Zorne, in welchen ihn diese Nachricht versetzte, folgte jedoch eine tiefe Niedergeschlagenheit, worin sich zeigte, wie sehr es ihm am Herzen lag, den Sohn Teresa Solari’s aus seiner Haft befreien und an seine Brust drücken zu können. Er ging umher wie Jemand, der einen Schlagfluß bekommen und sich nicht von seiner gründlichen, inneren Verstörung erholen kann. Der Wein hatte keine Süßigkeit mehr für ihn und der große Meerschaumkopf keinen Reiz.

Mehrere Tage vergingen so, und es schien, als ob Cosimus täglich rathloser werde. Aber auch von Aglaë’s Wangen wichen die Rosen fröhlicher Gesundheit. Aglaë sah im Geiste den schönen jungen Grafen aus dem rhätischen Alpenlande in einem schrecklichen Verließe gefangen, wo ihn kein Sonnenstrahl beschien und wo sich die Verzweiflung seiner bemächtigte. Es mußte in der That entsetzlich sein, die Rolle der armen Maus spielen zu müssen, mit welcher die grausame Katze der Großlingenschen hochnotpeinlichen Justiz ihr Spiel trieb! Sie sann hin und her und brütete über Plänen, die Herzen der schlimmen Regenten der Stadt zu erweichen – endlich fand sie einen Plan, und dieser Plan war gut, er war vortrefflich – wenn es nur nicht so schwer gewesen wäre, ihn – auszuführen nicht, wohl aber, ihn dem Vater vorzuschlagen!

Es war in einer Dämmerungsstunde, wo ihr Vater sich in ihrem Zimmer befand und trübselig durch das geöffnete Fenster in den Abendhimmel hinausschaute; wo sie ein kleines Tabouret neben seinen Stuhl geschoben hatte und ihre Wange an seine Schulter lehnte, so daß er nicht sehen konnte, wie ihre Züge bald bleich, bald vom tiefsten Roth überflogen wurden, während sie sprach; wo eine weiche, fast sehnsüchtige Stimmung den an rohe Lebensformen gewöhnten Mann überkommen zu haben schien, und wo er einem Worte, das sich an sein im tiefsten Grunde so gutmüthiges Herz wandte, einen guten Boden zu gönnen mehr geneigt war, als seit langer Zeit.

„Vater,“ sagte Aglaë, „ich sehe, es bricht Ihnen das Herz, daß man Ihnen Ihren – weshalb soll ich das Wort nicht geradezu aussprechen? – Ihren Sohn vorenthält!“

Cosimus schwieg. Er legte nur leise den Arm um die Taille seines Kindes.

„Ich mache mir Vorwürfe,“ fuhr Aglaë fort, „daß ich aus falscher Scham, aus einer mädchenhaften Zurückhaltung, die ich nicht überwinden konnte, das Wort verschweige, das all diesem Kummer ein Ende machen könnte.“

„Und giebt es solch ein Wort?“ fragte .der alte Herr. „Ich weiß keines!“

„Du kennst die Grafen von Werdenfels,“ fuhr Aglaë fort.

„Ich kenne sie … ich bin mit einem Oheim Albrecht’s von Werdenfels auf der Hochschule zu Prag gewesen. Wer kennt sie nicht im Schwabenlande? Es ist ein edles und ehrenwerthes altes Geschlecht; einst waren sie mächtiger und reicher als alle in den rhätischen Landen und jenseits des schwäbischen Meeres, die Habsburger selber nicht ausgenommen.“

„Aber sie sind nicht mehr mächtig und reich?“

„Nein; sie sind um den größten Theil ihrer Herrschaften und Lehne gekommen … sie sind arm jetzt, sehr arm!“

„Was sie aber nie dazu gebracht hat, etwas zu thun, das ihres alten Namens und ihrer Geburt unwürdig wäre?“

„So viel ich weiß,“ versetzte Cosimus, „haben sie nie etwas gethan, was sie um einen Theil der Achtung bringen könnte, die ihnen gebührt und die Jedermann noch heule dem Namen Werdenfels zollt. Es müßte denn sein,“ fuhr Cosimus fort, „man wollte etwas Unehrenhaftes darin sehen, daß dieser Albrecht zu Fuße durch die Welt schwärmt und die Narrenpossen treibt, welche ihn in seine jetzige entwürdigende Lage gebracht haben.“

Aglaë schien eine Weile über diesen letzteren Punkt nachzudenken. „Ich glaube nicht.“ sagte sie dann, „daß ein Mann, welcher einem Hause des hohen Adels angehört, wohl daran thut, Fußreisen zu machen. Es ist nicht geziemend für ihn. Aber ich denke nicht, daß es hinreichend ist, ihn darum als einen unwürdigen Sprossen seiner Ahnen zu betrachten und seinen moralischen Werth, deshalb geringer anzuschlagen. Die Ritter, welche Gottfried von Bouillon nach Palästina folgten, haben oft genug, wenn ihre Pferde erlegen waren, tagelang durch den Sand Palästinas wandern müssen.“

„Es mag sein, mein gelehrtes Töchterchen,“ versetzte Cosimus kopfnickend; „auch steht es jedem Fürsten und jedem Manne, weß Standes er sein mag, wohl an, wenn er zu Fuße eine Wallfahrt zu einem Gnadenbilde unternimmt; aber ich muß zweifeln, ob das die Meinung war, mit welcher Albrecht von Werdenfels zu Fuß das Haus seiner Väter verlassen hat; und jedenfalls ist es mir lieb, daß Niemand von meinem Geschlechte behaupten kann, es habe jemals ein Reichsgraf von Glimmbach auch nur eine Tagereise zu Fuß gemacht.“

„Streiten wir darum nicht,“ versetzte Aglaë, ihre weiße Rechte auf die breite Schulter ihres Vaters legend; „soviel ist gewiß, die Werdenfels sind ein unserem Hause ebenbürtiges Geschlecht, und wenn Albrecht von Werdenfels in diesem Augenblicke eine Behandlung leidet, die ihn mit Verbrechern auf eine Stufe stellt, so kann auch dies seiner Ehre keinen Eintrag thun, denn zu allen Zeiten sind edle Herren und große Dynasten durch unglückliche Zufälle in die Gefangenschaft ihrer Standesgenossen oder übermüthiger Städter, denen sie eine Züchtigung zugedacht hatten, gerathen und in deren Verließen und Gefängnissen bestrickt gehalten worden.“

Cosimus nickte wieder mit dem Kopfe. „Das ist richtig, mein Kind,“ sagte er. „Gefängniß, sei es nun wegen einer begangenen Gewaltthat, oder sei es in Folge der Schicksalsschläge, welche einen Krieg begleiten, kann einen Edelmann nicht entehren. Die stolzesten Geschlechter zählen Ahnen auf, welche wegen Straßenraub oder andrer Ausübung ihres auf den Stegreif angewiesenen Berufs dem Nachrichter verfielen.“

„Nun wohl,“ fuhr Aglaë fort, „und wenn die Werdenfels [688] arm sind, vielleicht sehr arm – was schadet es? denn die Glimmbach zu Hohenklingen sind desto reicher von Gott mit Glücksgütern gesegnet …“

Cosimus wandte bei diesen Worten sein Gesicht zu, und Aglaë schlug die Augen nieder; dann, als sie den Blick ihres Vaters stumm auf sich ruhen fühlte, verbarg sie ihr Antlitz an seiner Schulter.

„Was hast Du vor? was willst Du mir damit sagen?“ fragte Cosimus endlich. „Denkst Du …“

Sie unterbrach ihn.

„Weißt Du ein anderes Mittel, ihn zu befreien, ein anderes, um den Schlüssel in Deine Hände zu bekommen, der auch Deines Sohnes Kerker öffnet?“

„Und Du wolltest deshalb …“

„Vater, es ist kein Opfer, das ich bringen will … ich liebe ihn!“

Cosimus sprang auf. Er schritt unruhig auf und ab.

„Du hast Recht,“ sagte er dann. „Meinen Schwiegersohn werden sie schon herausgeben, diese zähen, frechen Dütendreher!" Sie müssen, oder …“ er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort: „Ich habe einen trefflichen Gedanken, Aglaë, um sie zu zwingen – vortrefflich, Du sollst es sehen! Und was den jungen Mann angeht, so kann mir ein Werdenfels zum Eidam so lieb sein, wie ein Anderer; er wird der Mann sein, auf die Gelegenheit zu achten, es diesen Stiftischen und diesen Städtern heimzuzahlen, was sie an mir gethan haben in allen diesen Tagen … ich will’s überlegen, Aglaë, ich will’s bedenken, Kind.“

Und damit verließ Cosimus das Wohnzimmer seiner tief bewegten Tochter und schritt seinen eigenen Gemächern zu, um sofort die zwei angesehensten und erprobtesten seiner Beamten zu sich zu bescheiden.


(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen



Ein chinesisches Heimchengefecht. Wagen und Wetten ist eine der menschlichen Leidenschaften erster Classe, die bei den verschiedenen Nationen in den mannigfaltigsten Formen auftritt, als Lotterie- und Hasardspiel, als Wettrennen, Hahnen- und Stiergefecht, Wetten um so und so viel Flaschen Champagner oder bescheidene „Seidel“ oder „Töpfchen“ Bier. Nirgends aber wird die Glücksgöttin oder das Vertrauen auf eigene Meinung in so seltsamen Formen versucht, als bei den Chinesen. Wir erinnern nur an die Wettkämpfe mit Wachteln und mit Heimchen oder Grillen.

Von einem solchen populären, aber polizeilich verbotenen Kampfe letzterer giebt ein Engländer aus eigenem Erlebniß folgende Schilderung: Von Whang geführt, der mit seinem langen Zopfe und schwarzgrauer Kleidung wie eine große Schildkröte aussah, schritten wir gegen Abend durch die Straßen von Canton, um einmal eine der Tausende von heimlichen Spielhöllen persönlich kennen zu lernen. Endlich kamen wir vor einer dunkeln, niedrigen Thür an, in die wir uns hinter dem Zopfe unsers Führers hereinzwängten. Wir befanden uns in einem kleinen, stickigen Raume, dessen obere Hälfte fast ganz von regimentstrommelgroßen Papierlaternen ausgefüllt war „Tseng tau ki!“ schrie unser Führer, was bei uns heißen würde: „Platz gemacht!“ Aber wir protestirten gegen diese Auszeichnung und erklärten, daß wir blos als bescheidene Zuschauer gekommen wären.

In der Mitte des Raumes stand ein runder Tisch mit reich gezierten Rändern von geschnitztem Elfenbein, in dessen Mitte ein großer Porcellannapf delicat weiß und fein roth geädert. Um Tisch und Napf standen etwa fünfzehn chinesische Herren der besseren Classen, alle sehr erwartungsvoll und aufgeregt. Am Tische, einander gegenüber, befanden sich die beiden Secundanten der erwarteten Wettkämpfer. Man schrie nun, daß es losgehen solle. Sofort erschienen zwei Herren, jeder mit einem köstlichen Elfenbeinkästchen, mit goldenem, feinem Gitterchen oben, in der Hand, und ließen zwei große Heimchen in den Porcellannapf springen. Heimchen werden von gewissen Künstlern zu solchen Wettkämpfen ordentlich gezogen und dressirt, wie in London Hähne. Sie sahen ganz dunkel aus und hatten lange Beine mit auffallend starken Oberbeinen. Ungemein dick, wohlgenährt und lebhaft, glotzend mit starren Augen aus ihren dicken Ochsenköpfen, machten sie trotz ihrer insectarischen Winzigkeit einen nicht geringen, schauerlichen Eindruck, zumal mit ihren stark arbeitenden Kneipzangen von Fängen. So wie sie in dem glatten, gewölbten Porcellannapfe hinunter glitten und gegen einander stießen, machten sie ein scharf knisterndes Geräusch und zogen sich sofort von einander zurück wie zum Ausholen und mit drohenden Gesticulationen, worüber die Gesellschaft sofort in entzückten Beifall ausbrach. Aber ungeduldig über deren Vorbereitungen, schrieen sie den Secundanten zu, sie zu hetzen. Diese gingen also an die Arbeit, Jeder mit einem Strohhalm bewaffnet, womit die Thierchen so geschickt gereizt wurden, daß sie offenbar dachten, eins packe, zerre, zupfe und stoße das andere. Sie bäumten sich auf ihren Hinterbeinen und tanzten und bissen und rangen mit ihren Vorderfüßen und zogen und kratzten und rissen und kollerten und wälzten sich übereinander und sprangen aus und ab, hin und her, rück- und vorwärts und rutschten und glitten und bluteten und schäumten am Munde, bis Haut und Fußstückchen sich lösten und noch lebenzitternd auf dem Boden des Napfes umher zerstreut lagen.

Die Zuschauer waren jetzt aufgeregt bis zum Wahnsinn und sprangen umher und rutschten und zogen und zerrten und kratzten und schrieen und kreischten und glotzten mit großen, perlartig glitzernden Augen.

Sie wetteten um „Fliegenkuchen“, Kuchen, in welche, statt der Rosinen, Fliegen hineingebacken sind - eine sehr beliebte Delikatesse des himmlischen Reichs, die man sich auch bei uns im Juli und August wohlfeil verschaffen könnte, wenn wir gewohnt wären, von unseren Stubenfliegen einen besseren Gebrauch zu machen. Hier in der Wettstube war der Fliegenkuchen freilich, blos ein Vorwand, um die verbotenen Geldwetten dahinter zu verbergen.

Ich gestehe, daß ich selbst so thöricht war, mich aufregen zu lassen und zu wetten und zwar mehrmals um mehr als zehn Fliegenkuchen. worunter man stillschweigend Dollars verstand. Mein Landsmann und Freund hatte die Vorsicht, alle meine Wetten zu decken, d. h. auf der entgegengesetzten Seite just ebenso viel zu wetten, so daß bei Ausgleichung derselben der Eine gewinnen mußte, was der Andere verloren. Wir glaubten sehr pfiffig zu sein, aber die Chinesen zeigten sich doch überlegen. Meine Wetten waren bis hundert Dollars gestiegen, zu derselben Höhe war mein Freund mit den Chinesen gegangen, die auf das andere Heimchen wetteten.

Ich war ganz sicher, welches gewinnen mußte, denn das eine hatte schon keine Spur von Flügeln mehr und kaum noch ein Bein heil und ganz, während das andere mit noch einem ganzen Flügel und drei starken Fußstumpfen versehen war. So wie ich aber die letzten Zehn zum Hundert gewettet hatte, biß mein bis zu einem Stumpf von Körper zerrissener Gegner meinem Heimchen mit einem Male total und radical den Kopf ab. Da lag der todte Held mit abgebissenem Kopfe, dessen Fänge noch ohnmächtig am Boden schnappten und bissen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie’s möglich sein konnte. Es war Alles ganz natürlich zugegangen, und ganz barbarisch, füg’ ich hinzu, aber wie? Konnte ein unsichtbarer Langzopf mit einer unsichtbaren Pincette im Spiele gewesen sein?

Doch es half nichts; ich mußte meine hundert Thaler zahlen und that es in dem frohen Gefühl, daß sie mein Freund wieder für mich eincassiren werde, da sein Heimchen gewonnen. Während er nun lachend umherging und Anstalt machte, seine Gewinne einzutreiben, stürzte plötzlich ein Chinese herein, blaß wie Asche, athemlos und stotternd, daß drei Mandarinen mit Soldaten auf das Haus zu marschirten. Im Nu waren die Laternen heruntergerissen und ausgelöscht, der Porcellannapf zertrümmert und alle Anwesende durch die enge, niedrige Thür gequetscht und entstoben. Wir tappten unter krachenden Porcellanscherben im Dunkeln umher, bis wir durch das Gedränge und Gequetsche der Letzten mit nach außen auf die Straße gedrängt wurden. Hier fiel mein Freund mit dem Kopfe in eine zerbrochene Papierlaterne und ich über ihn. Wir mußten lachen trotz dieser demüthigenden, doppelten Niederlage. Die Chinesen hatten sich mit meinen hundert Dollars im Dunkeln aus dem Staube gemacht. Von einem Mandarin und Soldaten war keine Spur zu entdecken. Wir waren „gemacht“.



Kleiner Briefkasten

Fr. K. in Wien. Gedichte nicht angenommen, Prosa erwarten wir.

E. S. in Berlin. Verworfen.

Fr. in Osn. Die Gartenlaube hat bereits mehrere derartige Biographien gebracht.

E. M. R. in Wernigerode. Das mehrfach in der Erzählung „Ein Deutscher“ von Otto Ruppius erwähnte Lied: „Zieh’n die lieben goldnen Sterne“ ist von Proch für Stimme, Cello und Piano componirt und unter dem Titel „Schweizer Heimweh“ bekannt. Es ist bei Haslinger in Wien erschienen und später als Thema zu einem Concertstück für Violine benutzt worden. – Obengenannte Ruppius’sche Erzählung ist übrigens vor einigen Tagen in einer billigen Separatausgabe erschienen.

D. in H. (Niederschlesien). Wir hoffen Ihren Wunsch nächstens erfüllen zu können.

F. in H. Viel Schönes darin, verehrte Frau, aber doch nicht zum Abdruck geeignet.

F. in M. Nicht zu benutzen.

A. in Hagen. Haben weder Brief empfangen, noch können irgendwie Rath in der beregten Angelegenheit ertheilen.

Fräul. M. I. in Nürnberg. Besten Dank für Ihre Anerkennung: unsere Bescheidenheit verbietet uns jedoch, Ihr Gedicht abzudrucken. A. B. erwidert Ihre freundlichen Zeilen mit den aufrichtigsten und unvergänglichen Gefühlen des Dankes für alle die lieben Nürnberger, die aus 6000 Sängern in jenen herrlichen Tagen eben so viel begeisterte Verehrer für ihre ehrwürdige Stadt, diese Perle des deutschen Vaterlandes, zu machen wußten.

W. in Wien. Ganz richtig. Den dreibändigen Roman „Metternich und Kossuth“, noch vor kurzem in Oesterreich verboten, können Sie jetzt durch jede Buchhandlung für den billigen Preis von 1 Thaler beziehen. Er enthält sehr interessante Episoden aus dem Leben beider Männer.

R. K. in G. Es ist nicht unsere Sache in dergleichen Dinge einzugreifen. Hat sich Ihr Oberprediger den Orden wirklich nur durch seine „Heuchelei“, wie Sie es nennen, erkauft, so wird der Segen eines solchen „Geschäfts“ nicht ausbleiben. Es paßt dann auf diesen Herrn auch das Distichon, das L. Storch bei ähnlicher Gelegenheit sehr glücklich improvisirte:

Wie hoch muß Dich das Kreuz beglücken!
War’s doch auch Christi höchste Lust!
Er trug’s gottfreudig auf dem Rücken,
Du trägst’s demüthig auf der Brust.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die vorzüglichsten Bleistifte der Fabrik.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ihr