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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[305]

No. 20.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Zwölfte.

Kleine Bilder aus großer Zeit.
Von Georg Hesekiel.
(1.)


Am 16. September 1809, Morgens neun Uhr, versammelte sich auf der Citadelle von Wesel eine Militair-Commission, bestehend aus dem Bataillonschef Grand und fünf andern Officieren, niedergesetzt von dem Commandanten der Festung, General Lameine, berühmt als Führer einer der „höllischen Colonnen“, welche einst die Vendée verwüsteten, um auf Befehl des Kaisers Napoleon über zwölf Officiere zu richten, die den kühnen Major von Schill auf seinem kecken Zuge gegen den französischen Tyrannen begleitet hatten und unglücklicher Weise in Kriegsgefangenschaft gerathen waren.

Nur elf dieser Officiere konnten dem Militairgericht vorgeführt werden, es waren: Leopold Jahn aus Massow in Pommern, Ferdinand Schmidt aus Berlin, Ferdinand Galle aus Berlin, Carl und Albert von Wedell aus Braunsfort in Pommern, Adolf Keller aus Straßburg in Ostpreußen, Constantin von Gabain aus Geldern, Ernst Friedrich von Flemming aus Rheinberg, Friedrich Felgentreu aus Berlin, Carl von Kessenbrink aus Krien in Pommern, Friedrich von Trachenberg aus Rathenow. Der Zwölfte, Leopold Heinrich von Wedell, fehlte, er lag schwer verwundet in Montmedy und hatte nicht nach Wesel abgeführt werden können.

Um neun Uhr trat die Militair-Commission zusammen, und um 11 Uhr waren eilf preußische Officiere, von denen Keiner noch dreißig Jahr alt war, zum Tode verurtheilt wegen Verletzung des ersten Artikels des Gesetzes vom 29. Nivose des sechsten Jahres der französischen Republik.

Napoleon gesellte doppelten Hohn zur Tyrannei, denn er ließ die preußischen Officiere, die im ehrlichen Kampfe gegen die Uebermacht gefangen waren, verurtheilen auf Grund eines französischen Gesetzes, welches keiner der Jünglinge kannte. Und wie lautete dieses Gesetz? Es lautete wörtlich: „Gewaltsame Diebstähle auf offener Landstraße, sowie Einbruch in bewohnte Häuser durch äußere Gewalt oder Leiterersteigungen werden mit dem Tode bestraft.“

Als Diebe und Straßenräuber ließ der französische Kaiser die hochherzigen Jünglinge, die für das Vaterland ausgezogen, zum Tode verurtheilen, weil sich ihr Anführer, der Major von Schill, natürlich überall, wohin er gekommen war, der feindlichen Cassen bemächtigt hatte, wie der Kriegsgebrauch ist. Das war napoleonische Gerechtigkeit; o, es ist eine gute und vorsichtige Gerechtigkeit, die kaiserlich französische, sie hatte auch schon in der Nacht vor dem Tage, an welchem die Militair-Commission zusammentrat, drei große Gräber graben lassen für die preußischen Officiere!

Nun, die Gräber waren fertig – umsonst konnte man sich die Mühe doch nicht gegeben haben? O, nein! Um 11 Uhr wurde nicht nur das Todesurtheil gesprochen, sondern auch die sofortige Execution verfügt. Die Behörden des französischen Tyrannen waren nicht ohne Besorgniß, denn eine dumpfe Gährung gab sich unter der gut preußisch gesinnten Einwohnerschaft kund, die Thore wurden schon am frühen Morgen gesperrt und die Wachtposten überall verdoppelt. Zu ohnmächtigem Groll mit den Zähnen knirschend schlichen die Einwohner durch die Straßen, und selbst die französischen Soldaten der Besatzung murrten laut über dieses blutige Tyrannenstück ihnes sonst vergötterten Kaisers. Bei einem portugiesischen Bataillon, das aus seiner Heimath hierhergeschleppt worden war, gab sich der Unwille so stark kund, daß der Commandant es auf der Esplanade antreten und bis zum Schluß der Execution unter’m Gewehr stehen ließ.

Um 1 Uhr Mittags führte man die Elf zum Tode; die zur Execution bestimmten Truppen hatten einen Leiterwagen mitgebracht, die jungen Officiere aber erklärten, daß sie als Preußen gewohnt seien, dem Tode entgegen zu gehen, und sie würden das auch heute thun! Da band man Zwei und Zwei zusammen mit Stricken an den Armen, und dann begann der Trauerzug.

Voran ein Commando Cavallerie mit schußfertigem Carabiner, dann eine Compagnie Grenadiere, darauf die Elf, umgeben von den zur Execution bestimmten Kanonieren, den Beschluß machte eine Voltigeur-Compagnie. So führte man sie hinaus, die Jünglinge, unter Trommelschlag, über die Esplanade zum Berliner Thore hinaus und von da nach dem Fürstenberge, denn die Lippe hatte den nächsten Weg zum Exercirplatze, wo die Gräber aufgeworfen waren, überschwemmt. Da die Thore geschlossen waren, so konnte keiner der Einwohner von Wesel den Trauerzug geleiten und die Einsamkeit draußen stach mächtig ab gegen die gedrängte Menschenmenge in den Straßen. Die Wälle waren dicht mit Menschen besetzt, aber die Hinrichtungsstätte war ihren Augen durch ein Gebüsch verdeckt.

In dieser Einsamkeit zogen die Schergen der fremden Tyrannei des Weges dahin mit ihren Opfern; die wenigen Menschen aber, die ihnen auf der Landstraße begegneten, die folgten dem traurigen Zuge, denn die Officiere riefen ihnen zu: „Geht mit uns und seht, wie Preußen sterben, damit Ihr’s den Landsleuten erzählen könnt!“

Kalt und ruhig, mit männlicher Fassung marschirten die Elf auf in den weiten Halbkreis, den die französische Besatzung auf dem Richtplatze, nahe an der Düsseldorfer Landstraße, bildete.

Dumpf und hohl klang das französische Commando über die offenen Gräber. Man wollte den Opfern des Tyrannen die Augen [306] verbinden, wie’s Brauch ist beim Erschießen, aus einem Munde aber weigerten sich die Elf. Sie wollten, wie’s preußischen Soldaten ziemt, mit offenen Augen dem Tode entgegen gehen.

Sechsundsechzig französische Kanoniere traten an zur Execution, die Elf umarmten sich mit dem einen Arm, den sie frei hatten, dann stellten sie sich in eine Reihe, entblößten Brust und Hals und riefen den Franzosen zu, die preußischen Herzen nicht zu fehlen.

„Fürchtet nichts,“ lautete die Antwort, „die französischen Kanoniere zielen gut!“

„Fürchten?“ riefen die Elf, „wir Preußen fürchten keine französischen Kugeln!“

Die Kanoniere nahmen die Gewehre auf, und Friedrich von Flemming, der am äußersten linken Flügel stand, machte sich nach Verabredung fertig, selbst das Zeichen zu geben. Als die Franzosen im Anschlage lagen, warf er seine Mütze in die Höhe und riefen alle mit schallender Stimme: „Es lebe der König! Preußen hoch!“

Die Salve krachte, und zum Tode getroffen sanken die an einander Gebundenen lautlos nieder; nur Albert von Wedell, der achtzehnjährige Jüngling, richtete sich noch einmal auf unter den blutenden Leichen, seine rechte Seite war von den Kugeln zerrissen, aber mit starker Stimme rief er: „Könnt Ihr nicht besser treffen, Franzosen? hierher, hier sitzt das preußische Herz!“

Eine zweite Section trat vor und lud die Gewehre; welche Minuten voll bangem Entsetzen! Einige hofften, die Franzosen würden dem muthigen Jüngling das Leben lassen, viele der Feinde selbst hätten’s sicher gern gethan, aber der kaiserliche Blutbefehl lautete bestimmt, und wer hätte es gewagt, dem Befehl des Kaisers entgegen zu handeln? Ein Tyrann herrscht nur über Sclaven, Sclaven aber gehorchen blind, bis sie meutern!

„Feuer!“ commandirte Albert von Wedell, und das barmherzige Blei bettete ihn sanft neben seine Waffenbrüder!

In die offenen Gräber warf man die Leichen der Elf, französische Soldaten schaufelten sie zu, und Weseler Bürger bezeichneten in der Nacht nach der Execution die Stätte, wo die edlen Opfer fremder Tyrannei zum ewigen Schlaf gebettet waren in vaterländischer Erde.

Das waren die Schüsse zu Wesel am Glacis, mit deren Krachen der fremde Imperator am 10. September den deutschen Zorn zu schrecken gedachte. Es kam aber anders; der Knall jener Schüsse weckte den Zorn auf, wo er bis dahin noch geschlummert. Wie der schöne Morgenstern der Befreiung war der Schill aufgegangen am deutschen Himmel, er ging unter in dem Pulverdampf am Glacis zu Wesel, aber der Morgenstern geht unter, wenn der Morgen kommt, den er verkündet hat, der Morgen des Befreiungstages!


2.

An einem Novembertage des Jahres 1809 herrschte zu Cherbourg, der starken französischen Seefestung, welche, das britische Portsmouth gegenüber bedräuend, am Canale thront, eine ganz ungewöhnliche Thätigkeit, denn die Sprengarbeiten an dem Riesenbassin, welches Napoleon im Jahre zuvor auszusprengen befohlen hatte, waren beendet, und es galt nun, die Steintrümmer so schleunig als möglich zu entfernen, damit der großartigste Schutzhafen für französische Schiffe alsbald vollendet werde. In Tausenden von Karren wurden Erde und Steingeröll über die Equerdreville- und Couplets-Hügel im Rücken des Homet-Forts abgeführt; schwere Arbeit, aber noch schwerere Arbeit wird leicht durch Lust und guten Willen! doch hier hört man keinen ermunternden Gesang, hier tönt kein erfrischendes Wort, hier arbeitet Niemand mit Lust und gutem Willen. Tiefe Stille herrscht, man hört nur das Kreischen der Räder, das Schnaufen der schwer arbeitenden Männer und den zornigen Zuruf der strengen Aufseher. Doch man hört noch ein Geräusch, ein Geräusch, bei dem selbst feste Männerherzen beben, man hört das Klirren der Ketten; denn die hier arbeiten, alle sind in Ketten geschmiedet, sie müssen arbeiten in Ketten – Gott erbarme sich!

Halb nackt, denn die Kleidung vom gröbsten Segeltuch reicht kaum aus, die Blöße zu bedecken, ziehen die Unglücklichen, die immer zu Zwei an eine Kette geschmiedet sind, in stummer Wuth oder schon in thierischer Gleichgültigkeit, die wenigsten in männlicher Fassung, mit keuchendem Odem den Karren bergauf.

Schwere Arbeit in Ketten! aber drüben donnert das ewige Meer und sein erfrischender Hauch weht auch um die Stirn des Galeerensträflings, die Sonne leuchtet und ihre Strahlen vergolden nicht nur den Knopf des Kirchthurms, sondern auch das Elend des Bagno-Gefangenen. Der Galeerensträfling, er ist bei schwerster Arbeit glücklicher als der Gefangene in der Tiefe des Thurmes, zu dem kein Sonnenstrahl dringt und kein Hauch von frischer Luft, der nichts hört als das Klirren seiner Ketten, für den die Stimme seines Kerkermeisters Musik geworden ist. Galeerensclave du, mit dem blauen Auge und dem jugendlichen Antlitz, was du auch verbrochen haben magst, wer da Gewalt über dich hat, er hätte schlimmer mit dir verfahren können: er schmiedete dich an die Kette, aber er hat dir das Licht gelassen, er bedeckte dich mit Lumpen, aber er hat dir die Luft gelassen – das ist der Galeerentrost!

Der jugendliche Sclave richtete sein Haupt stolz auf, der Schweiß rann ihm von der bleichen Stirn; ein Gleiches that der an eine Kette mit ihm geschmiedete Bärtige; Beide standen straff und fest, militairisch die Haltung, und stummer Groll loderte aus ihren Blicken. Der jugendliche Galeerensclave da mit den zornigen Augen und dem wehmüthigen Munde, das ist der „Zwölfte“; die Elf andern liegen vor dem Glacis zu Wesel im kühlen Grabe, der Zwölfte zieht in Ketten zu Cherbourg an der Karre, ein Galeerensclave des französischen Tyrannen!

Die Schüsse zu Wesel am Glacis hatten nicht den erwarteten Erfolg gehabt, es waren nicht Droh- und Schreckschüsse für Preußen und Deutschland geworden; sie hatten vielmehr, vom Echo durch ganz Deutschland getragen, eine so allgemeine Erbitterung und so bedenkliche Aufregung erzeugt, daß der fremde Despot es nicht wagte, auch den Zwölften noch nachträglich erschießen zu lassen. Er machte den preußischen Officier zum Galeerensclaven, er begnadigte ihn nach Cherbourg zu Kette und Karre! Bonapartische Großmuth!

So wurde Leopold Heinrich von Wedell, der Sohn einer alten neumärkischen Familie, die sich seit Jahrhunderten in alle Reiche des Nordens verbreitet hat, Galeerensträfling, weil er als ein Held gefochten und gefangen worden nach männlichem Widerstande. Der große Kaiser wagte den Zwölften nicht erschießen zu lassen, darum an die Kette mit ihm!

Leopold Heinrich von Wedell, Lieutenant im Regiment des Prinzen Louis, schlug sich heldenmüthig in Preußens dunkelsten Stunden bei Auerstädt 1806. Er erhielt eine Kugel in den Unterleib, ritt aber auf dem Pferde seines gebliebenen Majors, die Wunde im Leib, den Gram um das Vaterland im Herzen, von Auerstädt bis nach Magdeburg, um nur nicht in französische Gefangenschaft zu fallen. Schwer erkrankt und in Todesnoth vernahm er hier nach einiger Zeit das Gerücht, Magdeburg wolle capituliren; sofort machte er sich auf, denn er wollte keinen Theil haben an der brennenden Schmach, die damit dem preußischen Namen angethan wurde. Der Schwerverwundete, begleitet von seinem ältern Bruder, schleppte sich fort; er folgte dem Corps Blücher’s nach, aber auch das ging verloren durch die Capitulation von Lübeck, noch bevor er’s zu erreichen vermochte. Der Lieutenant von Wedell rettete sich nach Dänemark, ließ sich in Kopenhagen heilen und gelangte mit seinem Bruder zur See nach Königsberg, wo ihn sein König sofort bei dem Garde-Reserve-Bataillon wieder anstellte. Den vergifteten Tilsiter Frieden aber vermochte der feurige junge Mann nicht zu ertragen, von grimmigem Franzosenhaß bewegt, nahm er im Jahre 1808, als jede Aussicht auf einen nahen Krieg geschwunden war, den Abschied und schloß sich jenen treuen Patrioten und kühnen Männern an, welche sich bemüheten, einen Aufstand in den Landen zwischen Weser und Elbe zu organisiren und durch denselben das Spottkönigreich Hieronymi von Westphalen umzuwerfen. Es ist bekannt, welchen traurigen Ausgang diese Schilderhebung unter Dörnberg nahm. Flüchtig irrte der Lieutenant von Wedell durch die Lande, von Versteck zu Versteck folgten ihm die Häscher des Spottkönigs „Kehrum“, wie die Westphalen seinen verdammten französischen Namen „Jerome“ auszusprechen beliebten: da, im Frühjahr 1809, sah Wedell plötzlich den Säbel blitzen in Schill’s Faust, er vernahm die muthigen Klänge der Trompeten vom ruhmreichen zweiten Brandenburgischen Husaren-Regiment, die den französischen Kaiser, den Unterdrücker [307] aller Völker, furchtlos herausforderten zum Kampfe! Leopold Heinrich von Wedell wurde ein Officier Schill’s. Aber schon in dem ersten Gefecht, bei Dodendorf unweit Magdeburg, wo Schill die französisch-westphälischen Truppen trotz ihrer Uebermacht sprengte und in die Flucht jagte, hatte Wedell das Unglück gefangen zu werden. Er hatte sich verzweifelt gewehrt, er blutete schon aus mehreren Wunden, aber erst eine Kugel, welche er in die linke Hüfte erhielt, streckte ihn nieder und gab ihn in die Hände seiner Feinde, welche den Schwerverwundeten über Magdeburg und Kassel nach Montmedy schleppten. Im Gefängniß zu Kassel sah er seinen treuen Freund, den Obersten Emmerich, der drei Tage nachher auf Napoleons Befehl erschossen wurde. Im Gefängniß zu Montmedy sah er seine elf Cameraden, die elf Andern, die zu Wesel erschossen wurden; ihn, den Zwölften, schickte der große Zwingherr nach Cherbourg an die Karre!

Er ward vielfach bevorzugt in Cherbourg, der tapfere Wedell, an sich selbst erfuhr er des französischen Kaisers höllische Großmuth im reichsten Maße, denn er wurde nach seiner Ankunft im Bagno nicht gebrandmarkt, ihm wurden weder die zwei, noch die drei verhängnißvollen Buchstaben[1] auf die Schulter gebrannt.

Freilich erhalten nur Räuber und Mörder diese entehrende Brandmarke, aber der große Kaiser, der die Elf zu Wesel wegen Straßenraub hinrichten ließ, der konnte ja auch den Zwölften zu Cherbourg wegen Straßenraub brandmarken lassen! Wer hätte ihn daran hindern können? Reine Großmuth, daß es nicht geschah, bonapartische Großmuth!

Nicht allein befand sich Wedell unter den französischen Mördern, Giftmischern und Spitzbuben; o nein, er fand dort zahlreiche deutsche Gesellschaft, brave Soldaten und patriotische Ehrenmänner genug, die dort an Kette und Karre zogen! So Mancher, der damals spurlos verschwand aus dem deutschen Vaterland, den Weib und Kind und Freunde nimmermehr wiedersahen, er wäre zu jener Zeit in Cherbourg nicht vergebens gesucht worden, 1813 freilich moderten seine Gebeine schon längst in den großen allgemeinen Begräbnißgruben hinter dem Fort Roucoulles.

Einen von den deutschen Landsleuten gab man dem Lieutenant von Wedell zum Genossen an der Kette, man schmiedete ihn zusammen mit einem Kriegs- und Unglücksgefährten, mit einem gefangenen Schill’schen Unterofficier. Das ist der Bärtige, der so parademäßig straff neben dem bleichen Jüngling an der Karre steht. Die bonapartische Großmuth gab ihm einen Genossen im Leiden!


3.

Wenn die Galerensclaven am Morgen zur Arbeit mußten, dann wurden sie auf dem Wege zum Kaiser-Bassin durch die Hafenstraße „getrieben“ von ihren Aufsehern. Die getriebene Heerde zog regelmäßig auf der einen Seite der Hafenstraße hinaus und kehrte auf der andern zurück. Auf dem Rückwege war die Aufsicht der Treiber lässiger, man vergönnte den Getriebenen, die von der Arbeit meist völlig erschöpft waren, einige Nachsicht, man ließ sie so langsam gehen, als sie mochten, überzeugt, daß sie sich wenigstens so viel beeilen würden, um die karge Abend-Ration im Bagno noch zu empfangen; an eine Flucht dachte Niemand, eine solche war, wenn auch nicht unmöglich, so doch völlig nutzlos, da die Wiederergreifung unvermeidlich.

Seit einiger Zeit schon waren Wedell und sein Unglücksgefährte, der Schill’sche Unterofficier, immer die Letzten beim Heimzuge in die Stadt; waren sie die Erschöpftesten? Benutzten sie diese Minuten ungestörten Beisammenseins, um vom Vaterlande und ihren Lieben in der Heimath zu reden? oder hatten sie einen andern Grund?

In der Hafenstraße zu Cherbourg, gerade an der Ecke der Seilergasse, steht ein alterthümlich stattliches Haus mit vorspringendem Erker im ersten Gestock und einer Wetterfahne darauf. In diesem Hause wohnte ein alter Herr, Namens de Lachétardie, ein höherer Beamter der Hafenverwaltung von Cherbourg, mit seiner Familie, welche aus einer schon verwittweten Tochter mit mehrern Kindern bestand.

An einem der Fenster zu ebener Erde in dem alterthümlichen Hause blieb das letzte Paar der Galeerensträflinge regelmäßig stehen beim Heimzuge und ruhete dort einige Augenblicke. Anfänglich mochte das Niemandem auffallen, nach und nach aber wurde es doch bemerkt; zuerst durch die Kinder des Hauses, welche sich vor dem bleichen Gesicht fürchteten, mit welchem der junge Galeerensträfling jeden Abend durch das Fenster hereinstierte in das große Gemach, in dem sie ihre Spiele trieben. Nach und nach gewöhnten sich die kleinen Mädchen an das bleiche Gesicht Wedell’s sowohl wie an das bärtige seines Begleiters. Bald warteten sie auf „ihre“ Galeerensclaven, wurden unmuthig, wenn diese zu lange auf sich warten ließen; und sie öffneten endlich das Fenster, um kurz und gut mit ihnen zu plauderten. Es konnte nicht fehlen, daß die Mutter der kleinen Mädchen bald Kunde von der Freundschaft erhielt, welche ihre Töchter mit zwei Galeerensträflingen geschlossen; der guten Dame war die Sache bedenklich, sie examinirte gar scharf und erfuhr, daß der bleiche Mann Henri heiße, der spreche niemals ein Wort mit ihnen, sondern blicke nur nach dem großen alten Bilde an der Wand mit seinen schönen, traurigen blauen Augen und gehe dann seufzend weiter; der Andere aber mit dem großen Rothbart heiße Frédéric, der sei lange so traurig nicht wie sein Gefährte, der spreche mit ihnen ein Wenig, nenne sie „mamselles“, was sehr komisch klinge, und esse alle Butterbröde und alle Aepfel, die sie ihm gegeben.

So lauteten die Mittheilungen der Kinder.

Die Mutter beschloß noch am selben Tage die Sträflinge zu erwarten und sie zu beobachten, denn trotz der scheinbaren Unverfänglichkeit war die gute Frau nicht ganz ohne Sorge; konnten die Gesellen nicht die Gelegenheit zu einem Diebstahl auskundschaften wollen?

Und an demselben Abend zogen die Unglücklichen wie gewöhnlich in langer Reihe an den Fenstern vorüber, hinter welchem die Kinder standen; endlich kam das letzte Paar, der Schill’sche Lieutenant und sein Unterofficier. Wedell nickte den Kindern traurig, aber freundlich zu, lehnte sich an den Sims und schaute auf ein ziemlich großes Oelbild in ovalem Goldrahmen, welches an der Seitenwand hing und eine Dame in ganz alterthümlicher Tracht und seltsamem Kopfputz darstellte. Es war eine Verwandte der Familie, gegen Ende des 17. Jahrhunderts gemalt und in der Tracht jener Zeit, übrigens sichtlich ein werthvolles Bild von der Hand eines Meisters.

Die kleinen Mädchen reichten ihrem bärtigen Freunde Frédéric ihre Butterbrödchen, dieser stammelte sein: „merci, petite mamselle!“ und nickte gutmüthig zu allen Fragen, welche die Kinder reichlich an ihn richteten, weil er offenbar keine derselben verstand. Die Mutter, die sich anfänglich in dem Hintergrunde gehalten und sofort erkannt hatte, daß die Beiden keine Verbrecher, sondern unglückliche fremde Kriegsgefangene waren, trat jetzt hervor und fragte, sich an Wedell wendend, dessen jugendliche Erscheinung sie gerührt haben mochte: „Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?“

Der Lieutenant, aufgeschreckt aus der Betrachtung des Bildes, verneigte sich leicht vor der plötzlich hervortretenden Dame und zog sich mit einem leisen: „pardon, Madame!“ zurück, indem er mit seinem Genossen sofort weiter schritt.

Betroffen stand die Dame, denn die Art, wie der Galeerensträfling seine Entschuldigung machte, seine Verneigung, sein rasches Zurückziehen endlich gaben ihr die Ueberzeugung, daß dieser junge Mann die beste Erziehung genossen haben müsse; sie war von dem Augenblick an in ihrem milden Herzen fest entschlossen, die traurige Lage desselben nach Kräften zu erleichtern.

Am andern Abend harrten Mutter und Töchter in gleicher Spannung beinahe ihrer Freunde an der Kette, dieselben erschienen auch und wie gewöhnlich zuletzt, gingen aber an dem Fenster vorüber, wobei Wedell nach der andern Seite der Straße blickte, während Frédéric nicht umhin konnte, seinen kleinen Freundinnen wehmüthig zuzunicken. Wir lassen dahingestellt sein, wieviel von der Wehmuth des braven Schill’schen Unterofficiers auf die Butterbröde kam, welche die „petites mamselles“ für ihn bereit hielten. Die kleinen Französinnen waren übrigens auch keineswegs gesonnen, sich in ihrem Verkehr mit den Fremden ohne Weiteres stören zu lassen, sie schalten und weinten und waren höchst unartig gegen ihre Mama, indem sie, nicht ohne Grund, behaupteten, daß deren Erscheinung allein ihre Freunde gestern gestört, heute aber verhindert habe, an das Fenster zu treten und sich mit ihnen zu unterhalten. Madame Noirot hatte Mühe, die Ungezogenen zu beruhigen, sie vertröstete dieselben auf den folgenden Abend.

Am folgenden Abend aber gingen die beiden Schill’schen nicht [308] wie gewöhnlich zuletzt, sondern mitten im Zuge, sie hielten nicht an bei dem Fenster und wurden von den Kindern eigentlich erst entdeckt, als sie schon vorüber waren. Ein Mal konnte das Zufall sein, als aber auch in den nächsten Tagen die Beiden niemals, wie sonst immer, die Letzten waren, da erkannte die Dame, daß die Männer sich geflissentlich zurückhielten, und war nun zweifelhaft, ob sie überhaupt ein Recht habe, diese Zurückhaltung zu übersehen und sich fürder um die Fremden zu bekümmern. Vielleicht wäre die Geschichte damit zu Ende gewesen, doch hatte das bleiche, kummervolle Gesicht Wedell’s und sein edler Anstand zu tiefen Eindruck auf die gutherzige Frau gemacht, und überdem mahnten sie die Kinder täglich an „Henri“ und „Frédéric“; interessirte sich die Mutter mehr für den Ersteren, so war den Kindern der Letztere ganz entschieden interessanter. Frau Noirot sprach mit ihrem Vater, Herrn de Lachétardie; der alte Employé war lange nicht so zartfühlend wie seine Tochter, er lachte sie ganz tüchtig aus und wollte nichts von den beiden seltsamen Schützlingen seiner Tochter und seiner Enkelinnen wissen. Glücklicher Weise besann sich die etwas beschämte Frau noch zuletzt darauf, daß der jüngere Kettenträger mit starren, traurigen Blicken das Bild der Urgroßtante betrachtet habe; glücklicher Weise besann sie sich darauf, denn die meisten Frauen pflegen das Wichtigste ganz praktisch zuerst zu erzählen, oder es ganz zu vergessen! Diese Mittheilung machte einen tieferen Eindruck auf den alten Employé des Hafens, als seine Tochter erwartet haben konnte, und am folgenden Abend stand er versteckt hinter seinen Enkelinnen am Fenster und ließ sich die beiden Schillianer zeigen, die im Zuge mit gesenkten Häuptern müde dahinschlichen, aber bei dem alten Hause doch die Blicke erhoben und, als sie die Dame nicht bemerkten, die Kinder freundlich grüßten. Die kleinen Aeffchen klatschten vergnügt in die Hände, und Florine, die keckere, ältere Schwester, warf ihrem bärtigen Freunde Frédéric sehr eifrig Kußfinger zu. Ein eigenthümlich Geschlecht diese Französinnen, als Kinder schon auf „la belle passion“ ganz leidlich eingerichtet!

Am andern Tage begab sich Herr de Lachétardie zu einem der Arsenalofficiere, unter welchem die Sträflinge des Bagno standen; dem erzählte er den Vorgang, und die sehr befreundeten alten Herren beschlossen, sich sofort die beiden Schill’schen vorführen zu lassen und sie zu befragen. Als dieselben eintraten, sagte der Arsenalofficier zu Wedell: „Hier ist Herr de Lachétardie, einer der Hauptsecretaire der Hafenverwaltung, welcher einige Fragen an Sie zu richten wünscht!“

Verwundert schauten die Preußen auf, denn schon diese höfliche Anrede von Seiten eines französischen Officiers war etwas so Außerordentliches in ihrer Lage, daß sie es kaum zu begreifen vermochten. Wenn man im groben Leinenhemd des Sträflings die Karre schiebt, dann spürt man nichts von der berühmten französischen Höflichkeit.

„Meine Freunde,“ begann Herr de Lachétardie sehr freundlich, „ich bewohne ein Haus an der Ecke der Hafenstraße und Seilergasse, an welchem Sie täglich vorüberkommen, wenn Sie zu Ihrer Arbeit geführt werden und von derselben zurückkehren. Sie pflegten eine Zeitlang bei der Rückkehr vor diesem Hause zu verweilen, aufmerksam ein Bild, das Portrait einer Dame zu betrachten, das dort an einer Seitenwand hängt, und mit den Kindern am Fenster, meinen Enkelinnen, zu plaudern; seit mehreren Tagen schon thun Sie das nicht mehr. Darf ich Sie nun bitten, mir zu sagen, ob Sie ein besonderes Interesse für das Bild haben und warum Sie nicht mehr mit den Kindern plaudern? Die erste Frage wünschte ich für meine Person gern beantwortet, zu der zweiten haben mich meine Enkelinnen genöthigt, welche durchaus die Abendunterhaltungen am Fenster fortsetzen wollen.“

Herr de Lachétardie sprach mit einer gewissen Verlegenheit, in welcher er sogar scherzhaft zu werden versuchte, denn er vermochte den Ton nicht zu finden, Galeerensträflingen gegenüber, die er nach den Mittheilungen seiner Familie für anständige Menschen hielt.

„Mein Herr,“ antwortete Wedell in gutem Französisch und tief gerührt, denn den tapfern Officier, der sich seit seiner Gefangenschaft als Verbrecher behandelt sah, rührte es wirklich tief, daß ein Franzose zu ihm trat, dessen Worte Theilnahme und menschliches Fühlen verriethen, „mein Herr, haben Sie Dank dafür, daß Sie einem Unglücklichen nicht zürnen, der, ein Bild betrachtend, einige Augenblicke sein entsetzliches Schicksal vergaß und der Heimath gedachte, an die ihn jenes liebe Frauenbild erinnerte. Für die Freundlichkeit Ihrer lieben Enkeltöchter wird Ihnen mein Leidensgenosse danken, der den Verlust schwer und nur aus Liebe zu mir getragen hat, weil ich der Ansicht war, es schicke sich nicht für Sträflinge, eine Dame durch unsere Dreistigkeit zu stören!“

„Sie waren sehr im Irrthum, mein Herr!“ begann der alte Beamte nach einer kurzen Pause, während welcher er die Beiden scharf gemustert hatte; er nannte Wedell auch schon „monsieur“, denn er wußte sehr bestimmt, daß er keinem Verbrecher gegenüber stand. „Sie waren sehr im Irrthum, denn alle diese Damen da, die Mutter wie die Töchter, interessirten sich auf’s Lebhafteste für Sie, und meine Tochter hat so schmerzlich empfunden, daß sie einem Unglücklichen seine einzige Freude vielleicht gestört hat. Dürfen Sie mir sagen, welchen Antheil Sie an dem Portrait der Dame nehmen? Sind Sie vielleicht Künstler? Das Bild ist von Poinsonnet, dem geschickten Hofmaler des Herzog-Regenten von Orleans, wenn auch, wie man mir sagt, eine Jugendarbeit. Poinsonnet ist hier zu Cherbourg geboren, seine Familie war mit der meinigen verwandt.“

„Ich bin kein Künstler,“ entgegnete Wedell, „ich glaube kaum, daß ich so viel von der Malerei verstehe, um ein gutes Bild von einem schlechten unterscheiden zu können; ich bin Soldat, mein Herr, preußischer Soldat, ein unglücklicher Officier vom Corps des Major von Schill; ich wurde mit andern Cameraden kriegsgefangen, meine elf Cameraden hat Ihr Kaiser vor etlichen Wochen erschießen lassen, mich, den Zwölften – ich weiß nicht wodurch ich solche Großmuth verdient habe – hat er zu Kette und Karre begnadigt und mich hierher gesendet!“

Die Art und Weise, in welcher Wedell das sagte, war nicht zornig, aber sie verrieth die tiefste Empörung und verfehlte ihres Eindrucks auf die beiden guten alten Herren nicht.

„Pauvre jeune homme!“ flüsterte der Arsenalofficier.

Herr de Lachétardie wischte sich die Augen mit einem riesenhaften, gelbseidenen Taschentuche, welches fast betäubend stark nach Moschus roch; er fragte nicht weiter.

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem amerikanischen socialen Leben.


Vater Washington, wie ihn die Amerikaner nennen, war ein großer Staatsmann und Kriegsheld, das wissen wir Alle; aber was vielleicht nicht Alle wissen, ist, daß George Washington auch ein galanter Cavalier war. Er betrachtete das weibliche Geschlecht vor allen Dingen als das schwächere und ließ es sich daher angelegen sein, ihm einen ganz speciellen Schutz zu gewähren. Wir brauchen nur einen Blick auf die von ihm ausgegangenen Gesetze zu werfen, um zu sehen, wie weit dieser Schutz geht, welcher der amerikanischen Frau zu Theil wird. Dies weiß aber auch die zärtliche Misses, und ihre Erkenntlichkeit gegen den hochherzigen Beschützer ist groß; sie bewundert in ihm nicht allein den schönen anmuthigen Cavalier, denn es ist bekannt, daß George Washington einer der schönsten Männer seiner Zeit war, sondern sie verehrt auch in ihm den Mann, der sich ihrer großmüthig angenommen und sie unter schützende Gesetze gestellt hat. Der beste Beweis für die Dankbarkeit der amerikanischen Frauen ist wohl der, daß sie vor zwei Jahren den Platz, wo seine Gebeine ruhen, mit großem Kostenaufwande erkauft haben, um ihn der Nation als Geschenk darzubringen und so die Ruhestätte des Mannes, welchen das ganze amerikanische Volk gewissermaßen als sein Eigenthum betrachtet hatte, auch wieder zu einem wahren Nationaleigenthum zu machen.

Dieser Ankauf ist ein höchst interessanter. Der Begräbnißplatz war durch Erbschaft einem Nachkommen Washington’s zugefallen, [309] der, kaum noch daran denkend, daß er sich im Besitze der heiligsten Reliquie Amerika’s befand, das ohnehin schon bescheidene Grabmal vollkommen verfallen ließ; Unkraut und Gestrüpp wucherten rundherum; kaum ahnte der vorübergehende Wandrer die Nähe dieser Grabstätte. Niemand rief ihm die Worte zu Sta, viator, heroem calcas! Da traten vor etwa zwei Jahren die Damen New-Yorks zusammen. Ein Meeting wurde abgehalten, und es wurde beschlossen, durch freiwillige Beiträge die zum Ankaufe erforderliche Summe aufzubringen.

Ein Gefederter.

Man fragte den Besitzer nach dem Preise. Er forderte die ungeheure Summe von 50,000 Dollars für die wenigen Morgen Land, welche die Grabstätte bildeten. Ein allgemeiner Schrei der Entrüstung erhob sich; mit flammender Schrift donnerten die Zeitungen Amerikas gegen den frechen Forderer. Dieser bestand jedoch, über die niederschmetternden Artikel lächelnd, auf seiner Forderung, und in wenigen Wochen hatte der nunmehr vollkommen zum Paroxysmus gelangte Patriotismus der amerikanischen Frauen die Summe aufgebracht.

Triumphirend begab sich ein Comité der schwarzäugigen Ladies zu dem habsüchtigen Yankee, und in blank gemünztem Golde wurden ihm die verlangten 50,000 Dollars auf den Tisch gezahlt.

Der edle Nachkomme Washington’s überlegte. Er war zwar Yankee im wahren Sinne des Wortes und obendrein ein glühender Patriot, aber er liebte vor allen Dingen das Geld. Wenn 50,000 Dollars in so kurzer Zeit zusammengekommen sind, dachte er, so wird es zwar wohl eine längere Zeit dauern eine größere Summe zusammenzubringen, aber es wird doch geschehen, denn Amerika ist ja groß und die amerikanischen Frauen verehren Washington. Er forderte 200,000 Dollars und strich vergnügt lächelnd und mit einem Fluche betheuernd, daß er ein glühender Patriot und schwärmerischer Verehrer seines großen Vorfahren sei, die 50,000 Dollars als Abschlagszahlung ein.

Ein furchtbarer Schrei der Entrüstung durchhallte die ganzen Vereinigten Staaten! Vernichtender schmetterten die Journalisten ihre Donnerkeile auf den übermüthigen Frevler herab, und man glaubte schon die zarten amerikanischen Ladies sich wie eine Bande gereizter Hyänen zusammenrotten zu sehen, um den schändlichen Wucherer mit ihren weißen Zähnen zu zerreißen. Dieser kaute indessen ruhig seinen Tabak, las mit frischem Gleichmuthe die vernichtenden Artikel und rieb sich vergnügt lächelnd die Hände, wenn er aus den Blättern ersah, daß aus allen Theilen der Republik Beiträge eintrafen, um die 200,000 Dollars zu vervollständigen.

Bald war dies bewerkstelligt. Das Comité erschien zum zweiten Male. In blankem Golde rollten die noch fehlenden 150,000 Dollars auf den Tisch, während die schwarzäugigen Ladies Blicke der Verachtung und des Hasses auf den schändlichen Empfänger warfen. Dieser schien nicht übel Lust zu haben, da es so gut ging, auch diesmal die ganze Summe nur als eine Abschlagszahlung anzunehmen, doch wurden jetzt die Blicke so drohend, die schönen Stirnen falteten sich mit solcher Strenge, daß er dies Project aufgab. Er strich holdselig lächelnd das Geld ein und begleitete die Damen höflich bis zur Thür, indem er sich hoch und theuer verschwor, daß er der kerngesundeste, gesinnungstüchtigste Patriot sei, und sich ihrer Aller Unterstützung ausbat, falls es ihm einmal in den Sinn kommen sollte, als Candidat für den [310] Stuhl aufzutreten, den sein edler Vorfahr mit so viel Ruhm eingenommen.

So ehrten die amerikanischen Frauen das Andenken des Mannes, der sich ihrer so schützend angenommen. Dieser gesetzliche Schutz nun geht auch wirklich weit, und allmählich hat sich denn auch der Amerikaner, trotzdem er nur einen Gott hat, dem er alle seine Talente und Empfindungen zum Opfer bringt, das money making, daran gewöhnt, die Frau auf das Zuvorkommendste und Artigste zu behandeln und überall schützend für sie aufzutreten.

Man sieht dies am besten, wenn man in Amerika reist. Auf Eisenbahnen, Dampfschiffen, in dem Postwagen und Omnibus wird stets der Amerikaner einer Dame den besten Platz, und wenn er auch die gerechtesten Ansprüche auf denselben hat, einräumen, ihr über Alles bereitwilligst Auskunft geben und rasch bei der Hand sein, um einen Aufdringlichen oder Ungeschliffenen zu züchtigen. Eine Frau reist in Amerika allein eben so sicher, ich möchte fast sagen sicherer, als unter männlicher Begleitung, denn im ersteren Falle werden sofort Hunderte für sie auftreten, wenn sie beleidigt werden sollte, während man im letzteren dies ihrem Begleiter überlassen würde, der, wenn er ein Ehemann ist, dies möglicherweise so schlecht wie möglich besorgen wird.

Diese Galanterie hat freilich viel Gutes. Der höfliche Umgang mit dem weiblichen Geschlechte, die zarte Behandlung desselben veredelt den Menschen, indem er die Rohheit der Sprache ablegt und sein ganzes Benehmen ein gefälligeres, geselligeres wird, aber gerade auf Reisen kann diese Art und Weise der Galanterie doch manchmal sehr lästig werden. Ein guter Freund von mir, ein echter Vollblut-Yankee, trägt noch heute seine Nase in ziemlich windschiefer Richtung, weil er sich eines Tages einfallen ließ, die Geliebte eines echten New-Yorker Rowdy’s den übertriebenen Zärtlichkeiten dieses letzteren gegenüber in Schutz zu nehmen, und ich selbst denke noch mit wahrem Grauen an eine Nachtreise von Chicago nach St. Louis, während welcher ich wenigstens zehnmal von ein und derselben Lady von meinem Platze verjagt wurde.

Am schlimmsten ist es nun aber, wenn die Liebe mit in’s Spiel kommt. Da treten die schützenden Gesetze erst in ihrer ganzen Kraft und Strenge auf. Wie mancher flatterhafte Sohn Deutschlands hat sich schon in die Netze einer geschickten amerikanischen Sirene locken lassen! Es wurde erst ein wenig getändelt und geliebt, dann flocht sich vielleicht hier und dort schon eine galante Phrase in die Unterhaltung; in einem günstigen Augenblicke wurde dann eine feurige Liebeserklärung vom Stapel gelassen, und ein feuriger Kuß besiegelte das Versprechen einer unverbrüchlichen Treue, einer glücklichen, segensreichen Ehe. Da kam der deutsche Jüngling erst wieder zur Besinnung, er sah ein, daß er seine Gefühle nicht an den richtigen Mann gebracht. Das Einfachste war daher ein Schnippchen zu schlagen, die sentimentalen Schwüre ewiger Treue, wie so viele derartige, zu vergessen und die Dame seines Herzens in die Gallerie der früheren Angebeteten zu hängen. Doch halt! – Die feurig liebende Jungfrau vergaß nicht, sie stürzte sich nicht einmal wie eine verlassene Ariadne vom Felsen herab, und eines schönen Morgens, als der biedere, deutsche Jüngling so eben ein lustiges Liedchen „Ander Städtchen, ander Mädchen“ vor sich hinpfeifend seine Koffer packte, klopfte die rächende Nemesis in Gestalt eines revolverbeladenen Polizisten an die Thüre und überreichte ihm die schwere Note: Gefängniß oder Hochzeit.

Die beleidigte Schöne hatte dem Friedensrichter, einem echten Yankee, die Schwüre ewiger Treue wiederholt, welche dem gefühlvollen Herzen des deutschen Jünglings entströmt waren, sie hatte beschworen, daß er ihr die Ehe versprochen, und sofort war der verhängnißvolle Verhaftsbefehl ausgefertigt worden. – Da blieb dann nur eine Wahl – die Ehe. Immerhin ein Unglück, aber doch nicht ein so großes als das Gefängniß, denn wenn es einer Frau in Amerika so leicht ist zu einem Manne zu kommen, so ist es dafür in einigen Staaten auch wieder sehr leicht auseinander zu kommen. Für zehn Dollars ist man z. B. in Illinois in Zeit von acht Tagen rechtskräftig geschieden, und wenn man ein guter Kunde ist, so thut’s der Richter auch für sieben.

Doch so wie nun in diesen Fällen das Gesetz die Frau schützt, so thut dies, wo eine wirkliche systematische Verführung zu Tage liegt, die Volksjustiz. Wer hätte nicht schon von dem sogenannten „Federn“ gehört, eine Strafe, welche wir schon in den ältesten Zeiten in unserem eigenen Vaterlande vorfinden, und der ebenfalls schon damals böswillige Verleumder, unvorsichtige Galane und überhaupt die, welche die Ehre der Frauen antasteten, unterworfen wurden.

Die beigefügte Skizze schildert eine solche Begebenheit in einer kleinen Stadt von Illinois, der ich vor einigen Jahren beiwohnte. Der dicke John war ein bekannter Don Juan, und hatte als solcher schon manche Tracht Prügel mit dem sogenannten Ochsenziemer, einer Peitsche, welche aus der getrockneten Haut eines Ochsenschwanzes gemacht wird, davongetragen. Dies verhinderte ihn indessen nicht, nach wie vor den jungen Schönheiten des Städtchens nachzustellen, worüber seine biedere Ehehälfte, die er bei Gelegenheit eines Liebesabenteuers auf die oben beschriebene Art „Gefängniß oder Hochzeit“ überkommen hatte, nicht wenig erzürnte. Seit langer Zeit nun hatte der dicke John seine Netze nach einem jungen, hübschen Mädchen ausgestellt, und nur die riesigen Gestalten ihrer beiden Brüder, von deren einem der dicke John sogar noch von einer anderen Begebenheit her einige dicke Striemen an seinen corpulentesten Theilen aufzuweisen hatte, schreckten ihn einigermaßen von gewagteren Versuchen ab. Doch der dicke John faßte sich schließlich ein Herz; die letzten Spuren der Bekanntschaft mit dem gewichtigen Ochsenziemer waren eben vernarbt, und er konnte daher wieder einmal das Risico einer neuen verbesserten Auflage übernehmen. Aber wie gesagt, die Dame seiner Nachstellungen hatte zwei Brüder, welche nicht mit sich spaßen ließen, und am andern Morgen, als der dicke John noch behäbig in Morpheus’ Armen lag und wahrscheinlich einen süßen Traum träumte, in welchem er selbst über den kühnen Unternehmungsgeist des Helden, seiner selbst, erstaunte, wurde leise die Thüre aufgemacht, und ein halbes Dutzend stämmiger Kerle traten, von den zwei gefürchteten Brüdern geführt, in das Zimmer. Sie hatten eigenthümliche Apparate mit, diese frühzeitigen Ruhestörer. Ein Eimer, in welchem eine zähe schwarze Flüssigkeit enthalten war, wurde vor das Bett gesetzt, ein riesiger Quast kam zum Vorschein, und ein ziemlich großer Sack, mit allerhand Federn von wildem Geflügel gefüllt, wurde auf der Diele geleert. Jetzt ging’s dem dicken John zu Leibe. Ein fettes Theerpflaster vor den Mund schreckte ihn aus seinen Träumen. Im Nu war er an Händen und Füßen gebunden und der ominöse Quast, von einer erfahrenen Hand geführt, bedeckte bald die fetten Reize des dicken John mit einer saftigen Lage schwarzen Theers. Dann rollte man den kugelrunden Leib des unglücklichen Don Juan einige Male in den auf der Erde ausgebreiteten Federn, bekleisterte noch hier und dort einige unbedeckte Stellen mit einer Handvoll bunter Daunen, und da stand der dicke John, halb Paradiesvogel, halb Schimpanse, ein wahres Monstrum von lächerlicher Häßlichkeit.

Jetzt wurde eine Art Bahre hereingebracht. Kunstgerecht wurde der befiederte John auf derselben befestigt, das Theerpflaster wurde ihm vom Munde genommen, und fort ging’s mit lautem Hurrahruf auf die belebte Straße. In Zeit von fünf Minuten wußte die ganze Stadt, daß der dicke John „gefedert“ worden sei, und in langer Procession ging’s durch sämmtliche Straßen des Ortes. Faule Eier, Düten mit Mehl und gelben, rothen und grünen Farben flogen jetzt platzend und farbige Wolken ausstreuend dem armen Opfer an den Kopf, und bald war das Costüm des armen John ein so gemischtes, etwas so Unerklärliches, die ganze Figur hatte in ihrer zusammengekauerten Stellung etwas so unförmlich Groteskes, daß ein Fremder wirklich in Verlegenheit gewesen wäre, zu sagen, von welchem Gehalte und welcher Gestalt, überhaupt was dieser Gegenstand eigentlich war, den sechs Männer im Triumphe durch die Stadt trugen.

So ging’s mit lautem Hurrahruf, in welchen sich das zeternde Geschrei des gerächten Geschlechtes mischte, bis an die Grenze der Stadt. Hier wurde der große Federballen von der Bahre heruntergenommen, in kunstgerechter spannendster Stellung über einen gefällten Baum gelegt, und nachdem vorher einer seiner Körpertheile vermittelst eines hölzernen Spahnes von der Theer- und Federkruste gereinigt worden war, begann der unvermeidliche Ochsenziemer seine Thätigkeit. Dies war der Schluß der Feierlichkeit. Dem dicken John wurde durch Zerschneiden der Bande der Gebrauch seiner Gliedmaßen wiedergegeben, und die letzten Hiebe des unerbittlichen Ochsenziemers begleiteten ihn noch auf seinen ersten drei bis vier gewaltigen Sprüngen in das nächste Gebüsch. Wie und auf welche Art der dicke John sich seiner theerigen Federjacke entledigt, kann ich nicht sagen, aber in der Stadt wurde er nie [311] wieder gesehen. Seine ihm treu gebliebene Ehehälfte verkaufte in Kurzem all’ sein Eigenthum und folgte ihm in’s Exil.

Das schöne Geschlecht war gerächt, und noch lange wird die Erinnerung an den dicken John die verwegenen Don Juan’s der Stadt abhalten, eine ähnliche Scene auf ihre Kosten herbeizuführen.




Moderne Brunnenvergiftung.

(Schluß.)
Bewegliche Behälter und Water closets – Die Ableitungen – Wasservergiftung in Halle – Unterirdische Ausdünstungen – Wichtige Entdeckung für Fortschaffung der Excremente.

Die dichte Bevölkerung der Wohnhäuser größerer Städte und die Schwierigkeit, eine für die ganze Bewohnerschaft genügende Latrinenräumlichkeit herzurichten, bringen es mit sich, daß für die nächste Beherbergung der Excremente daselbst allerlei Nothbehelfe in’s Leben getreten sind. Es giebt in großen Städten viele Häuser, die gar keine Abtrittsgruben besitzen, und wo für die letzteren als oberirdische Surrogate

I. bewegliche Behälter fungiren, die nach kürzerer oder längerer Zeit geleert werden.

II. Mit dem System der englischen Wasserleitungen, welches sich in der neuesten Zeit über die meisten großen Städte des Festlandes verbreitet, ist das der Spülabtritte (Water closets) innig verbunden. Hierbei verweilen die Fäcalstoffe gar nicht erst in einem Behälter; sie werden, kaum in das Aufnahmegefäß gelangt, sofort vermöge eines eigenthümlichen Mechanismus aus demselben weggespült.

Unleugbar hat diese Methode ästhetisch ihre sehr angenehmen Seiten. Der widerwärtige Geruch, das Fatale der Fortschaffung der Excremente kann Niemand mehr belästigen. Allein es fragt sich: was wird aus diesen Massen, welche die Spülung vorläufig aus unserer Umgebung entfernt? Verschwinden sie? lösen sie sich in Wohlgefallen auf? Bei näherer Betrachtung finden wir nun, daß die modernen Spülapparate die Wegschaffung des Unraths auf drei Wegen besorgen. Der eine Weg besteht darin, daß die Spülung in eine frühere Abtrittsgrube oder in einen alten Brunnen mündet. In diese Behälter werden die Closetröhren aus den verschiedenen Wohnungen des Hauses hineingeleitet. Stein- oder Asphaltpflaster bedeckt die Grube, in welcher auch ein Pumpwerk zur Entleerung des Inhalts angebracht ist.

Es leuchtet ein, daß in diesen Kothcisternen eine weit größere Gefahr für das Trinkwasser schlummert, als in den früheren Abtrittsgruben. Die um Vieles stärkere Verflüssigung ihres Inhalts, die durchlassende Beschaffenheit ihrer Seiten- und Grundtheile bedingen eine unendlich leichtere Möglichkeit von Kothinfiltration der benachbarten Erdschichten. Sind die letzteren nun gar quelliger oder filtrirender Natur (Sand oder Kalk), werden die Gruben nur selten, vielleicht nur alle Jahre einmal geräumt – wie denn wegen des beständigen Durchsickerns durch die Grubenwände nach außen eine Ueberfüllung nicht so leicht stattfindet –: so müssen die Brunnen der Umgegend die bedenklichsten Verunreinigungen und der Gesundheitszustand der Anwohner die ernstlichste Bedrohung erfahren.

Ein anderer Ort, welchem die Spülabtritte ihren Inhalt gern anvertrauen, sind zweitens die fließenden oder stehenden Gewässer. Befindet sich ein solches in der Nähe des mit dem Closetapparat versehenen Gebäudes, so wird von diesem aus ein zur Aufnahme der Fäcalstoffe bestimmter Canal in jenes geleitet. Nur ein Fluß mit wirklich gutem Gefälle und rascher Strömung ist im Stande jene fremden Massen rasch fortzutragen, während stagnirende Wässer (wie z. B. der Königs- und Schafgraben zu Berlin), seit Jahrhunderten mit allen Abgängen der thierischen und häuslichen Oekonomie und Gewerbe vollgepfropft, diese Stoffe schließlich dem Ufererdreich mit seinen Quellen und Brunnen mittheilen.

Nichts widersinniger, als wenn aus solchen mit den Auswurfsstoffen der Natur und Cultur beladenen Fluthen eine Wasserleitungsanstalt sich speist, wie wir es von London kennen gelernt haben, und wie wir es theilweise noch in Paris finden, obgleich dasselbe gerade in dieser, wie in vielen anderen sanitätspolizeilichen Beziehungen den meisten Hauptstädten Europas voranleuchtet! Die Abflüsse der großen Schlachthäuseranstalten und Abdeckereien von Bondy münden einige Kilometer oberhalb der Stelle, woselbst sich die Pariser Wasserfiltrir- und Reinigungsapparate befinden, in die Seine.

Endlich münden die Waterclosets gern in die unterirdischen, ursprünglich nur für Aufnahme der Wirthschafts- und Regenwässer angelegten Abzugscanäle – eine Einrichtung, welche in manchen Städten streng verpönt, in anderen geduldet, in anderen, wie z. B. in London, sich einer ausschließlichen Beliebtheit erfreut und bis vor kurzem noch für eine bedeutende Cultur-Errungenschaft galt. Indessen haben neuere Erfahrungen die großen Schattenseiten dieses Systems zur Anschauung gebracht. Lassen sich nämlich die Wasserleitungscanäle in ihrer Verzweigung nach allen Richtungen eines Stadtgebiets von einem Punkt aus mit der arteriellen, die unterirdischen Abzugsröhren in ihrer allmählichen Vereinigung zu einem Hauptstrang mit der venösen Strömung vergleichen, so muß der Ort, der einen gemeinsamen Sammelplatz beider Systeme bildet, gewissermaßen die Rolle eines Herzens spielen. Und dies trifft auf die britische Weltstadt unbedingt zu. Der alte Themsearm, der jetzt als cloaca maxima Londons benutzt wird und sämmtliche Abzugscanäle desselben in sich aufnimmt, wälzt in seiner Höhlung alle organischen und unorganischen Mauserungen in den Strom, von welchem der größte Theil der Stadt sein Wasser bezieht. London genießt also seine eigenen Auswurfsstoffe. Können aber in einem Körper gesunde Säfte strömen, wenn diese nur aus bereits verbrauchtem, ausgestoßenem Material sich wieder erzeugen? Filtrirt solches Wasser immerhin, filtrirt es selbst drei und vier Mal hintereinander, Eure Bassins lassen nur die gröbsten Verunreinigungen des Wassers auf den Kiesboden sinken; eine chemische Reinigung desselben ist auf diesem Wege unmöglich.

Die Stadt Halle a. d. S. liefert (nach Reil: die verschiedenen Systeme, betreffend die Anlage von Abtritten in Caspar’s Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medicin 1859) ein ähnliches Beispiel von Verwendung desselben Flusses zur Unrathskammer und zugleich zur Wasserversorgung: „Alle Canäle und Gossen der Stadt (heißt es S. 316), die zum größten Theile auch die Abtrittsausflüsse aufnehmen, führen ihren Unrath an diesen Stoffen von den Küchenabgängen, von Resten der Stärkefabrikation und Schweinemast der Saale zu; dazu kommen noch zahlreiche an der Saale gelegene gewerbliche Etablissements und Fabriken, z. B. Zuckerfabriken, Färbereien, Gerbereien, die ihre Abgänge dem Wasser abgeben, und die in einzelnen Straßen am Wasser direct in die Saale mündenden Abtritte. Fast am Ende der Stadt, d. h. da, wo die Saale hinfließt, nicht etwa, wo sie herkommt, nur ungefähr 500 Schritt unterhalb des Anatomiegebäudes, das seine Abgänge ebenfalls der Saale anvertraut, und dicht unterhalb mehrerer Mahlmühlen mit ihren Abtritten befindet sich der Thurm der Wasserkunst, die hier das Saalewasser hebt und in das Röhrensystem der oberen Stadt bringt, wo es in stetem Strom in die Röhrtröge fließt. Dieses mit dem verdünnten, gesammten Unrath der Stadt geschwängerte Wasser wird ausschließlich zur Speisebereitung benutzt, da das Quellwasser salzig ist und kaum zum Trinken sich eignet. Oft wird auch das Saalewasser getrunken. – Und einem solchen Unfug kann die Staats-, Stadt- und Sanitätspolizei ruhig zusehen!“

Wir haben oben gesehen, wie die Leichenregister Londons dieses System der Flußvergiftung verurtheilen, und auch Berlin wird die Folgen derselben zu tragen haben, wenn erst mit der größeren Verbreitung der englischen Wasserleitung und der damit Hand in Hand gehenden Spülabtritte die Spree und die verschiedenen Gräben, in welche, meist innerhalb der Stadt, jene Canäle münden, einen Theil ihres Ueberflusses an Kothsubstanzen den Brunnen abgetreten haben werden. Man gebe den Abzugsröhren ein noch so hohes Gefälle, erbaue sie noch so solide, spüle sie täglich mit den stärksten Wasserstrahlen aus – wer kann ermitteln, ob nicht dennoch ein Theil des Unraths irgendwo zurückbleibt? Wie schwer, ja wie unmöglich ist eine genaue Controle der Canäle in Bezug aus die Undurchlässigkeit ihrer Wandungen, die doch in der Länge der Zeit Schaden erleiden müssen! Anhäufungen von Kothmassen an Wandlücken, Vorsprüngen und Undichten im Mauerwerk, sowie Durchsickern von Kothflüssigkeit in das Erdreich und seine Wässer sind gar nicht zu vermeiden. „Früher hatte man,“ sagt Pappenheim, ein vorzüglicher Forscher im Gebiete der Sanitätspolizei, [312] „einen offenen Feind, die defecten Düngergruben, zu bekämpfen, jetzt hat man einen solchen, den man nicht sehen, beim besten Willen, der besten Sachkenntniß nicht genügend überwachen kann, der sich überhaupt nur durch das Ausbrechen von Localepidemien als existent erkennen läßt.“

Schließlich darf hier noch ein Umstand nicht unerwähnt bleiben, welcher zwar auf die Beschaffenheit des Trinkwassers keinen Einfluß übt, aber doch mit der zunehmenden Verbreitung des Systems der Spülabtritte in volkswirthschaftlicher Beziehung immer schwerer in’s Gewicht fallen muß: wir meinen die Frage der Verwerthung der menschlichen Auswurfstoffe und der Wirthschaftsabgänge. In dem Rachen der Spülabtritte verschwinden alljährlich viele Millionen von Düngstoffen; wir holen von fernen Inseln den kostbaren Guano, den wir hier vergeuden, für dessen Wegräumung die Stadt Berlin alljährlich über 50,000 Thaler verausgabt. Der praktische Engländer hat es mit seinen Spülabtritten dahin gebracht, daß diese ihm das Jahr über viele Millionen Pfund Sterling wegspülen, dafür aber ihm die Luft verpesten und das Wasser vergiften. – Wie anders Paris! dort verdient die Gesellschaft, die sich mit Räumung der Abtrittsgruben beschäftigt, an der Verarbeitung des Düngers zu Poudrette alljährlich vier Millionen und liefert außerdem in den Stadtseckel noch 320,000 Franken. Vielleicht wird, wenn das Interesse der öffentlichen Gesundheit es nicht vermag, die Frage des baaren Capitalverlustes durchdringen und die Gesellschaft, den Staat auf die Abstellung so schwerer Mängel hinweisen. – Wohl besteht in allen Ländern eine Reihe älterer und neuerer gesetzlicher Vorschriften und polizeilicher Verordnungen zum Schutze des Trinkwassers. Allein theils ist nicht immer über die Aufrechterhaltung derselben streng gewacht worden, theils enthalten sie den durch die moderne Culturentwicklung gesetzten Verhältnissen gegenüber noch mannigfache Lücken.

So kannte unsere Gesetzgebung in Betreff der Kirchhöfe bisher nur die Gefahr, welche aus der Nähe derselben an dichtbevölkerten Orten durch ihre atmosphärischen Ausdünstungen erwuchs; die eben so gefährlichen unterirdischen Ausdünstungen, die Wechselwirkung zwischen den Leichen und der Bodenfeuchtigkeit, das Eindringen aufgelöster Verwesungs- und Leichenstoffe in die Brunnen – alles dies blieb bis auf die Erfahrungen der neuesten Zeit ungeahnt. Jetzt wird bei Anlage von Friedhöfen eine sorgfältigere Untersuchung der Bodenbeschaffenheit angestellt werden müssen. Die Nähe von bewohnten Stätten, von Brunnen und Wasserleitungen wird zu vermeiden, das vorhandene Grundwasser durch Drainirungen abzuleiten sein; der Zwischenraum zweier Gräber muß wenigstens 2 Fuß betragen.

Größere Städte umwinden mit ihren „Riesenleibern“ alljährlich immer weitere Umkreise; die Kirchhöfe, die noch vor Kurzem außerhalb der Ringmauern lagen, sehen sich nicht selten mit einem Male von denselben eingeschlossen. Hier tritt nicht blos die Nothwendigkeit ein, den betreffenden Kirchhof sofort zu schließen, sondern bei irgend vorhandener Ueberfüllung müssen auch die Leichen gänzlich fortgeschafft werden.

Baumpflanzungen werden nicht nur die wehmüthige Poesie der Gottesäcker erhöhen, sondern auch zur Reinhaltung der unterirdischen Gewässer beitragen; denn die Wurzeln, indem sie eine Reihe organischer und unorganischer Verbindungen aus dem Erdreich aufsaugen, zersetzen sie dabei chemisch. – Noch bei Weitem gefährlicher aber bedrohen das Trinkwasser die zahllosen Fabriken und gewerblichen Anlagen, deren in und bei größeren Städten fast jeder Tag neue gebärt und die sich ihrer Rückstände auf dem kürzesten Wege in das nächste Gewässer entledigen. Die Flüsse und offenen Wässer, von der Natur dem allgemeinen Verkehr, der Luftreinigung und dem Aufenthalte eines Theiles der Thierwelt bestimmt, versumpfen unter der Ueberlast der ihnen aufgedrungenen Unrathsmassen. Und dasselbe eben verunreinigte Wasser zum Getränk zu brauchen, nimmt Niemand Anstoß, wenn nur die gröbsten Theile vorher durch allerlei Sieb- und Filtrirwerkzeuge entfernt worden sind. Man meint schon Wunders viel gethan zu haben, wenn man eine Wasserleitung aus dem Theile eines Flusses speist, der oberhalb der Stadt strömt, als ob nicht hinterm Berge auch Leute wohnten, die oberhalb jenes ebenfalls das Wasser besudeln und verpesten.

Die öffentliche Wohlfahrt erheischt gebieterisch die Abstellung solcher Mißbräuche. Die Industrie soll mit ihren Abfällen dem Wasser, welches wir trinken, nicht zu nahe kommen. Sie errichte ihre Werkstätten da, wo ein fließendes Gewässer mit schneller Strömung und starkem Gefälle die Abgänge rasch fortträgt. Sind diese Bedingungen nicht zu beschaffen, oder ist trotz ihrer noch Gefahr für das Trinkwasser zu besorgen, so muß die Zerstörung oder Beseitigung solcher Rückstände auf anderem Wege geschehen. Oefters wird es einer verständigen Industrie gelingen, werthlose oder gemeinschädliche Nebenproducte zu Gegenständen einer neuen und gewinnbringenden Industrie zu verarbeiten – wir erinnern an die Verwendung der Melasseschlempe in Pottasche – oder, wo dies nicht angeht, ihre Ueberbleibsel auf andere Weise zu beseitigen. Das Spülicht einer Stärkefabrik zu Villetaneuse bei St. Denis gab durch Verunreinigung der dortigen Brunnen und fließenden Wässer den Bewohnern der ganzen Umgegend Grund zu vielfachen Klagen. Da bohrte im Jahre 1831 der Ingenieur Mulot auf 64 Meter Tiefe einen artesischen Brunnen, welcher jene Abgänge zu 80,000 Litres täglich verschluckte und sie einem unterirdichen Strom überbrachte. Mit der Ursache verschwanden die Klagen.

Vorzüglich aber gehört die gefahrlose Unterbringung der menschlichen Excremente zu den wichtigsten Aufgaben der großstädtischen Polizei. Wir haben schon früher die eine Art ihrer Fortschaffung aus dem menschlichen Bereich, das System der Spülabtritte in seiner bequemen und ästhetischen, aber auch zugleich in seiner gesundheitsschädlichen und volkswirthschaftlich widersinnigen Seite kennen gelernt. Diese Anlagen werden nicht nachzuahmen, ihre Entfernung vielmehr aus allen Kräften zu erstreben sein.

Dieser gefährlichen Neuerung ist die Rückkehr zu den Abtrittsgruben unbedingt vorzuziehen. Aber freilich ist bei ihrer Anlage vor allem darauf mit Strenge zu achten, daß sie in genügender Entfernung (wenigstens 30 Fuß) von solchen Stellen errichtet werden, welche Trink- und Haushaltungswasser liefern; sodann darauf, daß die Bauart der Behälter der Undurchlässigkeit entspreche, und endlich, daß dem Inhalt sein gesundheitsgefährlicher Charakter möglichst benommen werde.

Solchen Anforderungen schien bis jetzt der in Paris seit ungefähr acht Jahren eingeführte grand diviseur am meisten zu entsprechen. Derselbe steht inmitten der Senkgrube, sammelt in einer cylinderähnlichen Vertiefung alle Unrathsmassen und läßt die flüssigen Theile derselben durch seitlich angebrachte Röhren in die Grube abfließen. Aus dieser werden alle Jahr ein bis zwei Mal die Flüssigkeiten in einen hermetisch verschlossenen Wagen hineingepumpt und – in die Seine geschafft. Die festen, zur Bereitung der Poudrette dienenden Stoffe werden auch nur etwa alljährlich geräumt, vorher aber der Desinfektion, d. h. der Vermischung mit aufgelöstem Eisenvitriol unterworfen, wodurch die schädlichen Gase zerstört werden sollen.

Allein auch dies System ist nicht frei von erheblichen Nachtheilen. Aus den Behältern dringen bei längerer Aufbewahrung der Excremente trotz aller Ventile die stinkenden Gase bis in die Wohnräume. Die Ausräumung der Apparate ist für die Hauswirthe kostspielig, für die damit beschäftigten Arbeiter beschwerlich und wegen der gräulichen Ausdünstung nicht ohne Gefahr. Endlich gehen die der Landwirthschaft so wichtigen flüssigen Theile der Excremente ganz verloren.

Allen diesen Uebelständen scheint nun eine neue, von italienischen Technikern gemachte Erfindung, welche zur Fortschaffung der Excremente Luftdruck anwendet, abhelfen zu wollen. Nach dem sogenannten hydropneumatischen System wird eine eiserne Tonne, deren Gehalt zwei Cubikmeter beträgt, von oben mit Wasser gefüllt, und letzteres sodann durch eine besondere am Boden angebrachte Saug- und Druckvorrichtung ausgezogen. Es bleibt ein luftleerer Raum zurück. Nun wird das Ventil der oberen Oeffnung mit der Mündung eines in die Grube geführten Saugrohrs in Verbindung gebracht und geöffnet. Und so groß ist die ansaugende Kraft dieses Apparates, daß in noch nicht zwanzig Secunden der gesammte Grubeninhalt in die Tonne hineinstürzt. Ja, oft werden durch die Gewalt selbst Ziegelsteine aus dem Boden der Grube mit in den Behälter gerissen.

Die Vortheile dieser Methode sind in die Augen springend: völlige Geruch- und Gefahrlosigkeit für die Arbeiter, erleichterte Fortschaffung und Kostenersparniß für die Hauseigenthümer. In Paris kostet die Wegräumung des Grubeninhalts 7 Francs, in Turin und Mailand nur 10 Centimes für den Cubikmeter. In Paris sind sechs Mann nothwendig, um in einer Stunde vier Cubikmeter auszuräumen – nach dem neuen System verrichten zwei Mann in derselben Zeit das Fünffache! – Außerdem [313] kommt hier noch der Nutzen der Landwirthschaft in Anschlag, welche nach diesem System auch die flüssigen Stoffe wird verwerthen können.

Jetzt soll man in Turin gar noch mit dem Gedanken umgehen, einen großartigen Unraths-Saugapparat für die ganze Stadt herzurichten. Derselbe würde in angemessener Entfernung von der Stadt angelegt und durch Haupt- und Nebenröhren mit den einzelnen Straßen und Häusern in Verbindung gesetzt werden. Das wäre neben dem großen politischen auch ein socialer Fortschritt der Italiener!

Wir steigen aus dem scheußlichen Orkus an das fröhliche, duftige Tageslicht empor. Möchte es uns gelungen sein, den Leser, unseren Gefährten auf der unterirdischen Wanderung, über ein unheimliches Gebiet modernen Culturlebens aufgeklärt zu haben. Erkenntniß eines Uebels soll ja der erste Schritt zur Heilung sein! Aber wie oft bleibt es bei diesem ersten Schritte! Bequemlichkeit ist ein gar schönes Ding, und so sehen wir jeder Gefahr, die uns nicht augenscheinlich das Messer an die Kehle setzt, stumpf und gleichgültig entgegen. Wie viele von euch wohnen in feuchten Häusern, deren Wände vor Nässe triefen und vor Kälte starren und ein Heer von Krankheiten ausdünsten! Allein da mit der Zeit eure Lunge sich an diese dumpfe, modrige Luft gewöhnte, so nehmt ihr die mit ihr eingesogenen Krankheiten als unvermeidliches Verhängniß mit der Ergebung von Muselmännern entgegen. Nicht wahr, Allah hat es gewollt, daß ihr von unausrottbaren Wechselfiebern, Milz- und Leberanschwellungen, von Bleich- und Wassersucht heimgesucht werdet? – Wohl weiß Jedermann im Hause, daß sein Siechthum von dem modrigen Boden, von der eisigfeuchten Wand herstammt, allein wie selten versucht es Einer, durch zweckmäßige Abzugsrohren dem aus dem Erdboden die Mauer hinansteigenden Wasser zu Leibe zu gehen und damit der Krankheit die Quelle zu stopfen! Versumpfte Wiesen und Felder verwandelt ihr durch solche Drainanlagen in blühende Gärten – ihr könntet durch Entwässerung ganzer Stadttheile und Städte auch auf bleichen Menschengesichtern blühende Rosen hervorzaubern und eine Unzahl sogenannter endemischer Krankheiten mit einem Schlage vertilgen!

Dr. M. Dyrenfurth.




Erinnerungen an Ernst Rietschel.

Von Bertold Auerbach.
II.

Ein Mann von so feiner und zarter Empfindung wie Rietschel, mußte dreimal am Grabe der Lebensgefährtin stehen, und doch war der Wiederaufbau der Häuslichkeit seinem innersten Naturell nothwendig. Es war eine laue Sommernacht, wir kamen aus einer Gesellschaft und gingen lange mit einander hin und her auf dem Räcknitzer Weg durch die Kornfelder und sprachen darüber, daß die Welt, wie sie ist, weit mehr die Sitte als die Sittlichkeit zu wahren trachte. – Ich sehe Rietschel noch vor mir, wie er uns begegnete auf dem Damm nach dem „Großen Garten“, Arm in Arm mit seiner jungen Frau, Beide stattliche, markige Gestalten, und sein Blick, aus dem es drang wie ein wärmender Sonnenstrahl, war so heiter und glückselig. Wir sahen ihm noch lange nach, wie er mit seiner Frau energischen Schrittes dahinging, und riefen es ihm freudig zu, wie wohl sie Beide einander anstehen, und er wendete sich wieder um und grüßte glückselig. Er hat in dieser Ehe wonnige, innigst befriedigte Jahre verlebt, und dazu hatte er an seinem Schwager Andreas Oppermann, der ihn dann nach Palermo begleitete und getreulich pflegte, eine Freude, daß sein Gesicht immer strahlte, wenn er von ihm sprach. Er erquickte sich an diesem „letzten Jüngling“, wie wir ihn scherzweise oft nannten, der eine Fülle süddeutscher Jugendkraft mit einem feinen und besonnenen Eingehen und einem schönen Verständniß der höchsten Kunstinteressen verband. Bei einem Besuche in meinem Landaufenthalt zu Schandau, als wir im Kirnitzschthale im Walde saßen, berichtete mir Rietschel die Erzählung aus Oppermann’s Buche: „Aus dem Bregenzer Wald“, die ich damals noch nicht kannte, in kurzen Zügen faßlich und bestimmt. Mit besonderem Nachdruck betonte er die Scene, wie die beiden eigenwilligen Gestalten auf der Bergeshöhe an einander vorübergehen, keine von beiden der andern das Wort gönnen will und so beide in ihr Verderben rennen. Rietschel hatte einen feinen Blick für alles Naturgesunde und für alle markigen Erscheinungen in der Poesie. Ich erinnere mich noch, wie er mir einst gegen einen das Gegentheil behauptenden Freund beistimmte, da ich auszuführen suchte, daß die Poesie nicht ein Ergebniß des Schmerzes ober gar der Krankheit sei, wie man sie, zumal in den Zeiten der Zerrissenheit – die noch nicht ganz vorüber sind – darstellen wollte. Wohl ist alle Poesie und Kunst eine Ergänzung des Lebens, die Wirklichkeit läßt einen Bruch zurück, die wahre Erscheinung kommt nicht zu ihrer logisch konsequenten Entfaltung; aber in seinem Wesen ist das Schöne und Gute wirklich, und hier ist’s die Aufgabe der Poesie und bildenden Kunst, das Gegebene und Vorhandene zu dem Schönsten, zu dem Vollendetsten auszugestalten, was es seiner grundmäßigen Naturbedingung nach sein kann. Natürlich bildete das vielfach alberne Gefasel von Realismus und Idealismus sehr oft den Gegenstand unserer Unterhaltung, und wir stimmten immer Beide darin überein, wie traurig es ist, daß man diese Gegensätze noch immer schablonenmäßig festhält. Alle Kunst muß ideal sein, sonst hört sie auf Kunst zu sein; nur ist und bleibt es ihre Aufgabe, die wirklich gegebene Welt zu fassen und zu erhöhen, nach dem ihr innewohnenden Gesetz, nicht nach einer herkömmlichen Tradition.

Es that uns Beiden wohl, daß ich Rietschel seine Wohnung abnahm, in der ich sieben Jahre blieb. Sieben Jahre hatte ich von da aus oft Erquickung am Anblick der hohen Esche mit breiter Krone, die im jenseitigen Garten stand, und als ich die Betrachtungen über den „Baum vor meinem Fenster“ drucken ließ, hatte Rietschel seine besondere Freude daran. Dieser Baum war ja auch sein Freund gewesen. Jetzt eben, indem ich dies schreibe, erhalte ich von Dresden aus die Nachricht, daß der schöne Baum in diesen Tagen, als ihn neuer Frühlingssaft durchdringen wollte, gefällt worden ist. – Rietschel hatte damals die Wohnung verlassen, er durfte nicht mehr drei Treppen hoch steigen. Er zog nach der „kleinen Reitbahngasse“, verließ aber auch diese Wohnung bald, um zur Erkräftigung seiner Gesundheit nach Palermo zu gehen. Er kam frisch und gebräunt wieder.

Wenn ich nur die Hunderte von Stunden zurückrufen könnte, die ich bei ihm im Atelier, zumal während der Modellirung zum Schiller-Goethedenkmal, zubrachte! Da sprach er bald vom Gerüst, bald vom Boden aus, in der einen Hand die Spachtel, in der andern Hand Thon, den er, wie seinen innersten Gedanken Ausdruck gebend, immer hin- und herknetete. Er trug den gelbgrauen Sackpaletot und manchmal auch eine kleine graue Mütze auf dem Kopfe. Wunderbar war und blieb es mir immer, wie es möglich ist, den Fernblick mit dem nahen zu vereinen. Der Meister steht unten auf dem Boden, sieht aus der Ferne, was an der kolossalen Gestalt auf dem Gerüste zu ändern und anzufügen ist, nun steigt er rasch die Treppe hinauf, drückt da und dort, schneidet ab, setzt aus, und darf dies doch nicht mit dem Naheblick thun, sondern muß dabei im Sinne haben, wie es sich von unten betrachtet ausnimmt. Wir hatten viel Scherz darüber, daß ich diesem Geheimniß nahe kommen wollte. Noch jetzt aber thut mir’s wohl, daß ich dem Meister oft willfahrte und länger blieb, als ich wollte, denn er behauptete, wenn ich da sei und wenn ich spräche, das thäte ihm auch gut. Ich habe in dem Aufsatze „Drei Stationen des Schiller-Goethe-Denkmals“ (den ich nunmehr auch in meine gesammelten Schriften ausgenommen habe) mancherlei Bemerkungen von damals niedergelegt. Ich durfte Rietschel nie davon sagen, wenn ich etwas über seine Arbeiten schrieb. Es beleidigte dies seine keusche Natur, und er wehrte sich immer dagegen, denn er fürchtete die Mißdeutungen und die Mißgunst. Nur zum Aufsatze über das Lutherdenkmal lieferte er mir einige faßliche Angaben.

Rietschel war eine in Wahrheit bescheidene Natur, wenn er auch seinen Werth wohl fühlte. Nie wird Jemand etwas gestalten können, wenn er seine Betrachtungsweise für bedeutungslos hält. Schon dadurch, daß er sich ausspricht, sei es im Bild oder im Wort, bekundet er damit thatsächlich, daß er seine Wahrnehmung [314] werth hält, wenn er auch deren Bedingtheit und Begrenztheit wohl weiß.

„Du und ich,“ sagte mir Rietschel oft, „wir sind bescheidener als tausend Andere, die, wie die heuchlerische Modephrase will, stets von „ihrer Wenigkeit“ sprechen. Wir gelten nur leicht für eitel, weil wir bei einem Lobe, das uns entgegengetragen wird, nicht alsbald einfallen und thun: um Gotteswillen! beschämen Sie mich nicht! Ich weiß ja, daß Alles, was ich mache, nichts ist; erinnern Sie mich nicht an diese schwachen Stunden etc. Wer diese herkömmlichen Phrasen nicht vorbringt – natürlich je nach Gelegenheit variirt – wer nicht thut, als ob er auf sich selbst nichts halte, und bei einem Lobe eigentlich den Leuten in’s Gesicht sagt: Ich weiß, daß Ihr höflich lügt, und Ihr wollt wieder eine höfliche Lüge von mir als Bezahlung – wer sich nicht zu diesem falschen Spiel hergiebt, der gilt für eitel.“ – Ich sehe das Lächeln des Freundes noch vor mir und wie er zur Bestätigung mit seiner getreuen, kräftigen Hand fassend nach der meinen griff, als ich ihm einmal darüber sprach und wir dabei Nachts wohl zehnmal hin und her zwischen seinem und meinem Hause gingen, und Jeder den Andern immer heimbegleiten wollte, und als ich ihm da sagte: „Wenn man der Welt ehrlich zu verstehen giebt oder bekennt: ich weiß, ich wiege intellektuell ein Pfund oder ein halbes Pfund – ei, schreit die Welt, wie entsetzlich eitel ist dieser Mensch! Der glaubt doch offenbar, er wiege sieben Centner, denn er sagt ja: ich wiege etwas. Er sagt nur nicht das Ganze; wäre er bescheiden, so müßte er sagen, ich wiege gar nichts, ich bin leichter als Luft.“

Rietschel lachte hellauf in der stillen Nacht über die Zumuthung, daß man leichter als leere Luft sein solle.

Schon bei der Schiller-Goethegruppe klagte Rietschel oft über die Unzweckmäßigkeit seines Ateliers. Er hatte nicht einmal ein eigenes Zimmer, worin er die Entwürfe machen konnte. Er mußte Alles vor den Augen der Schüler, ja, vor den Augen der Besuchenden machen; und dazu war der Weg von der kleinen Reitbahngasse bis auf die Brühl’sche Terrasse beschwerlich und dort am erhöhten Ufer zugig und seiner Gesundheit schädlich, und zuletzt noch in der Werkstatt der Fußboden unmittelbar auf der kalten Erde. Als Rietschel im Winter wieder krank war, ging ich zu einem der ersten höheren Staatsbeamten und stellte ihm vor, welch eine Versündigung an der Nation und an der ganzen Kunst es sei, Rietschel ein solches Atelier zu geben und ihn noch dazu mit akademischen Verpflichtungen, Correcturen etc. zu belasten. Der brave Mann versprach das Seine zu thun. Es geschah aber nichts, bis es zu spät war.

Es ist kein Ruhm zu groß für die andachtsvolle Hingebung und Mühe, die sich Rietschel bei Ausarbeitung des Schiller-Goethe-Denkmals gab, und namentlich der Rhythmus der Fußstellungen wollte ihm lange nicht genügen. Er riß die kolossal ausgebauten nackten Gestalten, wie die bekleideten, wieder ein, und seine Schüler Gustav Kietz und Dondorf halfen ihm getreulich und unverdrossen. Nicht leicht giebt es einen Meister, der so die innige andachtsvolle Verehrung seiner Schüler genoß, wie Rietschel.

Als endlich das große Wagniß einer Doppelgruppe unserer Geistesheroen in modernem Costüm vollendet war, da war Rietschel trotz eines gewissen innern Genügens doch auch eifrig hinaushörend, wie der Eindruck sei. Es ist eitel Lug und Trug, wenn Manche mit der Maske der Bescheidenheit thun und sagen, sie kümmerten sich nichts um den Eindruck, den ihre Arbeiten machten, ja, sie fragten gar nicht darnach und wollten nichts davon hören, wie die Welt darüber urtheilt. Es ist das eitel Lug und Trug. Es giebt keinen Schützen, der, wenn er abgeschossen hat, nicht unwillkürlich nachsieht, ob er auch getroffen habe; er kann sich dabei wohl bewußt bleiben, daß nicht feine vorbedachte Geschicklichkeit das Ziel erreicht. Der ehrliche Künstler weiß, daß noch viel fehlt, damit das Werk das sei, was es nach der innern Conception hätte werden sollen, aber unmöglich ist es, daß man mit der Absicht, etwas Tüchtiges herauszubilden, und zwar mit dem ganzen Einsätze seiner Kraft, nun, wenn es fertig ist, sich davon lossage, als ob es Einen nie etwas angegangen hätte. – Rietschel hatte die Genugthuung, daß sein Werk schon bei der Ausstellung im Gipsmodell große Anerkennung fand. Dennoch fragte er mich oft: „Sage mir auch, was die Gegner dazu sagen; sage mir auch, was man tadelt und was nicht richtig ist. Ich weiß ja selbst, daß es viel besser sein sollte, aber daß etwas Tüchtiges daran ist, das weiß ich auch, und es wird mich keine Gegnerschaft irre machen.“

Wenn ich hier und sonst Rietschel’s Worte wiederhole, so will ich ein für allemal hiemit sagen, daß ich nicht dafür einstehen will und kann, daß dies gerade diplomatisch genau seine Worte waren, aber daß dies der Sinn derselben gewesen, dessen bin ich zuversichtlich überzeugt. Ich hatte damals meine Betrachtung der Schiller-Goethegruppe veröffentlicht, und ein Behutsamer warnte mich, mich nicht zu sehr mit diesem Werke und seinem Lobe einzutasten, man könne nicht wissen, wie sich das Endurtheil feststellen werde.

Ich hatte die Freude, während das Denkmal in München gegossen wurde, mit dabei zu sein, und als ich gleich in der Stunde darauf abreiste, schrieb ich dem Meister auf der Eisenbahn von München nach Augsburg einen Brief mit Bleistift und gab ihn gleich zur Post. Ich habe eine erquickliche Antwort von ihm darauf erhalten, die ich noch finden und später veröffentlichen werde.

Einen Glanzpunkt in Rietschel’s Leben bildeten die Septembertage 1858 in Weimar, und ich bin glücklich, sein Camerad in der eigentlichen Bedeutung des Wortes dabei gewesen zu sein. Es war ein Stück Leben außerhalb des gewohnten Seins in einem Momente großer geschichtlicher Gemeinschaft und in einer tiefheitern Weihestimmung zu einem großen, nie wiederkehrenden Feste. Wir wohnten mit einander in demselben gastlichen Hause, und die schönen sonnigen Tage sind unvergeßlich. Am Morgen das gemeinschaftliche Frühstück an langer Tafel im großen Saale, wo Besuche von Fremden und Einheimischen kamen und wo namentlich der Maler Preller – mit dem Rietschel in inniger Freundschaft lebte und den er als einen der ersten Künstler hockhielt – uns mit Erzählung von Begegnissen aus dem Leben Karl Augusts erfreute. Dann kamen Andere, alte Freunde wurden neu begrüßt, den Trägern guter Namen schaute man zum ersten Male in’s Auge; es kam (damit auch das Störende nicht fehle) die entsetzliche Albumplage, wo man seinen Namen womöglich noch mit einem Spruche auf die ersten Blätter eines neu angelegten Albums eintragen sollte; dann der heitere Gang im Garten am Hause, bis man sich endlich zerstreute und zu den Festlichkeiten vorbereitete – Es war einmal ein Stück Leben, wie auf einem Punkte außerhalb der Welt, in Weimar, diesem Jerusalem des deutschen Geistes, wo Straßen und Häuser von hohen Erinnerungen sprechen, und dazu noch der Mittelpunkt eines großen Weihefestes, da es Jedem zu Muthe war, als ob er den Heroen nun persönlich danken könne für das, was sie der deutschen Nation und der ganzen Welt geworden.

Der Tag der Grundsteinlegung zum Karl-August-Denkmale war regnerisch, auch der Tag der Enthüllung der Dichtergruppe, die nun, statt des bisherigen grauen Mantels, am Morgen einen weißen trug und vor unsern Fenstern wie ein wartendes Geheimniß stand, schien sich trübe anzulassen; aber schon beim Zuge nach dem Wieland-Denkmale hellte sich’s auf.

Die Enthüllung des Wieland-Denkmals war eine wenig erhebende. Als wir den Platz verließen, sagte Rietschel zu mir: „Halte Dich an meiner Seite, damit ich Dich habe und nach Dir fassen kann.“ Der Gang von einem Denkmal nach dem andern hatte etwas Trübseliges. Keine Musik, kein Gesang auf dem Wege, nichts, was an die schöne Festlichkeit der alten Zeit und auch des süddeutschen Lebens erinnerte. Wir standen beim Schiller-Goethe-Denkmal, die Frauen oben am Fenster in unserm gastlichen Hause. Rietschel winkte nur einmal leise hinauf. Dann erscholl Musik und Gesang, davon man nicht viel verstand. Jetzt begann die Rede. Rietschel faßte mich fest an, er mußte tief bewegt sein. Nun blähte sich der Mantel von einem Luftzuge auf, es war, als wollten die gewaltigen Gestalten nun endlich heraus an’s Sonnenlicht, daß sie in heller, voller Pracht dastehen. Auf ein Zeichen des Redners zogen die Schüler Rietschel’s, Kietz und Tondorf, den Mantel – die Hülle fiel, die Heroen standen da in ehernem und ewigem Glanze. – Ein vieltausendstimmiges jubelndes Hoch erscholl, und mir ist’s als spürte ich noch den Druck, mit dem die Hand, die das Werk geschaffen halte, mich zitternd faßte. Der Meister und sein Werk schauten einander an: der Meister in tiefster Bewegung, die geschaffenen Gestalten in ewiger Ruhe. Das Hoch, das jetzt nicht enden wollend durch die Lüfte scholl, es war der zusammengedrängte laute Ausruf tausendstimmiger Freude, der sich still von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen wird.

Ein Strahl der Ewigkeit senkte sich auf das demüthige Haupt [315] des Meisters nieder. Ich fühlte das Glück, seine Stütze sein zu dürfen.

„Rietschel, kommen Sie herauf!“ rief der Großherzig vorn Balcon, der im Angesicht des Denkmals errichtet war. Rietschel ging hinauf, endloses Hoch aber- und abermals; der Großherzog umarmte ihn vor Aller Augen.

Als ich nach Beendigung des Festes mit Rietschel heimging, sagte er: „O Lieber, wenn ich nur noch einmal da hinaufsteigen, da und dort drücken könnte! Manches tritt heraus, was ich nicht so wollte, und Manches tritt zurück, was ich anders meinte. Ich hab’s noch nicht unter freiem Himmel gesehen, und jetzt ist nichts mehr zu machen.“

Zu Haus sah ich zum ersten Male in unserm Gemeinleben Rietschel weinen. Ich that Alles, was ich konnte, um ihn zu beruhigen, und die Cigarre, die ich ihm bot, half am meisten. Aber auch ein gutes Wort stieg in mir auf, und ich sagte ihm: „Nun giebt es nur noch Eines, das Dich zu einem neuen Leben und höher hebt. Du mußt das Luther-Denkmal ausführen.“ Er umarmte mich innig und sprach mir seinen glückseligen Dank aus, daß ich ihn jetzt auf ein Höheres, Größeres noch hinweise. Später, als er den Auftrag in der That erhielt, sprachen wir noch oft von dieser Stunde. – Wir saßen dann wieder in dem Garten bei den Freunden und rauchten und plauderten und scherzten. Es giebt nach so hoch gespannten Erregungen nichts, was die Fortsetzung dieser Stimmung erhalten könnte, und es ist seelisch und körperlich nöthig, daß zur Erstarkung wieder eine Rückkehr in das alltägliche Leben hergestellt wird.

Mit einem Behagen ohne Gleichen saß Rietschel in der Laube, rauchte und trank Bier dazu, bis der Hoffourier kam und ihn in’s Schloß zum Großherzog rief. Wir wußten, daß ihm ein hoher Orden zugetheilt werde. Am Nachmittag trafen wir uns wieder bei der Hoftafel, wo die Künstler und Gelehrten alle geladen waren.

Rietschel war die ganzen Festtage immer zu Hofe geladen. Nun sollte am andern Tage die Festfahrt nach der Wartburg vor sich gehen. Wir saßen wieder bei unserm Frühstück, wo sich Viele versammelten, da kam der Oberbürgermeister mit einer Deputation des Gemeinderathes und brachte Rietschel das Diplom als Ehrenbürger. Er antwortete in einfachen und herzlichen Worten. Jetzt, hieß es, kommt eine Deputation der Jenaer Universität. „Wenn sie mich nur um Gotteswillen nicht lateinisch anreden,“ sagte Rietschel zu mir. Ich wollte im Uebermuthe diese seine Besorgnis; zum allgemeinen Besten geben, aber er hielt mich davon ab. Er hatte etwas tief Verschämtes in seiner Natur, das jeder Neckerei abhold war. – Auch als nunmehriger Doctor antwortete er einfach und gerad.

Rietschel war auch heute wieder zu Hofe geladen. Wir bestürmten ihn aber Alle, daß er die Festfahrt nach der Wartburg mitmache, da ohne ihn dieselbe ohne Mittelpunkt sei. Es fehlte ja außerdem an einer großen Festhalle, wie sie die Schweizer zu ihren Schützenfesten so trefflich herzurichten verstehen, in der sich die Festgenossen hätten versammeln können. Man hatte damals auch Furcht vor politischen Demonstrationen, die sich immer kundgeben, auch da, wo sie nicht hingehören, so lange das Einzige noch nicht erreicht, daß Deutschland ein wirklicher und einiger Staat ist. – Rietschel hatte auch offenbar Lust zur Mitfahrt nach der Wartburg, aber er glaubte die Einladung zu Hofe nicht umgehen zu dürfen; da übernahm es endlich ein dem Hofe nahestehender Herr, Rietschel für das Nichteintreffen bei der heutigen Hoftafel zu entschuldigen.

In frischer Morgenluft ging’s nun zum Bahnhofe, und eine große Versammlung festlich gestimmter Genossen, Frauen und Männer, fuhr mit dem Extrazuge durch das Thüringer Land dahin, bis nach Eisenach. Rietschel war überaus glücklich und munter. Auf dem Eisenacher Bahnhofe theilten die Ortsbehörden an Einzelne verschiedenfarbige Bänder aus, damit sich Gruppen zur Auffahrt und zum Aufgang nach der Wartburg bildeten, von denen ich eine anführen sollte. Ich erhielt die grünen Bänder. Rietschel und seine Frau waren mit unter unserer Gruppe. Der Bürgermeister führte uns durch den schönen Park, wo wir bald im Ausruhen, bald im Dahinschreiten Allerlei sprachen und uns an den schönen Durchblicken erquickten. Am Ausgange des Parkes warteten Wagen auf uns, mit denen wir die größte Strecke des Berges fast bis vor das Thor fuhren. Helle Trompetermusik – der Festmarsch aus Richard Wagner’s Tannhäuser – begrüßte uns am Eingang der Wartburg des deutschen Geistes. Große Festtafeln waren im weiten Schloßhof aufgestellt. Andere Gruppen waren uns schon vorausgeeilt. Die Officiere und höheren Beamten und vorzüglich der vortreffliche Kreisdirector v. Schwendler machten die Festordner. Es wurde Speise und Trank aufgetischt. Für uns war eine besondere Laube bereit gehalten, und hier wurde Rietschel erst recht der Mittelpunkt eines großen freien Festes. Wir durchstreiften die Säle, wo dann im großen Fürstensaale ein Vortrag über den alten Bau und über die Erneuerung dieser Burg gehalten wurde. Auf dem kleinen Seitenbalcon stand ich mit Rietschel und hinaus schauend in die sonnenbeschienene weite Landschaft, sprach er beglückt davon, daß es nicht leicht eine Landschaft gäbe, die mehr grunddeutsch spräche als diese. Im Nebenzimmer neben dem Lutherzimmer saß ich lange mit Rietschel allein, wo wir uns in das Stammbuch des liebenswürdigen Schloßhauptmanns Arnswald einschrieben. Unvergeßlich ist mir’s, daß Rietschel mir da sagte: „Du hast mich gestern darauf hingewiesen, und jetzt bin ich da. Ja, das möchte ich vollenden, das Lutherdenkmal, dann habe ich genug gelebt.“ Wir zogen endlich auf dem Waldwege den Berg hinab und steckten frische Eichenzweige auf den Hut, und ein Lied, das ich im vergangenen Winter bei einem Feste auf Rietschel verfaßt hatte, wurde vertheilt und gesungen.

Einer gehobeneren Stimmung, als jene war, da wir nach einem so herrlichen Tage zurückfuhren, erinnere ich mich nicht. Auch Rietschel war ganz voll Seligkeit. Der frische Athem der Berge hatte ihm so wohl gethan. Alle, die mit uns in demselben Wagen saßen, waren ganz beglückt von dem wonnestrahlenden Wesen des Meisters, dessen ganze tiefreiche Innigkeit jetzt heraustrat. Und als die Sonne so prachtvoll niederging, da überreiche eine gesangeskundige Dame Rietschel ein Gedicht, das sie auf diese Stunde gedichtet. – –




Sakarra, die Stadt der Gräber.
Aus einem Tagebuche.

Wir hatten vierzehn Tage unter der Akropolis von Nauplia (Napoli di Romania) gelegen, als Baron Bruck, der Commandant unserer Kriegsfregatte „Erzherzog Friedrich“, den Befehl gab, die Anker zu lichten, um weiter nach Süden zu gehen. Anfangs vom herrlichsten Wetter begünstigt, sahen wir erst nach drei Tagen die Insel Milo am Horizonte auftauchen; denn nur am Tage durchfurchte unser Schiff die Salzfluth, am Abend wurde „beigelegt“, so daß wir uns ungestört an den herrlichen Sonnenuntergängen ergötzen konnten, welche die tiefblauen Wasser des Archipels mit dem prächtigsten Violett färben. Ein aufsteigender Sturm zwang uns, in den tiefen, von hohen Bergen umschlossenen Hafen zu laufen, in den sich bereits mehrere Kauffahrteischiffe geflüchtet hatten.

So gewannen wir Gelegenheit, die schönen Schwefelbäder der vulcanischen Insel zu genießen, besuchten das große, in Felsen gehauene Amphitheater und erstiegen den hohen Berg, auf dem das Dorf Antimilo gelegen ist und von dem aus wir einen köstlichen Blick auf die Gruppe der Cykladen hatten. Nach vier Tagen erst stachen wir wieder in See, umschifften Cap Matapan, die südlichste Spitze des europäischen Festlandes, und landeten auf Cerigo, dem Kythere der Alten. Sie ist die südlichste Insel der ionischen Republik, reich an üppigen Olivenwäldern und Weinbergen, im Alterthum hochberühmt und heilig durch den Cultus der Venus, die, dem Meerschaum entstiegen, einst hier landete. Wir sahen in zwischen nur die steilen, kahlen Küsten und hatten kaum die Zeit, den Leuchtthurm zu besuchen, der auf Cap Spati thront: unsere Fahrt ging immer südlicher, unser nächstes Ziel war Candia, der äußerste Punkt Europa’s. Die Fregatte hatte jedoch Befehl, zuvor einige Wochen hier zwischen Morea und Candia zu kreuzen.

Es waren dies herrliche Tage, noch herrlichere Nächte; rings um uns nur Meer und Himmel, Himmel und Meer – selten

[316]

Sakarra, die Stadt der Gräber.
Originalbild von Emil Mann in Triest.

[317] nur tauchten am Horizonte die Gipfel des Eilands Cerigotto auf, oder im fernen Süden die Schneehäupter der weißen Berge auf Creta, Alles in den schärfsten Umrissen, greifbar, klar, wie die Contouren auf der Leinwand des Malers. Am Tage fesselten mich besonders die Aquarellarbeiten unseres Landschafters Emil Mann an dessen improvisirte Staffelei, und ich sah hier die Skizzen der herrlichen Gemälde entstehen, die später den Ruf des Malers begründen sollten. Wenn aber der heitere Abend niedersank, wurden die Becher mit edlem Malvasier oder Muscat gefüllt, von welchem letzteren schon das alte Volkslied singt:

„Der liebste Buhle, den ich hab’, der liegt beim Wirth im Keller,
Er hat ein hölzli Röcklein an und heißt der Muscateller!“

es wurde gescherzt, geplaudert, auch manches Glas der Göttin der Liebe geweiht; ja, wir sahen hier oft den Tag sich wieder röthen, so sehr fesselte uns die Frische der Nacht und das imposante Schauspiel des Meerleuchtens, das fast jede Nacht neue Schönheiten vor uns aufrollte.

Endlich führte uns unser Pilot, den wir von Milo mitgenommen, in den Hafen von Canea, der Hauptstadt eines der drei Sandschaks, in welche Creta getheilt ist. Sie liegt an einer flachen Bucht der Nordküste, rings von hohen Kreidefelsen umschlossen, deren untere und mittlere Theile eine reiche Vegetation schmückt. Cypressen und Oliven schlingen sich durch die zerstreut liegenden Häuser mit flachen Dächern, über die viele griechische Klöster mit ihren Kuppeln und Heiligenbildern hervorragen. Nicht ohne heiligen Schauer betrat ich die Insel, seit urältester Zeit berühmt und noch heute mit zahlreichen Spuren ihrer einstigen Größe bedeckt. Hieher führte schon Zeus die geraubte Europa, hier reichte die liebende Ariadne dem Theseus den Faden der Rettung aus dem von Dädalus erbauten Labyrinth, hier hauste das Scheusal Minotaurus, hier waltete Minos, der König, ein Bild der Weisheit. Griechische, römische, byzantinische, arabische, venetianische und türkische Kämpfer stritten später um den Besitz des blühenden Eilands, das in seiner schönsten Blüthe eine Million Bewohner zählte, und noch heute stößt man auf zerfallene Bauten aller Jahrhunderte, auf eine in Stein geschriebene Geschichte.

Gern hätte ich die Inseln nach allen Richtungen durchstreift, aber unsere Fregatte konnte nur sieben Tage im Hafen verweilen, sie mußte nach Messina und Palermo. Zum Glück wurden wir durch die Verwendung unseres liebenswürdigen Commandanten von der Quarantäne befreit und konnten somit doch einige Tage ausbeuten. Vor Allem zogs mich nach der Sakarra, im Volksmunde „Stadt der Gräber“, welche, auf dem Landwege in fünf Stunden erreichbar, in der tiefen Meeresbucht gelegen ist, die von den beiden Landzungen gebildet wird, in welche Candia gegen Nordwest ausläuft und deren westlichste mit dem Kreidefelsen des Caps Metera abschließt. Die ganze Gegend ist reich an Füchsen, darum beschloß ein Theil unserer Marineofficiere, sich der Excursion anzuschließen. Sie zogen eines Nachmittags mit Flinten und Dolchen gut bewaffnet über die Berge, während ich mit unserm Maler das Gig (Schiff des Commandanten) bestieg, welches mit geröstetem Hammelfleisch, Melonen und Mastika, einem süßen, weißen Branntwein, reichlich beladen und mit zwölf rüstigen Matrosen bemannt wurde. Pfeilschnell segelten wir an der Küste hin, von Bucht zu Bucht, von Vorsprung zu Vorsprung, umklungen vom Rauschen der sanften Wellen oder der schönen Pinienhaine, die weithin das flachere Ufer bedecken.

Gegen Abend erschien Metera, als wir um die Spitze der östlichen Landzunge bogen, und wenige Minuten später der gewaltige, jähe Porphyrfelsen, auf welchem Sakarra, die stolze Begräbnißstätte der maurischen Könige, welche einst über Candia geherrscht, im goldnen Abenddufte ruhte. Die durch das Land gezogenen Officiere unserer Expedition konnten unmöglich das Ziel derselben schon erreicht haben; wir hemmten deshalb den Flug des Gigs und schwammen langsam durch die warme Bucht, um das Bild der herrlichen Landschaft ganz in uns zu saugen. Endlich hatten wir das innerste Ufer erreicht, das rings mit den Trümmern einer venetianischen Veste bedeckt ist, und stiegen aus. Unser Maler faßte sofort Posto auf dem Bogen einer Brücke, den noch ein verstümmelter Marcuslöwe zierte, um das gewaltige Motiv zu skizziren, die Matrosen befestigten das Boot mit starkem Tau an einen Pinienstamm, während ich durch das dichte Gestrüpp und die massigen Ruinen nach dem Gipfel des Felsens mich hindurchzuarbeiten suchte. Bei jedem Schritte klang der Boden dumpf und unheimlich; zahlreiche unterirdische Gewölbe, die von dem weiter oben liegenden venetianischen Schlosse einen geheimen Ausgang nach dem Meere gebildet zu haben scheinen, durchziehen ihn.

Endlich hatte ich Steingeröll und Trümmerhaufen, deren Pforten und Wände viele Löwen der zertrümmerten Venetia tragen, glücklich überwunden; noch ein kleiner, steiler und kahler Weg hinauf, und ich stand auf der Spitze des Felsens, vor den zerfallenen Königsgräbern. Ein verschütteter Gang führte mich durch die Umfassungsmauer, die nach dem Innern ringsherum mit casemattenähnlichen Vertiefungen versehen ist, nach dem freien Platze, welcher vielleicht 130 Fuß lang und 80 breit ist. In seiner Mitte erhebt sich das Hauptmausoleum, ein massives Gebäude mit thurmähnlichem Aufbau, den eine Kuppel abschließt und dessen Höhe wohl 120 Fuß betragen mag. Die Decke des oblongen Gebäudes ist zusammengestürzt – hoch schaut Nachts der Himmel mit seinen ewigen Sternen herein, die schweigend über die Trümmer zerfallener Menschengröße hinweggehen, während am Tage sich Hirten oder verirrte Wanderer vor drohendem Sturme hierherretten.

Abu Caab, der Stammvater der cretensischen Emire, soll mit seinem Sohne Saib und dessen Sohne Babdel nebst andern Nachfolgern hier begraben liegen. Es war unter Kaiser Michael II. (823), als er von Westen her nach Creta kam, mit sich führend abenteuerliche Rotten Araber, die sich in Spanien vom Heer der Ommajaden getrennt hatten und in den benachbarten Ländern des Mittelmeeres raubten. Erst waren nur wenige gelandet; aber das blühende Creta gefiel ihnen so wohl, daß sie ihre in Alexandrien zurückgelassenen Genossen herüberholten, zunächst ihr Lager verschanzten, später aber die feste Stadt Chandax gründeten, auf deren von der Natur stark befestigte Lage ein Einsiedler sie aufmerksam gemacht hatte. Von den 29 Städten der Insel mußten sich 28 unterwerfen, die alle zu einem selbständigen Reiche vereinigt wurden, das weder vom Chalifat zu Bagdad, noch von der Dynastie der Ommajaden irgend wie abhängig war. Wohl schmerzte der Verlust der schönen Insel die Kaiser von Byzantium tief; als dem Constantin Porphyrogennetus die auf seinen Befehl abgefaßte Chronik vorgelesen wurde, fügte er da, wo es hieß, daß Creta auch jetzt noch den Arabern gehöre, mit bewegter Hand die Worte ein: „Wofür Gott sorgen wird, aber auch wir wollen dafür sorgen, die wir Tag und Nacht unsere Seele über diese Insel mühen.“

Aber ihre Mühen waren lange vergeblich; schon Michael’s Feldherrn waren dreimal geschlagen worden; eine neue, bedeutende Niederlage erlitt Theoktistus, der General der Kaiserin Theodora (844), welche den Emir so kühn machte, daß er Constantinopel selbst angegriffen haben würde, hätte nicht der Sturm seine Flotte an der Küste Lydiens zerschmettert. Erst 962 wurde die Insel wieder griechisch, und als 1204 französische Kreuzfahrer das byzantinische Reich zertrümmerten und ein lateinisches Kaiserreich gründeten, kam sie an Venedig. Ob schon damals, als die arabische Herrschaft nach heldenmüthigem Kampfe zusammenbrach, die übermüthigen Sieger die heilige Ruhestätte der feindlichen Fürsten zerstörten, oder ob die Türken, die Creta 1645 eroberten, beutegierig hier nach Schätzen wühlten, ist unbekannt – die Grabkammern aber sind leer, verfallen, zerbrochene Marmorquadern liegen über die ganze „Stadt der Gräber“ verstreut, und nur die Sage schmückt noch die Stätte des Todes, während die Natur um sie, wie um die Trümmer der venetianischen Bauten einen üppigen Kranz voll ewiger Schönheit schlingt. –

Ein Schuß am Ufer schreckte mich aus meinen Träumen auf; er signalisirte die Ankunft der Freunde und die nahe Abfahrt des Gigs. Ich mußte eilen; denn mit jedem Augenblicke wurde der Weg bei einbrechender Dämmerung gefährlicher; auch mußten wir vor Nacht unsere Fregatte in Catania laut Commandantenbefehl bestiegen haben. –

Wir geben unsern Lesern eine Ansicht dieses interessantesten Punktes der Insel Candia nach der herrlichen Landschaft des Malers Emil Mann in Triest, der, ein talentvoller Schüler Schirmer’s und Calame’s, schon durch seine frühern italienischen und Schweizerlandschaften sich einen klangvollen Namen in der Künstlerwelt errungen hat.



[318]

Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

„Aber um Gotteswillen,“ rief Reichardt, dem die Erinnerung an die geheimnißvollen Fragen, welche ihm der entflohene Bob hatte vorlegen wollen, den Schweiß auf die Stirn trieb, „Alles, was ich auch gesagt haben möge, ist doch so völlig unverfänglicher Natur gewesen –“

„In Ihrem Sinne sicherlich, Sir,“ unterbrach ihn der Wirth, „nicht aber in dem unsrigen, die wir unsre Neger kennen; und um gleich Alles zu sagen, so möchte ich Ihnen als Freund rathen, die Stadt und wo möglich den Staat ohne die geringste Zögerung zu verlassen. Ich habe einige Worte des Predigers in Bezug auf Sie aufgefangen, die nichts Gutes verkünden, und es sollte mich schmerzen, Sir, Sie nicht vor Unannehmlichkeiten schützen zu können, deren Grenzen sich im Augenblicke noch nicht einmal absehen lassen. Ich kann meinen leichten Wagen in drei Minuten angespannt haben und fahre Sie nach der nächsten Station der Postkutsche, die gegen Mittag dort halten wird. Beim Dunkelwerden erreichen Sie dann Nashville und nehmen das Dampfboot, was von dort nach dem Ohio abgeht –“

„Das heißt, ich soll flüchten?“ rief der Deutsche, überrascht, aber noch ungewiß sich von seinem Stuhle erhebend.

„Gerade das, Sir, und zwar so lange es noch Zeit ist!“ war die bestimmte Antwort.

„Und vor wem, Sir, und weshalb?“ rief Reichardt erregt; „vor dem Prediger Curry, und wegen einer vielleicht hier unvorsichtigen, aber sonst ganz harmlosen Aeußerung? Nimmermehr, Sir, und wenn ich auch in dieser Schnelligkeit mich hier losreißen könnte. Ich denke, ich bin in einem Lande, wo wenigstens Gesetz und Ordnung herrschen, wenn auch die Redefreiheit auf ganz besonderen Füßen zu stehen scheint, und ich will die Dinge abwarten, die mich möglicherweise treffen können. Ich glaube gern, daß es der heißeste Wunsch dieses Mr. Curry sein mag, mich wie einen Verbrecher aus der Stadt hetzen zu können, ich weiß zu viel von seinen Angelegenheiten – aber wir wollen sehen, wer der Stärkere ist; hoffentlich werde ich auch von anderen Seiten nicht ganz verlassen sein!“

„Sie scheinen mit unsern Verhältnissen noch gänzlich unbekannt zu sein,“ erwiderte der Hotelbesitzer, und ein Zug von Unruhe stieg in seinem Gesichte auf. „Unser Volk ist das friedlichste und gastfreundlichste; nur darf es nicht an seinem empfindlichsten Punkte, den Verhältnissen der farbigen Diener und Arbeiter, berührt werden; und angesichts der vom Norden ausgehenden brandstifterischen Emancipationsbestrebungen ist es nur zu sehr in seinem Rechte, wenn es jeden Fremden mit mißtrauischem Auge betrachtet, ihn bei dem entferntesten Verdachte einer Einwirkung auf die Schwarzen kurz und entschlossen aus dem Staate schafft und ihm das Wiederkommen verleidet. Es ist das ein Gebot der Selbsterhaltung, Sir, und noch selten haben sich in derartigen Fällen unsere Beamten dem Volkswillen zu widersetzen gewagt. Nun liegt jedenfalls schon genug gegen Sie vor, um eine Ausweisung zu rechtfertigen, dazu ist der Prediger Curry, wie Sie selbst sagen, nicht Ihr Freund, und ich sehe Auftritte voraus, die, wenn Sie sich nicht bei Zeiten durch Ihre Entfernung davor schützen, Ihnen die bitterste Erinnerung an unsere Stadt verschaffen könnten –“

„Aber erlauben Sie mir, ich bin noch nicht volle zwei Monate in den Vereinigten Staaten und kenne weder Land noch Leute,“ versetzte Reichardt ruhig, „die mannigfachen Freunde, welche ich mir hier bereits gewonnen, wissen das und werden meine harmlosen Aeußerungen danach beurtheilen. Im Uebrigen aber glaube ich nicht einmal, daß Curry etwas gegen mich zu unternehmen wagt. Ich würde den Vorwurf der größten Feigheit auf mich laden, wenn ich in blinder Angst auf und davon liefe, ohne von befreundeter Seite nur einmal einen Rath eingeholt zu haben –“

„Well, Sir,“ erwiderte der Wirth, sich kurz erhebend, „ich habe Ihnen meine Hülfe angeboten und kann nichts weiter thun. Halten Sie sich für sicher, desto besser, und ich wünsche von ganzem Herzen mich geirrt zu haben.“

„Und ich danke Ihnen aufrichtig,“ gab der Deutsche zurück; „ich werde sofort ein paar Wege in dieser Angelegenheit gehen – aber muthen Sie mir nicht zu, wie ein Verbrecher mich heimlich davon zu machen!“

Der Hotelbesitzer nickte nur und verließ das Zimmer; Reichardt aber griff nach seinem Hute – er war durchaus nicht so ruhig, als er sich gegeben, und vielleicht hätte er bei seiner unsichern Stellung der Aufforderung seines Hausherrn gefolgt, wenn ihm nicht der Gedanke gekommen wäre, daß der Wirth möglicherweise im Einverständniß mit Curry handele, um ihn so auf die kürzeste und ruhigste Weise aus der Stadt zu schaffen, – wenn er außerdem es nicht auch für seine Pflicht gehalten hätte, Harriet zuerst von dem Stande der Dinge zu benachrichtigen.

Er verließ rasch das Hotel und schlug den Weg nach Burton’s Hause ein. Aufmerksam beobachtete er jedes Gesicht in der Straße, welches sich ihm zuwandte; nirgends aber traf er auf einen Blick, der eine Kenntniß des Geschehenen verrieth und seinen stillen Befürchtungen Nahrung gegeben hätte, und mit leichterem Herzen erreichte er Harriet’s Wohnung. Die junge Lady war, wie ihm die öffnende Schwarze sagte, mit ihrem Vater auf das Land gefahren und wurde vor Abend kaum zurück erwartet. Etwas getäuscht trat Reichardt den Rückweg an; nach kurzem Gange erblickte er indessen vor einem der Geschäftslocale ein Gesicht, das in freundlicher Erinnerung ihm die Versammlung der Männer wieder vorführte, welche in Burton’s Hause sich seines Interesses so rege angenommen. Der Dastehende nickte dem Deutschen schon von weitem zu. „Wie steht’s?“ fragte er, als Jener herangekommen war, und streckte die Hand aus, „sind die Sachen endlich geordnet und die Bedenklichkeiten der frommen Herren beseitigt?“

„Wohl noch nicht ganz!“ erwiderte Reichardt und drückte die dargebotene Hand; „indessen möchte ich mir wohl erlauben, in einer anderen Angelegenheit mir Ihren Rath zu erbitten.“

„Kommen Sie herein, Sir, ich bin immer bereit, wenn ich Ihnen mit etwas dienen kann,“ erwiderte der Amerikaner und schritt dem Deutschen nach einer Schreibstube im Hintergründe des Locals voran, zog dort einen Stuhl herbei und ließ sich zugleich auf einem andern nieder. Der junge Mann setzte sich und begann nach einem kurzen Eingange seine frühere Begegnung mit Bob, sowie das ganze mit seinem Wirth am Morgen gehabte Gespräch mitzutheilen, hinzufügend, daß er in derselben Angelegenheit soeben Mr. Burton vergeblich aufgesucht. Der Amerikaner sah, als Reichardt geendet, eine Weile schweigend vor sich nieder. „Ich muß Ihnen sagen,“ begann er dann, sich einigemal rasch durch die Haare fahrend, „daß ich in Ihrem Interesse wünschte, die Geschichte wäre nicht passirt. Ich glaube kaum, daß sich Unannehmlichkeiten daraus entwickeln werden, wie sie Ihr Wirth fürchtet, so viel unnützes Volk wir auch in der Nähe der Stadt haben, das sich ein Vergnügen aus jedem Krawall macht. – Sie sind unsern besten Männern hier schon genug bekannt, als daß diese sich Ihrer nicht annehmen sollten, und ich glaube auch noch nicht einmal, daß der Schwarze wirklich davon gelaufen ist, ich halte ihn für zu gescheidt dazu – indessen muß die Sache auf Ihre Zukunft unter uns hemmend einwirken. Man wird nicht Ihren bösen Willen, aber Ihre Unerfahrenheit in unsern Verhältnissen fürchten – und der Methodist, wenn Sie den einmal auf dem Nacken haben, wie mir scheint, ist schon im Stande, einen großen Theil der öffentlichen Meinung gegen Sie zu stimmen. Ich sehe nicht, daß sich im Augenblick etwas Anderes thun ließe, als die Dinge abwarten.“

Reichardt sah in das Gesicht des Mannes, welches trotz der Herzlichkeit des Tons einen Zug steifer Zurückhaltung anzunehmen begann, und erhob sich. „Ich will Sie nicht länger belästigen, Sir,“ sagte er, „ich fange an, einen Einblick in den Stand der Dinge zu erhalten, und werde, sobald ich nur Mr. Burton gesprochen, die Bewohnerschaft von der Sorge über meine Anwesenheit befreien.“

„Es ist wirklich äußerst unangenehm, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid mir die Sache thut,“ erwiderte der Amerikaner, seinen Gast nach der Thür begleitend, „ich kann aber beim besten Willen nicht sehen, was sich darin thun ließe –“

[319] Der Deutsche schnitt mit einer Verbeugung die weitern Worte ab und wandte sich in gedrückter Stimmung nach dem Hotel. Er sah im Geiste alle die Männer, welche ihn so lebhaft ihrer Freundschaft und Unterstützung versichert, in ähnlicher Weise von sich abfallen. Er hatte mit seinem bedachtlosen Wohlwollen für Bob augenscheinlich ein Verbrechen begangen, das ihn von jeder ferneren Theilnahme ausschloß, und der Wirth hatte mit seinen Ansichten der Dinge nur zu sehr Recht gehabt. Demohngeachtet sollte ihm jetzt Niemand seine Entmuthigung anmerken; er wollte, sobald er nur Harriet noch einmal gesehen, die Stadt verlassen, aber offen und ungezwungen.

Mit aufgerichtetem Kopfe betrat er das Hotel, in welchem soeben die Mittagsglocke geläutet hatte, und wandte sich nach dem Speisezimmer. Sein Eintritt schien hier eine Art Aufsehen zu erregen. Die noch eben von einzelnen Gästen lebhaft geführten Gespräche flockten plötzlich, während sich von allen Seiten die Blicke mit einem Ausdrucke von Verwunderung oder Neugierde nach ihm kehrten. Reichardt konnte sich einer leichten Befangenheit nicht erwehren, nahm indessen ruhig seinen Platz ein und übersah es absichtlich, daß die ihm zunächst Sitzenden die Köpfe von ihm wandten und mit ihren Nachbarn eifrig zischelten. Hier hatte also die Angelegenheit schon zu arbeiten begonnen, und es konnte nun kaum fehlen, daß nach wenigen Stunden die ganze Stadt davon voll war. Es ward dem Deutschen bald peinlich, der ersichtliche Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Ohne Hast, aber in möglichster Kürze beendete er sein Mahl und schritt dann nach der Vorhalle hinaus. Dort stand der Wirth im Gespräche mit dem Buchhalter. Kaum aber hatte der Erstere im Umdrehen Reichardt’s Gesicht erblickt, als er auch, wie um jeder Begegnung mit dem Deutschen auszuweichen, sich nach dem Innern des Hauses wandte, während der zurückgebliebene Buchhalter einen unzufriedenen Blick nach dem Gaste warf und in der „Office“ verschwand. Reichardt neigte den Kopf und verließ das Haus – er gestand sich, daß es bald hohe Zeit für ihn sein werde, dem Orte den Rücken zu kehren.

Planlos schlug er die nächste Straße ein, welche aus der Stadt führte; er wollte nicht eher zurückkehren, als bis er Harriet oder wenigstens deren Vater gesprochen – aber es war bereits zehn Uhr Abends, als er erst durch die Dunkelheit seinen Weg zurück suchte, ohne dennoch zu seinem Ziele gelangt zu sein. Ein eigenthümliches Unglück schien ihn verfolgt zu haben. Er hatte, um ein paar Stunden zu tödten, seine Richtung über die nächste Höhe nach einem geschonten Waldstücke genommen und sich hier zum Schlafen niedergelegt. Aber erst bei Einbruch der Dämmerung war er aus allerhand verworrenen Träumen erwacht.

Eilig hatte er jetzt Burton’s Haus aufgesucht, aber nur wiederholt den Bescheid erhalten, daß die Herrschaft noch nicht zurück sei. Als er sich jetzt, die Straßen der Stadt meidend, langsam wieder entfernt, erinnerte er sich plötzlich, daß ihm Burton versprochen, heute wegen seiner Anstellung mit Young zu reden. War durch diesen dem alten Herrn vielleicht zu Ohren gebracht worden, was gegen den Deutschen vorlag, und die Fahrt in’s Land nur angeordnet, um seinem Besuche aus dem Wege zu gehen? Die Annahme erschien nach den Erfahrungen des Tages vollkommen logisch. Welches besondere Interesse hatte Burton an ihm zu nehmen? und mußte nicht die Angelegenheit ganz gelegen kommen, um auf die kürzeste Weise dem Zwiespalte in der Kirchengemeinde vorzubeugen? Zum ersten Male seit dem Morgen fühlte Reichardt ein Gefühl herber Bitterkeit in seiner Seele aufsteigen, das sich erst bei dem Gedanken an Harriet sänftigte. An sie glaubte er, von ihrer Abwesenheit wußte er, daß sie absichtslos war, und sie wollte er auch nur noch allein aufsuchen.

Reichardt war mit seinen Gedanken beschäftigt fortgewandert, bis er sich auf einer von Feldeinzäunungen begrenzten Straße fand, deren Richtung in’s offene Land zu führen schien. Er blieb einige Secunden stehen, um sich möglichst zu orientiren, wanderte dann zurück und schlug die erste Straße, welche seinen bisherigen Weg durchkreuzte und sich nach der Stadt zu wenden schien, ein. Bald aber endete diese an dem geschlossenen Gitterthore einer Baumwollenpflanzung, und der Verirrte, wollte er nicht noch einmal umkehren, konnte nichts thun, als die Einzäunung übersteigen und in der verfolgten Richtung das Feld überschreiten. Neun andere Einzäunungen zählte er, welche er auf seinem mühseligen Wege zu passiren hatte, bis er endlich wieder freien Grasboden unter sich fühlte. Die Nacht war längst hereingebrochen, und von der Stadt konnte er keine Spur entdecken. Trotzdem glaubte er in der Richtung nicht fehlen zu können. Er schritt so rasch vorwärts, als es sich auf dem unebenen Boden mit einiger Sicherheit thun ließ, und erblickte nach Kurzem die Chaussee, hell aus dem Dunkel sich heraushebend, vor sich. Jetzt konnte er zwar nicht mehr fehlen, aber die Strecke, welche er zurückzulegen hatte, ehe ihm die Lichter der Stadt entgegenblinkten, zeigte ihm, wie weit ab ihn sein Weg geführt.

Als er sich dem Hotel näherte, fiel ihm ein eigenthümliches Leben in der nächsten Umgebung desselben auf. Kleine Trupps von Menschen standen zerstreut an den Häusern umher, und wo das Licht der Verkaufsläden auf einzelne derselben fiel, ließen sich Gestalten erkennen[WS 1], deren unsaubere Bekleidung und verwilderte Gesichter am wenigsten in die reiche, elegante Landstadt zu gehören schienen. Ein Trinklocal in der Nachbarschaft war mit Menschen ähnlicher Art gefüllt. Demohngeachtet ließ sich nirgends ein überlautes Wort hören, und nur eine Art Summen verrieth dem Entfernteren den lebhaften gegenseitigen Wortaustausch. Reichardt war indessen nicht in der Stimmung, Beobachtungen über Menschen und Sitten anzustellen. Er ging rasch nach der Hotelthür, die er zu seiner Verwunderung geschlossen fand, und die erst nach scharfem Klopfen seinerseits von einem der Schwarzen vorsichtig geöffnet wurde. Ohne sich aber mit Fragen über die Ursache der ungewohnten Maßregeln aufzuhalten, eilte er nach seinem Zimmer hinauf, um, ehe er Harriet noch einmal aufsuche, mit sich selbst über seine Lage in’s Klare zu kommen.

Er hatte soeben Licht angezündet und seinen Hut abgelegt, als die Thür hastig geöffnet wurde und der Wirth mit verstörtem Gesichte eintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, löschte er das Licht und faßte den Arm des Deutschen. „Sie dürfen keine Minute hier bleiben, Sir, wenn Sie sich nicht dem Aergsten aussetzen wollen,“ sagte er in hörbarer Aufregung. „Ihr Eintritt in’s Haus ist bemerkt worden – ich habe Sie heute früh gewarnt, und nun ist das Unglück da!“

„Aber was giebt es denn? – von welchem Unglück sprechen Sie denn?“ rief Reichardt, dem es wohl wie eine böse Ahnung durch die Glieder gefahren war, dem aber dennoch jede Vorstellung von d[e]m, was ihm drohen könne, fehlte.

„Was es giebt, Sir?“ erwiderte der Hotelbesitzer in steigender Erregung, „daß Sie aus dem Hause geschleppt, getheert und gefedert und sodann aus der Stadt gepeitscht werden; das giebt es, Sir! Ein sogenanntes Comité der Bürger war heute Nachmittag zweimal hier, um Sie aufzufordern, unverzüglich den Ort zu verlassen. Ich wurde selbst in’s Verhör genommen und mußte ihnen der Wahrheit gemäß sagen, daß Sie sich nicht wollten wie ein Verbrecher hinwegtreiben lassen. Jetzt sind die Executionsmannschaften, das verwilderte Volk, das auf kleinen Plätzen zwischen unsern Plantagen lebt und dessen höchste Lust ein Mob ist, hereingekommen – ich muß das Haus durchsuchen lassen, wenn ich mir nicht eine Demolirung gefallen lassen will, und Sie –“

Ein hundertstimmiger, brüllender Schrei auf der Straße verschlang die übrigen Worte. Zugleich aber drang zu den Fenstern eine rothe Helle herein, mit jeder Secunde an Glanz zunehmend.

„Da sind schon die Fackeln – jetzt fort, um Gotteswillen! Jeder Athemzug Zögerung ist eine Lebensgefahr!“ rief der Besitzer, und Reichardt, verwirrt, von Schrecken vor dem Unbekannten überkommen, flog an seiner Seite die Treppe hinab nach dem hintern Theil des Hauses. Von der Vorderthür tönte ihnen Schlag auf Schlag nach. Mit fliegender Hand öffnete der Wirth eine kleine Hinterthür, welche in eine schmale, durch zwei hohe Breterwände gebildete Gasse führte. „Jetzt gebe Gott, daß der Ausgang hier noch frei ist,“ flüsterte er, „laufen Sie wie für Ihr Leben!“

Reichardt, der Angst des Augenblicks folgend, war wie ein Pfeil die Gasse hinabgeflogen. Schon sah er das Ende – da schlug plötzlich Fackelschein vor ihm auf – er schnellte um die Ecke in die sich aufthuende breite Straße. Aber in einem wahren Teufelsjubel klang es hinter ihm: „Da ist er! da ist er!“ und zugleich hörte er die zu raschem Laufe sich verwandelnden Schritte seiner Verfolger.

Der Flüchtling war mit einer Schnelle, wie sie nur die höchste Noth verleihen kann, davon geeilt, ohne sich von der eingeschlagenen Richtung Rechenschaft zu geben, aber die ihm Nachsetzenden schienen zähe an seinen Fersen zu hängen – fort und fort hörte [320] er wilde Rufe und das Geräusch der ihm folgenden Tritte hinter sich, und diese letzteren in einer Regelmäßigkeit, als sei es auf einen Dauerlauf abgesehen, dem er unterliegen mußte, sobald seine Kräfte zu erlahmen begannen. Einmal nur hatte er es gewagt zurückzusehen und kaum zwanzig Schritte hinter sich, allen seinen Verfolgern voraus, eine Gestalt erblickt, die es sich zur Ehrensache gemacht zu haben schien, ihn zu überholen. Mit der Anstrengung der Todesangst hatte er seinen Lauf beschleunigt. Er sah endlich in der matt erhellten Straße, die trotz des nahenden Lärms wie ausgestorben war, eine dunkle enge Seitengasse und bog hinein, in der Hoffnung ein augenblickliches Versteck zu finden und seine Verfolger irre zu leiten – aber ihm blieb keine Zeit zum Suchen, schon schlug der Fackelschein in die Oeffnung der Gasse, während ein Theil des wilden Volkes seinem Geschrei nach die frühere Richtung weiter verfolgte, jedenfalls um den Flüchtigen an einer andern Stelle abzuschneiden. Reichardt sah eine neue Ecke vor sich und bog um diese, sein Weg war uneben, er fühlte es nicht – immer nur klang das seltsam wilde Geschrei der Nachsetzenden in seine Ohren, leuchtete es wie Fackelschein vor seinen Augen auf, ihn zu immer erneuter Fluchtanstrengung antreibend. In seinem Kopfe begann es endlich zu brausen und zu klingen, er wußte, daß er jetzt nicht mehr fern davon war, besinnungslos niederzustürzen, aber er jagte weiter, er durfte nicht anhalten, so lange ihn noch ein Fuß trug. Da tauchte ein hohes, dunkles Gebäude, umgeben von Büschen, vor seinen Augen auf. Eine weiße deutlich erkennbare Einzäunung zog sich darum, und wie ein Blitz schoß es durch den Kopf des Verfolgten: das ist Burton’s Haus! seine Muskeln wie mit neuem Leben durchströmend. Hier, wenn irgendwo, mußte ihm Schutz werden. Er hatte keine Ahnung, welcher Seite des Hauses er zueilte, oder wo sich ein Eingang zu der hohen Einzäunung befand. Er faßte den obern Rand derselben mit beiden Händen und schnellte sich empor – aber seine Kraft brach unter der Anstrengung – er fiel wieder zurück.

Da, in einem Aufwallen von Verzweiflung, machte er einen zweiten Versuch, und mehr stürzend als niedergleitend gelangte er an der entgegengesetzten Seite auf den Boden, wie ein getroffenes Wild in sich zusammenbrechend. In der nächsten Secunde indessen hatte er, die Hand auf die wogende Brust gedrückt, sich wieder erhoben und mit Hast versuchte er sich zu orientiren; er sah den weißen Balkon mit den beiden am Hause herablaufenden Treppen, sah die Fenster von Harriet’s Zimmer daneben – sie waren dunkel; ehe er jedoch dazu kam, sich einen Gedanken über seine Beobachtungen zu machen, klang ein keuchender Ruf aus geringer Entfernung in seine Ohren, wie ein Hammerschlag auf seine überreizten Nerven wirkend. Er fühlte eine plötzliche Schwäche über sich kommen und seine Augen sich verdunkeln; aber mächtiger noch war der Gedanke, daß er verloren sei, wenn er jetzt der Ermüdung erliege. Seine letzten Kräfte zusammen fassend griff er in den Kies des Wegs, warf eine Handvoll gegen Harriet’ s Fenster und stürzte die Treppe nach dem Balkon hinauf, sich von dort mit schwindenden Sinnen nach dem offenen Innern des Hauses wendend. Er sah ein Licht vor sich aufblitzen, fühlte, wie die Beine unter ihm zu brechen drohten – dann wußte er nichts mehr von sich selbst, bis es ihm plötzlich wurde, als lege sich ein Etwas weich und heiß auf seinen Mund, Ströme warmen Lebens in seine Adern ergießend, als werde er eingehüllt in duftige Tücher, die, ein Gefühl süßen Wohlbehagens hervorrufend, sich dichter und dichter um ihn schlangen. „Max, o Max, sieh auf, Du bist ja sicher!“ klang es leise, wie aus weiter Ferne in seine Ohren. Da war es, als löse sich ein Bann von ihm – er sah wieder, und vor sich erblickte er wie in einem Nebel ein Paar große, ängstliche Augen; der Nebel wich, und Harriet’s bleiches, erregtes Gesicht sah ihm entgegen. Unwillkürlich flog sein Blick auf die nächsten Umgebungen; er traf auf reiche Fußteppiche, einen glänzenden Toilettentisch, auf ein von Vorhängen halb verhülltes Bett – Alles nur matt von einer einzigen Kerze erleuchtet; er fand sich selbst in einem weichen Divan lehnend und hob die Augen zu ihr, in deren Schlafzimmer er augenscheinlich gerathen. Kaum aber schien sie in seinem Blicke die zurückgekehrte Besinnung zu erkennen, als ihre Arme sich um seinen Hals warfen, und ihr Mund sich in wilden Küssen an den seinen hing. Heiße Gluth durchschoß den Erwachenden; noch kaum recht seiner bewußt, umschlang er ihren Leib und zog sie nieder zu sich; er fühlte ihre weichen, vollen Formen, die nur ein einziges dünnes Gewand zu verhüllen schien; eine lange Minute hielt sie, dicht an ihn geschmiegt, ihn fest umschlossen; dann riß sie sich plötzlich aus seinen Armen, drückte seine beiden Hände zurück und kniete da, wo sein Kopf lehnte, nieder, in seine Augen blickend, als wolle sie sich hinein versenken.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüthen.


Wege unter den Straßen. Wir reden hier nicht von der Eisenbahn, die in diesem Augenblick in London unter der Erde geführt wird, um den stets zunehmenden Verkehr auf den Straßen etwas zu vertheilen, sondern von unterirdischen Wegen zu andern Zwecken, die durch, vielmehr unter allen Straßen Londons fortlaufen sollen, wenn nämlich der Vorschlag durchgeht. Der Versuch ist bereits gemacht, indem solch ein unterirdischer Weg von Cranburn Street nach Kingsstreet (Coventgarden) in einer Länge von 374 Fuß geführt ist. – Wer lange in London gewesen ist, dem muß es nothwendig aufgefallen sein, wie häufig das Straßenpflaster an einzelnen Stellen aufgerissen wird. Dadurch wird nicht nur das Pflaster uneben, sondern auch die Communication gehindert und gefährlich, denn die Straßen werden deshalb keineswegs abgesperrt, sondern nur verengt. Der Grund dieser sehr häufigen Störungen sind Unordnungen, welche entweder an der Wasserleitung, den Gasröhren, oder den Cloaken vorkommen, Um diesem Unfug ein Ende zu machen, schlägt man – wie bereits in der erwähnten Straße ausgeführt gewölbte, unterirdische Gänge vor, die zwölf Fuß breit und sechs Fuß sechs Zoll hoch sein sollen. In diesem Gange sollen nun die Wasser- und Gasröhren eingerichtet und genügender Raum gelassen werden, um Ausbesserungen oder Veränderungen vornehmen zu können. Unter dem Boden dieses Ganges, gerade wo er am höchsten ist, ist eine weite, eiförmige Röhre für die Cloake, zu welcher man durch Oeffnungen gelangt, die von Zeit zu Zeit angebracht sind, wie auch Schafte für die Ventilation und andere Zwecke. Ferner sollen Seitenbogengänge in dem Zwischenraume von zwei Häusern zu zwei Häusern geführt werden, und Seitenröhren sollen in die Area der Häuser münden. Die Area ist der vor jedem Hause liegende kleine Hof, welcher tiefer als die Straße ist und von derselben durch eiserne Gitter getrennt ist.) Durch diese Röhre soll auch noch Luft in den Haupttunnel geführt werden. Natürlich sind noch allerlei andere Einrichtungen für specielle Zwecke angebracht, zum Beispiel für die mitten in der Straße befindlichen und durch aufzuschraubende Eisenplatten verschlossenen Röhren, die das Wasser liefern, welches im Fall von Feuer gebraucht wird. Die Kosten jedes Fußes, parallel mit den Häuserreihen gerechnet, ist auf fünf Pfund (33 Thlr. 10 Sgr.) geschätzt, was die Kosten des gegenwärtigen Systems nur um ein Pfund per Fuß übersteigen soll. – Capital giebt es in London genug, und wenn die Zinsen desselben zur Grundtaxe jedes Hauses hinzugefügt werden, so ist das keine große Last für die Besitzer und steht in keinem Verhältniß zu den damit erkauften Vortheilen.


Für die Familienbibliothek.

In einer guten deutschen Familienbibliothek darf am wenigsten ein Werk fehlen, dessen Haupttendenz in der Verherrlichung deutscher Männer und einer der wichtigsten Episoden deutscher Vergangenheit besteht. Ludwig Storch, allen unsern Lesern bekannt, hat ein solches in seinem besten und berühmtsten Romane:
Ein deutscher Leinweber
geliefert, und wir freuen uns, dem großen vaterländischen Lesepublicum heute anzeigen zu können, daß dieses Werk, welches in der ersten Ausgabe 15 Thaler kostete, jetzt in der bekannten Familienausgabe der Storch’schen Schriften zu dem billigen Preise von 3 Thaler erscheinen wird.

Ueber die Vortrefflichkeit dieses wahrhaft deutschen Geschichtsromans verlieren wir kein Wort. Der Dichter Ludwig Storch bürgt uns dafür, von dem Ferd. Stolle sehr richtig sagt:

„Wenn glänzende Phantasie, kräftige schwungvolle Sprache und eine durchweg edle Richtung einen Autor berechtigen, in jeder Familie ein gern gesehener Hausfreund zu werden, so dürfte sich Ludwig Storch wohl einer allseitigen freundlichen Aufnahme zu erfreuen haben. Das ist ein Mann, in dessen Adern kein falscher Blutstropfen rinnt, der nie das Gold der Dichtkunst zu schnödem Götzendienste gemißbraucht, ein treues Herz, reich begabt mit himmlischem Gold und Perlen – denn die Treue, die Redlichkeit und Gabe der Dichtkunst wohnen in ihm.“

Der ganze Ertrag der Schriften kommt allein dem wackern Verfasser zu Gute.
Der deutsche Leinweber erscheint in 12 Bänden von je 12-15 Bogen. Jeder Band, dessen Preis in der alten Ausgabe 1½ Thlr. betrug, kostet
nur 7½ Neugroschen,

der Bogen also blos 5 Pfennige. Der erste Band ist bereits erschienen, die folgenden erscheinen in monatlichen Zwischenräumen.

Ernst Keil in Leipzig.

  1. T. F., d. i. Travaux Forcés, Zwangsarbeit. GAL., d. i. Galérien, Galeerensträfling.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: erkennnen