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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[177]

No. 12. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine Brautfahrt.
Von dem Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.
(Fortsetzung.)

Hatten jene Töne an dem Postwagen den raschen Muth des Lieutenants geweckt, den beiden Damen hatten sie die furchtbarste Angst eingejagt.

„Was haben Sie vor?“ hielten sie den jungen Mann zurück.

„Ich muß hin –“

„Um des Himmels willen –“

„Ich muß helfen.“

„Und uns wollen Sie verlassen?“ Sie umklammerten ihn; sie hielten sich Beide an ihm fest.

Glücklicher Lieutenant, wenn das zu einer andern Zeit gewesen wäre! Jetzt wollte es ihn zur Verzweiflung bringen, denn Muth, Ehre und Kampfeslust zogen ihn mit aller ihrer Gewalt nach dem Postwagen hin, wo unzweifelhaft ein Raubanfall stattfand, wo es zu kämpfen, zu helfen, zu retten galt; aber Muth und Ehre forderten auch von ihm, zwei hülflose Damen, denen er zudem seine Hülfe, seinen Schutz versprochen, denen er als ihr Ritter gerade für die jetzt von ihnen befürchtete Gefahr sich zugesellt hatte, in diesem Augenblicke nicht zu verlassen, und war auch in diesem Augenblicke die Kampfeslust nicht zu befriedigen, mußte an deren Stelle nicht der Gedanke treten, daß seine bestimmte Braut es sei, die er hier zu beschützen habe, dieselbe Braut, die er durch sein Abenteuer mit ihr selbst so schwer gekränkt hatte, und die er jetzt oder nie gewinnen, wiedergewinnen konnte? Er konnte von den flehenden Damen sich nicht losreißen.

„Fort, fort, Konrad!“ hatten sie dem Kutscher zugerufen, und die Pferde vor dem Wagen flogen im Galopp dahin, während der Lieutenant darin blieb. Im weichen Arm der Liebe, anstatt im rauhen Waffengetümmel! Denn das Fräulein Angela, oder Lucina, oder wie sie sonst hieß, hatte jetzt auf einmal mehr Angst, als ihre furchtsame Schwägerin, und sie hatte sich dicht und fest an den jungen Ritter gelegt, und er fühlte den schönen Nacken, den er früher kaum hatte sehen sollen. Hätte er nur fluchen dürfen! Er wollte es, aber zu wie Vielem hat der Mensch einen – schwachen Willen!

Der Wagen flog dahin, und dahinten blieb es still. Der Raub an dem Postwagen mußte verübt sein, daran durfte der Lieutenant nicht zweifeln; auch daß zehntausend Thaler wirklich in dem Postwagen sich befunden und der Gegenstand des Raubes gewesen seien, glaubte er annehmen zu müssen, wenn er sich Alles wieder in das Gedächtniß rief – und wer der Beraubte war? Gewiß der kurze Herr mit dem rothen Gesichte, antwortete er sich, der so unruhig wurde, als von dem Gelde die Rede war, und dann so eifrig versicherte, kein Thaler sei im Wagen.

Ach, wenn er dabei gewesen wäre! Er hatte vier Kugeln zu versenden, und sein Muth, sein Beispiel hätte dem Beraubten Muth gegeben, selbst den Philister von Tuchhändler zum Widerstande angespornt, ja, gar dem alten, schwachen Greise noch Kräfte verliehen. Ohne einen Kampf auf Leben und Tod wären die Räuber zu einem Siege nicht gekommen! Das durfte der Lieutenant sich sagen, während sein Gesicht voll Muth flammte, aber auch voll Zorn, daß er nicht dabei gewesen war. –

Der Planwagen konnte nicht lange im Galopp der Pferde dahinfliegen, denn der Weg wurde uneben, hart und holprig, er flog wohl, aber in die Höhe. Der Kutscher mußte daher die Pferde nur langsam und im Schritt gehen lassen. „Auch das noch!“ riefen die geängsteten Damen, „wir werden die zweite Beute der Räuber sein.“ Das nun zwar nicht, aber daß die Räuber kommen möchten, hätte der Gardelieutenant in seinem Zornesmuth beinahe gewünscht. Und, wie sollte sein Wunsch erfüllt werden? Der Wagen hatte wieder schneller fahren können, denn der Weg war ebener, fester geworden. Auf dem glatten Boden machte das Fahren auch wenig Geräusch; man konnte daher hören, was außerhalb vorging, und man hörte etwas. Der Galopp eines Pferdes kam hinter dem Wagen her und er wurde deutlicher und deutlicher. Die Damen erschraken von Neuem. „Galopp, Konrad!“ riefen sie dem Kutscher zu. „Die Räuber, die Räuber!“ klammerte sich das Fräulein Angela wieder fester an ihren tapferen Ritter.

„Es ist nur ein einzelnes Pferd!“ suchte der Lieutenant sie zu beruhigen. Allein das einzelne Pferd kam näher, und er zog doch eines seiner beiden Doppelpistolen hervor und spannte die Hähne.

Da rief eine Stimme dicht hinter dem Wagen: „Emilie! Emilie!“

„Mein Mann, mein Adolph!“ schrie die blasse Frau auf. „Konrad, halt, halt!“

Der Kutscher hatte schon gehalten, und der Reiter erschien neben dem Wagen. Die blasse Frau breitete ihm die Arme entgegen, während er vom Pferde sprang. „Wie habe ich mich um Dich geängstigt!“

„Ich komme zu Dir, Emilie.“

Der tapfere Lieutenant brachte während dem leise, daß man es nicht hören solle, die Hähne seines Doppelpistols in Ruhe und steckte die Waffe unter seinen Mantel zurück.

„Nimm mein Pferd,“ sagte der Reiter zu dem Kutscher, „und dann im Galopp wieder voran. Im Galopp, hörst Du?“ Dabei [178] sprang er in den Wagen. Der Kutscher knüpfte schnell die Zügel des Reitpferdes an das Geschirr der Wagenpferde und jagte im Galopp weiter.

„Woher kommst Du, Adolph?“ fragte die blasse Dame den Mann.

„Ich war Dir entgegen geritten, Emilie, wie ich es versprochen hatte, begreife aber nicht, wie ich Dich verfehlen konnte. Ich erfuhr, daß Du schon vorbeigefahren warst, und sprengte Dir nach. Da erlebe ich eine furchtbare Scene: hinter uns ist der Postwagen, er wird plötzlich angegriffen, ich erreichte ihn fast in dem nämlichen Augenblicke und schwankte, ob ich den Ueberfallenen beistehen soll. Aber ich war ohne Waffen und dachte an Dich, an Deine Angst. Du warst in der Nähe mit unserem Kinde und mit Angela. Ich hatte daher keine Wahl und mußte bei Euch sein.“

„Wir hatten unterdeß einen Beschützer gefunden,“ sagte die blasse Frau.

„Einen Beschützer?“

„Die Dunkelheit hat Dir nicht gestattet, ihn zu sehen. Unsere Bitten vermochten ihn, sich unser anzunehmen; dafür wirst auch Du ihm danken, Adolph.“

Der Reiter, der Mann der blassen Frau, sah sich in der Dunkelheit näher um. Die Gestalt des Lieutenants, eines Fremden im Wagen, konnte ihm dabei nicht mehr entgehen. „Mein Herr,“ sagte er verbindlich, „empfangen Sie auch meinen herzlichsten Dank.“

Die Situation des Lieutenants schien ihm wieder peinlicher geworden zu sein; unzweifelhaft dachte er wenigstens über etwas angelegentlich nach. Vielleicht suchte er sich in das Gedächtniß zurückzurufen, ob und wo er schon in Gesellschaft des neuen Reisegefährten gewesen sei. Dann konnte aber nur dessen Stimme Erinnerungen in ihm hervorgerufen haben, denn von der Gestalt des Angekommenen war in der Dunkelheit nichts zu unterscheiden. Vielleicht beschäftigte den muthigen Lieutenant aber auch etwas Anderes. „Die Reisenden des Postwagens wurden ausgeplündert?“ fragte er zerstreut, statt einer Antwort, Und doch dringend, den Andern.

„Ich sah es nicht,“ erwiderte dieser.

„Sie sahen es nicht?“

„Ich mußte begreiflicherweise einen Umweg machen, um von den Räubern nicht bemerkt zu werden.“

„Ah!“ – Aber es war in dem braven Lieutenant plötzlich ein Entschluß entstanden.

„Mein Herr,“ sagte er, „die Damen sind jetzt unter Ihrem Schutz, wollen Sie nicht Ihrem, Kutscher befehlen, daß er einen Augenblick halte? Nur einen Augenblick.“

„Zu welchem Zwecke, mein Herr?“

„Ich wünschte auszusteigen.“

„Und –?“

„Und mich nach meinen Reisegefährten im Postwagen umzusehen.“

„Um Gotteswillen!“ riefen die Damen, und er fühlte die schönen Schultern des Fräulein Angela wieder an den seinigen.

Der Mann der blassen Frau erklärte ihm aber entschieden: „Mein Herr, Sie würden dem Tode entgegengehen – es ist eine Gewissenssache für mich, Sie nicht fortzulassen.“

„Und für mich ist es eine Ehrensache, zu gehen.“

Dem großmüthigen Streite wurde ein schnelles Ende gemacht. Hinter dem Wagen wurde abermals ein Galopp, diesmal jedoch von mehreren Pferden, laut. Im Augenblick darauf waren drei Reiter am Wagen, und in eben demselben Moment fühlte der junge Gardelieutenant sich umfaßt, nicht zart von warmen, runden, weichen Armen, sondern sehr hart und fest, wie von starken, stählernen Reifen.

„Aber zum Teufel, Herr!“ rief der Lieutenant dem Manne der blassen Frau zu; denn dieser war es, der ihn plötzlich so umarmte. Und der Lieutenant hatte nicht minder kräftige Arme und wehrte sich kräftig damit, allein er konnte sich dennoch nicht losringen. Zu den starken stählernen Reifen kamen die runden, weichen Arme hinzu, und auch sie hatten Kraft. Der arme Lieutenant konnte sich nicht rühren, viel weniger zu seinen Pistolen gelangen, die er unter dem Mantel trug. „Teufel!“ knirschte er mit den Zähnen.

Er war gefangen, er erkannte sich gefangen, denn er war in der Gewalt der Räuber. Und er war so leichtsinnig und so schmählich hineingekommen, und sein Leichtsinn sollte noch mehr bestraft werden!

„Hat er Geld bei sich?“ fragte einer der Reiter, die neben dem Wagen herritten.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete der Mann der blassen Dame.

„Man muß ihn durchsuchen!“

„Er hat nichts,“ versicherte spöttisch Fräulein Angela, von welcher der Lieutenant jetzt vollkommen überzeugt war, daß sie nicht seine Braut, Fräulein Lucina von Eisenring, sei.

„Es ist auch gleichgültig,“ erwiderte der Mann, „wir haben für heute genug.“

„Ihr habt den Fang gemacht?“ fragte das Fräulein.

„Vollständig. Die ganzen zehntausend Thaler!“

Der Räuber, denn daß er das war, darüber konnte man ebenfalls nicht mehr im Zweifel sein, schlug pochend auf seine Taschen. „Was ich einmal will,“ fuhr er dann fort, „das muß ich durchsetzen.“

„Und Glück hast Du dazu,“ lachte das Fräulein.

Die Frau des Räubers seufzte. War sie seine Frau? Der Räuber lachte mit dem schönen Fräulein, trotz dem Seufzer der Frau.

„Und was fangen wir mit ihm an?“ fragte darauf das Fräulein. Sie meinte unstreitig den armen Lieutenant.

„Ich schlage vor –“ erwiderte der Räuber.

„Keine Gewalt!“ rief die blasse Frau, und sie sagte es nicht spöttisch sondern flehentlich bittend aus dem Grunde ihres Herzens heraus.

„Zum Teufel!“ entschied ihr Mann, „bindet ihn und werft ihn zum Wagen hinaus! Konrad, halt!“ befahl er dann dem Kutscher.

Der Wagen hielt, die Reiter saßen ab. Aber wiederum wurde der Galopp von Pferden hörbar.

„Konrad, fort!“ befahl der Räuber im Wagen dem Kutscher.

Er befahl es vergebens. Die drei Reiter neben dem Wagen konnten sich wohl wieder rasch auf ihre Pferde schwingen und in rasender Eile nach verschiedenen Richtungen in den Wald hineinsprengen.

Aber der Wagen konnte nicht mehr vorwärts, denn hinter ihm her und ihm entgegen kam der Galopp der Pferde herangesprengt, und nach den Seiten hin war in dem dichten Walde für das Fuhrwerk kein Weg.

„Springt hinaus, in den Wald!“ rief der Räuber den Frauen zu. Dabei warf er ein Packet mit fort zwischen die Bäume. Er selbst wollte dann zuerst hinausspringen; aber jetzt fühlte er sich gehalten, hart und fest, wie von starken, stählernen Reifen, und die starken Arme des Lieutenants hatten auch noch Kraft, den schönen, runden Nacken des spöttischen Fräulein Angela mit zu umfassen, während er zu der blassen Frau sagte: „Madame –“ gnädige Frau sagte der Gardelieuteuant von gutem Adel nicht wieder – „Madame, retten Sie sich.“

Aber die Frau blieb still sitzen; ein Seufzer drängte sich, freilich schwer genug, wieder aus ihrer Brust hervor.

„Teufel!“ knirschte jetzt der Räuber. Mit einer letzten Kraftanstrengung suchte er sich loszureißen. Vergebens. Der Wagen war von Reitern umringt; ein Theil von ihnen trug Fackeln. Die Fackeln beleuchteten ein interessantes Schauspiel. Um den Wagen herum hielt ein Trupp von zehn bis zwölf Gensdarmen, an ihrer Spitze ein riesiger Wachtmeister. Die Mündungen ihrer gespannten Pistolen waren auf den Wagen gerichtet. Unter der weißen Plane des Wagens saßen zwei schöne junge Frauen und zwei schöne junge Männer. Die eine der Frauen war sehr blaß; sie hatte das schmerzvolle, weinende Gesicht über einen Säugling gebeugt, der in ihren Armen ruhete. Die andere hatte sich dicht in ihren rothen Shawl gehüllt; mit großen, schwarzen Augen blickte sie wie verwundert auf die Gensdarmen. Der eine der jungen Männer saß mit dem schönen, muthigen Gesichte stolz aufgerichtet da. Fritz von Horst konnte stolz sein, denn er hatte den Muth bewiesen, den sein Gesicht aussprach.

Aber der andere junge Mann, der neben ihm saß, hatte ein nicht minder stolzes Aussehen, und auch sein Gesicht war nicht minder schön. Voraus hatte er vor seinem Nachbar einen leisen Spott, mit dem er diesen anblickte. Der Lieutenant hatte dafür eine Ueberraschung. Er wußte auf einmal, wo er mit dem Mann schon in Gesellschaft gewesen war. „Der alte Geistliche!“ hätte er beinahe ausgerufen. „Aber wie hat der Mensch so schnell Maske und Kleidung abwerfen können?“

[179] „Bindet sie,“ befahl der Wachtmeister seinen Gensdarmen.

„Alle, Herr Wachtmeister?“

„Nur die Männer.“

„Auch mich nicht, Wachtmeister,“ erhob sich stolz der Gardelieutenant.

„Und warum nicht?“

„Ich bin der Lieutenant von Horst, von der Garde.“

„Was?“ rief verwundert der riesige Wachtmeister.

Der Räuber aber lachte höhnisch: „Gut gespielt, Kamerad!“

„Ah so!“ sagte da der Wachtmeister. „Bindet sie.“

„Aber ich schwöre –“ rief der Lieutenant.

„Das kann Jeder.“

„Ich habe Papiere.“

„Das Gericht wird sie untersuchen.“

„Aber Wachtmeister –!“

„Will Er schweigen? Voran, Gensdarmen!“

Die Gendarmen banden sie Beide. „Mitgefunden, mitgebunden, mitgegangen, mitgehangen!“ lachte der Räuber, spöttisch und selbstvergnügt. Was ich einmal will, sagte sein Gesicht, das setze ich trotz alledem durch, und noch ist nicht aller Tage Abend.

Am nächsten Morgen nach der erzählten Begebenheit ereignete sich nicht gar weit von dem Schauplatze derselben Folgendes: Ein großes, schönes adliges Schloß war von einem großen, schönen Park umgeben. Hinter dem Schlosse lagen weitläufige Wirthschaftsgebäude. In dem Park war auch ein weitläufiger Gemüsegarten, und neben diesem ein fast nicht minder umfangreicher Obstgarten. Derselbe erstreckte sich bis an eine Allee, die von der benachbarten Landstraße zu dem Schlosse führte. In dem Obstgarten war ein einzelner Mann mit dem Abnehmen von Obst beschäftigt, es waren wunderschöne graue Winterbirnen, die er von einem Baume brach und Stück für Stück sorgfältig in einen unter dem Baume stehenden Korb legte.

Der Mann war eine große, starke Figur; er hatte etwas Edles in seiner Haltung, zugleich aber auch etwas Gedrücktes.

So war auch sein Gesicht. Aber wunderbar, er schien sich weder des einen noch des anderen Ausdrucks in seiner Haltung und in seinem Gesichte bewußt zu sein, und gewiß auch niemals bewußt gewesen zu sein. Es gibt Menschen, die nur zu Niedrigem geboren sind und denen dennoch die Natur in sonderbarer Laune, oder noch öfter vornehme Mütter mit der Hülfe von Tanzmeistern und Kammerjungfern den Ausdruck des Hohen angestrichen haben.

Er war übrigens ein rüstiger Fünfziger, und sehr anständig gekleidet, und bei seiner Arbeit schwitzte er sehr. Das war in dem Obstgarten. In dem Gemüsegarten nebenan zeigte sich ein anderes Bild.

Zwei Damen lustwandelten dort zwischen den Gemüsebeeten, auf denen freilich nur noch die Früchte des Herbstes standen, Rüben und weißer und rother Kohl. Die eine Dame war nicht mehr jung, in der Mitte der Vierzig, sehr klein, sehr rund, mit einem sehr vollen und rothen Gesichte, mit einem außerordentlich gefühlvollen Ausdrucke in diesem Gesichte und mit außerordentlich gefühlvollen langen blonden Locken. Die andere war ein hübsches, frisches, junges Mädchen von achtzehn bis neunzehn Jahren.

„Welch ein herrlicher Octobermorgen, meine theure Lucina!“ sagte die ältere Dame zu der jüngeren.

„Der Morgen ist recht schön, Mutter,“ antwortete die jüngere Dame.

In den beiden Damen begrüßen wir die Landräthin von Eisenring und ihre Tochter Lucina.

„Er ist bezaubernd,“ fuhr die Mutter fort. „Sieh diese klare Sonne; den Nebel der Nacht hat sie überwunden, er kann nur noch langsam, wie ein geschlagener, schwer verwundeter Feind, dort hinten an dem Saume des Waldes herum kriechen. Sie aber, die hehre Siegerin, waltet nun frei, frei rund um uns her. Sich, wie in ihren Strahlen dieser Weißkohl mit dem Weiß des Schnees wetteifert und in welcher Purpurgluth der Rothkohl glänzt! Ja, Lucina, es ist ein bezaubernder Morgen, und wenn ich bedenke, was er uns bringen wird –“ Die Dame unterbrach sich, die Röthe ihres Gesichts wurde dunkler; der gefühlvolle Ausdruck darin wich dem des Zorns. Sie hatte sich nach dem Manne umgesehen, der die Birnen vom Baume brach. „Aber mein Gott, wie geht er mit dem theuern Obste um! Das Stück ist seinen Silbergroschen werth.“ Sie rief dem Manne zu: „Aber vorsichtig, Adalbert. Du mußt die Birnen sachter in den Korb legen.“

Der Mann legte gehorsam die Birnen sachter in den Korb.

Die Dame fuhr zu ihrer Tochter fort: „Ja, meine theure Lucina, eine solche schöne, feine Birne ist ein außerordentlich zartes Wesen, das den harten Druck einer rohen Hand nicht ertragen kann. Sie hat Gefühl, wie ein weiches Frauenherz. Ich fühle das oft in meinem Herzen. Darum begeistere ich mich auch so für die holde Natur. – Aber ich wollte von dem sprechen, was dieser schöne Morgen uns bringen wird. Ach, theure Lucina, mir klopft mein Herz! Wie muß Dir das Deinige erst in süßer Erwartung schlagen!“

„Es schlägt mir etwas ängstlich, liebe Mutter,“ sagte das hübsche Mädchen.

„Aengstlich?“ sah die Mutter verwundert auf.

„Gewiß, Mutter. Wie werde ich ihm gefallen? Wie werde ich einfaches Landmädchen ihn, den Gardeofficier, der in der Residenz, in den ersten Gesellschaften, gar am Hofe gelebt hat, wie werde ich ihn befriedigen können?“

Die Mutter fuhr entrüstet auf. „Gefallen? Befriedigen? Bist Du nicht die reichste Erbin im Lande? Und was hat er?“

Das Fräulein war wirklich ein einfaches Landmädchen. Sie hatte auf die Fragen der Mutter keine Antwort. – Doch ihr Erröthen und ihr betrübter Blick zeigte, daß sie eine Antwort wohl hatte, aber daß sie auch wohl fühlte, ein Kind dürfe der Mutter die Antwort nicht geben.

Die Mutter sprach nicht mehr entrüstet, aber stolz weiter: „Ja, mein Kind, in Betreff des Gefallens und Befriedigens darfst Du völlig unbesorgt sein. Ich habe ihm in sein Zimmer fünftausend Thaler gelegt, mit einem reizenden Billete, worin ich ihn bitte, sie von seiner künftigen Schwingermutter anzunehmen. Und dann erwarte ich jeden Augenblick meinen Amtmann zurück. Er wird mir – da er gerade Geschäfte in der Residenz hatte – von meinem Banquier zehntausend Thaler mitbringen. Sie sind gleichfalls für Deinen Verlobten bestimmt. Er mag mit dem Gelde anfangen, was er will. Da wird das Gefallen schon kommen, und was das Befriedigen betrifft, so – ach Kind, funfzehntausend Thaler für einen armen Lieutenant! Dieser wenigstens hat in seinem Leben so viel Geld noch nicht beisammen gesehen.“

Das junge Mädchen erröthete tiefer, aber sie schwieg auch jetzt.

„Ich bin nur neugierig,“ fuhr die Landräthin fort, „was er mit dem Gelde machen wird.“

Da wurde Fräulein Lucina lebhaft. „Er wird es seiner Mutter geben, sie ist arm.“

Aber die Landräthin sah mehr als verwundert auf. „Ich bitte Dich, Lucina! Als Dein Bräutigam muß er schon jetzt ein reiches Leben führen. Ich hoffe, er wird sich Equipagen anschaffen, Bedienten halten in glänzenden Livreen, eine Bibliothek, alle Klassiker in Prachtbänden –“ Die Dame unterbrach sich wieder.

„Aber Adalbert,“ rief sie eifrig zu dem Mann hinüber, der das Obst sammelte, „der Korb ist ja voll. Jede Birne, die Du noch hineinlegen würdest, kann herausfallen. Rufe jetzt die Träger.“

„Soll ich sie nicht rufen, Mutter?“ bat die Tochter.

„Nein, Du leistest mir Gesellschaft.“

„Du hast Recht,“ hatte der Mann schon gehorsam gesagt, und er wollte sich auf den Weg machen, die Träger zu holen.

Er wurde aufgehalten, und auch die Landräthin, folglich auch ihre Tochter, setzten ihre Promenade nicht fort. Alle wandten ihre Blicke einem Gegenstände zu, der auf einmal ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. In der Allee, welche das Gut des Landraths von Eisenring mit der vorbeiführenden Landstraße verband, war ein mit einer weißen Plane bedeckter Wagen erschienen, den drei berittene Gensdarmen begleiteten. Einer von diesen ritt vor dem Wagen; die beiden anderen ritten zu den beiden Seiten.

Der Wigen fuhr auf das Schloß zu.

„Was mag denn das sein?“ fragte sehr neugierig der Mann, der die Birnen gesammelt hatte.

„Weiß ich es?“ erwiderte die ältere Dame. Auf einmal schien sie sich jedoch zu besinnen. „Ach! der Kreissecretair theilte mir gestern mit, man habe Nachricht von einer Räuberbande erhalten, die plötzlich in der Gegend erschienen sei.“

„Eine Räuberbande!“ rief erschrocken der Mann.

„Ich wollte, Du unterbrächst mich nicht. In Folge dessen sind alle Landrathsämter der Nachbarschaft aufgefordert, sofort in [180] der Nacht durch sämmtliche aufzubietende Gensdarmerie Streifpatrouillen zu veranstalten, besonders auch im Walde dort. Sollten sie schon einen Fang gemacht haben, den sie hierher bringen?“

„Du magst wohl Recht haben,“ sagte gehorsam der Mann.

Der Wagen war näher gekommen. Der an der Spitze des Zuges reitende Gensdarm hatte die beiden Damen und den Mann gesehen. Er ließ den Wagen halten und ritt auf sie zu. Sie standen nur wenige Schritte von der Allee. Er grüßte militairisch.

„Herr Landrath –“ hob er an.

Der Mann, der die Birnen gesammelt, aber von der landräthlichen Expedition nichts gewußt hatte, war also der Landrath selbst, also der Gemahl der kleinen runden Dame mit den gefühlvollen blonden Locken, also auch der Vater ihrer hübschen Tochter Lucina.

„Herr Landrath,“ hob der Gensdarm an, „ich melde, daß dem erhaltenen Befehle gemäß heute Nacht im Walde patrouillirt ist, und daß es auch gelungen ist, vier Subjecte einer Räuberbande einzufangen, leider freilich erst, nachdem sie den Postwagen, der in der Nacht den Wald passirte, überfallen und ausgeplündert hatten.“

„Ausgeplündert?“ rief erschrocken die Landräthin.

„Zu Befehl, gnädige Frau, rein ausgeplündert.“

„Meine zehntausend Thaler! War der Amtmann im Wagen?“

„Der Herr Amtmann waren mit mehreren anderen Reisenden im Wagen, und sind mit ausgeplündert worden.“

„Mein Geld! Mein Geld! Hat man es wieder bekommen?“

„Darüber kann ich der gnädigen Frau nichts melden.“

„Und die Spitzbuben bringen Sie?“

„Nur drei, gnädige Frau. Der vierte, der gefährlichste, mußte allein transportirt werden. Er folgt nach.“

„Und nicht meine zehntausend Thaler?“

„Vielleicht kann der Herr Wachtmeister Auskunft darüber geben, der später nachkommen wird. Er hat die Verhaftung vorgenommen. Meine Kameraden hier und ich haben von ihm nur den Befehl dieses Transportes erhalten.“

Die Landräthin schöpfte Hoffnung. „Liefern Sie die Räuber an den Kreissecretair ab,“ befahl sie dem Gensdarmen.

Der Gendarm ritt zu dem Wagen zurück. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung nach dem Schlosse hin, in welchem sich auch das landräthliche Bureau mit dem Kreissecretair befand. Als er an den beiden Damen und dem Landrathe vorbeifuhr, blickte unter der weißen Plane munter und keck ein bildschönes Frauengesicht heraus, mit rabenschwarzen Locken, die aus einem seidenen Capuchon hervorquollen, und mit einem blendend weißen Nacken, den ein zurückgefallener rother Shawl sehen ließ.

Das Fräulein Lucina erschrak bei dem Anblicke. „Mein Gott, Mutter, eine Dame! Und wie schön sie ist! Und Räuberin!“

Da wurde auch das Gesicht der Landräthin wieder gefühlvoll, alte, süße Erinnerungen tauchten in ihr auf. „Ach, Lucina, in meiner Jugend lasen wir Räubergeschichten von Rinaldo Rinaldini, dem Hecheln- und Mausefallenkrämer – jetzt sind sie nicht mehr Mode. – Aber Adalbert, rufe jetzt die Träger, damit die Birnen in’s Haus kommen. Laß nur keine aus dem Korbe fallen. Ich sehe unterdeß nach dem Wachtmeister aus, ob er bald mit dem vierten Räuber und mit meinem Gelde kommt – ach, meine zehntausend Thaler! Und auch nach Deinem Verlobten, meine theure Lucina. Himmel, da fällt mir ein, nach dem Briefe seiner Mutter muß er sich mit in dem überfallenen Postwagen befunden haben, der arme Mensch!“

„Der arme Fritz!“ sympathisirte diesmal die Tochter mit der Mutter. „Wenn ihm nur kein Unglück begegnet ist!“

„Ein junger Lieutenant hat immer Glück,“ versicherte die Mutter. „Ich hoffe daher auch, er hat bei diesem Ueberfalle Gelegenheit gefunden, seinen Muth zu zeigen.“

„Er soll sehr muthig sein, Mutter!“

„Alle Damen nennen ihn einen Helden.“

„Und auch hübsch, Mutter!“

„Man hat noch keinen reizenderen Officier in der Garde gesehen. “

„Ach, Mutter, ich bin doch ängstlich!“

„Kind, die fünfzehntausend Thaler –! Ach, wenn ich die zehntausend nur wieder hätte! Aber wenn man die Räuber hat, muß man ja auch das Geld haben.“

„Wenn er mich nur lieben wird, Mutter! –“

Das Gespräch der beiden Damen wurde unterbrochen. Vom Schlosse her kam hastig ein Bedienter herbeigeeilt. „Der Herr Kreissecretair läßt die gnädige Frau unterthänig bitten, sich schleunigst zum Schlosse bemühen zu wollen; es habe sich etwas ganz Außerordentliches zugetragen.“

Die Dame hatte im ersten Augenblicke wohl zürnen wollen, daß der Kreissecretair sich nicht zu ihr herausbemühe. Aber die große Dringlichkeit und Außerordentlichkeit imponirten ihr. Sie folgte dem Diener zum Schlosse, und Fräulein Lucina mußte sie begleiten. – An und in dem Schlosse hatte sich unterdeß Folgendes ereignet. Aus dem haltenden Planwagen hatten die Gensdarmen zuerst eine schöne Dame aussteigen lassen, welche sich munter und keck nach allen Seiten umsah. Ihr folgte eine blasse junge Frau mit einem Kinde im Arme, die kaum aufzublicken wagte. Ein Executor des Landrathsamtes führte beide Frauen ab. Aus dem Wagen kam dann ein bildschöner junger Mann, dessen beide Hände gefesselt waren; er sprang dennoch leicht und behend aus dem Wagen, und als er auf dem Boden stand, schaute er mit den lebhaften Augen so stolz und mit dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen so übermüthig umher, als wenn er sich eine Herrschaft ansehe, in der er künftig regierender Herr sein solle. „Führen Sie mich sofort zur gnädigen Frau,“ sagte er befehlend zu dem Gensdarmen.

Der Gensdarm aber war nicht der Mann, der sich von seinen Arrestanten befehlen ließ. „Zum Arrest!“ sagte er trocken.

Der junge Mann verlor seinen Muth und seinen Uebermuth nicht. „Zum Teufel, zum Kreissecretair dann!“ rief er.

Darüber konnte der Gensdarm sich besinnen, und er führte den Gefangenen in das landräthliche Bureau zu dem Kreissecretair.

„Herr Kreissecretair, ich rapportire, daß wir drei Subjecte von der Räuberbande hierher transportirt haben; zwei Frauenzimmer und eine Mannsperson. Die Frauenzimmer sind an den Executor abgeliefert. Dieser Mensch wollte zu der gnädigen Frau gebracht werden.“

Ein Landrath ist mitunter auch ein adliger Herr, der Birnen auflesen und seiner Gemahlin gehorchen kann. Der Kreissecretair versieht dann das Uebrige des landräthlichen Dienstes.

Der gnädigen Frau muß freilich auch er gehorchen.


(Schluß folgt.) )




Bilder vom Nil.
Von Dr. A. E. Brehm
II. Ein Kafeehaus in Kairo.


„Schwarz, doch lieblich ist der Kaffee, wie das Mägdlein, das braune,
Welches bei Tage den Sinn erheitert, bei Nacht aber den Schlaf scheucht,
lieblicher noch ist der Tabak und wahres Bedürfniß dem Manne,
Der mit den Wolken des Rauchs die Wolken der Sorge hinwegbläst.“ –

So singt ein alter, arabischer Dichter von Kaffee und Tabak, den beiden Lebensbedürfnissen der Männer des Morgenlandes. Es liegt ein eigner Sinn in der Bitte des Arabers, welcher einen am Wege sitzenden Raucher mit den Worten angeht: „Ja achui etíni schwëet neffis“ – „Mein Bruder gib mir etwas Seele.“ Jedenfalls ist Das echt arabisch gedacht: denn wie der Kaffee nach arabischen Begriffen das einzige Getränk ist, welches den sterblichen Leib so recht eigentlich erquicken kann, betrachtet man den Tabak, [181] dessen Genuß durch den Rauch gleichsam vergeistigt wird, als die einzige Erfrischung des Geistes. Beide Genüsse stehen außerordentlich hoch in den Augen aller Mahammedaner, und so ist es kein Wunder, daß nicht blos in allen Städten, sondern auch in allen Dörfern sich Räume finden, in denen Leib und Seele erquickt werden können.

Dazu kommt nun noch, daß der Morgenländer die Freuden der Geselligkeit und Häuslichkeit nur in geringem Maße kennt. Sein geselliges Umgehen beschränkt sich blos auf das eine Geschlecht: der Mann ist von der Vereinigung der Frauen ebenso streng ausgeschlossen, als die Frau von einer Versammlung der Männer. Ein männlicher Gast, der in einem Hause einspricht, wird von dem Hausherrn im Diwahn, ein weiblicher von der Herrin des Hauses in, Harehm empfangen, und selten nur weiß der andere Theil, wenn der eine Gatte Besuch empfangen hat, oder scheint es wenigstens nicht wissen zu wollen. Mit dieser sorgsam beachteten Sitte

Kaffeehaus in Kairo.
Nach einer Photographie.

fällt ein großes Stück des Lebens hinweg, und die Gastfreundschaft, diese dem Mahammedaner so heilige Tugend, gelangt eigentlich gar nicht zur Vollblüthe. Selbst in der Familie ist der Umgang beider Geschlechter auf eine gar geringe Zeit beschränkt; denn Mann und Weib genießen sich nur dann, wenn sich der Eheherr im Harehm befindet.

Wir Abendländer würden uns unter solchen Umständen schadlos zu halten suchen. Wir haben unsere Wirthshäuser, unsere so beliebten Stammkneipen, unsere Bierwirthschaften, Weinstuben und andere derartigen Anstalten und würden eben nicht lange in Zweifel bleiben, wohin wir uns zu wenden haben, um uns zu erholen, oder mit andern Worten ein Stückchen Zeit todtzuschlagen. Der Mahammedaner, wenigstens der strenggläubige, hat keine Kneipe und muß sich anderweitig zu entschädigen suchen. Wenn auch Hafis, der Süßmundige, des Wortes der Propheten vergessend, das Weinhaus in seinen Liedern hocherhebt und auf die Narrethei der Kuttenträger weidlich schimpft, weil sie den süßen Saft der Trauben und die Freuden, die er dem Menschen zu bieten weiß, als Teufelswerk betrachten und alle gläubigen Adamssöhne vor diesem, der tiefsten Hölle Entstammten, väterlich warnen; oder wenn Harihri von Bisra mit gleichberedtem Munde des Wirthshauses oder der Schenke Freuden besingt: solche Freigeister gelten als dem Teufel mit Haar und Haut, Leib und Seele Anheimgefallene und sind dem wahren Gläubigen ein Gräuel ohne Gleichen. Uebrigens glaube ich, daß die morgenländischen Dichter nicht einmal Erfahrenes besingen, sondern mehr die Träume ihrer regen Einbildungskraft wiedergeben, wenn sie so frevelhafte Worte niederschreiben, wie Harihri:

„Denn Wein ist der Glättstein
Des Trübsinns, der Wetzstein
Den Stumpfsinns, der Bretstein
Des Sieges im Schach.
Ja, Wein ist der Meister
Der Menschen und Geister,
Der Feige macht dreister,
Und stärket was schwach;
Der Krankes gesund macht,
Hohlwangiges rund macht,
Verborgenes kundmacht,
Und Morgen aus Nacht.“

Man ist auch geneigt, solche Lieder, obgleich man sie als Frevel betrachtet, dem liebenswürdigen Frevler zu verzeihen, und lebt der festen Meinung, daß er vor seinem Ende noch mit gläubiger Seele die Alles sühnende Glaubenswort: „Es gibt nur einen Gott und Mahammed ist sein Prophet!“ mit seinem letzten Seufzer verhaucht und sich dadurch das begründetste Recht erworben haben wird, im Paradies mit den schönsten Huris Becher auf Becher des besten Weins zu leeren.

Der strenge Gläubige meidet alle den Leib berauschende Genüsse; denn „das Gegohrne“ ist ihm verboten. Aber seine Seele darf er tränken lassen und seinen Leib erfrischen mit Dem, was Gesetz und Sitte geheiligt hat; darum geht er mit Lust nach dem einen Orte, welcher dieses erlaubt, wenn er nach des Tages Last und Mühe der süßen Ruhe des Leibes und der Erholung der Seele pflegen will: nach dem Kaffeehause.

[182] Ein arabisches Kaffeehaus ist freilich ein ander Ding, als ein europäisches. Ihm fehlt der äußere Glanz, der unnütze Schmuck, welcher die unsrigen kennzeichnet. Sein Werth liegt tiefer. Selbst in den größten Städten darf man sich unter einem Kaffeehause nur einen höchst einfachen Raum denken, mit dessen Ausschmuck keineswegs Luxus getrieben worden ist. In den besuchtesten Straßen Kairos sieht man es einem Kaffeehanse nur durch die vor demselben stehenden, höchst einfachen, aus Palmenblattstielen zusammengebauten Sitzbänke an, daß es ein Kaffeehaus ist, und das Innere desselben ist nichts mehr und nichts weniger als eine einfache Halle, in deren Ecke der Heerd sich befindet und um welche rings herum breite, selten mit Polstern belegte Steinbänke laufen. Ein Springbrunnen in der Mitte des Hauptraumes, geweißte Wände, geschnitzte Fenster oder gar jene tropfsteinähnlichen Gypsgehänge, die sich zu wunderlichen Kuppeln an der Decke wölben, sind sehr seltne Ausnahmen. Sehr häufig ist das Kaffeehaus eine Hütte, so erbärmlich, so zerfallen, daß man kaum wagt, sie zu betreten; nicht selten ist es weiter nichts, als ein Heerd, um welchen Bänke stehen, unbegrenzt von Wänden oder Mauern und überdacht vom blauen Himmel allein. Aber Dem mag sein, wie ihm wolle: sein Werth beruht nicht auf äußerem Schein, sondern liegt tiefer. Der Morgenländer findet Das im Kaffeehause, was er sucht, nämlich Erholung und Erquickung für Leib und Seele; vor Allem aber findet er wirklichen, unverfälschten Kaffee, der mit dem Schandgebräu, welches uns unter demselben Namen in deutschen Kaffeehäusern vorgesetzt wird, auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit hat. Ich glaube, daß es mancher Leserin, selbst einer solchen, die die Bohnen zu den Tassen gewissenhaft abzählt, lieb sein dürfte, wenn ich hier mit ein paar Worten zu beschreiben versuche, wie wirklicher Kaffee bereitet wird; denn – zu meiner großen Schande sei es gesagt – ich bin durch meine Reisen im Morgenlande ein so großer Barbar geworden, daß ich das deutsche Gebräu noch immer nicht als Kaffee anerkennen kann. Kaffee wird bereitet aus den besten Bohnen, in den vornehmeren Kaffeehäusern aus denen, welche in der Gegend von Mocha gewachsen sind. Niemals werden mehr Bohnen gebrannt, als den Tag über verbraucht werden sollen. Die gebrannten Bohnen werden nicht gemahlen, sondern zu dem feinsten Pulver gestoßen, welches durch die engsten Maschen eines Haarsiebes hindurch gehen kann. Von diesem Pulver rechnet man auf eine unserer Tassen fünf gehäufte Theelöffel! Wenn man nun zu kochen versteht wie ein arabischer Kaffeebereiter, erhält man sicherlich ein gutes Getränk.

Wie aber bereitet der Araber diesen Kaffee? Treten wir ein in ein Kaffeehaus, um Dies zu erfahren. Am Heerde steht der Wirth, jedes Winkes seiner Gäste gewärtig. Große, blankgeputzte Kupferkannen stehen vor ihm über dem Feuer. In ihnen siedet das Wasser, welches der Mann verwenden will. Auf Bänken und Matten, die über dem Boden gebreitet sind, sitzen und kauern die Gäste, die einen spielen Schach, die andern schwatzen vertraulich; wieder andere vergnügen sich einzig und allein mit dem langen Tschibuk oder schlürfen den geläuterten Rauch der Tschische oder Wasserpfeife, welche oft nur aus einer ausgehöhlten Kokusnuß mit Mundstück und Kopfaufsatz besteht.

„Friede sei mit Euch!“

„Mit Dir sei der Friede des Allbarmherzigen; sei willkommen, Fremder, nimm vorlieb!“

Der Ehrenplatz wird leer, und wir säumen nicht, auch dieses Zeichen der Gastfreundschaft dankbarlichst anzuerkennen.

„Eine Tafle Kaffee!“

„Bei meinem Kopf und bei meinen Augen, Herr, sogleich.“

Und augenblicklich nimmt der Mann von den vielen langgestielten, Kupferkännchen, welche von 1/5 bis zu 2 Tassen unseres Maßes fassen dürften, dasjenige, welches genau so viel Wasser aufnehmen kann, als er zu dem Kaffee nöthig hat, den wir bedürfen, füllt es mit dem bereits kochenden Wasser an und schiebt es in die glühenden Kohlen, ohne den langen Stiel aus seiner Hand zu lassen. Einen Augenblick später siedet das in ihm enthaltene Wasser, und der „Khahwedji“ thut nun die nöthige Anzahl gehäufter Löffel des Pulvers in das Kännchen, rührt das Pulver gehörig um, bringt es wieder auf das Feuer, läßt es noch einmal aufkochen, nimmt die nöthige Anzahl jener kleinen Täßchen, geht auf uns zu, reicht Jedem von uns ein Täßchen und füllt es mit dem schäumenden duftigen Getränke, in welchem das feine Pulver sich gleichsam aufgelöst hat. Der Trank ist bitter, aber so köstlich, wie er nur immer fein kann, und wer einmal in seinem Leben solchen Kaffee getrunken hat, dem widersteht der unsrige für immer. Das kann ich versichern, obgleich ich nicht umhin gekonnt habe, mit saurer Miene schon manche Tasse schlechten Kaffee zu loben.

Auf den Kaffee folgt die Pfeife. Den Tschibuk führt der Morgenländer, oder vielmehr sein Diener, bei sich, die Tschische besitzt der Wirth in hinreichender Anzahl. Er versteht sich auch meisterhaft darauf, den in ihr zu verwendenden Tabak zu reinigen, einzuweichen und die feucht Masse dann in Brand zu setzen, und bringt das Geräth uns eigenhändig, das Mundstück, welches eben an seinen Lippen hing, mit der harmlosesten Miene von der Welt an seiner Hand oder seinem Rockärmel abwischend, um es uns appetitlich zu machen. Das Knattern und „Quallern“ unserer Tschische verstärkt nur die gemüthliche Rauchmusik, welche in dem Kaffeehause herrscht; niemals entwickelt sich ein so unerträglicher Qualm, wie wir ihn in unseren Kaffeehäusern zu ertragen gewöhnt sind: der wohlduftige Rauch, welcher aus dem Kopfe des Tschibuk’s oder der Tschische aufsteigt, schwimmt vielmehr in leichten Wölkchen durch die offenen Fenster in die Straße hinein und würde auch, wenn er das Zimmer erfüllte, nimmermehr zugleich jenen unerträglichen Gestank unserer Cigarren mit sich bringen. Da lernt man sich wohlfühlen in kurzer Zeit und empfindet bald eine Behaglichkeit, welche mit Nichts verglichen werden kann.

Gewöhnlich geht es ziemlich still her im Kaffeehause. Es bilden sich bestimmte Gruppen, und Jeder spricht in der ruhigernsten Weise der Morgenländer, ohne viel Geräusch und Lärm zu verursachen. Zudringliche Hausirer oder arme Bettler treten selten in das Innere ein, um die Gäste zu behelligen, und selbst diese sind ziemlich schweigsam. Allein es gibt schon Zeiten, wo das Kaffeehaus ein anderen Leben gewinnt. Das ist vorzüglich im Fastenmonate Ramadtahn, in welchem der Gläubige die Nacht zum Tage macht, ohne doch den Tag in Nacht umwandeln zu können, wie er es gern thun möchte. Sein Gesetz gebietet ihm, zu fasten, von dem Augenblicke an, wo der erste Rand der Sonnenscheibe über den Gesichtskreis sich erhob, bis zu dem, an welchem der letzte im Sande der westlichen Wüsten versunken ist. Das ist ein schweres Stück Arbeit, und es gehört ein recht gläubiges Gemüth dazu, um die Kasteiung des sterblichen Leichnams nicht allzuschwer zu empfinden! Nun gibt es unter den Mahammedanern, wie unter uns, Strenggläubige, die das starre Wort eben so festhalten, wie unsere Rechtgläubigen: sie versagen sich während des Tages nicht nur das Essen und Trinken, sondern sogar den Genuß des Rauchens; sie halten es für eine Sünde, die Zahnbürste anzuwenden, welche sie sonst immer bei sich führen, oder an einem Halme zu kauen, um hierdurch die Speicheldrüsen zu nöthigen, den vertrockneten Gaumen zu befeuchten.

Wenn sie nun nach der durchschwelgten Nacht, da sie keine geistigen Getränke zu sich nehmen, auch nicht gerade von einem so echt zünftigen, abendländischen Katzenjammer befallen werden, leiden sie doch in ihrer Weise noch mehr als Einer, welcher von jener Plage heimgesucht wird, und sehen auch wirklich so katzenjämmerlich-elend aus, daß den mitfühlenden Menschen – zu welchen ich mich rechne – das Herz in der Brust weh thut. Wenn dann der Abend herannaht, welcher Erlösung bringen soll von der Qual des Tages, da sammelt sich in und vor dem Kaffeehause eine bunte Schaar. Langsam kommen die ehrwürdigen, ihre Gläubigkeit im Gesicht tragenden Gestalten angeschlichen; schwankenden Schrittes bewegen sie sich so schwach und erbärmlich, daß man fürchtet, sie hinfallen zu sehen; mit einem Seufzer lassen sie sich auf eine der Bänke fallen, mit einem Seufzer blicken sie nach oben; seufzend antwortet der Khahwedji, welcher das Feuer zur hellen Gluth anfacht und nur in dem Singen der Kanne über demselben einigen Trost zu schöpfen scheint. Er bereitet Alles vor, für den rechten Augenblick; denn jede Minute ist jetzt kostbar, jede qualvoller, als früher eine Stunde. Aller Augen sind nach dem Minaret gerichtet oder, wenn man dieses nicht sehen kann, nach dem Gesicht Dessen, welcher eine Taschenuhr besitzt.

Lissa ja achui?“ – „noch nicht, mein Bruder?“ – ist die schüchterne Frage eines nicht so Glücklichen, – „lissa!“ – „noch nicht!“ – die bedauernde Antwort. Endlich scheint ein Freudenstrahl über die Gesichter zu gleiten. „Fatal tekitein ja achuana!“ – „es fehlen noch zwei Minuten!“ „El hamdu lallahi!“ „Gott [183] sei Dank!“ – mit diesem Seufzer erleichtert sich die Brust. Wie bleiern schleicht die Zeit dahin, wie lange währen die zwei Minuten! Nochmals fragt einer: „Lissa?“ und wieder antwortet der Uhrenbesitzer, welcher das kostbare Werkzeug mit kindischer Besitzfreude betrachtet: „Lissa!“ Da mit einem Male ertönt hoch vom Minaret herab: „La il laha Allah, Mahammed rassuhl Allah!“ und von der Feste herab rollt ein Kanonenschuß über die Stadt. Man hört nur das eine Wort: „Allah!“ es sagt Alles; es übertrifft an Inhalt die gelehrtesten Auseinandersetzungen des gelehrtesten Professors; es spricht beredter, als die redseligste alte Jungfrau jemals sprechen kann; es ist ein feuriges Dankgebet, das aus dem tiefsten Herzen stammt, ein rosiger Hoffnungsstrahl, der in die verschmachtete Seele fällt. „Allah!“ Alle haben es gehört, Alle haben es nachgeseufzt, nur nicht der Kaffeewirth, denn er hat keine Zeit dazu. In dem größten Kännchen, welches er besitzt, hat er wohl zwanzig Täßchen Kaffee bereitet. Der flinkeste der Gäste erbietet sich, dieselben auszutheilen, und empfängt dafür die erste Tasse. Und nun eilen Beide, schnellfüßig wie Gazellen, von einem Gaste zum andern, um seinen Leib zu erfrischen; denn die Seele schwelgt bereits im Genusse aller möglichen Arten von Pfeifen, welche schon vor dem Kanonenschuß gestopft und angebrannt wurden. Manche greifen zuerst nach dem neben Jedem stehenden Wasserkruge; bei weitem die Mehrzahl aber bemeistert sich und wartet lechzenden Mundes auf die Tasse Kaffee. Diese und noch eine wird getrunken und wieder eine, und freudig blitzen die Augen, kräftig erhebt sich die Brust, federnder wird der Schritt, lebendiger jede Bewegung. Dann geht man zunächst nach Hause, um ordentlich zu essen; bald aber kommt man wieder, und das Kaffeehaus füllt sich bis auf den letzten Platz. Von dem schlanken Thurme herab flimmern und blitzen die Gürtel der brennenden Lampen; in den Straßen leuchten die buntfarbigen Laternen; im Kaffeehaus ist es hell und licht, trotz der schlechten Beleuchtung. Alles ist im eifrigen Gespräch, es summt wie in einem Bienenkorbe.

Da, mit einem Male, wird es still. Ein einfacher, schlichter Mann tritt langsam und würdevoll herein, nach allen Seiten hin den Gruß des Friedens spendend, und von allen Seiten ihn verschönt zurückerhaltend. „Khahwēdji, eine Tasse Kaffee!“

„Bei meines Vaters Haupt, sogleich, Du Gesegneter, Du Süßmundiger!“

Und bedächtig schlürft der Ankömmling die Tasse; dann aber beginnt er leise und eindringlich zu sprechen. Doch die Rede steigert sich mehr und mehr; lebhafter werden seine Bewegungen, glühender wird sein Blick, emsig und geschäftig webt er Blüthe auf Blüthe in das wunderbare Mährchennetz, welches er weiter und weiter spinnt. Kein Laut ist hörbar, Alles lauscht regungslos.

„Preist den Propheten, meine Brüder!“

„Wir preisen ihn nach Allah, dem Erhabenen!“

„Seine Gnade sei mit uns für und für!“

„Amen, o du Gesegneter!“

„Meine Brüder! Wißt, man erzählt sich, daß in alten Zeiten in der Begnadigten und Bewahrten, Siegreichen und Siegenden, in Kahira, unserer Mutter und der Mutter der Welt, ein Mann lebte, mit Namen Aali, des Glaubens Leuchte, welchen der Höchste hoch begnadigt hatte auf Erden – – –“

Die tiefste Stille ist eingetreten; die Wolken des Rauchs kräuseln sich sparsamer um die Häupter der Gegenwärtigen; denn das Mährchen hat zu reden begonnen durch seines Hohenpriesters Mund. Und wenn dann dieser selbst vergißt, daß er der Redende ist; wenn er nur noch als Werkzeug des in ihm dichtenden und schaffenden Geistes erscheint; wenn dem Hörenden seine bärtigen Lippen so rosig zu sein dünken, wie die einer Jungfrau; wenn er fort und fort Perlen verstreut, die in der Muschel des Ohres sich zum Geschmeide schnüren; wenn der glühendste Gedanke im schimmernden, überwältigenden Wort zu Tage tritt; wenn jeder der Zuhörer arbeitet und kämpft, um in seiner hochaufklopfenden Brust den Jubelruf der Befriedigung, das Aufjauchzen der berauschten Seele zu unterdrücken: dann schreitet sichtbarlich ein Genius mit goldnen Flügeln und in leuchtendem Gewande durch den einfachen Raum und gibt diesem Leben, Frische, Glanz und Schimmer, wie sie das prächtigste Kaffeehaus der reichsten Stadt der Erde nicht kennt; denn jener Genius, die Dichtung, ist hundertfach lebendig geworden und jubelt auf in Klang und Reim.

Das ist ein morgenländisches Kaffeehaus, und dies der Zauber, mit welchem es den Verstehenden zu bannen weiß. Was thut dabei der Raum?! Er ist vollkommen gleichgültig. Gerade die Kaffeehäuser ohne jeglichen äußeren Schmuck, die aus dem Stegreife erbaueten, wie wir sie nennen möchten, sind oft die alleranziehendsten, weil sie voller Dichtung und Leben sind.




Aus den Sprechstunden eines Arztes.

Nr. IV.

Wer als Patient zu einem gebildeten und gewissenhaften Arzte in die Sprechstunde geht, der sei darauf gefaßt, daß nicht blos gesprochen, sondern daß sein Körper, und zumal der leidende Theil, auch gehörig untersucht (besehen, befühlt, beklopft, behorcht) wird. Geschieht dies von Seiten des Arztes nicht, werden die Patienten von demselben blos ausgefragt und dann mit einem Recepte oder einem Pülverchen heimgeschickt, da ist man in die Hände entweder eines unwissenden oder eines gewissenlosen Heilkünstlers gerathen. Den meisten Frauen mit ihrem Schnürleibchen und ihrer Crinoline gefällt’s freilich, wenn ihnen der Arzt nicht zu nahe kommt und ihre Toilette nicht ruinirt, sie nennen das „Zartsein“ und den Arzt einen „artigen feinen Mann“. Die Thörinnen! Bei dieser Zartheit des artigen Doctors oder auch bei ihrer kindischen Schamhafigkeit siechen sie gar nicht selten trotz alles Curirens und Badens (in Ems, Marien- und Franzensbad, Pyrmont und in der See) allmählich an solchen Uebeln hin, die bei ordentlicher Untersuchung und bei richtiger örtlicher Behandlung in wenig Wochen vollständig geheilt worden wären.

Es ist übrigens ganz inconsequent von der Gesetzgebung, daß in unserer Zeit, wo doch so Vieles bestraft wird, zumal und ganz mit Recht die Vergehen gegen das Leben, die Gesundheit und das Eigenthum unserer Mitmenschen, trotzdem manchen Heilkünstlern gestattet ist, den Gesetzen der Wissenschaft geradezu zum Hohne, Kranken offenbaren Nachtheil an Leben und Gesundheit zuzufügen. Ist es denn nicht so gut wie Mord, wenn homöopathische Heilkünstler bei heftigen Unterleibsbeschwerden den Bauch des Kranken ununtersucht und eingeklemmte Brüche, die auf mechanische Weise recht leicht zurückgebracht und dadurch ungefährlich gemacht werden können, bei Darreichung ihrer Pülverchen (= Nichts) ganz ruhig in Darmbrand und Tod endigen lassen? Ist es ferner nicht verbrecherisch, örtliche Leiden, die nur durch örtliche Behandlung gehoben werden können, durch innere homöopathische (also nichtsnutzige) Mittel curiren zu wollen und den armen Kranken oft jahrelang ihre Gesundheit vorzuenthalten? Sollte es nicht auch strafbar sein, wenn homöopathische Heilkünstler solche Beschwerden, gegen welche die Wissenschaft wirklich heilsame Mittel besitzt, durch eine ganz unwissenschaftliche Behandlung nicht nur nicht heben oder lindern, sondern sich im Körper einbürgern und die Gesundheit für immer untergraben lassen? Am schimpflichsten ist aber das Gebahren derjenigen Aerzte, die, ohne den Kranken gesehen und genau untersucht zu haben, blos aus der Entfernung an demselben herumcuriren und wohl gar dabei theuere Geheimmittel anwenden.

NB. Also verschone man doch endlich einmal den Verf. mit der Zumuthung, brieflich ärztlichen Rath ertheilen zu sollen.




Der Pseudo-Hämorrhoidarius.

„Mein Uebel, lieber Herr Doctor, was mich schon seit ziemlich zehn Jahren peinigt und trotz der verschiedenartigsten Behandlungen von Seiten der gesuchtesten Aerzte (die mich, beiläufig gesagt, schon viele Tausende kosten) von Tag zu Tag immer schlimmer wird, ist [184]hämorrhoidalisch“, und damit, sowie mit diesem Stoße von Recepten, habe ich Ihnen hoffentlich Alles gesagt.“

„Nein! damit haben Sie mir gar nichts gesagt! Denn unter „hämorrhoidalisch“ verstehen die Laien und leider auch die meisten Aerzte die verschiedenartigsten Uebel und Beschwerden und zwar an den verschiedensten Stellen des Körpers. – Ich muß Sie deshalb bitten, mir Ihre Leiden in einfacher Sprache, ohne medicinische Phrasen, zu beschreiben.“

„So hören Sie. Ich war in meiner Jugend „scrofulös“ und später sehr zu „rheumatischen“ –“

„Halt, mein Herr! Das geht nicht. „Scrofulös“ ist der Popanz, dem so ziemlich Alles in die Schuhe geschoben wird, was Kindern nur immer passirt; scrofulös werden ebenso Kinder mit blonden Haaren, blauen Augen, dicker Nase, dicker Lippe und dickem Bauche, wie auch abgemagerte, krummbeinige und rothäugige Grindköpfe mit dunkeln Haaren genannt; scrofulös heißen in der Kindheit alle langwierigen Hautausschläge, Gelenkleiden, Augenübel, Verdauungsstörungen, Drüsenanschwellungen u. s. w. Und was Ihr „rheumatisch“ betrifft, so ist das im Munde des Laien auch nicht mehr werth, als wie „schmerzhaft“, und daraus kann sich der Arzt nichts entnehmen. Lassen wir vorläufig Ihre Vergangenheit, und nennen Sie mir Ihre hauptsächlichsten Beschwerden, von denen Sie eben jetzt heimgesucht werden.“

„Nun! da muß ich denn damit anfangen: ich bin sehr „nervös.“

„Das verstehe ich nicht! „Nervös“ nennen sich auch viele Damen, wenn sie sich aus Aerger, Eifersucht, Launenhaftigkeit u. s. f. so gebehrden, daß man sie richtiger „ungezogen“ nennen sollte. Könnten Sie mir denn nicht mit schlichten Worten etwa sagen, ob Sie irgendwo Schmerzen haben, ob Ihnen was im Kopfe oder sonst wo fehlt, ob das Athmen behindert oder die Verdauung gestört ist?“

„Das ist Alles nicht der Fall. Ich verliere nur sehr viel Blut mit dem Stuhle und bin –“

„– Und sind deshalb Hämorrhoidarius? Gut, daß ich endlich das wenigstens ans Ihnen heraus habe. – Hoffentlich sind Sie doch von Ihren früheren Aerzten genau (d. h. an der blutenden Stelle) untersucht worden, ehe Sie die vielen Arzneien schlucken und die verschiedensten Bäder besuchen mußten?“

„Nicht von Einem! Alle erklärten mein Leiden sofort für ein hämorrhoidalisches und verordneten mir danach der Eine dieses, der Andere jenes Mittel und Bad.“

„Das sind sehr gewissenlose Heilkünstler! Da ich das aber nicht sein will, so lassen Sie uns zuvörderst nach der Quelle der Blutung forschen, denn ohne Zweifel sind die meisten, wenn nicht alle Ihrer sonstigen Beschwerden die Folgen des übermäßigen Blutverlustes, also der Blutarmuth. Wenigstens spricht Ihre weiße, etwas wachsig glänzende Hautfarbe mit den durchschimmernden, dünnen, rothvioletten Blutadern an der Hand, die blasse Röthe der Lippen, des Zahnfleisches und der innern Augendlidhaut, sowie Ihre große Mattigkeit mit starkem Herzklopfen ganz dafür.“

Und was ergab nun die genaue Untersuchung? Nicht eine Spur von Hämorrhoidal-Anschwellungen, am allerwenigsten von blutenden Knoten, sondern eine wunde, aus vielen kleinen Aederchen blutende Stelle an der stark gerötheten, geschwollenen und schwammig aufgelockerten Darmschleimhaut. – Die übrigen Organe des Patienten waren ganz gesund, nur traten hier und da noch Erscheinungen enormer Blutarmuth (s. Gartenlaube 1853, Nr. 49) auf.

Und was war nun die Folge dieser Untersuchung? Nach wenigen Wochen war durch eine örtliche Behandlung (hauptsächlich mit Höllenstein) der Kranke, der gegen zehn Jahre fortwährend gelitten und trotz seines großen Vermögens ein freudenloses Dasein geführt hatte, dabei aber beim Gebrauch verschiedener Aerzte und Badecuren zu einem bleichen, matten Verzweifelnden heruntergekommen war, radical curirt und stolzirt jetzt am Arme einer jungen Frau blühend und kräftig einher. – Natürlich hat derselbe (wie das übrigens bei solchen Fällen dem honetten Arzte stets zu gehen pflegt), in Anbetracht der früher ganz erfolglos verwendeten Summen, für seine radicale Heilung nach den Umständen ganz erbärmlich gezahlt. Hätte ein Charlatan diesem Kranken vor Beginn der Cur versprochen, ihn ganz gewiß in Bälde vollständig herzustellen, aber nur gegen ein sehr hohes Honorar, sicherlich und mit Freuden hätte dieser Knauser jenes Honorar sofort bewilligt. Ueberhaupt sind Kranke, solange sie leiden, schnell bei der Hand, ihrem Arzte große Versprechungen zu machen, jedoch haben sie später, wenn sie wirklich durch die Mithülfe des Arztes gesundeten, kein Gedächtniß mehr dafür. Dann honoriren sie nach der Zahl der Besuche und nicht nach der Höhe der geleisteten Dienste, nicht bedenkend, daß der Arzt einen großen Theil seiner Zeit armen Kranken ohne Entgeltung widmet.

Schließlich sei noch in Betreff der „Hämorrhoidal-Zustände“ erwähnt, daß viele Schmerzen, Geschwülste und Blutungen an der Stelle, wo die Hämorrhoiden vorzukommen pflegen, durchaus nicht hämorrhoidaler Natur sind und deshalb stets einer genauen Untersuchung (besonders der Ocularinspection gleich nach dem Stuhle) von Seiten des Arztcs bedürfen, um richtig behandelt werden zu können.



Der homöopathische Reconvalescent.

„Vom „kalten oder Wechselfieber“ sind Sie also genesen und nur noch etwas schwach?“

„So ist’s! Vor zwei Monaten wurde ich zum ersten Male von einem Fieberanfalle heimgesucht, der sich dann einen Tag um den andern wiederholte, nach einigen Wochen jedoch unter homöopathischer Behandlung anfing schwächer zu werden und immer später an der Zeit einzutreten pflegte, bis er dann endlich vor Kurzem ganz verschwunden ist und nur noch ein geringes Frösteln an den früheren Fiebertagen, sowie große Mattigkeit, Schwere in den Füßen und Appetitlosigkeit hinterlassen hat.“

So erzählte ein kurzathmiger, schwerbeweglicher Herr mit fahler Gesichtsfarbe, schlaffen Mienen und bleichen Lippen, dessen Beine bei näherer Betrachtung bis an die Kniee wassersüchtig geschwollen und deshalb dem Kranken beim Gehen bleischwer waren.

Die physikalische Untersuchung ergab auf das Evidenteste, daß die Milz und die Leber, also die Organe, welche vorzugsweise auf die Blutbildung einen großen Einfluß ausüben, ganz enorm angeschwollen und dazu auch noch härter geworden waren.

Und diesen ruinirten Mann mit Wassersucht, Milz- und Leber-Anschwellung und Verhärtung nannte man einen „Reconvalescenten“!

Was hatte denn aber diesen Zustand herbeigeführt? Die homöopathische Behandlung, d. h. das Nichtsthun in arzneilicher und diätetischer Beziehung. Denn gerade beim kalten Fieber ist, wenn der Kranke nicht in einer ganz andern Luft und Gegend, als wo er erkrankte, leben kann, die baldige Darreichung eines solchen Arzneimittels ganz unentbehrlich, welches die hauptsächlichste und jene schlimmen Folgen nach sich ziehende Krankheitserscheinung, den Fieberanfall nämlich, zu heben im Stande ist. Und dieses Mittel ist, abgesehen von noch einigen andern weniger wirksamen, das Chinin, also derjenige Arzneistoff, dem die Homöopathie mit Beihülfe einer ganz unverschämten Lüge (denn Chinin erzeugt in einem gesunden Menschen nun und nimmermehr einen dem Wechselfieber ähnlichen Zustand) ihr Dasein verdankt und welches von den sogenannten „Bastard-Homöopathen“ (die übrigens, weil Ignoranten, am meisten die medicinische Wissenschaft und Kunst schmähen) beim Wechselfieber in ebenso großer, wenn nicht größerer Gabe verordnet wird, wie von den Allopathen.

Unser Kranker war leider einem strenggläubigen Homöopathen, einem echten Hahnemannianer, in die Hände gefallen und mußte nun natürlich noch längere Zeit dafür büßen, ja muß vielleicht zeitlebens mit kranker (großer, harter) Milz oder Leber einhergehen. Und während derselbe bei homöopathischer Behandlung viele Wochen durch das Fieber in seinem Geschäfte gestört worden ist, hätte er durch eine richtige allopathische Cur in wenigen Tagen von seinen Hauptbeschwerden befreit und wieder thätig sein können. Doch mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens!
Bock.

[185]

Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
II.

„Bald folgten wir der Mutter nach Wien,“ fährt die Gestorbene in ihren Aufzeichnungen fort, „wo auch mein Vater eine kleine untergeordnete Stellung am Burgtheater erhielt und ich mit meinen beiden Schwestern dem Balletmeister Horschalt übergeben wurde.

„Das Wiener Kinderballet war damals weltberühmt und in Wahrheit auch das Reizendste, Feenhafteste, was man sehen konnte. Horschalt war ein Genie in seinem Fach, ein Mensch voller Phantasie, der mit seiner Kinderwelt wahrhaft Zauberisches leistete. So lange ich mit meinen Schwestern bei diesem Ballet war, blieben die Productionen noch in gewissen Grenzen und überschritten auch die Kräfte der kleinen Künstler nicht, – wenigstens was die Aufgaben selbst betraf – denn sonst war das Balletleben wohl dazu gemacht, die Kräfte der armen Kinder aufzureiben. Ich erinnere mich, daß wir wochenlang, während ein neues Ballet einstudirt wurde, um acht Uhr Morgens zur Probe mußten und drei Uhr Nachmittags erst wieder nach Hause kamen. Aber auch jetzt nur zu einer kurzen Ruhe, denn um sieben Uhr Abends begann die Probe auf’s Neue und dauerte oft so lange, daß wir erst gegen ein Uhr Nachts erschöpft und ermattet, oft auch mit Spuren von Mißhandlungen in unsere Betten krochen, denn Horschalt schlug unbarmherzig zu, um „die Bande“ der kleinen Tänzer in Ordnung zu halten.

„Ich war eins der anstelligsten unter diesen Kindern und avancirte sehr bald zum ersten Liebhaber, den ich mit viel Grazie und Gewandtheit zu geben pflegte. Den ersten rauschenden Applaus des überfüllten Theaters an der Wien erhielt ich in dem Ballet das Waldmädchen, dasselbe Sujet, das Weber unter dem Namen Sylvana componirt hat. Ich hatte darin eine große Erzählung pantomimisch vorzutragen. Die Handlung spielte in Rußland, ich war als Kosake gekleidet und mußte der Fürstin – die von meiner Schwester Betty gegeben wurde – die Meldung machen: der Fürst Gemahl habe ein wildes Mädchen im Walde gefunden, dasselbe wäre nur durch List, mittelst eines Schlaftrunks zu überwältigen gewesen und solle nun, noch immer schlafend, in’s Schloß gebracht werden. Den Fürsten gab der später berühmt gewordene Berliner Tänzer Stullmüller, und das Waldmädchen ein reizendes Kind von sieben bis acht Jahren, Angioletta Mayer, die als erwachsenes Mädchen nach München gekommen ist.

„Es folgten nach und nach eine Reihe von Ballets, die reizend erfunden waren und vollendet dargestellt wurden, aber immer in den Schranken des Kinderballets blieben. Eins der beliebtesten hieß die Wäschermädchen und erregte große Heiterkeit durch den Contrast, daß alle diese schneeweiß gekleideten Mädchen Schornsteinfeger zu Liebhabern hatten. Ich war der Anführer dieser schwarzen Schaar und der Liebhaber des ersten Wäschermädchens. Ihr Vater, ein alter, strenger Mann, widerstrebte unserer Liebe, aber endlich wird er dadurch erweicht, daß ich mich in den brennenden Schornstein seines Hauses stürze, das Feuer lösche und dadurch sein Hab und Gut errette. Auf den Proben war ich ängstlich, in den brennenden Schlot zu springen, und mehrmals mißlang der Versuch. Aber endlich verlor der Balletmeister die Geduld, faßte mich beim Kragen und warf mich kopfüber in den Schornstein hinunter. Glücklicherweise fing mich der Theaterdiener auf, der die Flamme heraufblies, so daß ich ohne ernste Beschädigung davonkam. Nur mein Haar, das ich damals noch nach Knabenart trug, war verbrannt, so daß es ganz kurz abgeschnitten werden mußte. Natürlich machte ich nun auf den nächsten Proben keine Umstände mehr, sondern sprang muthig in den brennenden Schlund.

„Ich wurde sehr bald der Liebling unseres Zuchtmeisters, der mich unter den ihm untergebenen Kindern als das gewandteste und intelligenteste erkannte. Besonders leistete ich für ein Kind von zehn bis elf Jahren Bemerkenswerthes in der Mimik. Aber so gewandt, geschmeidig und geschickt ich war, eben so wild und unbändig war ich auch. Meine tollen Streiche haben mir zu jener Zeit viel Prügel eingetragen, und ich war so ganz jungenhaft in meinen Neigungen und Manieren, daß man es aufgeben mußte, mich in Mädchenkleider zu stecken. War mir doch kein Baum zu hoch, kein Graben zu breit! – und so hingen gar oft die leichten Stoffe und langen Gewänder nach kurzer Zeit zum größten Theile in unkenntlichen Fetzen an Hecken oder Bäumen.

„Aus dieser Zeit ist mir besonders eine Scene in lebendiger Erinnerung geblieben. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Gärtner und pflegte den schönen Garten, der damals mit unserer Wohnung verbunden war, mit großer Sorgfalt. Er war immer trostlos, wenn ihm die Beete zertreten oder Blumen und Früchte abgepflückt wurden, was freilich – und zwar hauptsächlich von mir – oft genug geschah. Im Garten stand ein prächtiger Birnbaum mit halbreifen Früchten beladen, und diese lockten mich so unwiderstehlich, daß ich mir eines Tages in der Dämmerstunde alle Scrupel aus dem Sinne schlug und in die höchsten Zweige hinaufkletterte, weil ich da oben die goldigsten Birnen schimmern sah, die ich mir denn auch vortrefflich schmecken ließ. Mein Vater, der gegen Abend immer noch einen Gang durch den Garten machte, entdeckte mich da oben in meiner luftigen grünen Höhe, wo ich mich voll Uebermuth hin und her schaukelte, wie eine Pirole, die gegen Abend die höchsten Wipfel sucht, um ihr Abendlied zu pfeifen. Ich glaube, ich habe da oben auch getrillert, sonst hätte mich mein Vater wohl kaum entdecken können; aber er hatte mich gesehen, und nun sollte ich herunter steigen, um meine gerechte Strafe zu empfangen. Mir kam es jedoch ganz unglaublich vor, daß mein Vergnügen mit Schlägen endigen sollte; ich erklärte rund heraus, daß ich meinen erhabenen Sitz, wo ich mich so sicher fühlte und wo ich dem warmen, schönen Augustabend so selig in die glänzenden Augen gesehen hatte, nicht verlassen würde, wenn man mir nicht das Versprechen vollständiger Verzeihung gäbe.

„Auf diese Capitulation wollte mein Vater nicht eingehen, ich wollte nicht davon ablassen. Meine Mutter war inzwischen als Succurs erschienen, Geschwister und Domestiken waren auch gekommen, um den Ausgang mit anzusehen – ich blieb unerschütterlich. Endlich zogen sich Alle zurück, in der Hoffnung wahrscheinlich, daß ich beim Einbruch der Dunkelheit freiwillig heruntersteigen und mich der Strafe unterwerfen würde – aber sie irrten sich!, es wurde Nacht, ein leichter Wind bewegte die Blätter meines Baumes; der Mond ging auf und ergoß eine magische Helle über den ganzen Garten. Schon damals traten scharfe Contraste in meinem Wesen hervor. So wild und unbändig ich gewöhnlich war, so bewegte eine stille klare Mondnacht meine junge Seele doch schon damals bis in ihre tiefsten Tiefen. Bange und frohe Ahnungen stiegen in mir empor, ich wiegte mich in märchenhaften Träumen da oben in meinem Wipfel und hatte die Welt unter mir vergessen. Aber plötzlich mahnte mich die nahe Thurmuhr, die eben Mitternacht schlug, an die Geisterstunde, und nun überfiel mich eine kindische Angst. Ich erwartete jeden Augenblick, Elfen und Feen zwischen den Zweigen hervorrauschen zu sehen, um ihre Mondscheintänze zu beginnen. Glücklicherweise machte die Stimme meines Vaters dieser Furcht vor Geisterspuk ein Ende. Er kam von ernstlicher Sorge getrieben, redete mir freundlich zu, herab zu kommen, und versprach auch, mir jede Strafe zu erlassen. Wenige Augenblicke später war ich, behend wie ein Kätzchen, auf ebenem Boden angelangt und entschlüpfte durch schnelle Flucht den Händen meines Vaters, der doch wohl Lust haben mochte, mich – wie er zu sagen pflegte – an meinem blonden Schädel zu zausen.“

Die Kränklichkeit Friedrich Schröder’s nahm um diese Zeit in bedenklichster Weise zu. Im Sommer 1818 ging er nach Karlsbad – und kam nicht zurück. Am 18. Juli starb er fern von den Seinen; der Künstler und Protestant wurde in irgend einem abgelegenen Winkel des Karlsbader Friedhofs zur Ruhe gelegt, und seiner Tochter ist es später, trotz der ängstlichsten Forschungen, nicht gelungen, sein Grab wieder aufzufinden. – Schon zu Lebzeiten des Vaters war Wilhelmine mit ihren Schwestern vom Ballet zurückgetreten. Sie begann nun ihren mangelhaften Schulunterricht zu ergänzen und bereitete sich unter Anweisung ihrer genialen Mutter – von deren Leistungen im tragischen Fach sie immer mit Begeisterung sprach – zu größeren dramatischen Aufgaben vor.

Ihres wissenschaftlichen Unterrichts nahm sich ihr Stiefbruder, Wilhelm Smets, der einzige Sohn aus Sophie Schröders erster Ehe, mit großem Eifer an.[1] Er war als Hauslehrer nach Wien [186] gekommen, sah hier nach sechszehnjähriger Trennung die Mutter wieder und schloß sich mit Vorliebe der ältesten Schwester an, deren seltene Begabung er sogleich erkannte. Bis zum Tode ist er ihr ein treuer Freund geblieben – er starb als Kanonikus in Köln und hatte sowohl als Dichter, wie als Gelehrter einen geachteten Namen erworben. Unter seinen Gedichten findet sich eines an die Schwester mit den wehmüthigen Schlußversen:

„O grüßte mich die Stunde noch einmal,
Wo, so wie damals in des Rheines Thal,
Als mit dem Schicksal grollend, fast vermessen,
An Deiner Seite sinnend ich gesessen
Und Dich, die Ruhmbekränzte glücklich hieß –
Dein Herz jedoch nur Wünsche eng gemessen
Und schlichten Lebens stille Tage pries!“

Und noch im Jahre 1839 schrieb er ihr:

„Cöln, den 16. März.

„Meine liebe Schwester Minna! Nachdem ich nun – zur schlimmen Jahreszeit vielfältig von meinen Körperleiden heimgesucht – dennoch glücklich überwintert habe, so wende ich mich mit herzlich brüderlichem Frühlingsgruß auch an Dich, liebe Minna, und danke Dir auf’s Innigste für alle die Erleichterung und Pflege, die ich mir nun während zwei Jahren durch Deine schwesterliche Güte konnte angedeihen lassen; möge der Himmel Dir diese und all Deine große Herzensgüte vergelten, wie Du es verdienst, wie es das, was Dich wahrhaft glücklich machen kann, erheischt. Mit besorgender Theilnahme las ich häufig von Deinem Unwohlsein, bald darauf aber auch wieder von dem begeisterten Zuruf, der Dich bei Deinen stets neuen Kunstschöpfungen empfing; so ringst Du Dich durch das, was Dein innerstes Leben ist, immer wieder los von der hemmenden Fessel trauriger Wirklichkeit!“

1819 debütirte die fünfzehnjährige Wilhelmine im Schauspiel. Mit immer steigendem Beifall gab sie Aricia in der Phädra, Melitta in der Sappho, Louise in Kabale und Liebe, Beatrice in der Braut von Messina, Ophelia im Hamlet. Zugleich trat aber auch ihre musikalische Begabung immer deutlicher hervor; ihre Stimme entwickelte sich stark und schön; sie nahm Unterricht bei Madame Grünbaum und Joseph Mozatti, und es verging nicht mehr als ein Jahr, bis sie dem unwiderstehlichen Drange folgen konnte, der sie trieb, das Drama mit der Oper zu vertauschen.

Sie trat zunächst als Pamina in der Zauberflöte auf – es war am 20. Januar 1821. Die „allgemeine musikalische Zeitung“ sagt darüber in dem verschnörkelten Style jener Zeit:

„Demoiselle Schröder realisirte ein vollständiges Bild der zartesten Weiblichkeit. So lange dieser vom Dichter so schwankend gezeichnete Charakter mit eben so viel Unbestimmtheit auf unserer Bühne gegeben wurde, gelang es vielleicht noch nie einer Mime, der prosaischen Poesie eine rein idealisch-poetische Seite abzugewinnen, wie dieser hoffnungsvollen Schülerin einer auf die höchsten Stufen der Meisterschaft gelangten Mutter, die den nicht alltäglichen Beweis lieferte, wie unglaublich ein so ganz gemeiner Dialog durch Sinn, Natur und Gefühl veredelt werden könne.“

Und diese Sängerin, deren erster Versuch für alle Darstellerinnen der Pamina als Muster hingestellt wird, war ein Kind von 16 Jahren. Ein Lieblingskind des Himmels freilich, ausgestattet mit der herrlichsten Stimme, der anmuthigsten Gestalt, den edelsten, ausdrucksvollsten Zügen, der Kopf von einer Fülle blonder Locken umwallt, das blaue Auge ebenso schön in träumerischer Ruhe, wie im Leuchten der Leidenschaft, und über der ganzen Erscheinung jener unbeschreibliche Duft von Poesie, jene sonnenhafte Wärme, welche die Kunst ihren Auserwählten verleiht. Dazu die Gabe, für jeden Gedanken und jedes Gefühl in Wort und Blick, in Ton und Bewegung den schönsten und gewaltigsten Ausdruck zu finden – – es war natürlich, daß ein Schrei des Entzückens dies wunderbare Wesen begrüßte.

Aber sie ließ sich nicht blenden, nicht irren. Mit ernstem Fleiß, beharrlich und bescheiden verfolgte sie den Weg, den sie so glücklich betreten hatte. Schon im März gab sie die Emmeline in der Schweizer-Familie, einen Monat später die Marie in Gretry’s Blaubart, und als Weber’s Freischütz zum ersten Male in Wien gegeben werden sollte, wurde die Agathe Wilhelminen Schröder anvertraut.

Am 7. März 1822 wurde der Freischütz, der ganz Wien in einen Freudenrausch versetzt hatte, zu Wilhelminens Benefiz zum zweiten Mal gegeben. Das Haus war zum Erdrücken voll, der Enthusiasmus – selbst für das enthusiastische Wien – ein beispielloser. Weber dirigirte seine Oper selbst, aber der Jubel seiner Verehrer hätte die Aufführung fast unmöglich gemacht. Viermal wurde der Meister auf die Bühne gerufen, mit Blumen und Gedichten überschüttet, und zum Schluß fiel ein Lorbeerkranz zu seinen Füßen.

Wilhelmine-Agathe theilte den Triumph des Abends. Das war die blonde, reine, sanfte Jungfrau, die Componist und Dichter geträumt hatten; das einfache schüchterne Kind, das vor Träumen zittert, sich in Ahnungen verliert, aber in Liebe und Glauben Kraft findet, alle Mächte der Hölle zu überwinden. Weber sagte: „Sie ist die erste Agathe der Well und hat Alles übertroffen, was ich in die Rolle hineingelegt zu haben glaubte.“

Als Beweis, wie ganz Kind sie damals noch gewesen, erzählte Wilhelmine oft, daß sie am andern Morgen, als Weber gekommen war, um ihr zu danken, der Länge nach auf dem Fußboden der Kinderstube gelegen hatte, eifrig beschäftigt mit ihren jüngern Geschwistern Soldaten aufzustellen. „Ich wurde abgestäubt, die Haare wurden mir glatt gestrichen, Schürze und Halstuch zurecht gezupft,“ pflegte sie zu sagen; „dann führte man mich zu Weber, der mich mit Lobsprüchen überhäufte und mir versprach, eine neue Oper für mich zu schreiben. Ich weinte vor freudiger Rührung, war aber herzlich froh, als er ging, sodaß ich zu meinem Spielzeug zurückkehren konnte.“

Auch in Dresden, wohin Wilhelmine im Sommer 1822 mit ihrer berühmten Mutter ging, erregte ihre Schönheit wie ihr Talent allgemeine Bewunderung, – aber das, was sie zur größten Sängerin aller Zeiten machen sollte, der unwiderstehliche Zauber, die Gewalt ihres Genius offenbarte sich zum ersten Male, als sie, nach Wien zurückgekehrt, den Fidelio sang.

Die Oper war seit einiger Zeit zurückgelegt, weil es an einer Darstellerin für die Hauptrolle fehlte. Im November 1822 sollte sie zur Namenstagsfeier der Kaiserin zum ersten Male wieder gegeben werden, und der siebzehnjährigen Wilhelmine wurde die schwere Rolle des Fidelio übertragen.

Als es Beethoven erfuhr, soll er sich sehr unzufrieden darüber ausgesprochen haben, daß diese erhabne Gestalt „einem solchen Kinde“ anvertraut wäre. Aber es war einmal bestimmt; Sophie Schröder studirte der Tochter die schwere Partie so gut als möglich ein, und die Proben nahmen ihren Fortgang.

Beethoven hatte sich’s ausbedungen, die Oper selbst zu dirigiren, und in der Generalprobe führte er den Tactstock. Wilhelmine hatte ihn nie zuvor gesehen – ihr wurde bang ums Herz, als sie den Meister, dessen Ohr schon damals allen irdischen Tönen verschlossen war, heftig gesticulirend, mit wirrem Haar, verstörten Mienen und unheimlich leuchtenden Augen dastehen sah. Sollte piano gespielt werden, so kroch er fast unter das Notenpult, beim forte sprang er auf und stieß die seltsamsten Töne aus. Orchester und Sänger geriethen in Verwirrung, und nach Schluß der Probe mußte der Capellmeister Umlauf dem Componisten die peinliche Mittheilung machen, daß es unmöglich wäre, ihm die Leitung seiner Oper zu überlassen.

So saß er denn am Abend der Aufführung im Orchester, hinter dem Capellmeister und hatte sich so tief in seinen Mantel gehüllt, daß nur die glühenden Augen daraus hervor leuchteten. Wilhelmine fürchtete sich vor diesen Augen; es war ihr unaussprechlich bang zu Muth. Aber kaum hatte sie die ersten Worte gesprochen, als sie sich von wunderbarer Kraft durchströmt fühlte. Beethoven, das ganze Publicum verschwand vor ihren Blicken – alles Zusammengetragene, Einstudirte fiel von ihr ab. Sie selbst war Leonore, sie durchlebte, durchlitt Scene auf Scene.

Bis zum Auftritt im Kerker blieb sie von dieser Illusion erfüllt – aber hier erlahmte ihre Kraft. Die Größe ihrer Aufgabe, die sie erst diesen Abend während des Spiels erkannt hatte, stieg riesenhaft vor ihr auf. Sie wußte jetzt, daß ihre Mittel für das, was sie in dem nächsten Momente darstellen sollte, nicht ausreichten. Die steigende Angst drückte sich in ihrer Haltung, ihren Mienen, ihren Bewegungen aus – aber das Alles war der Situation so ganz angemessen, daß es auf das Publicum die erschütterndste Wirkung übte. Ueber der Versammlung lag jene athemlose Stille, die ebenso mächtig auf den darstellenden Künstler wirkt, wie laute Beifallszeichen.

[187] Leonore rafft sich auf; sie wirft sich zwischen den Gatten und den Dolch des Mörders. Der gefürchtete Augenblick ist da – die Instrumente schweigen, aber der Muth der Verzweiflung ist über sie gekommen, hell und rein, mehr schreiend als singend. stößt sie das herzzerreißende: „Tödt’ erst sein Weib!“ hervor. Noch einmal will Pizarro sie zurückschleudern, da reißt sie das Terzerol aus dem Busen und hält es dem Mörder entgegen. Er weicht zurück – sie bleibt unbeweglich mit blitzenden Augen in ihrer drohenden Stellung. Aber jetzt erschallen die Trompeten, die das Ende ihrer Qual, die Ankunft des Retters verkündigen, und nun wich auch die Spannung, die sie so lange aufrecht hielt. Kaum vermochte sie noch mit vorgestrecktem Terzerol den Verbrecher dem Ausgange zuzutreiben, dann entsank ihr die Waffe – sie war todesmatt von der ungeheuern Anstrengung, ihre Kniee wankten, sie lehnte sich zurück, ihre Hände griffen krampfhaft nach dem Haupte und unwillkürlich entrang sich ihrer Brust jener berühmte, unmusikalische Schrei, den spätere Darsteller des Fidelio auf’s Unglücklichste nachgeahmt haben. Bei Wilhelminen war es wirklich ein Aufschrei der von Todesangst befreiten Seele, ein Laut, der Mark und Bein erschütternd in die Herzen der Hörer drang. Erst als Leonore auf Florestans Klage: „Mein Weib, was hast Du um mich geduldet!“ mit dem halb weinend, halb jubelnd hervorgestoßenen: „Nichts, nichts, nichts!“ in die Arme des Gatten fiel, wich der Zauberbann, der jedes Herz gefangen hielt. Ein Beifallssturm, der nicht enden wollte, brach los – die Künstlerin hatte ihren Fidelio gefunden, und so viel und ernstlich sie später noch daran gearbeitet hat, in den Grundzügen ist er derselbe geblieben.

Auch Beethoven hatte seine Leonore in ihr erkannt. Den Ton ihrer Stimme zu hören, war ihm freilich versagt, aber die Seele ihres Gesanges offenbarte sich ihm in jeder Miene des von Geist durchleuchteten Gesichts, in dem glühenden Leben der ganzen Erscheinung. Nach der Vorstellung ging er zu ihr – seine sonst so finstern Augen lächelten ihr zu, er klopfte sie auf die Wangen, dankte ihr für den Fidelio und versprach eine neue Oper für sie zu componiren – ein Versprechen, das leider nicht erfüllt werden sollte. Wilhelmine kam nie wieder mit dem Meister zusammen, aber unter allen Huldigungen, die der berühmten Frau später zu Theil wurden, blieben die Worte der Anerkennung, die ihr Beethoven gesagt hatte, die liebste Erinnerung.




Vater Arndt.

Es war im Jahre 1848; der Traum und die Sehnsucht des deutschen Volkes nach der heißbegehrten Einheit schien in Erfüllung gehen zu wollen. In der Paulskirche zu Frankfurt am Main, der alten Kaiserstadt, tagte das deutsche Parlament. Unter den dort versammelten Männern erschien eines Tages ein würdiger Greis, den weder die Last der Jahre, noch die erfahrenen Leiden gebrochen hatten; fest und aufrecht stand er da wie eine im Sturm erprobte Eiche, sein Haar war grau geworden, aber sein Herz frisch geblieben, voll grünender Hoffnungen. Bei seinem Anblick ging ein freudiges Gemurmel durch den weiten Kreis, und ein noch junger Mann, der die Liebe zum gemeinsamen Vaterlands einst mit jahrelanger Verbannung büßen mußte, Jakob Venedey, bestieg die Tribüne und forderte die Versammlung auf, sich zu Ehren des „alten Arndt“ zu erheben und so den würdigsten Vorkämpfer der deutschen Einheit zu begrüßen – und Alle erhoben sich wie ein Mann zum Zeichen der Anerkennung.

So ehrte das deutsche Volk den treuen Patrioten!

Am 26. December 1859 feierte der alte Arndt in Bonn seinen neunzigsten Geburtstag, der fast wie ein deutsches Nationalfest begangen wurde. Aus der Nähe und Ferne kamen die Beweise der allgemeinen Liebe und Achtung; kaum vermochte der geschäftige Telegraph alle Wünsche dem berühmten Greise zuzutragen. Lieder, Blumen und Kränze, von zarter Frauenhand gewunden, priesen und schmückten das ehrwürdige Haupt. Es war das schönste Erntefest eines bedeutenden, thatenreichen, segenvollen Lebens.

So liebte das Volk den Dichter und Menschen!

Fünf Wochen später, am 29. Januar 1860, starb der Gefeierte, fast erdrückt von all der Liebe, nachdem es ihm noch vergönnt gewesen, bei seinem Leben die eigene Apotheose, gleichsam einen Vorgeschmack der ihn erwartenden Unsterblichkeit zu genießen, ein Glück, wie es einem Sterblichen, und zumal einem Deutschen, selten oder nie geboten wird. Groß war die Trauer um den Dahingeschiedenen, wie um einen Vater, denn ein Solcher erschien er Allen und „Vater Arndt“ war der Name, welchen er mit Ehren trug.

So beklagte und beweinte das Volk seinen Vater! –

Womit aber hat der alte Arndt so große Achtung, Liebe und Theilnahme verdient?

Sein Leben wird die Antwort darauf geben.

Ernst Moritz Arndt wurde im Jahre 1769 auf der Insel Rügen geboren, die damals noch im schwedischen Besitze war. Seine Wiege stand jedoch auf uraltem, germanischem Boden, beschattet von den heiligen Buchenhainen deutscher Götter, umrauscht von den Wogen des Meeres, auf dem die deutsche Flagge einst stolz geweht. Sein Vater, der die Löbnitzer Güter in der Nähe von Stralsund verwaltete, war ein ernster, ehrenhafter Mann von altem Schrot und Korn; er erzog die Kinder streng und duldete keine Verweichlichung weder des Körpers, noch des Geistes. Mitten in der Nacht, im Sturm und Regen mußten die Söhne oft Meilen weit reiten, um eine Bestellung für ihn auszurichten, in der Erntezeit auf dem Felde mit Hand anlegen und im Schweiße ihres Angesichtes arbeiten. Mild und sanft dagegen war die Mutter, ernst, fromm, sinnig und muthig, durch kein Geschick zu beugen, daß sie die Klarheit und Besonnenheit verloren hätte; das Bild einer echten deutschen Hausfrau mit schönen großen, blauen Augen und prächtig breiter Stirn. Im Kreise der Kinder las sie aus der Bibel, erzählte gern Märchen und sang ihnen Lieder vor, frühzeitig den Keim der Poesie in der empfänglichen Seele des Knaben weckend. Der Eltern Wesen und Natur erbte sich auf den Sohn fort, des Vaters Willenskraft und der Mutter tieferes Gemüth. Von ihr und ihrer Sippschaft stammte seine Liebe für Deutschland, während die väterlichen Verwandten, und besondern der originelle Oheim Hinrich, es mit den Schweden hielten.

Verschiedene Hauslehrer, darunter der wackere, tüchtige Gottfried Dankwardt, leiteten Arndt’s Erziehung, so daß er wohl vorbereitet das Gymnasium zu Stralsund besuchen konnte. Hier ergriff ihn plötzlich jener unbestimmte Drang und die Abenteuerlust, wie sie die phantasievolle Jugend zuweilen zu beschleichen pflegt; ohne Ursache und Wissen der Eltern entwich er aus Stralsund, um auf eigene Hand sein Glück in der weiten Welt zu suchen. Bald jedoch wurde sein Aufenthalt entdeckt und der Flüchtling zurückgebracht; mit eisernem Fleiße setzte er zu Hause seine Studien fort, bis er 1791 die Universität Greifswald bezog, um sich der Theologie und Philosophie zu widmen. Angezogen von dem steigenden Rufe des berühmten Fichte, eilte er später nach Jena, wo er besonders dessen philosophische Vorträge und Anschauungsweise mit Eifer sich zu eigen machte.

Nach beendigten Studien kehrte Arndt wieder in das elterliche Haus zurück. Längere Zeit genoß er hier eine behagliche Muße, indem er den Unterricht seiner jüngeren Geschwister leitete; nebenbei predigte er auch als angehender Candidat der Theologie, nicht ohne Beifall seiner frommen Zuhörer. Indeß kam er bald zu der Erkenntniß, daß ihm zum geistlichen Stande der innere Beruf fehlte, selbst die Aussicht auf eine fette Pfründe mit 2000–3000 Thaler Gehalt lockte ihn nicht. Einstweilen nahm er die Stelle eines Lehrers in der Familie des bekannten Pastors und Dichters Theobul Kosegarten auf Rügen an, die er jedoch schon nach anderthalb Jahren wieder aufgab, um eine größere Reise zu seiner Ausbildung anzutreten.

Mit leichtem Sinn wanderte Arndt über Wien nach Ungarn und Italien, wo indeß der ausgebrochene Krieg ihn nur bis Florenz kommen ließ; von da über Genua, Nizza nach Marseille, durch ganz Frankreich, das er genau kennen lernte, endlich über Brüssel, den Rhein entlang nach der lieben Heimath, die er im Jahre 1799 wohlbehalten erreichte. Auf dieser Reise hatte er die Gelegenheit benutzt, seine Kenntnisse der Welt und Menschen zu bereichern, den Unterschied der Völker kennen zu lernen und besonders den Charakter der Franzosen zu studiren.

[188] Eine alte Liebe, zuweilen „mit dünnen, weißen Aschen bedeckt“, die jetzt aber wieder in ihm mit frischer Gluth aufloderte, bestimmte ihn nach seiner Rückkehr, sich um den Posten eines Adjuncten bei der philosophischen Facultät in Greifswald zu bewerben. Er erhielt denselben mit 300 Thalern Gehalt und heirathete seine Geliebte, die Tochter des Professors Quistorp[WS 1], welche jedoch die Geburt ihres ersten Sohnes mit ihrem Leben bezahlte.

Mit männlicher Fassung ertrug Arndt den schmerzlichen Verlust, indem er in angestrengter Arbeit seinen Trost suchte und fand. Als eine Frucht dieser Studien veröffentlichte er 1803 sein erstes Werk „Germanien und Europa“.

Wie so viele bedeutende Männer jener Zeit, hatte sich auch Arndt anfänglich von dem ersten Auftreten Napoleon’s blenden lassen, aber auch früher als die meisten seiner Landsleute die Täuschung eingesehen und in dem Despoten und dem französischen Volke „die alten Erzfeinde des deutschen Herzens und des deutschen Landes“ erkannt. Gegen die drohende Gefahr erhob er jetzt den Warnungsruf, indem er mit richtigem Instinct seinen Finger in die Wunde des Jahrhunderts legte. Diese fand er in der „übertriebenen Geistigkeit“, welche alle Thatkraft und Willensstärke zu lähmen drohte. Er selbst drückte sich darüber folgendermaßen aus: „Man wußte viel und kannte nichts, hatte die lebendigen Bilder in todte Worte, die holden Schattengestalten in nichtssagende Formeln verwandelt; man war arm geworden, indem man prahlte, alle Schätze der alten Welt ausgegraben und abgestäubt, alles Große und Wissenswürdige der neuen zusammengepackt zu haben. Wie aber der Mensch des Jahrhunderts ist, so muß auch der Staat sein.“

Denselben Gedanken verfolgte Arndt in einem damals von ihm verfaßten Lustspiele, „der Storch und seine Familie“, worin er die transcendentale Philosophie und die zu einem auflösenden Kosmopolitismus hinneigende Pädagogie geißelte.

Zu gleicher Zeit schrieb er eine „Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen“, worin er schonungslos die „Gräulichkeit und Ungerechtigkeit“ dieser Verhältnisse aufdeckte, die er aus eigener Erfahrung kannte, da sein Vater der Sohn eines Schäfers und Freigelassene eines Grafen war. Der empörte Adel, an dessen Spitze ein Freiherr Schultz von Ascheraden stand, beschwerte sich über den kecken Wahrheitsfreund bei dem Könige von Schweden, aber Arndt verantwortete sich so gut und kräftig, daß der einsichtsvolle Monarch antwortete: „Wenn dem so ist, so hat der Mann Recht.“ Eine Folge dieser segensreichen Schrift war die später erfolgte Aufhebung der Leibeigenschaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit in jenen Gegenden.

Nach dieser That, denn eine solche war dies Buch, nahm Arndt auf einige Zeit Urlaub, um Schweden zu bereisen und genauer kennen zu lernen. Nachdem er daselbst ein Jahr verweilt, kehrte er zurück. Unterdeß hatte sich das traurige Geschick Deutschlands nach und nach erfüllt. Seit dem Frieden von Luneville mit seinen schimpflichen Verhandlungen und Vermäkelungen des Vaterlandes war Arndt’s Seele von einem Zorn erfüllt, „der bei dem Anblick der deutschen und europäischen Schmach oft ein Grimm ward.“ Die Jahre 1805 und 1806 rissen endlich die beiden letzten Stützen nieder. Als Oesterreich und Preußen nach vergeblichen Kämpfen gefallen waren, da erst fing sein Herz an, „sie und Deutschland mit rechter Liebe zu lieben und die Wälschen mit rechtem treuen Zorn zu hassen“. Auch der schwedische Particularismus war nun auf einmal todt; als Deutschland durch seine Zwietracht Nichts mehr war, umfaßte Arndt’s Herz seine „Einheit und Einigkeit“.

Von solchem heiligen Zorn erfüllt, schleuderte er seinen „Geist der Zeit“ in das Gewissen einer muthlosen, zu den Füßen des Eroberers kriechenden Welt; er achtete des eigenen Lebens nicht, denn er wußte, wessen der fränkische Despot fähig war, um die Stimme der Wahrheit zu ertödten. Wie ein Prophet des alten Bundes saß der damals dreiunddreißigjährige Arndt mit den fürstlichen Sündern zu Gericht, vor Allem mit dem corsischen Tyrannen, Napoleon. Ohne Scheu nannte er ihn „den Emporkömmling, der aus den Trümmern der Republik ein Kunstwerk des Despotismus ohne Gleichen sich erbaut habe und fürchterlich geworden sei durch die Kraft der großen Monarchie und den Kriegsgeist des Volkes, den einzigen, den die Republik geschaffen und die Regierung mit Sorgfalt erhalten habe, während sie alle andern guten Geister verbannte.“

Er warf ihm vor, daß er Alles, was des Guten hier und da unter den Gräueln der Revolution entstanden, mit dem Schlechten zugleich vernichtet, alle geistige und leibliche Freiheit getödtet habe; er wolle nur über Knechte, nicht über freie Bürger herrschen.

Von den Schöpfungen der Revolution habe er beibehalten, was den Druck und die Bewegung der Regierung schneller und verderblicher mache, aber Alles in den Staub getreten, was durch Gesetze in dem Ganzen, was durch Freiheit in dem Einzelnen Hinderniß sein würde.

Den mit Frankreich verbündeten Fürsten Deutschlands aber rief er zu: „Ihr stehet wie die Krämer, nicht wie die Fürsten, wie die Juden mit ihrem Seckel, nicht wie die Richter mit der Wage, noch wie die Feldherrn mit dem Schwerte, und habt ihr ungerecht gekauft und gewonnen, so werdet ihr es verlieren, vielleicht eher, als ihr es träumt. Als Sclaven und Knechte seid ihr neben dem fremden Fürsten gestanden, als Sclaven habt ihr eure Nation hingestellt und geschändet. Aber der Tag der Rache wird kommen schnell und unvermeidlich, und ohne Thränen wird das Volk die unwürdigen Enkel besserer Väter vergehen sehen.“

Zuletzt schließt Arndt mit dem Preise der Wahrheit, die er mit Gefahr des eigenen Lebens verkündigte: „Tyrannen und Könige werden Staub, Pyramiden und Kolosseen zerbröckeln. Erdbeben und Vulcane, Feuer und Schwert thun ihr Amt, das Größte verschwindet; nur Eine Unsterbliche lebt ewig – die Wahrheit. Wahrheit und Freiheit sind das reine Element des Lebens des göttlichen Menschen, durch sie ist er, ohne sie nichts.“

Wie ein Blitz, der die dunkle Nacht erhellt und das finstere Gewölk zerreißt, kam Arndt’s Buch, dessen Wirkung auf die Zeitgenossen sich nicht mehr denken, geschweige beschreiben läßt. Es wurde von ganz Europa gelesen, bewundert, hier mit Begeisterung, dort mit Entsetzen aufgenommen, in alle Sprachen übersetzt und verbreitet. Es war wie ein großes, gewaltiges Ereigniß, das die schlummernde Welt aus ihrer feigen Ruhe aufrüttelte. Ein deutscher Gelehrter, kaum bekannt, hatte es gewagt, dem Könige der Könige, dem Herrn Europa’s den Krieg zu erklären, ihm die Maske von dem Tyrannenantlitz zu reißen, seine innersten Schwächen aufzudecken.

Napoleon konnte einen solchen Feind nicht besiegen, weil der Geist und die Wahrheit jeder Waffe trotzen; er konnte Arndt nur – ächten.

Vor der brutalen Gewalt flüchtete der Patriot nach Stockholm, wo ihm Gustav IV. Schutz gewährte und eine Anstellung bei der Staats-Canzlei gab. Nichts desto weniger forderte Arndt einen schwedischen Officier, der in seiner Gegenwart das deutsche Volk beleidigt hatte, und schoß sich mit ihm. Er wurde verwundet und mußte sechs Wochen zu Bette liegen.

Durch die Revolution im Jahre 1809 wurde der König von Schweden gestürzt und der französische Marschall Bernadotte zum künftigen Tronerben ernannt. In Folge dieser Staatsumwälzung mußte sich auch Arndt von Neuem zur Flucht entschließen und Stockholm verlassen. Er wandte sich wieder nach Deutschland, in die alte Heimath, wo er einige Zeit „erkannt, aber unverrathen“ bei den Seinigen verborgen lebte. Doch auch hier war seines Bleibens nicht, er sah sich genöthigt, unter der Maske eines „Sprachlehrers Allmann“ nach Berlin zu gehen, wo er in der großen Stadt am leichtesten unbekannt bleiben zu können glaubte. Hier fand er in dem Hause des patriotisch gesinnten Buchhändlers Reimer gastliche Aufnahme und einen Kreis herrlicher Männer, zu denen vor Allen sein zukünftiger Schwager, der berühmte Schleiermacher, dann sein großer Lehrer Fichte etc. gehörten, Die gleichgesinnten Vaterlandsfreunde stärkten und kräftigten sich im gegenseitigen Gespräch voll flammender Begeisterung, wofür die Lieder und Gedichte Arndt’s aus jener Periode das schönste Zeugniß ablegen.

Ostern 1810 verließ Arndt Berlin, um in Greifswald seine Angelegenheiten zu ordnen und seine förmliche Entlassung aus dem schwedischen Staatsdienst zu nehmen. Dies that er um so lieber, da die Verhältnisse an der Universität, selbst wenn ihm auch keine andere Gefahr gedroht hätte, ihm durch die franzosenfreundliche Gesinnung seiner früheren Collegen und Freunde, besonders seines Schwiegervaters Quistorp[WS 2] und des bekannten Kosegarten, der indeß Professor der Theologie geworden war, immer mehr verleidet wurden. Einstweilen lebte er auf dem Gute seines Bruders, stets zur Flucht gerüstet und zu diesem Zwecke mit einem russischen Paß versehen. Nur zu bald mußte er seine „abenteuerliche Hedschra“,

[189]

Vater Arndt im neunzigsten Jahr.
Nach einer Photographie.

wie er selbst seine Irrfahrten nannte, wieder antreten. Die Nähe der einrückenden Franzosen trieb ihn im Winter 1812 aus den Armen seiner Familie, von der er sich mit blutendem Herzen losriß. In der Morgendämmerung schlich er sich aus dem Hinterpförtchen durch die Küche in’s Freie, wo er über den unter seinen geschwinden Schritten knirschenden Schnee hineilte, begleitet von der Schwester und dem kleinen Sohn, die er gewaltsam unter Küssen und festklammernden Umarmungen abschütteln mußte. Er hörte noch das Knäblein, als wenn es den Vater einholen wollte, ihm nachlaufen und laut schluchzen. Da ward seine Seele zornig und „fluchig“, aber die aufgehende Sonne, die den hellsten Wintertag verkündigte, goß ihren strahlenden Trost und Ruhe in die Seele des schwer geprüften Mannes, der zum Gebet die Hände faltete und das „glückweissagende Zeichen“ des leuchtenden Tagesgestirns freudiger begrüßte.

Es war damals die Zeit der tiefsten Erniedrigung und höchsten Noth; darum aber auch Gott Arndt und allen Deutschen am nächsten. Napoleon hatte an Rußland den Krieg erklärt und führte, wie einst der persische Xerxes, seine Heerschaaren, bestehend aus unterjochten Völkern, nach dem Norden. Auch Preußen war gezwungen, einen Theil seiner Truppen unter der Anführung des eisernen York gegen Rußland marschiren zu lassen. Die besten Patrioten verließen meist freiwillig, oft auch gezwungen, Berlin, um in dem weniger beobachteten und der österreichischen Grenze nahe liegenden Schlesien eine Zuflucht zu suchen. Dorthin eilte auch Arndt, mit den alten Berliner Freunden, dem edlen Chazot, dem klugen Gneisenau, dem feurigen Gruner in Breslau zusammentreffend. Auch der alte Blücher weilte daselbst mit dem Gesichte, das zwei „verschiedene Welten“ zeigte, auf Stirn, Nase und in den „schwarz dunkeln“ Augen konnten Götter wohnen; um Kinn und Mund trieben die gewöhnlichen Sterblichen ihr Spiel. Hier sah auch Arndt den großen Scharnhorst wieder, der zu den Wenigen gehörte, die glaubten, daß man vor den Gefahren von Wahrheit und Recht auch keinen Strohhalm breit zurückweichen soll.

All diese ausgezeichneten Männer freuten sich mit Arndt und sprachen ihn, gegenüber ihre Hoffnungen und Befürchtungen für die nächste Zukunft aus, insgesammt wie er von dem Gedanken beseelt, lieber mit Ehren unterzugehen als mit Schmach zu leben.

Ueber das Riesengebirge wanderte Arndt zunächst nach Böhmen, wo er in Prag durch eine Einladung des Freiherrn von Stein überrascht wurde, der ihn aufforderte, sich zu ihm nach Petersburg zu begeben, um geistig an dem großen Entscheidungskampfe gegen Napoleon Theil zu nehmen. Zunächst galt es, Deutschland selbst durch Wort und Schrift aufzustacheln und in Flammen zu setzen; dann die deutsche Legion zu bilden, in deren Reihen Männer wie Clausewitz, Boyen, Lützow und Döveberg eintraten. [190] Unter Steins Leitung arbeitete Arndt mit frischem Eifer; die verwandten Naturen verständigten sich leicht; Beide waren aus demselben Kern geschnitzt, von derselben Liebe zu dem gemeinschaftlichen Vaterlande, von demselben Hasse gegen die Unterdrücker erfüllt. Hier schrieb Arndt „die Glocke der Stunde in drei Zügen“ und den „Soldaten-Katechismus für die deutsche Legion“, der, in tausend Abdrücken verbreitet, manches wackere Kriegsherz stärkte und erfreute. Dazwischen fehlte es nicht an gesellschaftlichen Zerstreuungen, an dem jubelnden Zusammenklang der Becher und Herzen, zumal wenn eine Siegesbotschaft die oft ersterbende Hoffnung wieder anfeuerte. Da jubelten die Männer, und schöne Frauen küßten wohl auch in der Freude ihrer Seele den wackern Deutschen, der so redlich mithalf.

Der Brand Moskau’s, von Rostopschin angezündet, war das Morgenroth der Befreiung, Napoleon trat gezwungen seinen Rückzug an, verfolgt von dem russischen Heere unter Kutusow, das sich der deutschen Grenze zögernd näherte. Jetzt galt es, Preußen und ganz Deutschland mitzureißen und das große Werk zu vollenden. Am 5. Januar 1813 verließ Arndt mit dem Freiherrn von Stein Petersburg, wegen der grimmigen Kälte tief in ihre Pelze gehüllt, aber innerlich vor Freude glühend; sie kehrten ja in das Vaterland zurück, um auch ihm mit Gottes Hülfe die Freiheit zu bringen. Der Schlitten, der sie trug, jagte durch die vom Kriege zerstörten Dörfer und Städte, vorüber an den zerrissenen und vom Frost erstarrten Leichenhaufen der Franzosen, welche zu Tausenden am Wege lagen. Kaum gönnten sie sich so viel Zeit, um dem am Typhus sterbenden Freunde Chazot die fieberheiße Hand zu drücken und eine Thräne ihm nachzuweinen. Aber aus dem Tode und der Zerstörung, vor der ihr fühlendes Herz schauderte, blühte ja ein neues Leben.

(Schluß folgt.)




Der verschmähte Kuß.
Skizze aus dem Leben des Fürsten Blücher.

Im Winter des Jahres 1786 fand in dem Hause eines reichen Privatmannes in Berlin ein glänzender Ball statt. Wie es hieß, wurde er zu Ehren einer jungen Frau gegeben, welche die Flitterwochen ihrer Ehe in Preußens Residenz verlebte und sich vermöge ihrer Schönheit alle Herzen huldigend zu Füßen zog und selbst den Kältesten und Starrsten bezauberte und entzückte.

Frau von R…g, diese gefeierte Dame, war die Tochter eines der reichsten und angesehensten Edelleute Westphalens und seit Kurzem die Frau eines Gutsbesitzers jener Provinz, der ihr an Geburt und Vermögen gleich stand. Sie war glänzend erzogen, hatte stets in der besten und vornehmsten Gesellschaft gelebt, besaß eine blendende, fesselnde Erscheinung und gehörte zu den verwöhntesten Lieblingen des Glücks. Bot ihr Berlin auch vieles Neue, manches Seltene, so doch keine ungewohnte Huldigung! – Alles in jenes Fach Schlagende war der „reichen Erbin“, dem „schönen Mädchen“ von frühester Jugend auf als ein ihr gebührender Tribut dargebracht worden, und stets umgeben gewesen von Verehrern, von Bewunderern, kannte sie nur die Rolle – Königin des Festes zu sein, das sie mit ihrer Gegenwart beglückte. Lange war für sie schon die Zeit vorüber, wo das duftende Aroma der Schmeichelei den Sinn berauscht. Sie hätte nur durch eine fehlende Huldigung überrascht werden können; eine ihr zu Theil werdende Anerkennung vermochte es nicht mehr, sie in Erstaunen zu versetzen. So blickte sie denn mit zwanzig Jahren ruhig in die Welt, gleichgültig auf den dichtesten Kreis der Verehrer. Ihr strahlendes Auge verlor nie den kalten Schein, der selbst den Kecksten und Zudringlichsten in ehrerbietiger Entfernung hielt. Das Feuer dieser mandelförmig geschnittenen, durch lange dunkle Wimpern umschleierten Augen mahnte unwillkürlich an den funkelnden Glanz jener kostbaren Brillanten, die mit diademartigem Schmucke ihr glänzend schwarzes Haar zierten, ihren im zartesten Weiß schimmernden Hals und ihre vollen Arme umschlossen und gleich blendenden Thautropfen auf den Kelchen der Blumen zitterten, mit denen ihr schneeweißes, rauschendes Atlasgewand bedeckt war. Zu dem kalten Strahle dieses Auges paßte vortrefflich die stolze Haltung ihrer großen, schlanken Gestalt. Beides gab ihr einen Ausdruck von Hoheit und Würde, Beides verlieh ihr einen Anflug königlicher Majestät, und mit diesem stand wiederum ihr Wesen, das sehr an „Wir von Gottes Gnaden“ mahnte, im vollendetsten Einklange. Frau von R…g war von der Natur zur Königin geschaffen, und dem Geschicke, das sie nicht auf den ihr anscheinend bestimmten Platz gestellt, kam die gefällige, bewundernde Menschheit zu Hülfe, indem sie der schönen, stolzen Dame wenigstens stets auf Stunden bereitwillig ein Reich zur ausschließlichen Herrschaft eröffnete.

Auch an diesem Abende war Frau von R…g die regierende Königin. Auf ihren Wunsch tanzte man, und war sie ermüdet, schwieg die Musik. Gegen Mitte des Balles hatte sich die schöne, launenhafte Göttin des Festes für eine Stunde den Tanz verbeten. Sie wollte sich unterhalten und wollte ihr klangvolles Organ nicht durch das Getöse der Musik übertönt haben. Etwas ermüdet vom vielen Tanzen, ein wenig abgespannt durch all die Worte, die sie schon tausendfach in ihrem Leben vernommen und welche ihr täglich von ihrer Umgebung variirt wurden, lehnte sie auf purpurrother Ottomane, senkte das leuchtende Auge und zerpflückte mechanisch die vollen Rosen eines prachtvollen Bouquets, das ihr der galante Wirth kurz zuvor dargereicht hatte.

Die Ottomane stand in einer Ecke des Saales, wo zwischen Palmen aus marmornem Bassin duftende Essenzen aufstiegen und mit leisem Plätschern in die Fluth von Aroma zurückfielen. Eine der mächtigsten Palmen, eine herrliche Bambusa arundina, überschattete laubenartig die Ottomane und den Platz, wo die schöne Frau saß. In leuchtender Schönheit trat ihre lichte, glänzende Erscheinung aus dem leichten Halbdunkel hervor, das diese Stelle des Saales umhüllte. Bewundernd hing gar mancher Blick an diesem seltenen Bilde, und seine außergewöhnliche Schönheit fesselte auch plötzlich mit magnetischer Gewalt ein Auge, das mehrere Secunden prüfend über die versammelte Gesellschaft fortgeglitten und an keiner der anwesenden Erscheinungen haften geblieben war.

Die magnetische Gewalt schien rückwirkend zu sein. Der gesenkte Blick Frau von R…g’s hob sich unter dem fest und forschend auf ihr ruhenden Auge und begegnete einer Gestalt, die sie schon einmal gesehen, die ihr schon einmal imponirt hatte und auch jetzt nicht verfehlte, einen vortheilhaften Eindruck auf sie zu machen. Es war die hohe muskulöse Figur eines Mannes von ungefähr vierzig Jahren, der in seinem Anstande etwas Kühnes, Freies und Majestätisches besaß. Diesen Ausdruck verrieth auch jeder Zug des bedeutenden Gesichts. Es war ein so charaktervolles, so schönes Antlitz, wie Frau von R…g sich nicht erinnerte, je gesehen zu haben. Indem sie all die Vorzüge jenes in der Thüre des Nebenzimmers lehnenden Herrn anerkannte und mit dem flüchtigsten Blick überschaute, daß sich ihr eine außergewöhnliche Erscheinung zeigte, durchkreuzte der Gedanke ihren Sinn, daß diese ihr Achtung und Interesse einflößende Persönlichkeit versäumt hatte, sich ihr vorzustellen, und bis jetzt noch nicht durch das kleinste Zeichen verrathen, daß sie die Macht ihrer Reize anerkenne.

Diese plötzliche Ueberzeugung bestürmte die verwöhnte Dame so überwältigend, daß ihr Mißmuth über die bisherige Vernachlässigung sie nicht bemerken ließ, daß derjenige, der bisher ungerührt durch ihre Schönheit geblieben, sie jetzt anerkannte und bereit schien, seinen Fehler auf glänzende Weise wieder gut zu machen.

Bei der unangenehmen Erkenntniß, daß die unstreitig bedeutendste Persönlichkeit der Gesellschaft keine Notiz von ihrem Dasein genommen, legte sich ein tiefes brennendes Roth über das Antlitz der jungen Freifrau. Ihr funkelndes Auge senkte sich von Neuem und die feinen Lippen zuckten unmuthig, als sie mit einer Gebehrde heftiger Erregung den letzten Rest ihres schönen Rosenbouquets zerstörte.

Das scharfe Auge des Beobachters gewahrte nicht allein das Erröthen, das stolze Zurückwerfen jenes herrlichen Kopfes, das an Mitleid und Verachtung streifende Lächeln und die Gebehrde des Unmuths – er errieth den Grund all dieser unwillkürlichen Bewegungen. – Ein Lächeln ganz verschiedener Art umspielte die Lippen seines feingeschnittenen Mundes – es war das des genauen Kenners weiblicher Schwäche! – Flüchtig strich er mit seiner wohlgeformten Hand den etwas lang herabhängenden Schnurrbart, warf [191] dann mit rascher Gebehrde die Portière zurück, welche den Eingang zum Nebenzimmer halb verhüllte, überschritt die Schwelle und näherte sich mit edlem Anstande der Ottomane, wo die von ihm bisher vernachlässigte Dame saß.

Gleich dem leichten Schatten der Palmblätter, welche dunkle Reflexe auf die lichte, glanzumflossene Erscheinung der schönen Königin des Festes warfen, zitterten Gedanken durch die Seele der jungen Frau, die mit düsterem Schein die freudigen, siegsbewußten Gefühle ihres Innern umwoben.

„Wer mag er sein?“ Das hatte sie sich schon das erste Mal gefragt, als ihr Blick jenes kühne, freie und offene Antlitz, jene hohe, imponirende Gestalt bemerkt.

„Wer mag er sein?“ Diese Frage, die sie zu stolz war an Jemand zu richten, und welche sie sich nur heimlich vorzulegen wagte, sie durchkreuzte auch jetzt ihren Sinn, nachdem sie die ihr so widerwärtige und überraschende Erkenntniß gewonnen hatte, daß er der Einzige von Allen in der Gesellschaft war, der ihr nicht gehuldigt. –

„Rittmeister von Blücher!“ ertönte es plötzlich neben ihr.

Frau von R…g blickte empor. Derjenige, der sich in den Augen der gefeierten Schönheit des strafbarsten Vergehens schuldig gemacht, verbeugte sich mit einem Ausdruck so gewinnender Anmuth vor der Tiefbeleidigten, daß ihr Zorn wie mit Zauberschlag aus ihrer erregten Seele wich. Ein Lächeln, lieblich und reizend, wie es sich selten in dem etwas kalten Antlitz zeigte, erhellte die umdüsterten Züge, und tiefer, als Frau von R…g es je zu thun pflegte, neigte sie ihr stolzes Haupt vor dem Fremden.

Der Vorstellung folgte Unterhaltung, und sie wurde von beiden Seiten mit gleicher Gewandtheit, mit gleicher Lebendigkeit geführt. Das Auge der schönen Frau leuchtete dabei heller, als es gewöhnlich der Fall war, und das ernste Antlitz des Rittmeister von Blücher zeigte häufiger ein Lächeln, als man es sonst bei ihm zu sehen pflegte. Erst die von Neuem beginnende Musik unterbrach die fließende Unterhaltung der eifrig miteinander Redenden. Eine Wolke überflog die klare Stirn Frau von R…g’s, als der Tänzer erschien, dem sie das Menuett zugesagt; und nicht die kleinste Bewegung machend, um der Aufforderung zu folgen, sprach sie nachlässig: „Ich bin noch sehr müde, Herr von D**!“

„Gnädigste Baronin, Sie versprachen mir seit drei Wochen dieses Menuett!“ rief der junge Mann mit allen Anzeichen bitterer Enttäuschung, und sich zu seinem Landsmann, dem Rittmeister, wendend, setzte er bittend hinzu: „O Herr von Blücher, helfen Sie mir, Frau von R…g zu dem Tanz zu überreden!“

„Sein Wort muß man halten, jedes Versprechen ist heilig!“ entgegnete der zur Hülfe Aufgerufene mit freundlichen Lächeln und verbindlichem Tone; dennoch fiel aus seinem sanftblickenden Auge ein Strahl so mahnenden Ernstes auf die launische Schöne, und seine leichthin gesprochenen Worte hatten einen Anflug so tiefer Bedeutung, daß Frau von R…g sich schnell erhob.

Dankbar lächelte der Herr, etwas piquirt die Dame den Rittmeister an, indem sie in die Reihen der zum Tanze Antretenden eilten. Mit befriedigtem Ausdruck schaute Der, der die Sache so schnell geordnet, dem jungen Paare nach. Eine Weile sah Herr von Blücher dem graziösen Tanze der schönen Frau zu; dann verschwand er hinter der Portière, die schützend den Eingang zum Spielzimmer verhüllte.

Frau von R…g söhnte sich mit ihrem Tänzer, der eine so anregende und fesselnde Unterhaltung gestört hatte, aus, als sie bemerkte, wie genau derselbe den Herrn von Blücher kannte, wie warm er ihm anhing und wie bereit er war, ihr die gewünschte Auskunft über ihn zu geben.

Sie hatte bisher noch nichts von ihm gehört. Der Name Blücher besaß zu jener Zeit noch nicht die Berühmtheit, welche der Träger desselben ihm später verliehen. Daß er aber eine bedeutende, hervorragende Erscheinung war, sah und fühlte Frau von R…g, wenn sie auch nicht dachte, daß ihm eine so glänzende Zukunft bevorstehe, wie seine Thatkraft, sein Muth und seine Kühnheit sie sich geschaffen. Sie streifte nicht gerade oberflächlich über Das, was sie sah, fort, sie blickte aber auch nicht tiefer; da sie sich nun in der Mittelstraße hielt, riefen die Notizen, die sie durch ihren Tänzer, einen pommerschen Landedelmann, erhielt, keinen vorahnenden Gedanken in ihr wach und veranlaßten sie nicht zu dem festen Glauben, daß all die kleinen Züge, welche sie aus Blücher’s Leben vernahm, sicherste Gewähr für die Annahme leisten konnten, daß sie bereits die feste Grundlage zu dem Gebäude bildeten, dessen kühner, stolzer Säulenbau bestimmt war, einst von der gesammten Menschheit bewundernd angestaunt zu werden.

Alles, was Frau von R…g von Herrn von Blüchers bereits bewiesener Energie, Tapferkeit und Kühnheit hörte, fand sie begreiflich, denn es stimmte mit dem Eindruck überein, den sie durch seine Persönlichkeit empfangen. Unendlich belustigte sie die Art und Weise, wie er bei dem großen Könige, dessen Tod das Land zu der Zeit betrauerte, um seinen Abschied eingekommen war, und lachend wiederholte sie des kühnen Rittmeisters Worte: „Der von Jägersfeld, der kein anderes Verdienst hat, als der Sohn des Markgrafen von Schwedt zu sein, ist mir vorgezogen; ich bitte Ew. Majestät um meinen Abschied!“ Sie war überzeugt, sie würde diesen originellen Brief Blüchers nie vergessen.

Die Antwort Friedrich des Großen erzählte der für seinen Landsmann eingenommene Tänzer der jungen Freifrau nicht. Vielleicht wollte er zu Jemand, der ihm ein „Engel“ zu sein schien, nicht des „Teufels“ erwähnen. – Frau von R…g erfuhr die Entgegnung des beleidigten Monarchen aber noch an demselben Abend von anderer Seite, und die Dame, die ihr erzählte, daß Se. Majestät dem offenherzigen Briefschreiber geantwortet: „Der Rittmeister von Blücher ist seiner Dienste entlassen und kann sich zum Teufel scheeren!“ sie fügte auch boshaft hinzu: „Alle Versuche, die nun Herr von Blücher seit Jahren gemacht hat, um seinen Wiedereintritt in die preußische Armee zu bewerkstelligen, sind vergeblich geblieben, und wahrscheinlich wird auch seine jetzige Bemühung ohne den von ihm so heiß ersehnten Erfolg bleiben.“

„So ist er wohl augenblicklich nur aus dem Grunde in der Residenz, um seine Wiederanstellung zu betreiben?“

„Der und noch ein anderer ebenso wichtiger führt ihn stets nach Berlin, meine liebe Frau von R…g, und täuscht mich nicht Alles, werden Sie diesen Grund bald aus eigener Erfahrung schmerzlich kennen lernen.“

Ein kalter, stolzer Blick aus dem Auge der Freifrau hemmte den Redefluß der erregten Dame, die jedes Wort mit dem Accent der Bosheit weihte. Einen Moment stutzte Jene vor dem flammenden Auge, dann rief sie mit kurzem Lachen: „Eh bien, wir werden sehen! – Herr von Blücher hat jetzt Ihre Bekanntschaft gemacht, und nun wird er die Ihres Herren Gemahls und dessen voller Börse suchen. Er ist ein rasender Spieler. Ich will Ihnen gratuliren, wenn Sie bei Ihrer Abreise noch im vollständigen Besitz aller Ihrer schönen Diamanten sind.“

Das war der Dame aus der Creme des westphälischen Adels doch zu viel – zu stark! – Ihre Brillanten, die seit Jahrhunderten den Sieg über jeden alten kostbaren Familienschmuck davon getragen, sollten von ihrem Manne verspielt werden können! – Eine solche Aeußerung konnte nur mit Verachtung behandelt werden. Sie wurde es. Ein leichtes Zucken der schönen Schultern, eine flüchtige Neigung der schlanken Gestalt, war Alles, was die im Innern tief empörte Freifrau der boshaften Prophetin zu Theil werden ließ.

Frau von R…g’s Auge durchflog den Saal. Nirgends entdeckte sie jene sich vor Allen auszeichnende Persönlichkeit; aber plötzlich gewahrte sie Herrn von D**. Auf ihren Wink eilte er herbei.

„Sehen Sie meinen Mann nicht?“ fragte sie eifrig, um die Unterhaltung einzuleiten und auf Umwegen an ihr Ziel zu gelangen.

Nach kurzer Pause rief Herr von D**: „Dort unter den Palmen, Frau Baronin, wo Sie vorhin saßen.“

„Ach ja – ich sehe! – Ist der Herr, mit dem er redet, Ihr Bekannter, – wie heißt er doch? Wir sprachen vorhin von ihm.“

„Rittmeister von Blücher?“

„Ja, ja. Den meine ich!“

„Nein, Der ist es nicht!“

„Er ist wohl schon fortgegangen? Ein Ehemann, ein Vater von mehreren Kindern pflegt kein bedeutendes Interesse mehr für dergleichen Vergnügungen zu haben.“

„Sie haben Recht, Gnädigste; aber so viel ich eben sah, wird Herr von Blücher noch durch das Spiel hier gefesselt. Er ist dort im Nebenzimmer.“

„Ah – so! Also der Rittmeister ist Spieler? Man sagte mir folglich keine Verleumdung.“

„Wenn auch kein Spieler, Frau Baronin, so mindestens der Leidenschaft etwas ergeben. Das kann ich nicht leugnen! – Sie [192] werden stets finden, daß, wo viel Licht ist, auch Schatten zu sein pflegt. Hat aber die Dame, mit der ich Sie eben reden sah, Ihnen die Notiz über den Rittmeister gegeben, so bedenken Sie, daß diese eine gegen ihn erbitterte Persönlichkeit ist, weil sie oft beim Whist zehn Groschen an ihn verloren und dieser Verlust sich vorgestern bis zum halben Thaler gesteigert hat.“

Frau von R…g lachte. Das Lachen war aber gezwungen, denn sie dachte an etwas Anderes, das sie lebhaft beschäftigte. Von einer glücklichen Idee plötzlich durchleuchtet, fragte sie eifrig: „Spielt der Rittmeister heute auch mit Damen?“

„Nein! Die Herren machen jetzt dort ein kleines Hazardspiel.“

„O wie gern sähe ich dem einmal zu!“

„Darf ich Sie hineinbegleiten?“

„Darf ich denn dort eintreten?“

„Warum nicht?“

Die junge Frau zögerte.

„Wir suchen Ihren Herrn Gemahl, Gnädigste! Er ist jetzt so hinter den Palmen versteckt, daß – –“

„Gut, gut! Wir suchen ihn. – Schnell fort, ehe er wieder hervortaucht!“

Das Paar verschwand hinter der herabgelassenen Portière. Das Nebenzimmer zeigte sich der Baronin als ein großes, weites Gemach. Nur einzelne der verschiedenen darin befindlichen Spieltische waren um die späte Stunde noch besetzt; aber dicht geschaart standen um einen länglichen Tisch in der äußersten Ecke des Zimmers ältere und jüngere Herren. Dort wurde Pharo gespielt, und Rittmeister von Blücher war der Bankhalter.

Die ihn bewundernde Frau sah fast eine halbe Stunde dem wechselnden Spiele des Glücks zu, ohne daß Jemand ihre Anwesenheit bemerkte. Sie erblickte mehrere Haufen Gold und Silber vor dem Rittmeister, sah die bereits angesammelten Schätze bald sich mehren, bald schwinden und fand, daß keiner dieser Wechsel eine Veränderung in dem Antlitz des Herrn von Blücher hervorrief, sondern daß dasselbe eine unerschütterliche Ruhe, einen unbezwinglichen Gleichmuth ausdrückte. Im scharfen Gegensatze zu diesem unbeweglichen Antlitze standen viele erregte Blicke, viele bleiche, farblose und dunkelgeröthete Gesichter der andern Spieler.

Frau von R…g sah dieser gewaltigen Leidenschaft zum ersten Male im Leben in’s Auge, und die Wirkung blieb nicht aus.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Geistesgegenwart. Der Feldprediger Matthisson, Vater des bekannten Dichters, besaß nicht allein in hohem Grade das Talent, in Versen zu improvisiren, sondern seine Zeitgenossen rühmen ihm auch eine seltene Geistesgegenwart nach, die ihn selbst in den Augenblicken der größten Gefahr nie verlassen. Daß es ihm aber neben allen seinen Talenten, seiner großen Begabung und vielen vortrefflichen Eigenschaften des Herzens und Charakters an persönlichem Muth fehlte, wußte Jeder, der ihn kannte, genau. Nicht selten gab dieser Mangel seinen Freunden zur Neckerei Anlaß, und wie er solche Scherze aufzunehmen pflegte, mag ein Beispiel beweisen.

Als im siebenjährigen Kriege, beim Ueberfall bei Hochkirch, einige Regimenter sich schnell zusammengezogen hatten, um dem feindlichen Angriff Widerstand zu leisten, stürzte sich der Feldprediger Matthisson seinem Burschen entgegen, der sein Pferd hielt. Er bestieg dasselbe mit so rasender Schnelligkeit, daß alle die, welche seine Eile bemerkten und deren Grund kannten, trotz des großen Ernsten der nahenden Stunde der Gefahr, ein Lächeln nicht unterdrücken konnten. Einer der Regiments-Commandeure, Oberst von Pfuel, Vorgesetzter des Feldpredigers und zugleich dessen Freund, war einer von denen, die Matthissons Angst bemerkten und sahen, wie eifrig der Mann des Friedens bemüht war, seine Person pflichtgemäß hinter die Fronte des vorrückenden Regiments in Sicherheit zu bringen. Er gab seinem Pferde die Sporen; es flog dem des Feldpredigers nach, und als er ihm auf ungefähr zwanzig Schritt nahe war, rief er ihm mit Donnerstimme zu: „Herr Feldprediger, wohin?“

Matthisson hielt bei dem Zuruf des Commandeurs sein Pferd an. Ein Blick auf seines Freundes schelmisch-blitzendes Auge ließen ihn entdecken, daß er trotz des donnernden Zurufs nichts zu befürchten habe, aber – dennoch auf seiner Hut sein müsse, und – er war es! – Als Oberst von Pfuel daher langsam und ernst hinzusetzte: „Bleiben Sie ruhig, Herr Mattthisson, bleiben Sie hübsch bei uns!“ erwiderte der Prediger kaltblütig mit seiner gewöhnlichen Geistesgegenwart:

„Der Ruf ergeht an Euch, Ihr Streiter,
Doch nicht an mich, der ich nur Hirte bin.
Ruh’ hab’ ich nicht! – Ich reite weiter
Bis dort, – zu jenen Bergen hin!
Da bete ich, wie Moses that,
Bis sich der Streit geendet hat.“

Militairisch grüßend faßte der gewandte Geistliche bei den letzten Worten an seine Mütze; auf ein leichtes Zeichen, das er seinem Pferde gab, trug es ihn schnell weiter. Lächelnd blickte Oberst von Pfuel seinem hinter der Fronte des Regimentes verschwindenden Freunde nach. Ein leises: „Gott mit Dir!“ glitt über seine Lippen; dann ritt er an seinen Posten, an die Spitze des Regiments, und obgleich er es mit dem lauten Ausrufe: „Gott mit uns!“ den feindlichen Colonnen entgegenführte, führte er doch Hunderte seiner treuen Schaar dem Tode entgegen. Daß nicht sein ganzes Regiment aufgerieben wurde, soll seiner Geistesgegenwart im Augenblick der höchsten Gefahr zu danken gewesen sein, und Worte des Lobes und der warmen Anerkennung wurden ihm von Friedrich dem Großen am Abend jenes für die Preußen unglücklichen Tages zu Theil, wo sich die Truppen nach dem nur eine Stunde vom Schlachtfelde entfernt liegenden Spitzberge bei Hochkirch zurückgezogen und in haltbarer Stellung festgesetzt hatten.

Als Friedrich der Große die Commandeure der Regimenter nach flüchtiger Ansprache verabschiedete, trat Matthisson zu seinem Freunde, dessen Antlitz von Stolz und Freude strahlte. Einen Moment überwältigte ihn die Rührung, ihn an dem Tage, der so Vielen das Leben gekostet, gesund und wohlbehalten wiederzusehen, dann erinnerte er sich der Scene des Morgens und heiter rief er dem Obersten zu:

„Am Tag sich tapfer mit dem Feinde schlagen
Und Abends still ein Glück in Demuth tragen! –
Des Nachts! – Nun, Nachts, mein Freund, da magst Du ruhig sagen.
Daß ich mit Freuden nie mein Leben werde wagen.
Es ist ein hohes Gut! Man muß es ehren – schätzen –
Ja seinetwegen selbst dem Spott sich mal aussetzen!
Verliert die Geistesgegenwart bei diesem Spott man nicht,
Verletzt er nie so scharf, da Geist die Spitz’ ihm bricht.“

L. E.


Kleiner Briefkasten.

L. Kl. in Osth. Wir würden Ihrem Wunsche gern nachkommen, der Betreffende wünscht aber erst nach seinem Tode in der Gartenlaube portraitirt zu werden. Bei seiner pyramidalen Gesundheit wird das freilich noch Jahrzehnte dauern.

C. F. R. in Hamburg. Sie wünschen Aufklärung der widersprechenden Angaben hinsichtlich der Größe der vorweltlichen Thiere in Giebel’s Aufsatz über die fliegenden Drachen der Vorwelt und Zimmermanns Wunder der Urwelt. Lesen Sie gefälligst Burmeisters Kritik dieses wahrhaftigen Wunderwerkes in der Gartenlaube Jahrgang 1856, S. 310 und Giebels Beleuchtung desselben in der Zeitschrift f. gesammte Naturwissensch. 1859 Bd. IV S. 221, und Sie werden nie wieder einem Fachgelehrten mit Zimmermannschen Wundern opponiren. Wollen Sie sich über die Größenverhältnisse der vorweltlichen Thiere genauer unterrichten, so finden Sie befriedigende und sichere Auskunft in der ganz populär gehaltenen Abhandlung „die Riesenthiere der Vorwelt“ in Giebels Buche: Tagesfragen aus der Naturgeschichte (Berlin 1859, 3. Aufl.), dessen Lectüre Ihnen noch über viele andere allgemein verbreitete Irrthümer Aufschluß geben wird.

M. L. Unsere Mittheilung in Nr. 6 beruht, wie Sie ganz richtig vermuthen, auf einem Irrthum. Das Geschlecht des preußischen Stammes der Freiherrn von Trenck ist noch nicht ausgestorben. In der Lausitz, in Neukirch am Hochwald, lebt noch heute ein Enkel jenes in Paris guillotinirten Freiherrn als hochverdienter Pastor des Ortes.

K. in L. Danke für die Nachricht. Wir werden den Nachdruck der „Erinnerungen der Frau Schröder-Devrient“, wo wir ihn auch finden, ohne Nachsicht mit allen gesetzlichen Mitteln auf das Schärfste verfolgen und bitten bei dieser Gelegenheit alle unsere Leser, uns Mittheilungen über etwaige Räubereien zu machen.

B. in B. Allerdings werden die gesammelten Briefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy erscheinen und zwar bei Herrmann Mendelssohn in Leipzig. Die beiden Herausgeber, Professor Droysen und Paul Mendelssohn-Bartholdy in Berlin, erlassen so eben einen Aufruf an alle Besitzer Mendelssohn’scher Briefe, dieselben entweder in Original oder in zuverlässigen Abschriften an einen der beiden Genannten einzusenden.

H. in W. Ihre Anfrage, ob sich die Errichtung des Arndt-Denkmals nicht mit der Wiederaufnahme und Vollendung des Hermanns-Denkmals auf der Spitze des Teutoburger Waldes vereinigen lasse, können wir vorläufig noch nicht beantworten. Vor allen Dingen gilt es jetzt, das Resultat der Sammlungen zu einem erfreulichen und großartigen zu machen. – Ihrem Wunsche kommen wir bereits heute nach. Das Portrait Arndt’s ist nach der in Bonn allein existirenden Original-Photographie gefertigt.


Für „Vater Arndt“

gingen ferner bei dem Unterzeichneten ein: 2 Thlr. Heinr. Kaltschmidt – 2 Thlr. L–r in L. – 10 Ngr. Schuwardt – 10 Ngr. G. A. H. in Meißen – 3 Thlr. Advocat O. A. D. Schmidt in Lpzg. – 5 Thlr. Bchhdlr. Baumann.

An alle Freunde des deutschen Mannes ergeht nochmals die Bitte, ihr Scherflein für das Denkmal beizutragen. Mit Bedauern hört man, daß in Oesterreich nirgends Sammlungen für den Bravsten der Deutschen angestellt worden sind. Gehört Oesterreich nicht mehr zu Deutschland?

Hat man dort schon vergessen, daß Arndt auch für Oesterreich gekämpft und gelitten?
Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Sophie Schröder, Tochter des Schauspielers Bürger, verheirathete sich 1795 mit dem Schauspieldirector Stollmers zu Reval. Als diese Ehe ein Jahr später getrennt wurde, nahm Stollmers seinen eigentlichen Familiennamen Smets wieder an und kehrte zur juristischen Laufbahn zurück.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Quistorp; Vorlage: Onistorp
  2. Vorlage: Onistorp