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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[145]

No. 10. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine Brautfahrt.
Von dem Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.


Vor etwas mehr als dreißig Jahren –

Warum gerade damals? Ich will meinen Lesern eine kleine Geschichte erzählen, eine wahrhafte und keine erfundene und dazu von einer Räuberbande, und Räuberbanden gab es zu jener Zeit in Deutschland noch. Ein Bekannter von mir hat ein dickes Buch über sie geschrieben, in dem auch die Bande vorkommt, von deren Hauptmann ich hier ein Stückchen erzählen will.

Daß es heute keine solche Banden mehr gäbe – ich will es nicht geradezu behaupten, aber so viel ist gewiß, in der heutigen Zeit plündern andere Banden viel leichter, viel bequemer und völlig sicher die Leute aus, an Börsen und Banken; warum da noch Räuber und Mörder? –

Vor etwas mehr als dreißig Jahren fuhr an einem klaren und noch warmen Octobernachmittage die tägliche Fahrpost in ein kleines Städtchen ein. Das Städtchen lag drei oder vier Meilen von einer deutschen Residenz entfernt. Der Postwagen hielt vor dem Posthause auf der Straße. Der Postillon sprang flink aus dem Sattel. Der Conducteur kam steif aus seinem Coupé hervor, trat an den Wagen, öffnete den Schlag und sprach hinein: „Wer will, kann hier aussteigen!“

Es war noch die volle Zeit der Grobheit der deutschen Postbeamten. Eisenbahnen gab es damals im deutschen Vaterland noch nicht; Schnellposten waren nur erst auf wenigen Touren eingerichtet. Besonders die Schirrmeister der Fahrposten hatten daher ein Monopol der Grobheit.

„Wie lange hält der Wagen hier?“ fragte eine Stimme heraus.

„Zehn Minuten,“ antwortete der Conducteur.

„Auch wohl etwas länger!“ meinte etwas derb die Stimme im Wagen. „Man kennt die zehn Minuten auf den Poststationen.“

Das Gesicht des Schirrmeisters verfinsterte sich. Es war dies eine offenbare Amtsehrenbeleidigung gegen das gesammte Postwesen.

Sollte, mußte er sie nicht rügen? Allein er schien ein großmüthiges Verzeihen vorzuziehen. Er ging, ohne etwas zu erwidern, mit seinem Briefbeutel in das Posthaus.

Aus dem Postwagen stieg darauf ein einzelner Reisender. Es war ein kurzer, dicker Herr mit einem starken, rothen, befehlend aufgeworfenen Gesichte. Draußen sah er sich um. Er hatte etwas zu fragen. Es war aber nur noch der Postillon da, der seine Pferde abschirrte. Er wandte sich ärgerlich an diesen: „Wo kann man hier denn bleiben?“

„Im Wirthshause!“ antwortete eben so grob und nachlässig, wie sein Conducteur, der Postillon.

„Ist denn keine Passagierstube da?“ fragte beinahe zornig der Fremde.

„Nein.“

„Und wo ist das Wirthshaus?“

„Suche es sich der Herr.“

Der Fremde ging mit einem Fluche, sich das Wirthshaus zu suchen. – In dem Postwagen hatte Jemand der kleinen Scene mit einem höchst gleichgültigen, fast blasirten Gesichte zugesehen. Ein Anderer hatte gar keine Notiz davon genommen.

Jener war ein nicht mehr ganz junger Mann mit einem etwas abgelebten Gesichte, das aber einen ungeheuren Schnurrbart tragen mußte. Schnurrbart und eine eigenthümlich steife, gerade Haltung schienen, ungeachtet der bürgerlichen Kleidung des Reisenden, einen Soldaten, und etwas Vornehmes in der Haltung, so wie das blasirte Gesicht einen Lieutenant verrathen zu wollen. Er war es, der mit dem völlig gleichgültigen Gesichte, und ohne sich auf seinem Eckplatze zu rühren, die Unterredung zwischen dem groben Postillon und dem zornigen Herrn angehört hatte.

Der Andere, der von dieser gar keine Notiz genommen hatte, war nach seiner Kleidung offenbar ein Geistlicher. Er trug einen schwarzen Rock, schwarze Beinkleider, eine lange, schwarze Tuchweste, ein sauberes weißes Halstuch, einen schwarzen Hut mit breiter Krämpe. Er schien schon ziemlich alt zu sein, seine Haare waren weiß und das Gesicht hatte den Ausdruck einer milden Würde. – Derselbe hatte ebenfalls einen Eckplatz im Wagen und hatte sich ermüdet darin zurückgelegt. Er schien geschlafen zu haben, denn als der Wagen hielt, hatte er nur auf einige Secunden die Augen geöffnet. Dieselben waren noch ungewöhnlich lebhaft; aber diese Lebhaftigkeit that der milden Würde des Gesichts keinen Eintrag. Die Augen schlossen sich bald wieder, und er schien weiter zu schlummern.

Außer den Beiden war Niemand im Wagen, und sie schienen das Weiterfahren desselben abwarten zu wollen. Der muthmaßliche Lieutenant schlief nicht, sondern sah blos langweilig vor sich hin; seine Langweile sollte jedoch unterbrochen werden. Dem Postwagen näherte sich aus der Straße des Städtchens ein Herr mit zwei Damen. Der Herr war ein hübscher junger Mann, noch sehr jung; das Gesicht wie Milch und Blut, darin ein kleiner, schwarzer, kecker Schnurrbart, ein Paar Augen, die glaubten, überall dabei sein zu müssen, und ein Leichtsinn, der für junge Mädchenlippen gewiß zum Küssen war, frommen Matronen und soliden Männern aber unwillkürlich ein Kopfschütteln abnöthigen oder wohl gar einen [146] Schrecken einjagen mußte. Er trug bürgerliche Reisekleidung, aber auch ihm sah man bald an, daß er ein junger Lieutenant sein müsse, man konnte sogar meinen, die Garde in ihm zu entdecken, denn die vornehme Blasirtheit und der liebenswürdige Leichtsinn einen Gardelieutenants haben nun einmal etwas Unverkennbares.

Er führte eine ältere Dame; ein junges Mädchen ging an seiner anderen Seite.

Fünf Schritte vor dem Postwagen blieben sie stehen und sollten hier Abschied nehmen, da der junge Mann mit der Post reisen wollte. Die Damen, von denen die ältere die Mutter war, hatten ihn zum Wagen begleitet. Dem Scheidenden durften die mütterlichen Abschiedsermahnungen nicht fehlen; sie sind zwar meist schlecht genug angebracht, namentlich in diesem Momente; aber sie sind so gut gemeint, und das Herz der Mutter weint dabei, manchmal freilich auch das des Sohnes. Dieses weinte hier wohl nicht.

„Und, nicht wahr, Fritz,“ sagte die Mutter, „Du denkst an Alles, was Du mir versprochen hast?“

„Gewiß, liebe Mutter.“

„Und Du wirst nicht leichtsinnig sein?“

„Gewiß nicht, liebe Mutter.“

„Und auch keine Abenteuer suchen?“

„Wenn sie mich nur nicht suchen.“

„Dann gehe ihnen aus dem Wege, mein Sohn.“

„Ach, wer das könnte!“

„Fritz, Fritz!“

„Aber ich werde mir alle Mühe geben, Mutter.“

„Kann ich mich darauf verlassen, mein Kind?“

„Es ist wahrhaftig mein Ernst, Mutter. – Aber Himmeldonnerwetter, was ist denn das, mein Herr? wie können Sie sich unterstehen –“

Die jüngere Begleiterin des blutjungen muthmaßlichen Gardelieutenants war noch jünger als er; sie konnte vierzehn bis funfzehn Jahre zählen, war also in dem Alter zwischen Kind und Jungfrau. Als Jungfrau war sie hübsch, als Kind neugierig. Während der mütterlichen Ermahnungen war sie an den Postwagen herangetreten, indem sie doch wissen mußte, wo der Herr, den sie begleitete und der ihr also näher angehörte, bleiben solle. Daher blickte sie in den Wagen und sie war unmittelbar vor dem ungeheuren Schnurrbarte des blasirten Lieutenants. Erschrocken wollte sie zurückfahren, aber sie konnte nicht; der Schnurrbart war plötzlich lebendig getvorden.

„Ach, meine Kleine, Sie wollen mitfahren? Ich werde Ihnen einsteigen helfen, schönes Kind.“

Die junge Dame fühlte sich angefaßt, sie wußte nicht, wie.

Vor Schreck konnte sie kaum schreien, aber die schwarzen Augen ihres jungen Begleiters, die überall dabei sein mußten, waren schon bei ihr, und in dem nämlichen Momente auch ihr Begleiter selbst. Der junge Gardelieutenant hatte sich von der Mutter losgerissen und flog zum Wagen.

„Himmeldonnerwetter, Herr, wie können Sie sich unterstehen! Wissen Sie, daß die Dame meine Schwester ist?“

Der blasirte Lieutenant blieb blasirt. „Nein, mein Herr, das weiß ich nicht.“

„So erfahren Sie es, und –“

„Ich erfahre es, und?“

„Sie werden mir Genugthuung geben, wenn ich vorher erfahren habe –“

„Wer ich bin?“

„Ja, Herr, wer sind Sie?“

Bei diesen Fragen hatten sich die Herren natürlich näher angesehen, und auf einmal rief der lebhafte Gardelieutenant: „Ach, zum Teufel, Falkenberg, bist Du es denn wirklich?“

Und der blasirte Lieutenant sprach ruhig: „In der That, Fritz Horst, ich erkenne auch Dich.“

„Der verdammte bürgerliche Rock macht Einen unkenntlich.“

„Ja, er entstellt. – Also Deine Schwester war die Dame? Sie ist hübsch; aber wo ist sie denn geblieben? Ich muß sie doch jetzt um Verzeihung bitten.“

Die hübsche Schwester des Lieutenants Fritz von Horst war, wie eine schüchterne Taube, davon geflogen, zu der schützenden Mutter. Letztere hatte darauf wohl schützend zu dem Sohne hineilen wollen, aber da hatten die beiden jungen Männer sich schon als Cameraden und Freunde erkannt, und sie trat mit der Tochter zurück.

Fritz von Horst erklärte seinem Freunde, daß er die Bitte um Verzeihung seiner Schwester selbst überbringen wolle, und der Herr von Falkenberg ließ sich dies gefallen und blieb im Wagen sitzen. Sein jüngerer Camerad kehrte zu den Damen zurück und nahm von ihnen Abschied.

Die Mutter rief dem Sohne noch leise zu: „Du denkst doch daran, was Du versprachst, Fritz? Und kein Leichtsinn, kein Abenteuer!“ Dann entfernte sie sich mit der Tochter. Fritz von Horst sandte ihnen ein paar Grüße nach und stieg in den Postwagen.

Der Mutter mochte das Herz schwer genug sein, während es dem Sohne, wenigstens im Wagen, leicht war, und beide Cameraden begannen ein lebhaftes Gespräch mit einander.

„Aber, wie treffen wir uns hier, Falkenberg?“

„Ein Freund, der in der Nähe wohnt, hat mich zur Jagd eingeladen. Und Du?“

„Ich bin auf der Brautfahrt.“

„Du?“

„Nun ja, warum nicht?“

„Ah, Deine Braut ist wohl reich?“

Der junge Gardelieutenant Fritz von Horst, den seine Mutter vor Leichtsinn und vor Abenteuern hatte warnen müssen, und der auch wohl danach aussah, daß er einer solchen Warnung bedurfte, sah sich, bevor er auf die Frage seines Freundes antwortete, doch etwas bedenklich nach dem alten Reisenden in der Ecke um, der ein Geistlicher zu sein schien. Der Herr von Falkenberg bemerkte ihm aber mit der ungenirten Nachlässigkeit eines vornehmen Lieutenants kurz: „Er schläft!“

Fritz von Horst entgegnete auf die noch zu beantwortende Frage seines Freundes fast eben so kurz: „Ja, sie ist sehr reich.“

Diese Antwort gab dem Herrn von Falkenberg etwas Leben, und er sagte: „Ich gratulire; Teufel, Du hast Glück, Fritz!“

„Glück muß ein junger Mensch haben.“

„Wie heißt Deine Braut?“

„Lucina von Eisenring.“

Bei diesen Worten wäre Herr von Falkenberg beinahe in Feuer gerathen, wenn das bei ihm noch möglich gewesen wäre. „Teufel, Mensch,“ rief er, „der alte Landrath von Eisenring ist ja der reichste Edelmann im Lande!“

„Ich sage Dir ja, daß meine Braut sehr reich ist.“

„Sie ist die einzige Tochter?“

„Das einzige Kind!“

„Die Mutter ist nur eine Närrin.“

„Sie ist etwas sentimental.“

„Aber sie führt das Regiment im Hause, der Alte ist eine Null.“

„Du scheinst die Familie genau zu kennen?“

„Wie werde ich nicht?“

„Darf ich fragen, woher?“

„Ei, mein Freund, wenn man schon in einem gewissen Alter ist, wie ich, und kein Vermögen hat, auch noch immer nichts ist, als Lieutenant, so muß man anfangen, an seine Zukunft zu denken.“

„Ich begreife nicht recht.“

„Ich glaube es. In Deinem glücklichen Alter – wie alt bist Du jetzt?“

„Dreiundzwanzig Jahre.“

„Ich habe eben so viele Dreißig. Also in Deinem Alter denkt man nur an hübsche Mädchen und Abenteuer, vor denen mit Recht Deine brave Mutter Dich gewarnt hat; wenn man aber in meine Jahre gekommen ist, so ist man nur noch auf reiche Erbinnen und eine solide Existenz bedacht. Begreifst Du jetzt?“

„Ah, und da hast Du Dir wohl ein Verzeichnis von reichen Erbinnen angelegt?“

„Aller, die es im Lande gibt.“

„Und dabei ist auch meine Braut?“

„Eigentlich steht sie obenan; das heißt jetzt: sie stand, – aber darf ich fragen, wie Du ihre Bekanntschaft gemacht hast?“

„Ich kenne sie noch gar nicht.“

„Wie? Und Du bist schon verlobt mit ihr? Das mußt Du mir erzählen.“

Fritz von Horst schien zwar vor dem Freunde kein Geheimniß haben zu wollen, sah aber doch noch einmal besorgt auf den muthmaßlichen Geistlichen.

„Ich sage Dir, er schläft,“ wiederholte der Herr von Falkenberg.

[147] Der Geistliche schien in der That zu schlafen, denn seine Augen waren geschlossen, sein Athem ruhig und regelmäßig, sein Körper unbeweglich.

Nach dieser abermaligen Ueberzeugung erzählte der junge Gardelieutenant: „Meine Mutter und die Frau von Eisenring sind Jugendfreundinnen, haben sich aber seit ihrer Jugend nicht mehr gesehen; meine Mutter wurde die Frau und dann Wittwe eines armen Officiers, während ihre Freundin die reichste Frau des Landes ward. So waren sie auseinander gekommen. Auf einmal erhält meine Mutter vor einigen Wochen einen Brief von ihr, in welchem sie die alte Freundschaft wieder anknüpft und anfragt, ob ihre Tochter und ich nicht ein Paar werden könnten.“

„Ah, und Deine Mutter war einverstanden?“

„Wenn ich es sei.“

„Es war allerdings viel von Dir verlangt, in den Jahren, von denen wir eben sprachen, und daß Du ein leichtsinniger Bursche bist, kann sogar Deine eigene Mutter Dir bezeugen; aber Du brachtest das Opfer.“ Herr von Falkenberg sprach diese Worte gewiß nicht ironisch, sondern im vollen Ernste.

So nahm sie auch sein jüngerer Freund und Camerad auf „Was sollte ich machen? Meine Mutter ist arm; wie viel hat sie in ihrem Leben entbehren müssen, und meist für mich! Auch an meine Schwester hatte ich zu denken.“ Fritz von Horst sprach das ohne allen Leichtsinn eines jungen Gardelieutenants, aber mit einem Ernste und einer Innigkeit, die zeigten, daß sie ihm aus dem Herzen kamen und daß dieses Herz, wenn auch ein leichtsinniges, doch auch ein braves war.

Sein älterer Freund schien sich dennoch beinahe etwas zu verwundern. „Es ist rührend,“ sagte er, „und dabei ein ganzer Roman, den aber blos die Mütter fertig gemacht haben. Ja, ich sagte es gleich, die alte Eisenring ist eine – wie nanntest Du sie doch?“

„Eine sentimentale Schwärmerin?“

„Richtig; schade, daß sie keine Schriftstellerin ist, sie könnte in ehestiftenden Romanen etwas leisten. Uebrigens gratulire ich Dir nochmals. Du hast Deine Braut noch nicht gesehen?“

„Nein.“

„Aber auf meiner Liste steht sie zugleich als schön und liebenswürdig und erst achtzehn Jahre alt. Und auch ihr kann man gratuliren, denn ein hübscher und braver Mensch bist Du; auch hast Du, trotz Deiner Jugend, schon eine ziemliche Portion Abenteuer und Liebschaften gehabt, so daß Du ihnen nachgerade Valet sagen kannst.“

„Leider werde ich das wohl müssen!“ seufzte der junge Gardelieutenant.

„Für so und so viele Hunderttausende kann man das schon.“

Das Gespräch der beiden jungen Herren wurde unterbrochen.

Der neue Postillon der Station hatte seine Pferde angeschirrt und dann zum Einsteigen geblasen. Als er zum dritten Male blies, erschienen der Conducteur und die Reisenden, die mitfahren wollten.

Zuerst der kurze, dicke Herr mit dem rothen, aufgeworfenen Gesichte. Er mußte sich gut gepflegt haben; sein Gesicht war bedeutend röther und er pustete, als er seinen Platz wieder einnahm. Hinter ihm stieg ein sehr wichtig aussehender Mann in mittleren Jahren ein ; er schien ein reisender Kaufmann zu sein. Ihm folgten zwei Landleute, wohlgekleidete, stämmige Männer mit klugen Gesichtern, die aber gar nicht klug aussehen sollten. Namentlich der wohlhabende Bauer liebt das mitunter so. Alle setzten sich in das Innere des großen Postwagens. Der Conducteur nahm seinen Platz vorn im Coupé ein, und der Wagen fuhr ab.

Das Straßenpflaster des Städtchens glich jungen Alpen. So lange man auf ihm fuhr, war an Sprechen im Wagen nicht zu denken. Die beiden Officiere hatten sich zudem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, mit einer Miene, die deutlich sagte, daß sie ihrer Reisegesellschaft gegenüber sich fortan nur in ein vornehmes, theilnahmloses Schweigen hüllen könnten. Der Geistliche war einen Augenblick erwacht. Die beiden Bauerleute, die an seinem Aeußeren seinen Stand erkannt haben mußten, hatten ihn mit der Ehrfurcht begrüßt, mit welcher auf dem Lande der Geistliche gegrüßt zu werden pflegt. Er hatte ihnen mit der milden Freundlichkeit seines Standes gedankt und dann die Augen wieder geschlossen. Der kurze dicke Herr warf einen stolzen Blick über die Gesellschaft.

Dann legte er sich zurück, faltete die Hände über dem Bauche und pustete behaglich. Der reisende Kaufmann aber sah mit seinem wichtigen Gesichte die Mitreisenden langsam einen nach dem anderen an. Es war darauf zu schwören, daß er ein Mann war, der gern erzählte, und daß er seinen Mann aussuche, dem er recht viel erzählen könne. So war es auch.

Kaum hatte der Wagen das Thor der Stadt hinter sch und fuhr schwerfällig und langsam und ohne Geräusch in der sandigen, weichen Landstraße, als er zu sprechen anfing. Er wandte sich an die beiden Landleute, mit denen er auf derselben Bank saß. „Hm, Ihr guten Leute,“ begann er mit einer Frage, „seid Ihr hier aus der Gegend?“

„Ja,“ war die Antwort.

„Dann kennt Ihr auch die Gegend wohl?“

„Gewiß, Herr.“

„Hm, hm, das freut mich. Ich reise zwar viel. Fahre alle Jahre zweimal zur Messe, um einzukaufen. Ich bin nämlich Tuchhändler. Aber in dieser Gegend war ich noch nicht, und nun höre ich, daß wir bald in einen großen Wald kommen werden; hat das seine Richtigkeit?“

„Ja. Herr, dan hat seine Richtigkeit.“

„Er soll zwei Meilen lang sein.“

„Das mag wohl so sein, Herr, wir fahren mit der Post vier Stunden darin.“

„Hm, hm, das wäre also richtig.“

Sein wichtiges und geheimnißvolles Wesen schien die beiden Bauern besorgt gemacht zu haben. „Der Herr hat doch nichts über den Wald gehört?“ fragten sie.

Der messereisende Kaufmann wurde noch geheimnißvoller und wichtiger. „Hm, hm, über den Wald nun wohl eigentlich nicht. Aber ich bin da vorhin auf einer Seitenstraße gefahren, und da habe ich denn ein paar Meilen von da allerdings etwas gehört, was Einen wohl auf allerlei Nachdenken bringen kann.“

„Darf man es wissen, Herr?“

„Gewiß, Ihr guten Leute. Auf einem Edelhofe und in einem Dorfe, eine halbe Meile davon, sind plötzlich zwei verwegene Einbrüche verübt. Auf dem Edelhofe ist die herrschaftliche Kasse gestohlen; in dem Dorfe ist einem reichen Leinwandhändler sein ganzer Laden ausgeräumt. Beide Verbrechen können nur von mehreren Menschen verübt sein; sie müssen auch zu derselben Zeit vorgefallen sein, des Nachts um zwei Uhr, denn um diese Stunde hat man im Dorfe und auf dem Edelhofe die Hunde bellen gehört.“

Die beiden Bauern waren sichtlich ängstlicher geworden. „Das ist ja eine schreckliche Geschichte, Herr.“

„Ja, Ihr guten Leute. Und dabei kann man wohl an den großen Wald denken, den wir zu passiren haben. Ist er noch weit von hier?“

„Wir müssen ihn in einer Viertelstunde erreichen, Herr.“

„Und wir fahren ganze vier Stunden darin?“

„Volle vier Stunden.“

„Wir treffen doch auf Häuser?“

„Nur auf ein einziges, Herr, nach der ersten Stunde. Es ist eine einzelne Schenke.“

„Hm, eine Waldschenke! Da ist es auch wohl nicht ganz richtig? Da pflegen die Diebesbanden ihr Hauptquartier aufzuschlagen. “

„Wir haben hier noch nie von Diebesbanden gehört, Herr.“

„Ach, Ihr guten Leute, wenn einmal eine solche Bande in der Gegend hauset, dann kann man für nichts mehr einstehen.

Und nun müssen wir gar noch im Dunkeln den Wald passiren.

In einer halben Stunde geht die Sonne unter.“

„Wäre man da schon jenseits!“

„Ja, ja, und dazu habe ich in dem Städtchen noch von dem vorigen Postillon gehört, es sei heute viel Geld im Postwagen.

Er wollte gar von zehntausend Thalern wissen.“

„Zehntausend Thaler?“

„In Gold und in Cassenscheinen.“

„Und wer soll sie bei sich führen?“

„Ich denke, der Schirrmeister wird sie haben.“

Der kurze, dicke Herr war plötzlich unruhig geworden. Erst als der Tuchhändler die Vermuthung in Betreff des Schirrmeisters aussprach, schien er sich wieder zu beruhigen. Gleich nachher sollte er jedoch wieder unruhiger werden.

Zwei Reiter sprengten im Galopp hinter dem Wagen her und holten ihn ein. Es waren ein paar Gensdarmen, welche dem Postillon anzuhalten befahlen. „Mit Erlaubniß,“ blickten sie zu [148] beiden Seiten in den Wagen hinein und musterten scharf die sämmtlichen Reisenden. „Haben die Herrschaften Pässe?“

Alle Reisenden waren lebendig geworden. Auch der alte Geistliche war erwacht. Der Tuchhändler war der Erste, der seinen Paß hervorzog und den Gensdarmen übergab. „In Ordnung!“ wurde ihm der Paß zurückgegeben. Der Geistliche hatte unterdeß den seinigen überreicht. „Ganz in Ordnung!“ wurde er auch ihm zurückgegeben, mit einer gewissen Ehrerbietung. Die Gensdarmen mußten in gewissen Ländern damals schon anfangen, fromm zu werden.

Die beiden Landleute wurden aufgefordert. „Wir sind aus der Gegend; wir haben keine Pässe.“ Sie sagten es ehrlich und unbefangen genug.

„Woher?“ wurden sie gefragt.

„ Sie nannten ein Dorf der Nachbarschaft. Die Gensdarmen waren befriedigt. Die Reihe kam an den rothen, dicken pustenden Herrn. Aber ihm wurde kein Paß abgefordert. Sie kannten ihn schon und begrüßten ihn mit den Worten: „Gehorsamer Diener, Herr Amtmann.“

„Aber Ihr Paß, mein Herr?“ Die Aufforderung war an den Herrn von Falkenberg gerichtet.

„Mein Urlaub,“ reichte er sehr vornehm und nachlässig ein Papier hin.

Es wurde ihm mit militairischem Respect zurückgegeben. „Sehr wohl, Herr Lieutenant.“ Ebenso geschah es mit dem Lieutenant von Horst. Der dicke Herr, von den Gensdarmen Herr Amtmann genannt, war unterdeß neugierig geworden. „Was ist denn los?“ fragte er die Gensdarmen.

Die militairischen Diener der Polizei berichteten ihm: „Es sind plötzlich heute Nacht in der Gegend verwegene Einbrüche vorgefallen, Herr Amtmann.“

„Ei, ei, wirklich?“

„Es muß auf einmal eine fremde Räuberbande ins Land gekommen sein, wahrscheinlich die des berüchtigten Rosenthal,“ berichteten die Gensdarmen weiter.

„Hm, und in welcher Richtung soll sie sein?“ fragte der Amtmann.

„Man weiß es nicht. Daher sind Patrouillen nach allen Richtungen ausgesandt. Gewissen Nachrichten zufolge hätte sich das Gesindel dort nach rechts hin gezogen.“

„Also nicht in den Wald vor uns?“

„Soviel man weiß, nicht.“

„Sie reiten also auch wieder zurück?“

„Wir schlagen uns nach rechts.“

Der dicke Herr war unruhig geworden. „Hm, konnten Sie mir nicht den Gefallen thun, den Wagen durch den Wald zu begleiten?“

„Das ist leider gegen unsere Ordre.“ Sie sprengten davon, nach rechts hin.

Der dicke Herr konnte sich nicht sogleich wieder beruhigen. Man meinte, einen leisen Schweiß gar der Angst auf seine Stirn treten zu sehen. Der reisende Kaufmann aber war sehr vergnügt geworden. „Seht Ihr, Ihr guten Leute? Gerade, was ich Euch gesagt hatte. Da könnte ich Euch noch Geschichten erzählen –“

Er sollte indeß nicht zum Erzählen kommen. Der Postwagen fuhr wieder langsam in dem Sande dahin. Den Wald hatte er noch nicht erreicht. Man sah ihn erst in der Ferne. Auf einmal holte ein anderes Fuhrwerk ihn ein. Es war ein starker, aber zierlicher, langer Korbwagen, mit einer weißen Plane bedeckt. Man sah solche Wagen damals oft auf der Landstraße. Wandernde Schauspieldirectoren fuhren darin, Besitzer von Menagerien wilder Thiere; wenn sie von besserer Sorte waren, auch wohl reiche Bauern, selbst vornehme Gutsbesitzer, die nur einen Besuch der Nachbarschaft machen wollten. Der Planwagen, der den Postwagen einholte, war offenbar von besserer Sorte. Feine, schneeweiße Leinwand bedeckte ihn; ein Kutscher in halber Livree saß auf einer Art Bock, und die Pferde, die ihn zogen, waren ein paar hübsche, kräftige und muthige Thiere. Und was drinnen unter der schneeweißen Plane saß? Man konnte nur die vorderste Bank sehen, unmittelbar hinter dem Bocke.

„Teufel, Falkenberg!“ stieß der Lieutenant Fritz von Horst seinen älteren Cameraden an.

„Alle Wetter!“ mußte selbst der blasirte Herr von Falkenberg ausrufen, der nur noch Listen von reichen Erbinnen führte.

Auf jener vordersten Bank saß nur eine einzelne Dame. Aber sie war jung und sehr schön und sehr elegant gekleidet, freilich auch etwas bunt, aber auch etwas kokett, und diese Koketterie war eine außerordentlich reizende. Ein schwarzseidenes Reisecapuchon, mit blauem Sammet eingefaßt, umschloß das schöne Gesicht und ließ zugleich eine Fülle rabenschwarzer Locken hervorquellen. Ein hellrother Shawl, nichts weniger als dicht angezogen, zeigte einen wundervoll weißen Nacken und Schultern, die man nicht schöner rund und nicht blendender sehen konnte. Und kokett, wie die Kleidung der Dame, waren ihre feurigen schwarzen Augen und die lächelnden frischen Lippen, zwischen denen man die glänzendsten, weißen Zähne sah.

Wohl hatten die beiden Gardelieutenants Teufel und alle Wetter ausrufen können. Der leichtsinnige Fritz von Horst suchte es noch einmal rufen, und die schwarzen Augen der schönen Dame trafen ihn dafür neugierig und herausfordernd zugleich, und ihre frischen Lippen lächelten ihm höhnisch und doch noch mehr neckisch und freundlich zu, und ihr rother Shawl fiel tiefer von Nacken und Schultern herab. Fritz von Horst fluchte alle Teufel herbei, wahrscheinlich weil er nicht aus dem alten Postwagen in den weißen Planwagen hinüberspringen konnte.

(Fortsetzung folgt.)




Der Morgenstern in tiefer Nacht.
Von Ludwig Storch.

Louis Bonaparte’s Staatsstreich am 2. December 1851 brachte in Deutschland die politische Reaction zur üppigsten Blüthe, eine Upasblüthe, deren narkotischer Duft das geistige Leben, das eigentliche deutsche Element, starr zu machen drohete. Das Jahr 1852 lag wie eine bleischwere Nebelnacht auf den echten und wahren deutschen Herzen. Die Männer des Rückschritts, nicht allein in Kurhessen, sondern auch in Berlin, Wien, München und wo nicht alles sonst noch, die sich keck die „Retter des Vaterlandes“ nannten, wirtschafteten toll genug. Heute sind sie überall gerichtet – denn auch die Weltgeschichte fährt als Weltgericht mit Dampf – und wandeln als Urheber unsäglichen Elends gekennzeichnet umher. Wie viele der edelsten und trefflichsten deutschen Brüder haben sie in Verzweiflung und Tod gestürzt. O, es war ein schreckliches Jahr, in welchem Herr Fischer das Lieblingskind aller Herzen, die begeistert für deutsche Größe schlugen, die deutsche Flotte, unter den Hammer bringen durfte, als der hohe deutsche Bundestag den deutschen Krieg in Schleswig-Holstein für einen unrechtmäßigen erklärte, und die deutschen Farben schwer verpönt waren.

Doch hier kann nur an die beängstigende Nacht jener Zeit im Allgemeinen erinnert werden. Wir wollen vielmehr von einem Strahle des Morgensterns ausführlich reden, der die Nacht, wenn auch nur schwach, durchdrang, als sie am schwärzesten war, und sich hoffnungerweckend in manches niedergedrückte Herz einschmeichelte. Damals konnte von der Sache begreiflicher Weise öffentlich nicht viel Redens gemacht werden, heute dürfen wir sie dem deutschen Vaterlande mit stolzem Selbstgefühl erzählen; denn der Strahl hat nicht gelogen. Die Nacht weicht, es glüht wieder Morgenroth an unserm Himmel, und der „Retter der Gesellschaft“ ist drauf und dran, nun auch der Retter des deutschen Volks zu werden, aber wahrlich in anderm Sinne!

Eins der reizendsten Thäler des Thüringerwaldes ist der Dietharzer- oder Schmalwassergrund im nordwestlichen Theil des Gebirgs und im herzoglich coburg-gothaischen Territorium. Vier Stunden südlich von Gotha liegen im anmuthigen Thalkessel, durch welchen die alte Straße nach Schmalkalden über den Gebirgsrücken führt, die beiden uralten Orte, der Marktflecken Tambach und das Dorf Dietharz nahe beisammen. Die köstlichsten, mit malerischen Felsgruppen gezierten, von hellen Bächen durchtanzten Thäler ziehen sich fächerartig von diesem Thalkessel zum Hochgebirg empor. Das köstlichste von allen ist der Dietharzergrund, dessen Ader-Rinnsal

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Der Falkenstein.

das Schmalwasser. Zwei Stunden lang windet sich das Thal in südöstlicher Richtung aufwärts, immer abwechselnd an seinen Wänden mit malerischen Felsgebilden, oft von beträchtlicher Höhe, und bewaldeten Bergen eingefriedigt. Der Schmalwassergrund hat jenen Charakter süßer poetischer Schwermuth, den nur diejenigen Herzen recht zu genießen wissen, welche mit dem Besten, was ihr eigen, unverstanden, mißachtet, verhöhnt durch die Menschenwelt gehen müssen. Die kennen den Werth einer solchen Gebirgsgegend, wie dieses Thal, in welchem, so wie im Berggebiet weit umher, keine menschliche Wohnung gefunden wird.

Am Ende des Thals steht seine Krone und die des ganzen nordwestlichen Gebirgstheils, der prächtig geformte Riesenfelsen der Falkenstein. Nur mäßig an die rechte Thalwand angelehnt, strebt er übrigens frei empor, wie ein Altar oder Heerd geformt, und hängt etwas über das Thal herüber. Sein Anblick imponirt selbst Augen, welche größere Felsenmassen gesehen, besonders seiner schönen Gestalt wegen. Von der Thalsohle aus mag er wohl dreihundert Fuß hoch sein. Eine sehr interessante Eigenthümlichkeit hat dieser kolossale Steinwürfel: sein oberer Theil ist nach dem ersten Drittel der Höhe von einer ziemlich breiten Spalte von einem Ende zum andern in zwei etwas ungleiche Hälften getheilt. Obgleich die Spalte wegen mächtiger Felsblöcke, die in ihr liegen, gerade nicht besonders wegsam ist, so können sie rüstige und nicht furchtsame Beine doch durchwandern. Zu beiden Seiten starren die kahlen Felswände noch in beträchtlicher Höhe empor, und nur ein schmaler Streif Himmel leuchtet herein. Sonst war der Eingang in die Spalte schwer zu erklimmen, jetzt ist er durch eine breite Holztreppe bequem zugänglich gemacht. Am andern Ende schwindelt man in die Tiefe und muß umkehren. Obgleich urkundlich erwiesen ist, daß dieses steile Felsenhaupt im 13. oder 14. Jahrhundert eine Burg oder wenigstens einen Thurm getragen, so ist doch durchaus unerklärbar, wie Menschen hinauf und herunter gelangt sind; denn man entdeckt nirgend die Spur einer Treppe, und man kann auch nicht einsehen, wo sie gewesen sein sollte. Der Falkenstein galt für unersteigbar, und selbst die Sage, daß er in einem frühern Jahrhundert von einem Waqehals sei erstiegen worden, hielten die meisten Kenner der Localität für ein Märchen.

Man kann sich also das Erstaunen denken, welches im Frühjahr [150] 1852 die Gebirgsbewohner und die Städter und Dörfler im Lande bei der sich schnell verbreitenden Kunde ergriff: der Falkenstein ist erstiegen! Die Meisten hielten die Angabe für eine bloße Prahlerei, und dieser Zweifel vermochte den kühnen Felsensteiger zu der Erklärung, daß er öffentlich vor Zuschauern, so viel sich einfinden wollten, den Felsen ersteigen werde. Diese Zusage brachte unter der Einwohnerschaft der nächsten Orte, – namentlich Tambach’s und Dietharz’, eine ungewöhnliche Aufregung hervor.

Fassen wir die Menschen, die hier hausen und ihr höchst einfaches Leben in Sorgen und Mühen, in schwerer Arbeit und Entbehrungen aller Art abspinnen, etwas näher in’s Auge, so erkennen wir ein treues, ehrliches, biederes Geschlecht von echt deutschem Charakter und Gemüth, schlicht und recht, fleißig und bescheiden, meist geistbegabt und aufgeweckt und für die Bildung der Neuzeit, die Eingang in diese Berge gefunden, in hohem Grade empfänglich, kurz Leute von gutem Schrot und Korn, welchen kein Fremder – und wie viele Tausende strömen, angelockt von der hohen Schönheit des Gebirgs, nicht jährlich hier zu! – Achtung versagt.

Dietharz ist einer der ältesten Orte des Gebirgs, das zeigt schon sein Name, der aus der heidnischen Frühe der Vorzeit uns anheimelt als „Volkswald“ (Harth des Diut) oder Wald des Deutschen, deutscher Volkswald. Und so ist denn, was im Sommer 1852 hier geschah, gleichsam aus urdeutschem, unbewußtem Naturtrieb, aus echt deutscher angeborner und von den Ahnen ererbter Unbefangenheit hervorgewachsen, und die patriotische Handlung, welche diese ehrenwerthen Menschen begingen in der Zeit, wo eine solche Handlung – Gott sei’s geklagt! – verpönt und geächtet war, war, wie ein dortiger intelligenter Einwohner sie richtig bezeichnete, keineswegs eine Demonstration gegen die blinde Restaurationswuth der Kreuzzeitungspartei und Consorten, sondern „ein sich von selbst Verstehendes“. Die Kinder des „deutschen Volkswalds“ entsprachen ohne alle beabsichtigte Schaustellung dem deutschen sittlichen Bedürfnis das naturwüchsig in ihnen zur Erscheinung kam und sich „frisch, fröhlich und frei“ Geltung und Befriedigung verschaffte, ebenso unbekümmert, ob die Herren Minister in den verschiedenen deutschen Landen eine solche tatsächliche Aeußerung des Volkstriebs als Staatsverbrechen brandmarkten. An dergleichen dachten die „deutschen Waldleute“ gar nicht.

Dietharz hat 700 Einwohner, Tambach 2200, die sich selbstverständlich zumeist von Wald- und Holzarbeit nähren. Ein bedeutender Nahrungszweig ist die Anfertigung von Tafelglas in der großen, dem Bürgermeister Irmer in Tambach gehörigen, vor Dietharz gelegenen Glashütte.

Ein junger Arbeiter dieser Fabrik, der Glasmachergehülfe Jakob Zimmermann aus Dietharz, konnte dem Triebe, den Falkenstein zu ersteigen, nicht länger widerstehen. Er mußte den tollkühnen Versuch wagen, und auch hier gelang das Unwahrscheinliche, wie fast immer, wenn es mit dem rechten Muthe begonnen wird. Ohnfern der bezeichneten Spalte bot eine mit kurzem Gestrüpp bepflanzte kleine Einsenkung (Rinne) die Möglichkeit des Hinaufkommens. Der Wagehals kletterte hier, an dem Gestrüpp sich emporziehend, hinauf und erreichte glücklich den Gipfel. Freilich schwindelt’s andern Menschen, wenn sie diesen Weg betrachten, und das steilste Kirchendach scheint für das Emporkommen menschlicher Füße geeigneter. Genug, der Mann gelangte auf die mit hohen Fichten bepflanzte Felsplatte, auf der seit Jahrhunderten kein Mensch gestanden hatte. Noch weit gefährlicher war der Rückweg, aber der kühne Glasbläser kam auch glücklich wieder herab.

Dem Triebe seines Geistes war damit aber noch keineswegs genügt. Der gelungene Versuch reizte zur Wiederholung, und der junge Glasmacher fand einen eigenthümlichen Reiz darin, den Weg, den ihm kein anderer Mensch nachgehen konnte, öfter zurückzulegen. Der Jubel über das glücklich vollbrachte Wagstück und der Zweifel daran, beide gleich groß, veranlaßten endlich die öffentliche Besteigung, zu welcher im gothaischen Tageblatte wie zu einem Volksfeste eingeladen wurde. Und der Sonntag, der auf den 25. Juli fiel, wurde wirklich zum echt deutschen Volksfest. Von nah und fern war eine ungeheure Menschenmenge auf dem Wiesenraume unter dem Falkensteine zusammengeströmt. Viele wußten wohl, was die heutige Besteigung des Felsens eigentlich zu bedeuten hatte, es war im Stillen davon gemunkelt worden. Die Meisten wußten es nicht.

Ein Musikchor zog mit klingendem Spiel auf; kleine Heerdfeuer ließen den Kaffeekessel singen und den Bratwurstrost dampfen; die Lagerbierquelle sprudelte lustig. Trotz aller Noth des Vaterlandes entfaltete sich ein lustiges Leben im Walde am Fuße des ehrwürdigen Riesensteins.

Der Felsensteiger Jakob Zimmermann kommt in der Mitte seiner Cameraden in leichter Kleidung, begrüßt vom Zuruf der Menge und der Musik. Ruhig, sicher beginnt er vor Aller Augen seinen gefährlichen Weg. Tausend Blicke verfolgen mit höchster Spannung den höher und höher emporstrebenden Mann. Laut- und regungslos steht die Menge, gefesselt von Furcht und Hoffnung. Nach einer Viertelstunde banger Erwartung erscheint der Mann oben auf der Platte und winkt seinen Gruß herab, erwidert vom ungeheuern Jubel der Zuschauer.

Doch was geschieht jetzt? Die Erwartung steigert sich. Ein Flüstern läuft durch die Menge. Man hat gesehen, daß Zimmermann mit einem Stricke umgürtet war. Eine kleine Anzahl junger Männer, meist Glasmacher, haben einen verhüllten Gegenstand geheimnißvoll an den Fuß des Felsen getragen. Er nimmt sich wie ein dünner Baum aus. Der Held des Tags wirft das eine Ende des lang aufgewickelten Stricks herab; das andere hat er oben an einer hohen Fichte befestigt. Unten wird der verhüllte Baum an den Strick gebunden, der Mann oben zieht ihn empor.

„Ziehet, ziehet, hebt!
Sie bewegt sich, schwebt!“

Was ist’s? was wird da hinaufgewunden? Alle Blicke hängen erwartungsvoll an dem langsam emporsteigenden Gegenstände. Manche Augen füllen sich mit Thränen der Rührung und Freude. Die wissen, was es ist.

Der verhüllte Baum ist oben, und siehe, er steigt an der vorderen hohen Fichte empor, er erhebt sich über ihren Gipfel. Der Mann des Tags befestigt ihn mit dem Stricke an den lebendigen Baum.

Und jetzt – jetzt entfaltet sie sich, flattert von einander – noch starrt lautlos die Menge unten – sie ist’s! sie ist’s! sie winkt vom hohen Altare des „deutschen Volkswaldes“ den ersten Gruß zu Thale den tausend deutschen Herzen da unten. Sie ist’s, die geliebte deutsche Fahne, der schwarz-roth-goldne Morgenstern in dunkler Nacht, sie ist’s, das deutsche Symbol, das der deutschen Jünglingschaft 1817 voranzog auf die Wartburg, die ja auch zu diesen Bergen gehört; sie ist’s, unser heiliges Volkspalladium, die heißgeliebte, die scheu gefürchtete, die verbannte, verpönte Dreifarbige, die 1848 wie ein Flammenstrahl überall emporfuhr, wo begeisterte deutsche Herzen beisammen standen; die dann, als es gelungen war, die Drachenzähnesaat der Uneinigkeit zum Aufgehen und Blühen zu bringen, wieder sich verbergen mußte und die sich jetzt nirgend zeigen darf in deutschen Landen. Da oben hat sie sich die sichere Stätte als Asyl ausersehen, wo keine Gewalt sie erreichen kann.

Der Jubelsturm bricht los. Alle Herzen schlagen stürmisch bei ihrem unerwarteten Anblick. Sie wird mit unbändigem Jauchzen begrüßt, wie in den schönsten Tagen des Jahres Achtundvierzig. „Es lebe Schwarz-Roth-Gold! Es lebe Deutschland! Es lebe Deutschlands Zukunft! Es lebe das deutsche Volk! Hoch unsere Fahne hoch auf dem Falkenstein!“ Hüte und Tücher werden geschwenkt. Die Musik schmettert ihr den Gegengruß zu. Das ist eine Freude! Das ist eine Herrlichkeit! Die Leute stoßen den bösen Alp des Jahres 1852 von der Brust und singen:

„Das ganze Deutschland soll es sein!“

Ach, war das ein herziges, gemüthliches, deutsches Fest bei Lagerbier und Bratwurst im frischen, deutschen Walde mitten im Herzen Deutschlands! Da lagern sie unter grünen Bäumen, auf grünem Rasen, die lieben, treuen deutschen Herzen, und ihre Hoffnung ist plötzlich auch grün geworden. Und sie beginnen und behaben sich so glücklich, als wäre draußen in den Städten Alles, wie es sein soll. Und da war doch wahrlich Vieles, wie es nicht sein soll. Das machte der Zauber, der von der Fahne hoch über ihnen ausging und auf sie niederschwebte. Wie mancher stille Gruß flog noch zu ihr empor! Wie mancher Blick segnete sie:

„Hoch überm niedern Erdenleben
Soll sie im blauen Himmelszelt,
Die Nachbarin des Donners, schweben
Und grenzen an die Sternenwelt;
Soll eine Stimme sein von oben,
Wie der Gestirne helle Schaar,
Die ihren Schöpfer wandelnd loben
Und führen das bekränzte Jahr.“

Die Fragen: woher kam denn so unerwartet die große schöne deutsche Fahne? und wer hatte denn den unvergleichlich schönen Einfall gehabt, sie auf den jungfräulichen Falkenstein aufzustecken? [151] drängen sich natürlich jedem Leser auf und wurden damals schon allgemein ausgesprochen. Aber es gab keine Antwort darauf und gibt heute noch keine. So wie das in den Herzen der Leute im deutschen Volkswald lebende patriotische Bedürfniß das Wort gesunden hatte, zündete es im Nu, und die Hände setzten sich in geheimnißvolle, aber um so rührigere Thatigkeit. Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen arbeiteten Tag und Nacht an der Fahne, aber gesprochen wurde nicht davon, Namen wurden nicht genannt.

Und auch heute kann man sich nicht auf die Namen besinnen, wenn danach gefragt wird. Das Volk hat den Einfall gehabt, das Volk hat die Fahne hergestellt, das Volk hat sie ausgestellt. Das ist fürwahr einer der schönsten Züge in diesem anmuthigen vaterländischen Bilde. –

Zu jener Zeit lebte in dem nahen freundlichen Georgenthal ein nicht mehr junger Mann, ein Stück Dichter, wenn auch gerade kein großes, der aber nicht zu erröthen brauchte, wenn die, welche ihn näher kannten, ihn ein echtes treues, deutsches Herz nannten. Es kannten ihn aber blutwenig näher, und er mied auch die menschliche Gesellschaft und irrte allein und schwermüthig in diesen Bergen und Thälern umher. Dazu hatte er guten Grund; er trug nicht nur die Pein persönlichen Mißgeschicks, das ihm Bosheit, Niedertracht, Unverstand, Gleichgültigkeit und jene scheußliche Gemeinheit, die noch schlimmer als der weitverbreitete Blödsinn edle Herzen verwundet, schon seit Jahren bereitet; auch des Vaterlands neue schwere Noth, die ihn ebenfalls in seinen eigenen Interessen hart betroffen, und überdies noch körperliche Leiden preßten sein sonst so heiteres Gemüth. Mit Goethe’s Schatzgräber darf er von jener Zeit sagen:

„Arm am Beutel, krank am Herzen
Schleppt’ ich meine langen Tage.“

Dieser begrüßte die deutsche Fahne auf dem Falkenstein mit wehmüthiger Freude. Am Feste selbst hatte er sich aus mehrfachen Gründen nicht betheiligt; in der ernsten feierlichen Stille der Waldeinsamkeit erschien sie ihm auf ihrem Felsenthrone in noch weit größerer Majestät; es war ihm, als habe sie sich aus der Menschenwelt, wo sie von den Gewalthabern schon wieder geächtet war, in das stille und einsame Waldthal auf den unzugänglichen Felsen geflüchtet, wo ihr kein lächelnder Staatsmann und kein finster blickender Soldat etwas anhaben konnte.

Der Mann lag wohl manche Stunde unter einem Baume, den trüben Blick sehnsüchtig nach der Fahne oben gerichtet, aber die Grüße seines Schmerzes wollten nie zu Worten werden, bis er einmal einen jüngern Freund, der in den Bergen unbewandert war, hierher führte. Dieser brach begeistert vom Anblick der Fahne auf dem natürlichen Altar in den Ausruf aus: „In diesem wirst Du siegen!“ Er sprach aber die berühmten griechischen Worte selbst, wie sie Constantin der Große im Traume unter dem Bilde des Kreuzes gesehen haben soll. Das Wort ergriff den Dichter wunderbar, und es entstand daraus um so schneller ein Liedesgruß an die hohe Fahne, als das sonst immer so schwere Gemüth durch einen zweiten Spruch des Freundes erleichtert und erheitert wurde. Dieser rief nämlich:

„Sie sollen ihn nicht haben
Den Hort des Falkenstein,
Ob sie wie gier’ge Raben
Sich heiser danach schrein!“

Das an jenem Tage gedichtete Fahnenlied durfte sich damals nicht in der Welt sehen lassen. Es hat im Pulte des Dichters vergraben gelegen, des Auferstehungsmorgens harrend; heute darf es bei deutschen Herzen einkehren. Hier ist es.

„In diesen Zeichen wirst du siegen!“

Schon wieder grinst um uns die Nacht
Mit tausend Schrecken, tausend Nöthen,
Schon wieder darf die Niedertracht
Das heiße deutsche Herz zertreten.
O Land der Wahrheit und des Lichts,
Wie schänden Finsterniß und Lügen
Den Spiegel deines Angesichts!
In welchem Zeichen wirst du siegen?

Du echter, wahrer, deutscher Sinn,
Der du nach großem Ziel gerungen,
Nun wieder von der Heuchlerin,
Der schlau verkappten List bezwungen,
Wie trankst Du Lust und Morgenrot!
Noch jüngst mit tiefen durstgen Zügen!
Und nun die Nacht, die dumpfe Noth! –
In welchem Zeichen wirst du siegen?

O Finsterniß! O schwere Nacht!
Wird dir kein lichter Tag beginnen?
Darf ungestraft die Lügennacht
Des Corsensprößlings uns umspinnen?
Wie wehrlos wir mit unsrer Kraft
In unserm Schmerz darniederliegen!
O deutsche Kraft in schnöder Hast,
In welchem Zeichen wirst du siegen?

Ha! durch das Dunkel blitzt ein Stern
Von majestät’scher Felsenzinne!
Die Waller ziehn von nah und fern
Herbei mit neugestärktem Sinne.
Dein Banner sehn sie schwarz-roth-gold
Sich hoch in Himmelsbläue wiegen,
Von kühnen Händen aufgerollt.
In diesem Zeichen wirst du siegen.

Verschwunden war sie und verpönt,
Die heil’ge deutsche Oriflamme.
Dort flattert sie, kaum noch verhöhnt,
Stolz überm hohen Fichtenstamme
Und läßt den schwarz-roth-goldnen Strahl
Als jungen Hoffnungsboten fliegen
Vom Felsenhaupte in das Thal. –
In diesem Zeichen wirst du siegen.

Sie pflanzte dort mit starker Hand
Der schlichte kühne Felsensteiger.
Nun leuchtet sie, ein Stern dem Land,
Wenn heute erst nur als ein bleicher.
Doch wächst sein Glanz und seine Gluth.
Und gleich dem, der den Fels erstiegen,
So wachse, Deutschland, dir der Muth!
In diesem Zeichen wirst du siegen.

Dich aber weiht der Dichter fromm,
Du Fels, zum vaterländ’schen Heerde,
Auf dem der Funke neu entglomm,
Daß er zur Himmelsflamme werde!
Du, deutsche Jugend, blick’ empor
Zu ihr, die bald in heil’gen Kriegen
Hell wandelt deinem Volke vor.
Und nur in diesem wirst du siegen.

Sie rage einsam, nur umgirrt
Von dieses Waldes wilden Tauben,
Und wecke, daß es besser wird,
In deutscher Brust den schönen Glauben.
Am rechten Tage steig’ als Hort
Sie nieder auf den Felsenstiegen
Und rufe Deutschland zu das Wort:
In diesem Zeichen wirst du siegen!

Jahre lang hat die deutsche Fahne auf ihrem Felsenasyle lustig geflattert zum Beweis, daß in dem deutschen Volkswalde still die schwarz roth-goldne Treue wohne. Der Fürst des Landes, der oft am Fuße des Falkenstein vorüber zur Jagd fuhr, hat ihr nie ein böses Gesicht gemacht; er war am wenigsten der, der sie „haben“ wollte. Scheele Blicke sind freilich genug nach ihr hinausgeworfen worden, aber sie konnten sie nicht haben; es war unmöglich. Jakob Zimmermann hatte selbst das Gestrüpp hinweggerissen, das allein das Besteigen den Felsen ermöglicht. Es konnte Keiner mehr hinauf.

Heute ist freilich keine Spur mehr von ihr zu sehen; sie ist dem Schicksal alles Irdischen verfallen und der Gewalt der Stürme erlegen, die auf dieser Felsenzinne oft furchtbar sein mag; aber am großen Schillertage schoß sie als ein schwarz-roth-goldner Flammenstrahl plötzlich da und dort mitten aus dem Volke empor und erleuchtete den Weg, den uns der große unsterbliche Dichter vorgezeichnet hat, den Weg zur Einheit, Freiheit und Größe.

Es liegt uns Deutschen ob, heuer ein patriotisches Fest zu feiern, den fünfzigjährigen Todestag der Königin Louise von Preußen, des „Genius Deutschlands“, welcher auf den 19. Juli fällt. Wie wär’ es denn, wenn wir zu diesem Tage eine neue deutsche Fahne anschafften, zu welcher jeder brave Deutsche seinen Pfennig beisteuerte, und zu Tausenden hinter ihr herzögen durch den Grund des deutschen Volkswaldes bis zum mächtigen deutschen Altar und sie auf denselben ausstellten und als „ewige Flamme“ stifteten, wie man wohl eine ewige Lampe auf einen Kirchenaltar stiftet? Der Falkenstein wäre ein würdiger Sockel zu solch einem hehren deutschen Monument, und dieses bildete als Symbol der politischen Einheit dann einen schönen Gegensatz zu der hohen Winfriedssäule, die als Symbol der religiösen Einheit nur wenige Stunden von hier auf hinein Berggipfel desselben Gebirgs in der Form eines Leuchters die dreigezackte Flamme trägt.

Der Vorschlag verdient gewiß in Erwägung gezogen zu werden.



[152]
Der Spuk der Geistermaschine bei dem ungebildeteren Volke.
Von Dr. H. Kneusel.

In Nummer 1 der Gartenlaube fand ich zu meiner Freude einen Artikel: „Magier und Geister in Berlin“, von E. Kossak, über die jetzt nicht nur in Deutschland, sondern in fast ganz Europa alle Gemüther verwirrende Geisteskrankheit des sogenannten Geisterklopfens, Geistercitirens oder der Psychographie, wie es mit dem neuern Kunstausdrucke benannt wird. Da aus diesem Artikel hervorgeht, daß der Herr Verfasser noch nicht Gelegenheit gehabt hat, sich mit diesem Geisterspuk, wie er unter dem ungebildeteren Volke eine ernsthafte Wendung zu nehmen beginnt, näher bekannt zu machen, so dürfte es vielleicht für Manchen, der erwähnten Artikel gelesen hat, interessant sein, noch einiges Weitere und Genauere als Fortsetzung dazu zu erfahren.

Ich bin ein Bewohner der Grenzen von Thüringen und dem Osterlande, und kann mich daher nur auf Erlebnisse beschränken, wie ich sie hier und in der Umgegend seit ungefähr sechs bis acht Wochen erlebt habe und, ich muß leider sagen, noch erleben muß.

Die zu besprechende Manie hatte, wie in ganz Europa nach dem Vorgange von Amerika, so auch hier vor sechs bis sieben Jahren seinen ersten Ursprung in dem sogenannten Tischrücken. Da gab es wohl kein Haus und keine Familie mehr, wo nicht ein alter dreibeiniger runder Tisch seine Tanzkunst entwickeln mußte; man brachte ihn sogar durch anhaltende Anstrengungen dahin, daß er durch Klopfen zwar dunkele, aber doch von klugen Leuten zu deutende Orakelsprüche spendete. Auf dem Lande wurden in den Rockenstuben die Spinnräder bei Seite gesetzt und um den runden Tisch eine geheimnißvolle Kette gebildet; in den Kaffee- und Theegesellschaften der Städte war Gegenstand der Unterhaltung und Handlung das Tischrücken. Schade nur, daß das Tischchen nicht zu sprechen und nur Bruchstücke von seiner Weisheit mitzutheilen vermochte. Doch was erfindet nicht Alles der menschliche Scharfsinn! Hatte der Tisch gleich kein Sprachorgan, um zu sprechen, hatte er keine Hände, um schreiben zu können, so hatte er doch drei Beine, die sich vielleicht, wie man schon auch bei Menschen ohne Hände gesehen hatte, zum Schreiben abrichten ließen. Gedacht, versucht. Man baute zur größern Bequemlichkeit ein kleines, rundes Tischchen, einen halben Fuß hoch, einen halben Fuß im Durchmesser, und band an eines der drei Beine einen Dolmetscher des weisheitsvollen Tischchens, d. h. einen gut gespitzten Bleistift. Das damit versehene Tischchen stellte man auf einen Bogen glattes mit vier Nadeln auf einem großen viereckigen Tisch befestigtes Papier, und begann nun damit die gewöhnlichen Operationen des Tischrückens. Man legte Fragen vor, und siehe da, welches Erstaunen, welche Freude, welcher heilige Schauer! Das Tischchen fängt an, sich zu bewegen, der Bleistift fängt an zu schreiben; er schreibt Buchstaben, Zahlen, Wörter, ganze Sätze und steht wieder still. Die Worte, Zahlen, Sätze sind leserlich, wenn auch ein wenig ungelenk. Sie werden gelesen und passen auf die Fragen, daß selbst das Orakel zu Delphi nicht passender hätte antworten können.

Ich selbst habe bei einem Besuche in einer kleinern Stadt, als ich von einem Freunde in eine sehr geachtete Familie zur Abendgesellschaft eingeführt wurde, dieses Manöver mit angesehen. Ich erstaunte natürlich auf’s Höchste, als das um Auskunft befragte, von einer Dame und zwei mit dieser geheimnißvollen Sache noch ganz unbekannten Herren mit den Fingerspitzen berührte Tischchen Antworten gab, die nicht besser passen konnten. Besonders die Damen bekamen auf ihre sich meist auf die Zukunft beziehenden Fragen Antworten, die allgemeine Heiterkeit erregten.

Nur einen Fall will ich erwähnen, der alle Anwesenden in Erstaunen setzte. Es wurde von einer Dame gefragt: „Wo bleibt Herr H., daß er nicht gekommen?“ (Herr H. wohnte, beiläufig bemerkt, in der Nebenstraße, 2. Etage). „Zu Hause,“ war die Antwort. „Was macht er?“ „Geht auf und ab und raucht Pfeife dazu.“ „Wird er noch kommen?“ „Nein.“ Des Spaßes wegen, um sich von der Wahrheit oder Unwahrheit zu überzeugen, erbot sich Einer aus der Gesellschaft, sogleich zu Herrn H. zu gehen und zu sehen, was er mache. Er eilt zu ihm, und siehe da – er spaziert gemüthlich in seiner warmen Stube auf und ab und verbreitet aus seiner Meerschaumpfeife einen dicken Dampf um sich. Auf die Frage, warum er nicht komme, antwortete er, er sei nicht eingeladen; und richtig war die Einladung ihm von der Dienstmagd zu übergeben vergessen worden. Jetzt aber hatte er nichts Eiligeres zu thun, als unsere Abendgesellschaft noch zu besuchen und seine mit dem Ausspruch des Tischchens genau übereinstimmende Thätigkeit zur allgemeinen Belustigung mitzutheilen.

Mit den Zahlen, die das Tischchen stets sehr bereitwillig angab, war dasselbe, so wie sich schon die besten Rechner verrechnet haben und auch die besten Prophezeiungen berühmter Propheten nicht immer auf’s Jahr eingetroffen sind, nicht so genau. Nachdem es schon oft mit Zahlen geantwortet hatte, machte ich mir den Spaß und fragte: „Welche Nummer der Leipziger Lotterie wird in der nächsten letzten Classe das große Loos gewinnen?“ Kaum hatte ich die Frage beendet, als auch schon der verhängnißvolle, jetzt Glück in Ueberfluß andeutende Tischbeinbleistift ganz deutlich die Zahl 1080 auf’s Papier schrieb. Wir Alle schauten einander erstaunt an, und die drei erwähnten Leiter des Tischchens waren die ersten, welche den Vorschlag machten, des Spaßes wegen diese Nummer zu spielen. Sie hatten sich dieselbe, wie ich später erfuhr, wirklich noch aus Leipzig zu verschaffen gewußt, und als die letzte Ziehung, vielleicht unter Herzklopfen der Spielenden, gekommen war, wurde gehofft und geharrt; und siehe da, die gespannten Spieler erhielten schon am Tage nach dem Schlusse der Ziehung die mit Blitzeskraft zerschmetternde Nachricht: Nummer 1080 – eine Niete. Sie erlassen mir wohl, alle die merkwürdigen Fälle mitzutheilen, die da erzählt und wiedererzählt wurden.

Man mußte sich den Anschein geben, als wenn man es glaubte, wenn man die Erzähler nicht dadurch, daß man sie für Lügner oder Betrogene hielt, schwer beleidigen und sich als Ungläubiger bei ihnen nicht verhaßt machen wollte. – Als Merkwürdigkeit muß ich noch erwähnen, daß das Tischchen – ich weiß nicht, warum – wenn ich in lateinischer, französischer oder sonstiger fremder Sprache fragte, zwar anfing, sich zu bewegen, aber anstatt Buchstaben über den ganzen Bogen Papier einen langen Querstrich machte.

War das bloße Tischrücken die erste Periode jener die Köpfe verwirrenden Manie gewesen, so war dieses Tischfragen und Tischschreiben die zweite Periode. Jetzt aber ist, wie schon im vorigen Aufsatz erwähnt worden, besonders, wie es scheint, durch den glücklichen, vielgepriesenen Einfall des Herrn Hornung und auf Grund eines in Leipzig im Druck erschienenen Büchleins, eine dritte Periode eingetreten. Ich habe das Büchlein nicht selbst in den Händen gehabt, hielt es auch nicht für der Mühe werth, davon Einsicht zu nehmen, sondern kenne es nur vom Hörensagen. Sein Titel ist, wie mir mitgetheilt worden: „Ehestandsbüchlein vom Geisterklopfen. Unumstößlicher Beweis der Seelenfortdauer nach dem Tode.“

Es ist jetzt durch dieses Buch in unserer Gegend, besonders auf dem Lande, eine Verwirrung der Geister und Gemüther eingetreten, die Einen wahrhaft anwidert. Die ganze Sache, die bisher nur zur Unterhaltung und in Familienkreisen getrieben wurde, fängt jetzt an, einen religiösen, schwärmerischen Charakter anzunehmen. Wo man nur hinkommt, bildet dieser Geisterspuk das gewöhnliche Gespräch; es geht Einem ein unheimliches Grauen, ja ein Ekel an, wenn man von weiter nichts, als von derartigen wunderbaren, mit größtem Ernste und unter stillster Aufmerksamkeit erzählten Geisteroffenbarungen hören muß, deren Jeder einen ziemlich großen Vorrath auszukramen weiß.

Die Einrichtung des Instruments, womit diese Geistercitation – denn eine solche ist es jetzt wirklich, da die Geister von Verstorbenen persönlich erscheinen und durch das Instrument zu den Sterblichen reden – jetzt betrieben wird, der „Geistermaschine“, wie man sie nennt, ist die im vorigen Artikel beschriebene storchschnabelartige. Diese Geistermaschine wird nach Vorschrift jenes Büchleins auf einen Bogen weißes Papier, ein Bret oder dergleichen gestellt. Das Papier oder Bret ist mit verschiedenen Hieroglyhen beschrieben. Oben an steht: „††† Gott mit uns“. Es folgt die erste Hälfte des Alphabets. Darauf die Worte: „Im Namen des Vaters“ …. u. s. w. Dann die zweite Hälfte des Alphabets. Hierauf die Worte: „Gott wende von uns ab alle bösen Geister.“ Schließlich folgen die Zahlen 1–0.

[153] Die Geistermaschine auf dem so beschriebenen Papier oder Bret wird nun auf dem Tische aufgestellt. Eine dazu besonders fähige und ausgewählte Person legt die Fingerspitzen darauf, und das Manöver beginnt. Die erste Frage, die nun gestellt wird, ist: „Ist was da?“ Die Storchschnabelgeistermaschine antwortet nun durch Zeigen auf die einzelnen Buchstaben in der Regel: „Ja.“ Der Geist ist also nun erschienen. Es wird weiter gefragt: „Wer bist du?“ Der Geist antwortet jetzt durch seinen Dolmetscher offenherzig seinen Namen, befiehlt darauf sehr häufig, ein bestimmtes Capitel aus der Bibel oder ein Lied aus dem Gesangbuche zu lesen. Dies wird gethan, und der Geist fängt nunmehr an, auf die an ihn gestellten Fragen weiter zu antworten. Merkwürdig ist es, daß, sobald sich unter den Zuschauern oder Fragenden Einer befindet, der als „Ungläubiger“ bekannt ist oder sich während der Handlung als solcher zu erkennen gibt, der Geist denselben hinwegzugehen auffordert, oder seine Orakelsprüche einstellt. Den Grund dieses Trotzes kann ich mir sehr wohl denken, will ihn aber, aus Furcht, mir den Haß der „Gläubigen“ zuzuziehen, nicht kundgeben.

Wegen dieses Geistertrotzes ist es mir leider bis jetzt noch nicht recht gelungen, einer solchen eigentlichen Geisterorakelspruchspendung in der Nähe beizuwohnen, daher kann ich meine Mittheilungen zum Theil nur auf die Aussagen glaubwürdiger „gläubiger“ Augenzeugen gründen. Nur ein einziges Mal hatte ich das Glück, in eine Familie zu kommen, als eben die Geistermaschine in größter Thätigkeit war, unter der Leitung eines sechzehnjährigen Mädchens einer ziemlich großen Gesellschaft die Aussprüche des anwesenden Geistes mitzutheilen. Ich schlich mich unbemerkt hinzu, und ich muß gestehen, ich erstaunte beinahe. Das Instrument arbeitete mit der Schnelligkeit und Gewandtheit eines Telegraphen und antwortete, daß Allen die Haare zu Berge standen, und zwar trotzdem, daß meine Anwesenheit Allen jetzt bekannt war. Ich sah eine Weile ruhig zu, und bat endlich das Mädchen, sich die Augen verbinden zu lassen, da doch die Maschine, wenn sie allein vom anwesenden Geiste geführt würde, auch bei verbundenen Augen der sie mit den Fingerspitzen berührenden Person ebenso arbeiten müsse. Nach langem Sträuben überredete endlich ich und noch einige Verständigere der Anwesenden das Mädchen, meiner Bitte nachzukommen; und siehe, wunderbar! das Instrument fing an, sich zu bewegen, und – traf keinen Buchstaben, sondern fuhr auf drei Seiten über das Papier hinaus. Ich lächelte, sagte kein Wort und entfernte mich ruhig. Seit diesem Factum habe ich nicht wieder gewagt, einer solchen Geisterbefragung beizuwohnen.

An die größten, bei den schriftlichen Antworten vorkommenden orthographischen Fehler muß man sich gewöhnen; selbst die Geister von Pastoren und Professoren scheinen seit ihrem Tode die Orthographie der deutschen Sprache, vielleicht aus Mangel an Feder und Papier und an Uebung, ganz verlernt zu haben.

Die gewöhnlichsten Fragen, die gestellt werden, beziehen sich darauf, wer der Geist sei, wie lange er todt sei, ob er im Himmel oder noch nicht im Himmel sei; im letztern Falle, warum er noch nicht im Himmel sei, wie lange er noch zu warten habe, ehe er dahin käme, und andere Fragen, die die lebende Menschheit betreffen; vergangenes und gegenwärtiges Unbekanntes. Selten läßt sich der Geist dazu bewegen, Zukünftiges vorher zu sagen. Nur höchstens die Geister großer Männer und Propheten, wie eines Jesaias, Elias, Johannes des Täufers etc. lassen bisweilen einen Blick in die Zukunft thun. Solche Geister erscheinen aber höchst selten und nur in Folge ganz großer vorgenommener Feierlichkeiten. Geister von verstorbenen notorischen Bösewichten erscheinen nicht, da sie durch die oben erwähnte auf dem Papier niedergeschriebene letzte Bannungsformel hinweggebannt sind. [1]

Kurz, die Manie gewinnt leider mit jedem Tage an Vervollkommnung und localer Ausdehnung, scheint mir aber auch mit jedem Tage, was das religiöse Gebiet anbelangt, bedenklicher zu werden.

Den höchsten Gipfelpunkt hat sie aber bereits in einem Dorfe erreicht, dessen Namen ich nicht nennen will. Sie hat sich daselbst unter der Oberleitung eines wohlhabenden, bejahrten, corpulenten Mannes, dem als Geistermaschinenführerin ein Mädchen zur Seite steht, schon fast serienmäßig entwickelt. Eine zierlich gearbeitete Geistermaschine steht auf einem schwarzgedeckten Tische, unter ihr das oben beschriebene Papier oder Bret; neben ihr auf beiden Seiten zwei brennende Wachskerzen (denn nur des Abends wird in der Regel die Citation vorgenommen), desgleichen Bibel und Gesangbuch. Die Handlung wird durch Gesang eines geistlichen Liedes und durch Vorlesung einer Stelle oder eines Capitels aus der Bibel eröffnet und unter größter Andacht betrieben. Dabei haben die Gläubigen, ich weiß nicht durch die Offenbarung welches welthistorisch und mathematisch gelehrten Geistes, besonders eine wichtige, welterschütternde und weltverwirrende Entdeckung gemacht, nämlich die, daß das Weihnachtsfest von uns Christen an einem falschen Tage gefeiert werde. Christus sei nicht am 25. December, sondern am 30. December geboren, und dieser Tag sei daher als der wahre Geburtstag desselben zu feiern. Die Feier des Weihnachtsfestes an diesem Tage wurde beschlossen und vorbereitet. Als Beweis, daß dies der wahre Tag sei, werde am Abend desselben ein Zeichen am Himmel erscheinen. Der erwartete Tag erscheint. Gegen 2000 Menschen strömen aus der Umgegend herbei, in den zur Feier besonders eingerichteten Saal. Das Zeichen am Himmel kann aber leider nicht erscheinen, da der Himmel ganz finster und mit Regenwolken bedeckt ist. Man beginnt die eigentliche Weihnachtsfeier mit Singen und Vorlesen aus der Bibel. Die Geistermaschine wird darauf um weitere Befehle bezüglich der Feier befragt. Sie fängt an zu antworten – da erscheint beorderte Polizei und die Versammlung muß aus einander gehen. Die Maschine schweigt, die Feier ist vereitelt. Daß letztere noch im Stillen von einzelnen Gläubigen beendet worden ist, vermuthe ich, will es aber nicht behaupten. Der Geisterspuk wird seit jenem Tage noch fast täglich im Geheimen betrieben und hat sogar seitdem noch Anhänger gefunden. – Es war sogar eine Zeit, ich weiß nicht, ob noch, wo Kranke nach jenem Dorfe gingen, um sich Mittel gegen ihre Krankheit bei der Geistermaschine zu erfragen. Die Maschine schrieb Recepte: Hollunderthee, Schafgarbe, Regengarbe, Pfefferminze und dergl., und die Kranken wurden glücklich dadurch geheilt. Ja, auch Diebe wagen nicht mehr zu stehlen, denn die Geistermaschine offenbart schon am andern Tage ganz genau den Dieb. – In jenem Dorfe aber sich über den Geisterspuk lustig zu machen, möchte ich Keinem rathen, der einer Tracht bauerfester Prügel ungern seinen Rücken zum Prellpunkte macht.

Ich könnte noch manches derartige tolle Zeug mittheilen, besonders noch eine Menge wunderbarer Geschichtchen, die man sich von der Weisheit und Allwissenheit der Geistermaschine erzählt, allein genug davon.




Ein Blick auf Marokko.

Alles Seltsame und Fremde kommt uns sprüchwörtlich „spanisch“ vor, und vom Kaiserthum Marokko wissen wir noch weniger, so daß wir uns bisher wohl wenig um einen der grausamsten Kriege dieses Jahrhunderts, den spanisch-marokkanischen, bekümmert haben. Und doch gehört er wesentlich in die jetzige Politik und ist eigentlich ein verkappter Krieg Napoleon’s gegen England und dessen Macht auf dem mittelländischen Meere. Der Krieg wurde den Marokkanern von O’Donnell, dem abenteuerlichen Irländer, der jetzt eigentlich in Spanien herrscht und der Napoleon aus Furcht – wie die meisten jetzigen Heroen Europa’s – gefällig sein wollte, barbarisch aufgezwungen und ist bis jetzt siegreich gewesen, da die Spanier gereifelte Gewehre und Kanonen, militairische Taktik und Disciplin und außerdem alte, gloriose Erinnerungen an einen achthundertjährigen Krieg mit mehr als tausend blutigen Schlachten gegen die Mauren-Herrschaft in Spanien – gegen diese wilden, barfüßigen, zerlumpten Mauren Marokko’s mit hinüberbrachten.

[154] Marokko ist ein mehr als 10,000 Quadrat-Meilen umfassendes, muhamedanisch-sultanisches Kaiserthum, der ganze nordwestliche Theil Afrika’s mit dem mittelländischen Meere im Norden und dem englischen Gibraltar gegenüber. Die Engländer hielten mit Marokko neuerdings immer gute Freundschaft und haben einen guten Theil der Ausfuhr, besonders seine Seidengewebe und das berühmte Maroquinleder, gegen Einfuhr ihrer Artikel in den Händen. Setzt sich Spanien an der Nordküste fest, oder macht Napoleon Aenderungen in der marokkanisch-französischen Grenze (Algier) – was Beides nicht unwahrscheinlich ist – so ist die englische Herrschaft im mittelländischen Meere – der Weg nach Indien – der Halt an Egypten, der Besitz der ionischen Inseln, die englische Unverschämtheit in der Türkei und noch viel mehr gefährdet, gebrochen. Die Engländer sagen jetzt schon, daß sie, wenn die Spanier ihre Siegesmärsche noch weiter fortsetzten, den Siegern Halt gebieten müßten. Dies wäre dann die Lage, in welche dieser Liebling und Zögling Palmerstons (und der Nemesis der letzten zehn Jahre) England zu zwingen wünscht, um ihm zu Hause und im mittelländischen Meere zu Leibe zu gehen.

Was das Kaiserthum Marokko betrifft, so wünschen wir es in seiner jetzigen Wirthschaft zu allen Teufeln, damit ehrliche Leute auf dem gesundesten Boden in der Welt ihres Lebens froh werden können und nicht ein einziger habsüchtiger Kaufmann die Schätze von 10,000 Quadratmeilen für seine einzige Tasche zusammenscharre. Dieser einzige Kaufmann war der unlängst verstorbene Kaiser oder Sultan Muley Abderrachman, und sein Nachfolger soll nicht viel besser sein. Der Vicekönig von Egypten macht’s freilich unter englischer Protection auch nicht besser.

Die marokkanische Majestät war ein guter, heitrer Diplomat, der den Unterthanen Taschen und Köpfe nicht direct, sondern auf die menschenfreundlichste Weise mittelbar abschnitt. Er unterstützte Handel und Gewerbe großmüthig durch liberale Vorschüsse. Die meisten Handelsleute sind geldgierig, und Credit, baares Geld gegen geringe oder gar keine Zinsen hat einen ganz besondern Reiz, da sie damit den Titel: „kaiserliche“ Fabrikanten oder Kaufleute erhalten. Wenn unsere Fürsten in Europa von dem heißen Drange vieler Unterthanen, einen Orden, einen Hofraths- oder Hoflieferantentitel zu erlisten oder zu erkriechen, souverainen Gebrauch machen wollten, könnten sie auch grandiose Geschäfte machen und diese kriechenden Narren gehörig ausbeuteln.

Muley Abderrachman pflegte gern bedeutende Vorschüsse auf monatliche Abzahlung zu machen und die so Begünstigten zu kühnen Speculationen zu verlocken, worin sie natürlich unter geschickten Befehlen, Manövers und Ränken des allmächtigen Kaisers Unglück hatten und die monatlichen Abzahlungen bald schuldig bleiben mußten. Deren Hab und Gut und Person fällt ihm dann anheim, und er läßt sie unter dem Titel „kaiserliche Kaufherren“ als seine Sclaven weiterzappeln, bis er geruht, sie abzuthun. Auch verkaufte er gern Monopole.

Ein reiches Product des Landes sind Blutegel. Diese gehören alle dem Kaiser. Er verkauft sie an einen einzigen Juden, der nun als Monopolist der große Blutegel nicht nur des ganzen Landes, sondern noch mehr der gebildeten Welt überhaupt wird, die sich oft Blutegel setzen lassen muß. Der Jude zahlt den armen Teufeln, die alle Morgen in die Teiche und Sümpfe waten, um sich die Beine mit Blutegeln besetzen zu lassen und sie dann mit Salz abzutreiben, was er will, d. h. weniger, als die Leute an Blut verlieren, und nimmt dafür, was er erpressen kann, da ihn keine Concurrenz zu Marktpreisen nöthigt. Wir können nun wissen, warum wir in der Apotheke zwei und mehr Groschen für einen Blutegel bezahlen müssen, wofür der Jude in Marokko 2–300 Stück kauft.

Solche große Monopol-Blutegel, die das Land für den Schatz des Chefs aller Monopole aussaugen, gibt es in großer Menge. Jeder ist natürlich unter solchen Verhältnissen vorsichtig, schlau, betrügerisch, diplomatisch und, wo er kann, kannibalisch. „Jeder macht Heu, so lange die Sonne scheint,“ wie ein marokkanisches Sprüchwort sagt, und schraubt Jeden, der unter ihm steht, so lange, als sich etwas auspressen läßt, um sich hernach von dem Mächtigeren über ihm Geld und Kopf abnehmen zu lassen. Jeder Gouverneur, Provinzialbeamte und „Einnehmer“ irgend einer Art wird vor seinem Ende „ausgenommen“ und nicht selten auch abgethan. Sie sind in der Regel sehr hartnäckig und lassen sich lange martern, ehe sie ihre Privatschätze herausrücken oder das Loch angeben, in welches sie ihr Geld versteckt haben. Die Bastonnade übt selten schon Wirkung, eher schon das kalte Wasser, womit der Zerfleischte begossen wird. Hilft das auch nicht, so wird der abgesetzte Beamte in ein scheußliches Gefängniß gesperrt und zum Fasten genöthigt, bis dem Halbverhungerten sein Lieblingsessen gezeigt wird, das er bekommen soll, wenn er sagt, wo seine Privatcasse steckt. Es sollen viele Millionen Thaler in marokkanischer Erde vergraben liegen, die vergessen wurden oder unbekannt blieben, weil der Eigenthümer zu früh starb oder selbst die Stelle nicht wieder finden konnte.

Der alte Hafencapitain der Handelsstadt Tanger ist zwölf Mal im Gefängnisse gewesen, um sich jedesmal mit hohen Summen loszukaufen. Der Kaiser läßt ihn immer bald wieder auf seinen Posten zurück, um den nach kurzer Zeit wieder Vollgesogenen anf’s Neue auszuquetschen. Er kam immer wieder sehr lustig und gut kaiserlich gesinnt zurück, um alle seine Untergebenen frisch auszuweiden, sich wieder setzen zu lassen, sich wieder loszukaufen und so das ganze Drucksystem geschäftsmäßig immer wieder von oben nach unten fortzusetzen. Der englische Oberst Warrington klagte einmal dem Pascha von Tripolis, daß alle seine Unterbeamten Jeden auf das Unverschämteste plünderten, und am Aergsten mach’ es Einer, den er namentlich nannte.

„Ja, ja, gewiß,“ erwiderte der Pascha, ganz majestätisch auf seinen Beinen sitzend und schmauchend. „Es ist ganz wahr. Ich weiß, daß er viel zusammenbringt. Aber ich nehme ihn noch nicht. Noch nicht fett genug. Erst muß er sich voller pfropfen, dann nehm’ ich ihm, was er hat, und seinen Kopf dazu. Allah il Allah!“

Dabei sind die eigentlichen Mauren ungemein fromme, fanatische Muhamedaner, wenigstens am Freitage, ihrem Sonntage, und jeden Tag, sobald der Priester von den Moscheendächern zur Andacht ruft. Dann hören sie mitten im Geschäft, Raub, Nothzucht, Mord etc. auf, verrichten ihre Andacht und setzen erst dann die so unterbrochene weltliche Verrichtung fort, wie auch die Italiener oder Spanier, die vom Raube und dergleichen nicht concessionirten Gewerben leben, das Marienbild verhängen, wenn sie in dessen Nähe zufällig Jemanden ausplündern oder mit dem Dolch beseitigen wollen. Ihr Hauptgottesdienst besteht im Hasse gegen Juden und Christen, die Sonnabends und Sonntags fromm sind und so den muhamedanischen Geschäftsleuten sowohl Freitags, als Sonnabends und Sonntags oft sehr unbequem werden. Die Juden scheinen den Muhamedanern gegenüber gar keine Rechte zu haben, aber sie sind im Durchschnitt sehr reich und deshalb in einem Lande, wo es eigentlich gar keine Rechte gibt, auch wieder sehr oft die Bevorrechteten. Aber mit dem Fanatismus der Muhamedaner darf selbst der Kaiser nicht spaßen. Einmal ritt ein reicher englischer Kaufmann in Mogador, Mr. Leyten, spazieren. Ein altes Scheusal von Bettlerin fällt seinem Pferde in die Zügel und fordert eine „milde Gabe.“ Der Engländer stößt sie bei Seite und läßt eine fürchterlich Kreischende zurück. Sie hatte seit zwanzig Jahren keinen Zahn mehr im Munde gehabt, schreit aber in der Stadt umher, daß der Engländer ihr zwei Zähne ausgeschlagen habe. Ihre Klage kommt bis zum Gouverneur Muley Suleiman, der, mit dem Engländer befreundet, ihm rathet, das alte Weib mit etwas Geld abzufinden. Dieser weigert sich hartnäckig. Die ganze muhamedanische Bevölkerung von Mogador wird unruhig und rebellisch und bedroht den Engländer. Dieser bleibt unerbittlich. Der Gouverneur meldet die bedenkliche Geschichte dem Kaiser, der den Engländer in einem eigenhändigen Schreiben bittet, das alte Weib „mit zwei silbernen Zähnen“ zu versöhnen. Der Engländer bleibt eben so hartnäckig urd wird nun persönlich vor den Kaiser geladen, in dessen Hauptstadt die zwei imaginären Zähne auch schon rebellische Aufregung hervorriefen. Der Kaiser bittet. Der Engländer besteht auf seinem Rechte; er weiß, er hat bewiesen, daß die alte Vettel seit zwanzig Jahren keinen Zahn mehr gehabt habe. Der Kaiser, um sich vor Rebellion und englischen Kriegsschiffen zu retten, überredet nun den Engländer, sich dem marokkanischen lex talionis, dem Wiedervergeltungsrechte, zu unterwerfen und seine gläubigen Unterthanen durch zwei seiner Zähne zu versöhnen. Als er sah, wie die Leute auf den Straßen wüthend umherbrüllten, unterwarf er sich der Operation und ließ sich zwei seiner Zähne ausziehen, aber kein Geld. Der Kaiser ließ dies auf allen Straßen bekannt machen und rettete so durch die zwei Zähne des Engländers, dessen ganzer Kopf übrigens nicht viel Inhalt und Werth gehabt zu haben scheint, seine Monarchie. Wenn dies nicht James Richardson [155] in seinen „marokkanischen Reisen“,[2] die eben erschienen sind, mit allen Einzelheiten und ernsthaft erzählte, würden wir diese Zahntragikomödie für eine nutzlose Erfindung halten.

Von dem Fanatismus der Marokkaner gibt’s übrigens noch schlagendere Beispiele. Barth, der Monate lang in Timbuktu immer in Lebensgefahr aufgehalten wurde, entkam nur durch besondern Schutz und seine eigene List endlich lebendig. Im französischen Kriege, während der vierziger Jahre, wurden die Kriegsgefangenen in der Regel massacrirt, und selbst besonders von marokkanischer Obrigkeit beschützten Engländern wurde von den Soldaten in’s Gesicht gespieen und sie dazu im Namen Allahs verflucht. Diese marokkanischen Soldaten, größtentheils negerartige, der Sclavenclasse angehörige wilde Banden, nur von baumwollenen Kopfüberhängen und Tüchern, die sie um sich herumwickeln, bedeckt und im Uebrigen nackt, geben auch den Spaniern kein Pardon und schlachten Jeden ab, der in ihre Hände fällt, was die Spanier fleißig mit Gleichem vergolten haben sollen, soweit sie eben im Stande waren, dann und wann einen lebendig zu fangen.

Am 20. December waren sie zum ersten Male im Stande, einen solchen Gefangenen lebendig in’s Lager zu bringen. Alle Uebrigen, die in des Feindes Hände fielen, fochten, stachen und bissen so lange um sich her, bis sie massacrirt wurden. Später fing man einen maurischen Tambour und ließ ihn, wie den ersteren, als Curiosität photographiren. Neuerdings zahlt die spanische Regierung für jeden lebendig eingelieferten Feind etwa einen Thaler zehn Silbergroschen, und auch die marokkanische gibt mehr für den lebendigen, als den todten Spanier. Dies geschieht, um das wilde, persönliche Abschlachten durch einen menschlicheren Trieb zu neutralisiren, hat aber bis jetzt wenig geholfen. Wo sich die Feinde begegnen, geht’s immer mit glühender Wuth auf Leben und Tod, wobei die Wilden mit ihrer undisciplinirten Unbeholfenheit und ihren alten Feuergewehren natürlich immer am schlechtesten wegkommen.

Die Marokkaner sind im Ganzen ein moralisch und materiell verkommenes Volk, obwohl sich unter besseren Staats- und Gesellschaftsverhältnissen manche Racen und Classen sehr vortheilhaft entwickeln würden. Der Hauptfluch besteht im Muhamedanismus, welcher alle die Intelligenz-Fähigkeiten der Berbern und Araber, schöner, dunkelbrauner Menschen und des eigentlichen herrschenden Geschlechts, niederhält und vergiftet. Dazu kommen die Monopole und die Blutsaugereien von oben und der kannibalische Sclavenhandel. Auch der confessionelle Racen- und Ständehaß richtet viele Verwüstungen an. Außer den schönen Berbern und Arabern, den Mauren und den schönen, grimmigen, halb unabhängigen, nomadischen Sahara-Wüstenvölkern, die jährlich mehrmals nach Marokko und Fez kommen, sowie den schwarzen Rif-Piraten an den felsigen Küsten, gibt es Juden und Christen, leibeigene, schwarze Sclaven und durch Geld oder Großmuth Freigelassene, Menschenexemplare jeder Schattirung vom glänzendsten Negerschwarz bis zum blendendsten Weiß des Harems.

Auch die Stände und Gewerbe unterscheiden sich durch deutliche Unterschiede in der Kleidung und Farbe, so daß dem Auge, namentlich von den platten Dächern der Häuser herab, kaum etwas Bunteres und Anziehenderes geboten werden kann, als das Menschengewühl einer belebten Handelsstraße von Tetuan, Marokko oder Fez. In der Hauptstadt Marokko, vor 7–800 Jahren die mit goldenen Minarets und Moscheen weit hin in lachende Thäler und Palmenhaine leuchtende Perle des muhamedanischen Afrika, gibt es nur noch zwei bis drei einigerniaßen belebte Straßen. Alles Andere innerhalb der neun englische Meilen langen Stadtmauern ist schweigende, unkrautüberwucherte Ruine, worin giftige Thiere und Reptilien hausen. Noch stehen mitten in den todten, ausgestorbenen Straßen steinerne Paläste und hohe schlanke Moscheen, aber Niemand will umsonst in ersteren wohnen, in letzteren betet Niemand mehr zu Allah. Einst wimmelten hier 1 Million Einwohner, die jetzt auf 30,000 zusammengeschmolzen, sich in Furcht vor den ausgestorbenen Straßen in wenige, enge, schmutzige, stinkende Gassen zusammendrängen. Von außen sieht sie noch, wenigstens auf der noch nicht ausgestorbenen Seite, imposant und lebenskräftig genug aus, da Palmen und Festungsthürme, Kameele und Esel schwerbeladen, schwarze Soldaten in weißer Baumwolle, glänzende Sänften mit herausblitzenden Augen, marokkanische Hofpracht auf wundervollen Berber-Rossen, lustige Neger und elastische, schlanke Berberkinder mit affenartiger Gelenkigkeit und Possierlichkeit die meilenweite Trauer, Oede und Fäulniß dahinter verstecken. Des Kaisers Residenz liegt außerhalb der Festungsmauern und bildet eine kleine Festung für sich. Marokko erinnert an Rom. Beide glänzende Hauptstädte strotzten einst von innerer Pracht und Fülle, umgeben von Villas, fruchtgoldenen und blumenduftenden Gärten und Hainen. Jetzt sterben sie schon seit Jahrhunderten von innen heraus, und die Wege zu ihren Thoren führen über Wildnisse, Wüsten und Ruinen. In beide werden neue, moderne Geister, Ideen und Kräfte einziehen und aus Ruinen verfaulter Herrlichkeit Eisenbahnhöfe, Fabriken und Kaufmanns-Villa’s aufrichten.

Der jetzige Krieg mit Marokko hat eine specielle feindliche Tendenz gegen England und dessen Herrschaft auf dem mittelländischen Meere, die ohne Gibraltar gar nicht haltbar sein würde. Gibraltar hängt aber auf seinem sterilen Felsen von marokkanischen Ochsen und sonstigen Lebensmitteln ab, die von dem gegenüber liegenden Tanger unter bestimmten Gesetzen und bis zu einer gewissen Zahl importirt werden.

Wenn einmal diese vom Meere her unterbrochen würde, und Spanien mit dem neuen Freihändler Napoleon vom Lande den Lebensunterhalt verweigerte, würde das starke, felsige Gibraltar sehr schwach werden. Napoleon könnte es dann im Interesse des Welthandels und seiner Freihandelspolitik nehmen; wozu den Engländern Gibraltar lassen, wenn sie sich gegen den Suez-Canal, die andere offene Seite des mittelländischen Meeres, erklären?




Das Nervensystem.
Beschaffenheit des Nervensystems bei verschiedenen Geschöpfen.

Darüber herrscht kein Zweifel mehr, daß der Grad der Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit, die Stärke des Verstandes und Willens, das Bewußtsein und Gemüth beim Menschen und Thiere von der vollkommneren oder unvollkommneren Entwickelung, Ernährung und Gewöhnung des Nervensystems, vorzugsweise des Gehirns, abhängig ist. Dies fällt übrigens auch sofort in die Augen, wenn man die so ganz verschieden gebauten Nervenorgane und die denselben anhängenden Bewegungs- und Sinnesapparate in den verschiedenen Thierclassen betrachtet und damit den Grad der vorhandenen Nerven-(Geistes-)Thätigkeiten vergleicht. Ja sogar beim Menschen zeigen sich bei den verschiedenen Racen, Geschlechtern und Altern einige Verschiedenheiten im Baue und danach ebenso auch im Thätigsein des Nervensystems. Im Allgemeinen läßt sich sagen, daß mit der höheren Stellung des Thieres die Sonderung der fadenartigen Nerven von den massigen Nervenmarkhaufen oder Centraltheilen (d. s. Ganglien, Rückenmark und Gehirn) immer deutlicher hervortritt und daß letztere immer mehr an Größe und Ausbildung zunehmen. Uebrigens gibt es in jeder Thierclasse, wie beim Menschen, Arten und Racen mit etwas entwickelterem und solche mit weniger entwickeltem Nervensysteme, und danach klügere und dümmere Thiere.

Die einfachsten, auf der niedrigsten Stufe thierischer Lebensform stehenden Thiere, die sogen. „Urthiere oder Protozoen“, deren organloser Körper aus einer gleichartigen, zähen, schleim- oder gallertartigen, zusammenziehbaren Masse (Sarcode) besteht, besitzen weder ein Nerven- noch ein Muskelsystem und führen deshalb nur ein pflanzliches Leben. In diese Thierclasse gehören die Infusorien, Schwämme, Rhizopoden und Gregarinen. – Bei den diesen Urthieren zunächst stehenden Polypen (aus durchscheinender, sehr dehnbarer, elastischer, zäher Substanz), sowie bei den Quallen (Medusen), aus glasartig-gallertiger Masse, scheint das Muskel- und Nervensystem durch einzelne Fäden nur erst schwach angedeutet. – Dagegen zeigt sich bei den Strahlthieren (Seestern s. Fig. XXIV.) ein Nervensystem ganz deutlich in Gestalt eines Nerven-Mundringes, aus dem ziemlich starke Nervenstränge in die Organe ausstrahlen, aber ohne Nervenknoten (Ganglien).

Bei etwas höherer Entfaltung des (jetzt auf beide Körperhälften

[156] gleichmäßig vertheilten) Nervensystems, wie bei den Würmern (s. Fig. XXI. XXII. XXIII), findet sich nun Centralmasse in Gestalt von Nervenknoten (Ganglien) vor, und zwar zunächst um den Schlund herum oder, wo ein solcher fehlt, doch immer im vordern, dem Kopfe entsprechenden Körpertheile. Hier treten entweder zwei obere Schlundganglien auf, die (dem Gehirne höherer Thiere entsprechend) mit einander in näherem oder weiterem Zusammenhange stehen, oder es gesellen sich zu diesen oberen noch untere Schlundganglien und es entsteht nun durch die Verbindung aller ein knotiger Nerven-Schlundring. Bei manchen Würmern entspringt aus jedem obern Schlundganglion ein Nervenstrang, der sich, mit kleineren Ganglien besetzt, an seiner Seite des Körpers herabzieht. Die meisten Würmer haben aber noch einen knotigen Nervenstamm an der Bauchseite ihres Körpers (d. i. der Bauchnervenstrang, das Bauchmark), welcher von den untern Ganglien des Schlundringes ausgeht und bis zum Ende des Leibes hinabläuft, Nervenfäden nach beiden Seiten hin abgebend. – Die Krebse (s. Fig. XVII.–XX.) besitzen ziemlich ein ähnliches Nervensystem, wie die Würmer, nur entwickelt sich bei ihnen die obere Schlundganglienmasse immer mehr und tritt dem Gehirne etwas näher, so wie sich auch neben dem Bauchmarke noch ein deutlicheres Eingeweide- oder Mundmagen-Nervensystem vorfindet. – Bei den Spinnen (s. Fig. XII. XIII. XIV.) bildet sich die obere Schlundganglienmasse zu einem hirnähnlichen Kopfganglion aus, und dieses zeigt dann bei den Insecten (s. Fig. XV. XVI.) eine überwiegende Ausbildung über die Bauchkette. – Von den Weichthieren oder Mollusken (s. Fig. IX. X. XI.) zeichnen sich die Kopffüßler durch die beträchtliche Größe ihrer centralen Schlundring-Nervenmasse aus, welche sich nun schon in ihrer Gestalt dem Gehirn der Fische nähert und in einer nach vorn häutig geschlossenen Höhle des Kopfknorpels liegt. Die Mollusken machen den Uebergang von den wirbellosen Thieren zu den Wirbelthieren.

Bei den in ihrer Organisation höher stehenden Wirbelthieren lagern sich die Centraltheile des Nervensystems in ihrer Hauptmasse als ein Längsstrang (Rückenmark) unter dem Rücken des Thieres und gehen keine Schlundringbildung mehr ein. Das vordere Ende dieses Rückenmarkes schwillt dann immer mehr und mehr zum Gehirne an und dieses nimmt, indem es sich immer deutlicher und schärfer vom Rückenmarke abgrenzt, an Größe und Ausbildung zu. Uebrigens sind Gehirn und Rückenmark mehr oder minder vollständig von einer knorpligen oder knöchernen Hülle (vom Rückgrate und Schädel) umgeben und stets mit häutigen Umhüllungen versehen. Bei den niedrigsten, den Fischen, zeigt sich noch ein Mangel einer Scheidung von Rückenmark und Gehirn. In den aufsteigenden Classen der Wirbelthiere (Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere) dagegen tritt diese Scheidung und mit ihr die vollkommnere Entwickelung des Gehirns, so wie die von der letzteren abhängige höhere geistige Thätigkeit des Gehirns immer deutlicher hervor.

Um die wichtigste Abtheilung des Nervensystems, welcher das geistige Thätigsein übertragen ist, nämlich das Gehirn, in seiner allmählichen Vervollkommnung besser kennen zu lernen, ist es nothwendig, der ersten Entwickelung desselben bei den höheren Wirbelthieren kurz Erwähnung zu thun, um daran zu zeigen, wie die einzelnen ganz einfachen Abschnitte des Gehirns der niederen Wirbelthiere schon die Vorbildungen der vollkommneren Abtheilungen im Gehirne der höheren Thierclassen sind.

Die erste Anlage des Centralnervensystems stellt sich als ein nach oben offener Halbcanal dar, der sich allmählich zum Rückenmarkrohre schließt und an dessen vorderem Ende das Gehirn in Gestalt von drei auf einander folgenden, mit ihren Wandungen und durch ihre mit Flüssigkeit erfüllten Höhlen zusammenhängenden Blasen (s. Fig Va. b. c.) ansitzt. Die erste, größte und wichtigste Blase bildet das „Vorderhirn“ und theilt sich sehr bald der Länge nach in zwei Hälften, d. s. die späteren Hemisphären des großen Gehirns. Am hinteren Ende dieser ersten Blase wuchert dann allmählich ein unpaarer Abschnitt als „Zwischenhirn“ hervor, der sich später zur Umgebung der dritten Hirnhöhle und Sehhügel umbildet. – Die zweite (oder Vierhügel-)Blase stellt das „Mittelgehirn“ dar, aus welchem später die Vierhügel hervorgehen. – Die dritte Hirnblase bildet mit ihrem vordern Theile das „Hinterhirn“ oder das spätere „kleine Gehirn“, während der hintere, unmittelbar in das Rückenmark sich fortsetzende Abschnitt als „Nachgehirn“ bezeichnet wird und später zum „verlängerten Marke“ wird. – Mit der allmählich sich steigernden Vervollkommnung des Gehirns in den verschiedenen Wirbelthierklassen nehmen die genannten Hirnabschnitte immer mehr an Größe und Ausbildung (doch nicht überall und alle im gleichen Maße) zu, das ganze Gehirn wird größer und schwerer, und seine anfangs glatte Oberfläche bekommt Eindrücke, Vertiefungen und wulstige Windungen (durch Faltung in Folge der immer mehr zunehmenden Vergrößerung der Oberfläche), deren Zahl fortwährend wächst, bis endlich das Menschenhirn die ausgeprägtesten und zahlreichsten Windungen besitzt. Von den Fischen an bis zum Menschen herauf wachsen die Hemisphären des großen Gehirns immer mehr nach hinten, und während sie bei den Amphibien noch nicht die Sehhügel, bei den Vögeln noch nicht die Vierhügel, bei den Säugethieren noch nicht das kleine Gehirn bedecken, überragen sie beim Menschen sogar das letztere.

Bei den Fischen (s. Fig. VII. VIII.) und Amphibien (s. Fig. VI.) ist das Gehirn vom Rückenmarke noch nicht sehr scharf abgegrenzt und in seiner Lage nur als eine Verlängerung des letzteren zu betrachten. Bei den Fischen füllt das Gehirn die Schädelhöhle meist nur zum kleinsten Theile aus und besteht hauptsächlich aus einem Vorder- und Hinterhirn, während das Zwischen- und Mittelhirn, was bei den Amphibien (Frösche, Kröten) schon weit deutlicher ausgedrückt ist, sich nur schwach entwickelt zeigt. In beiden Thierclassen gehen die Riech- und Sehnerven aus lappenähnlichen Anschwellungen hervor. Man könnte auch das Fisch- und Amphibienhirn als eine Reihe von drei Ganglien bezeichnen, welche den drei höheren Sinnen und deren Nerven entsprechen, nämlich dem Hör-, Seh- und Riechsinne das Hinter-, Mittel- und Vorderhirn. – Schon viel bedeutender sind die Veränderungen am Gehirne der Reptilien (Schildkröten, Eidechsen, Schlangen, Krokodile), denn die beiden Hälften (Hemisphären) des Vorderhirns stellen ziemlich beträchtliche Anschwellungen vor, das Zwischen- und Mittelhirn bilden sich immer mehr zu den Seh- und Vierhügeln um, während das kleine Gehirn sehr verschiedene Grade der Entwickelung zeigt.

Bei den Vögeln (s. Fig. V.) sind die Veränderungen, welche am Reptiliengehirn auftraten, noch weit auffälliger, bis endlich bei den Säugethieren (s. Fig. II. III. IV.) das große oder Vorderhirn weit über die übrigen Hirnabtheilungen überwiegt, sich besonders nach hinten (durch Hinterlappen) vergrößert und so das Mittel- und selbst zum Theil das kleine Gehirn bedeckt. Bei sehr vielen Säugethieren ist das große Gehirn noch mit glatter Oberfläche, während sich bei andern eine geringere oder größere Anzahl von Vertiefungen und Windungen wahrnehmen läßt. Uebrigens sind auch die andern Abschnitte des Gehirns in ihrer Entwickelung bedeutend vorgeschritten.

Was die darmähnlichen, durch Furchen getrennten Windungen an der Außenfläche des großen Gehirns betrifft, so entstehen diese dadurch, daß die an Umfang zunehmende Oberfläche des Hirns sich in die Länge und Breite auszudehnen durch die Schädelkapsel gehindert ist und sich deshalb in Falten zu legen gezwungen wird (wie bei einer Krause). Da nun die Rinde des Gehirns aus grauer, vorzugsweise von Nervenzellen gebildeter Nervensubstanz besteht, so wird bei dieser Faltung auch die graue, hauptsächlich die geistige Hirnthätigkeit vermittelnde Neurine an Masse zunehmen müssen. Daraus folgt nun aber, daß der Mechanismus der geistigen Thätigkeit um so vollkommner zu schätzen ist, je tiefer und zahlreicher die Hirnfurchen, je geschlängelter, zahlreicher und gewölbter die Hirnwindungen und je dicker die graue Hirnrinde ist. ! Blödsinnige haben, wie die Thiere, flache, sparsame und grobe Windungen, dagegen geistreiche Racen, Völker und Personen zahlreiche und tiefe Hirnfurchen. Der Mensch hat überhaupt mehr und unregelmäßigere Windungen und tiefere Furchen als irgend ein Thier. Uebrigens ist der Satz, daß die Zahl und Ausbildung der Windungen und Furchen des großen Gehirns im Verhältniß zu den Geisteskräften eines Thieres steht, auf die Thiere einer und derselben Ordnung zu beschränken, weil jede Ordnung einen eigenthümlichen Typus mit einer den verschiedenen Species entsprechenden Stufenleiter besitzt. So hat Fuchs und Wolf unvollkommnere Windungen als der Hund, die Katze unvollkommnere als der Löwe, der Ochs und das Schaf unvollkommnere als das Pferd, der Neger unvollkommnere als der Kaukasier.

Es lehrt nun ferner die Erfahrung, daß, wo bei einem Individuum die graue Rindensubstanz (das peripherische Grau)

[157]

Fig. I. Menschen-Gehirn: I a. linke Hirnhälfte auf der Durchschnittsfläche (das Gehirn ist in seiner Mittellinie der Länge nach durchschnitten; I b. obere Fläche des großen Gehirns: I c. untere Fläche oder Basis des Gehirns (mit den Anfängen der 12 Paare Hirnnerven). 1. Vorderer, und 2. hinterer Lappen des großen Gehirns, 3. kleines Gehirn, 4. verlängertes Mark, 5. Brücke, 6. Bierhügel, 7. Sehhügel, 8. Sehnerv, 9. Riechnerv. — Fig. II. Großes Gehirn des Affen und Fig. II. des Bären (von der Seite gesehen). — Fig. IV. Gehirn eines Beutelthieres und Fig. V. des Haushuhns: 1. Riechkolben, 2. großes Gehirn, 3. kleines Gehirn, 4. verlängertes Mark. — Fig. V a., V b. und V c. die drei Hirnblasen (eines Hühnerembryos): a. Rückenmark, b. verlängertes Mark (Brücke), c. kleines Gehirn, d. Bierhügel, e. Höhle des ersten Hirnbläschens (dritte Hirnkammer), f. Großhirnhälfte, g. Riechkolben, h. Sehkolben. 1. Das hintere, 2. mittlere und 3. vordere Hirnbläschen. — Fig. VI. Gehirn und Rückenmark des Frosches (von unten): 1. Riechkolben, 2. großes Gehirn, 3. Schlappen. — Fig. VII. Gehirn eines Haies: 1. verlängertes Mark, 2. kleines Gehirn, 3. Sehlappen, 4. großes Gehirn, 5. Riechlappen. — Fig. VIII. Gehirn eines Fisches (von oben): 1. großes und 2. kleines Gehirn. — Fig. IX., X. und XI. Gehirn und Nervensystem von Weichthieren. — Fig. XII, XIII. und XIV. Nervensystem von Spinnen. — Fig. XV. und XVI. Nervensystem von Insecten (Schmetterlingen). — Fig. XVII., XVIII, XIX. und XX. Nevensystem von Krebsen. — Fig. XXI., XXII. und XXIII. Nervensystem von Würmern. — Fig. XXIV. Nervensystem eines Strahlthieres (Seesternes).,

[158] über die graue Nervenmasse in den Centraltheilen des Gehirns (im Streifen-, Seh- und Vierhügel) überwiegt, die geistigen Vermögen vorherrschen; daß dagegen da, wo das Centralgrau reichlicher vorhanden, die niederen, mehr körperlichen Funktionen die höheren Vermögen des Geistes beherrschen. Je höher ein Säugethier hinsichtlich seiner geistigen Fähigkeiten steht, desto mehr steigt das Uebergewicht des Rindengrau (der Hemisphären) über das Centralgrau (des Streifen-, Seh- und Vierhügels). Ein an Windungen armes Gehirn kann daher, wenn in ihm nur das peripherische Grau über das centrale überwiegt, geistig doch höher stehen als ein mit vielen und ausgearbeiteten Windungen versehenes Gehirn, wenn dieses mehr Central- als Rindengrau enthält. So besitzt z. B. der mit großen geistigen Fähigkeiten begabte Hund weit weniger Windungen an der Oberfläche des großen Gehirns als das geistesarme Schaf, dafür aber viel mehr Rindengrau als dieses. So sind überhaupt die Wiederkäuer, welche in geistiger Hinsicht tiefer stehen als die Fleischfresser, mit mehr Centralgrau, diese besser mit Rindengrau bedacht. Während beim Menschen das Centralgrau kaum gegen 5% ausmacht, beträgt es beim Affen schon 8%, beim Hunde bereits 11%, bei der Katze, dem Pferde und Kalbe 13%, ja beim Schafe 14–15%. Das Gehirn des Orang-Outang und Chimpansen nähert sich hinsichtlich der Menge und Anordnung seiner Windungen und hinsichtlich seines Gehaltes an Rindengrau am meisten dem des Menschen.

Das menschliche Gehirn (s. Fig. Ia. Ib. Ic.) hat eine Vollkommenheit erreicht, wie sich in keinem andern Wesen der gegenwärtigen Schöpfungswelt zeigt, und von dieser Vollkommenheit hängt denn nun das geistige Uebergewicht des Menschen über die Thiere ab. Vor Allem ist es aber das große Gehirn mit seinen zahlreichen Windungen und seinem reichlichen Rindengrau, welches durch die starke Ausdehnung seiner Hemisphären nach hinten die mächtigste Ausbildung wahrnehmen läßt. Uebrigens geht die erste Bildung des menschlichen Gehirns auf ähnliche Weise, wie vorher bei den höheren Wirbelthieren angegeben wurde, aus drei Blasen vor sich, und aus diesen entwickeln sich als die Hauptabschnitte des Menschenhirns: das große, kleine und Mittelgehirn mit den Seh- und Vierhügeln, so wie das verlängerte Mark, welches sich dann nach unten in das Rückenmark fortsetzt. (Ueber den Bau, die Thätigkeit und Pflege des Menschen-Gehirns später.)
Bock.




Der erste Globenverfertiger.
Von L. O.

Unter allen Städten des deutschen Reiches ragt Nürnberg, die freie Reichsstadt, im Mittelalter am weitesten hervor durch die Bildung und den Kunstsinn seiner Bewohner, durch seine Industrie und seinen Welthandel und durch die Institutionen, womit es sich selbst zu schützen verstand, sowohl gegen fürstliche Anmaßungen, als gegen die Frechheiten der umwohnenden Raubritter. Schon seit 1219 war Nürnberg zur freien Reichsstadt erhoben worden, und eine Urkunde Kaiser Friedrich II. befestigte ihr das Recht, keine anderen Schutzherren zu haben, als die römischen Könige und Kaiser. Eben so hatte sie das Recht, sich nach einer selbstgewählten republikanischen Verfassung selbst zu regieren, und verdankt dieser, gleich anderen Städten des Mittelalters, ihre Blüthe. Die Stadt hatte über 100,000 Einwohner und herrschte über ein Gebiet von 25–30 Quadratmeilen.

Diese an regem Eifer auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft, des Handels und der Industrie so reiche Stadt, deren Bewohner Jahrhunderte hindurch „die Unverdrossenen“ hießen und von der das Sprüchlein lautete:

„Nürnberger Hand
Geht durch’s ganze Land,“

war auch die Vaterstadt eines Mannes, der eng mit jener großen Epoche verflochten ist, die den Ausgang des Mittelalters bezeichnet, und dessen Name oft zu nennen vergessen wird, wo man die portugiesischen, spanischen und italienischen Namen jener kühnen Seefahrer nennt, denen doch der deutsche Mann der Wissenschaft Martin Behaim ein ebenbürtiger Genosse war.

In der Mitte von zwei gänzlich verschiedenen Bildungsstufen sehen wir im fünfzehnten Jahrhundert gleichsam eine Zwischenwelt, die zugleich dem Mittelalter und der neueren Zeit angehört. Das fünfzehnte Jahrhundert ist das Zeitalter hervorstechender Entdeckungen in dem Raume, neuer Wege, die den Verbindungen der Völker dargeboten wurden. Wenn für die Bewohner unseres alten Europa dies Jahrhundert einerseits, wie Alexander von Humboldt sagt, die Werke der Schöpfung verdoppelt hat, so läßt sich von der andern Seite nicht leugnen, daß die nähere Berührung mit einer so großen Masse von neuen Gegenständen mächtige Triebfedern den Verstandeskräften darbot und fast unmerklich Meinungen, Gesetze und staatsrechtliche Verhältnisse der Völker durchgreifenderen Veränderungen unterwarf. Niemals hat eine rein die Körperwelt betreffende Entdeckung durch Erweiterung des Gesichtskreises eine größere und dauerndere Veränderung in geistiger Beziehung hervorgerufen, als die, durch welche der Schleier gehoben ward, hinter welchem Jahrtausende hindurch die andere Hälfte der Erdkugel verborgen gelegen hatte – und wir wollen es nicht vergessen, daß es auch eine deutsche Hand war, die diesen Schleier mit heben half!

Das Verdienst des großen Columbus wird nicht im Geringsten geschmälert – so dürfen wir mit Alexander von Humboldt weiter sagen, der auch dem deutschen Landsmann zu seinem Recht verholfen hat – wenn man an jenen Zusammenhang von Meinungen und Vermuthungen erinnert, welche man, von den Kosmographen des Alterthums an bis zum Schlusse des funfzehnten Jahrhunderts, trotz der angeblich allgemeinen Finsterniß, die das ganze Mittelalter bedeckt haben soll, wahrnimmt. Diese Finsterniß erstreckte und verbreitete sich allerdings über die Massen, aber in den Klöstern und gelehrten Schulen bewahrten Einzelne die Ueberlieferungen des Alterthums. In jeder einzelnen Epoche des Völkerlebens erkennt man, daß Alles, was mit den Fortschritten der Vernunft, mit der Vervollkommnung der Intelligenz im Zusammenhange steht, tiefe Wurzeln in den vorhergehenden Jahrhunderten hat; die Eintheilung in Zeitalter führt oft zur Trennung von Erscheinungen und Thatsachen, die durch gegenseitige Verkettung in Verbindung stehen. Oft haben in einzelnen hervorragenden Geistern große Ideen inmitten einer scheinbaren Unthätigkeit gekeimt – und im Verlauf einer ununterbrochenen, aber gleichsam auf einen geringen Raum beschränkten geistigen Entwickelung verdanken oft die merkwürdigsten Entdeckungen fernen und kaum bemerkten Anregungen ihren Ursprung.

Martin Behaim und Christoph Columbus wurden in demselben Jahre 1436 geboren und starben Beide im Jahre 1506.

Zu den rathsfähigen Geschlechtern von Nürnberg gehörte auch das der Behaim, obwohl es nicht aus Nürnberg selbst stammte. Es war das altadelige Geschlecht der Herren von Schwarzbach, die in Böhmen, im Kreise Pilsen, an der Schwarza wohnten. Die Familie hatte sich schon vor länger als einem Jahrhundert um der Religion willen aus Böhmen nach Nürnberg gewendet und führte seitdem den Namen Behaim von Schwarzbach, ja, der letztere ward bald ganz weggelassen. Bereits war ein Meistersänger, Michel Behaim, diesem Geschlecht entsprossen, dessen meisten Söhne aber Kaufleute waren. Auch die erste deutsche Uebersetzung der Bibel ward von einem Matthias Behaim 1343 angefertigt und befindet sich noch heute in der Bibliothek des Paulinercollegiums zu Leipzig. Die Behaim besaßen mehrere Häuser in Nürnberg, noch heute zeigt man das in der Zistelgasse, in dem wahrscheinlich Martin geboren ward. Anfangs ward er dem Handelsstande bestimmt, aber die nur kaufmännischen Rechnungen erweiterten sich ihm zu mathematischen, und er beschäftigte sich um so mehr mit dieser Wissenschaft, als in Nürnberg dergleichen Instrumente von kunstfleißigen Händen am besten gefertigt wurden. 1457 reiste er nach Venedig in Geschäften des Tuch- und Specerei-Handels, den schon seine Vorfahren, Albrecht und Fritz Behaim, dahin getrieben hatten. In Venedig eröffnete sich ihm eine neue wunderbare Welt! Er sah zum [159] ersten Male das Meer, sah die Flaggen fremder Nationen, sah die Schiffe der kühnen Seefahrer ankommen und wieder hinaussteuern in das unsichere Element – und in seinem Herzen regte sich die Sehnsucht mächtig, auch so das Meer zu befahren, nach fremden Ländern und südlicheren Zonen zu steuern.

Er kehrte zwar wieder nach Nürnberg zurück, aber die gewonnenen Eindrücke blieben ihm unverlöschlich, und er beschäftigte sich nun fast ausschließlich mit der Mathematik und der Herstellung nautischer Instrumente. Trefflich kam es ihm dabei zu statten, daß Johannes Regiomontanus, der berühmte Mathematiker Müller von Königsberg in Franken, nach Nürnberg gezogen war und daselbst von 1471–1475 lebte; einmal, weil auch er hier die geschicktesten Hände fand, nach seinen Zeichnungen seine Instrumente auszuführen, und weil man in Nürnberg überhaupt neben den Interessen des Handels auch einen offenen Sinn für die Bestrebungen der Wissenschaft bewahrte. 1475 reiste er nach Italien ab, und zwei Jahre darauf finden wir Martin Behaim von 1477–1479 auf der Reise nach Mecheln, Antwerpen und Wien.

1480 ging er nach Lissabon, und wenn es auch zunächst Handelsgeschäfte waren, die ihn so in der Welt herum und auch dorthin führen, so fühlte er sich doch in Lissabon doppelt gefesselt durch das große Weltleben und die Pläne neuer Schifffahrts- und Handelswege, von denen eben damals die Rede war. Hier, wo unter König Johann II. von Portugal Diego Cam 1481 eine Expedition nach Afrika unternimmt und Christoph Columbus sich mit Riesenplänen trägt, über welche die sich klug dünkenden Gelehrten mitleidig lächeln – hier fühlte sich auch Martin Behaim von dem Drange erfaßt, mit eigenen Augen zu sehen, was er berechnen konnte, und sich auf offener See von der Nützlichkeit seiner Instrumente zu überzeugen. Und so segelte er als Steuermann und Kosmograph mit Diego Cam 1484 ab, um mit seinem Astrolabium Versuche anzustellen.

Die Reise dauerte neunzehn Monate. Sie segelten nach der Mündung des Rio Zaire oder Congoflusses, welcher anfänglich den Namen Rio Pedrao von einem Pfeiler erhielt, der als Wahrzeichen der Besitznahme aufgerichtet ward. Er unternahm die Reise, wie er selbst sagt, auf Befehl des Königs Johann II., wobei er ein Mitglied der von ihm ernannten Commission war, deren Auftrag darin bestand, ein Astrolabium anzufertigen, Declinationstafeln für die Sonne zu berechnen und die Seeleute zu lehren, sich auf ihren Seefahrten nach der Sonnenhöhe zu richten, denn, wie ein zeitgenössischer Schriftsteller sagt: „die Portugiesen fühlten die Nothwendigkeit nicht, furchtsam die Küsten zu verfolgen, sondern mit Hülfe der Beobachtung des gestirnten Himmels die hohe See zu suchen.“ Behaims Astrolabium bestand aus einem in einzelne Grade eingetheilten Ringe, der, an einem kleinen Ringe aufgehängt – bei der Seefahrt an einem Schiffsmast befestigt – eine verticale Lage einnahm und mittelst eines sich um den Mittelpunkt drehenden Lineals (Alhidade) zu den Messungen gebraucht ward.

Die beiden Aerzte des Königs Johann, Meister Rodrigo und Meister Joseph, letzterer ein Jude, die in dieser Commission mit Martin Behaim an der Construction des Astrolabiums für den Schifffahrtsgebrauch arbeiteten, waren dieselben, welche der Bischof von Ceuta, Diego Ortiz, beauftragt hatte, den eine Reise nach Cipango und überhaupt eine Fahrt gen Westen betreffenden Plan des Columbus zu prüfen, und sie waren es auch, welche die beiden gleichstrebenden Zeitgenossen mit einander in Verbindung brachten. Zwei Jahre befanden sie sich zugleich in Lissabon, Beide mit nautischen Plänen beschäftigt, und wir dürfen annehmen, daß sie ihre Erfahrungen, Wahrnehmungen und Schlüsse mit einander austauschten, ohne daß wir dadurch den Ruhm des Einen oder Andern schmälern und etwa sagen wollten, Columbus sei erst durch Behaim zu der Annahme eines westlich liegenden Festlandes gebracht worden. Schon ehe sie einander kannten, suchten sie mit ihren Forscherblicken nach neuen Meeren und Ländern, wie es denn oft geschieht, daß ein neuer weltbewegender Gedanke da und dort zugleich hervorbricht, wenn sein ausgestreuter Samen, im Schooße der Zeit gepflegt, sich nun zum Licht zu entwickeln vermag. Als Behaim 1484 mit Diego Cam seine große Reise nach Afrika unternahm, ging Columbus, empört über die Kälte der portugiesischen Regierung, nach Sevilla.

Bald nach seiner Rückkehr 1485 von dieser Reise, auf der man den Aequator bis zum sechsten Grad südlicher Breite überschritten und die Paradieskörner (malagueta) in dem Klima, welches sie hervorbringt, eingesammelt hatte, ward Martin Behaim zum Ritter des Christusordens ernannt. Im folgenden Jahre reiste er wieder nach den Azoren, die zwar schon früher von Normannen und Italienern bewohnt, in den Jahren 1432–1449 aber von den Portugiesen wieder entdeckt worden waren. Hier betheiligte er sich mit bei der Gründung portugiesischer Niederlassungen – und bald war es das Band der Liebe, das ihn dort festknüpfte.

Bis in sein fünfzigstes Jahr war Martin Behaim unvermählt geblieben. Bei seinen in die Weite gehenden Bestrebungen, die ihm den Besitz eines häuslichen Heerdes weniger wünschenswerth erscheinen ließen, und bei der Vertiefung in seine Wissenschaft, einmal losgerissen von der Vaterstadt und ihren Sitten, nach denen die Heirathen unter den edlen rathsfähigen Geschlechtern weniger nach den Wünschen des Herzens als nach den Vortheilen der Familien- und Geschäftsverbindungen geschlossen wurden, hatte er noch gar nicht daran gedacht, sich zu vermählen. Auch war es damals keineswegs etwas Seltenes, daß besonders die Männer der gebildeten Stände sich erst in diesem Alter verheiratheten – denn den Anfang des wirklichen „Alters“ datirte jenes urkräftige Geschlecht unsrer Vorfahren nicht etwa mit dem Beginn der Funfzig und Sechzig, sondern ohngefähr mit dem der Achtzig und Neunzig, wie denn gerade in Nürnberg auch seine berühmtesten Mitbürger, wie Peter Vischer, Adam Kraft, Sebastian Lindenast etc. nicht nur selbst ein hohes Alter erreichten, sondern ihre größten Kunstwerke erst in ihm schufen. Und wenn unsere Vorfahren so lange jung, frisch und kräftig blieben, so dürfen wir annehmen, daß Martin Behaim, als er 1486 auf die Azoreninsel Fayal kam, ein stattlicher deutscher Herr war, der durch sein bescheidnes und zugleich sicheres Wesen, verbunden mit dem Ruf und den Ehren, die ihm geworden, sich wohl Herz und Hand Johanna’s von Macedo erringen konnte, der Tochter des Statthalters Jobst von Hünter, welcher mit einer flamländischen Colonie nach Fayal und Pico gesendet worden war, in Folge der Schenkung, welche Alphons V. von Portugal 1466 mit der ersteren dieser Inseln seiner Tante Isabella von Burgund, Mutter Karls des Kühnen, gemacht hatte.

Hier in Fayal – dem Thule der gebildeten Welt – der über ein Drittheil des Weges nach Amerika weit im Ocean liegenden Insel, ließ sich Behaim mit seiner Gattin nieder und blieb daselbst bis 1490. In diesem Jahre machte er eine Reise in seine Vaterstadt Nürnberg, und es scheinen ihn zu dieser Heimkehr nicht sowohl Familienrücksichten und Sehnsucht nach der Heimath bewogen zu haben, als der Wunsch, seine Entdeckungen und Erfahrungen seinen Landsleuten mitzutheilen und einige Zeit unter ihnen zu leben – ja, ihnen auch noch ein Andenken zurückzulassen – das beste Zeugniß seines Wirkens und Strebens.

Es war dies der erste Globus, den Martin Behaim in Nürnberg verfertigte, auf den er alle neuen Entdeckungen verzeichnete, ihn noch mit einer Menge von geographischen und naturwissenschaftlichen Anmerkungen versah und ihn als Andenken und „zur Lehr seiner geliebten Vaterstadt Nürnberg“ schenkte. Diese Weltkugel befindet sich noch jetzt in Nürnberg in dem Hause des Herrn Baron Siegesmund Friedrich Karl von Behaim – denn noch heute blüht dies Geschlecht.

Nicht gar lange währte es, da waren unzählige Nürnberger Hände beschäftigt, nach diesem Muster zu arbeiten, und „die Globenverfertiger“ wurden eine eigne Zunft – und so hatte Behaim seiner Vaterstadt nicht nur seinen Ruhm, sondern auch einen neuen Industriezweig mitgebracht.

1493 kehrte er wieder über Flandern und Frankreich nach Fayal zu seiner Gattin und seinen Kindern zurück, und wiewohl wir nichts Gewisses darüber wissen, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, daß er sich noch an späteren Entdeckungsreisen betheiligte. 1506 kehrte er nach Lissabon zurück und starb daselbst am 29. Juli desselben Jahres.

Außer seinem Globus wurden auch die von ihm verfertigten Landkarten in hohem Werth gehalten, ja selbst Magellan erklärte elf Jahre nach dessen Tode, daß er die Auffindung der nach ihm benannten Meerenge einer Karte Martin Behaims verdanke.



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Blätter und Blüthen.

Ein Kirchenscandal in London. In der englischen Landeskirche (der sogenannten anglikanischen Hochkirche) gibt es eine Partei, welcher man Hinneigung zu einigen katholischen Lehren und Kirchengebräuchen zum Vorwurfe macht. Die Geistlichen, welche eines solchen „Puseyismus“ verdächtig sind, stehen im Allgemeinen nicht auf gutem Fuße mit den Gemeinden, weil diese von mißliebigen Neuerungen nichts wissen wollen, und dadurch wird eine gegenseitige Entfremdung hervorgebracht. Diese artet häufig in Feindseligkeiten aus, sobald die Geistlichen, was nicht selten geschehen ist, trotz allen Einspruches der Gemeinde darauf beharren, Abänderungen beim Gottesdienste vorzunehmen; und diese Hartnäckigkeit hat während der letzverflossenen Monate zu einer Menge höchst ärgerlicher Auftritte geführt, die sogar neulich im Parlamente zur Sprache kamen.

Im Londoner Kirchensprengel St. Georges in the East ist der Reverend Bryan King Prediger. Dieser Mann hat sich steif und fest in den Kopf gesetzt, daß keine Gemeinde selig werden könne, wenn der Prediger nicht ein farbiges Chorhemd trage. Er trat also in einem solchen vor die Andächtigen in der Kirche, aber diese nahmen an ihm ein großes Aergerniß und verklagten ihn beim anglikanischen Bischofe in London, seinem Vorgesetzten. Dieser entschied, daß Pastor King nach wie vor, gemäß den Vorschriften der Landeskirche ein weißes Chorhemd tragen solle. Dessen weigerte sich der hitzige Mann, er trat nun ohne Chorhemd auf die Kanzel und eiferte gegen den Bischof in so argen Ausdrücken, daß ein Theil der Anwesenden ihn auspfiff, während ein anderer ihn vertheidigte. Es kam zu einer blutigen Schlägerei, und diese bildete den Anfang zu einer Reihe von Scandalen, deren einen wir erzählen wollen.

Der bei weitem überwiegende Theil der Gemeinde hat sich an’s Parlament gewandt und dort ihren „ungestümen, querköpfigen“ Pastor verklagt; sie weiß nicht, wie sie ihn los werden soll, und mag ihn nicht behalten. King weicht und wankt nicht, und die Georgskirche war und blieb seit dem October der Schauplatz einer langen Reihefolge unwürdiger Auftritte. In den letzten Tagen des Januar begab es sich, daß die Kanonenstraße, in welcher jene Kirche steht, Abends um sechs Uhr von Menschen wimmelte, die sich alle herbeidrängten, um eingelassen zu werden. Die Kirchthüren waren noch verschlossen; man bezeigte nicht geringe Lust, sie zu sprengen, und wollte damit den Anfang machen, als noch zu rechter Zeit eine Schaar von Polizeibeamten herbei kam, um eine solche Gewaltthätigkeit zu verhindern. Um halb sieben, eine halbe Stunde vor Anfang des Gottesdienstes, wurde geöffnet, und nun strömten reichlich dreitausend Menschen in die Kirche. Unter ihnen befanden sich etwa tausend halberwachsene Jungen, echte Londoner Früchte, die lediglich in der Absicht gekommen waren, sich einen vergnügten Abend zu machen. Sie hatten die Gallerien erstürmt. Nicht der Gottesdienst, wohl aber der Scandal begann mit Katzenmiauen, Hahnenkrähen, Heulen, Schreien, Pfeifen und Zischen; Jung-England tobte sich in recht bestialischer Weise aus, legte Zeugniß von seiner hohen Gesittung ab und machte einen Höllenlärm. Auch an saftigen Gassenhauern, Solo und im Chor, war kein Mangel; ein Theil des Publicums schrie Bravo, ein anderer rief zur Ordnung. Bald flogen auch Hüte und Mützen von oben herab und wurden wieder hinaus geworfen; man schlug die Thüren der Kirchenstühle auf und zu, brannte Zündhölzchen an und rauchte Tabak, auch wollte man das Gas auslöschen. Dazu kam es aber nicht. Niemand trat dem wilden Pöbel entgegen, die Polizei mußte vor der Thür bleiben.

Um sieben Uhr erschienen Geistliche mit einem Gefolge von Chorsängern; sie begaben sich auf ihre Sitze, gegenüber dem Altar. Voran zog der „querköpfige“ Pastor und Rector Bryan King; mit ihm der Pfarrer Lowther; die zwölf Chorsänger trugen weiße Ueberwürfe. Sogleich tobte der Aufruhr wilder als vorher, das Publicum sprang auf, Scheltworte und Flüche ertönten von allen Seiten. King schien unwohl und in gedrückter Stimmung zu sein; sein College sprach den ersten Theil des Gebets, er selbst den zweiten Theil; aber Niemand konnte ein Wort davon verstehen. King will, daß die Antworten, welche die Gemeinde zu geben hat, gesungen werden; die Gemeinde antwortete aber diesmal mit unfläthigen Schimpfreden. Lowther stieg trotzdem auf die Kanzel; er wurde ununterbrochen ausgezischt und ausgepfiffen, doch blieb er standhaft und verlas als seinen Text Matthäus, Capitel acht, Vers sechsundzwanzig: „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam? Und stand auf, und bedrohete den Wind und das Meer. Da ward es ganz stille.“ Diese Worte sprach der Geistliche mit großem Nachdrucke, ohne sich an das Lärmen zu kehren. Er schilderte, wie viele Verfolgungen die Kirche schon erlitten habe, daß sie aber in den Bemühungen, die Sünder zu bekehren, nicht nachlassen dürfe. Sie werde triumphiren! „Wer fürchtet etwas für die ewige Kirche Christi?“ Darauf lärmte die Jugend und schrie: „Wer fürchtet? Kikeriki!“ Allgemeines Gelächter. Der Geistliche blieb auch jetzt unerschütterlich und gelassen, wartete, bis es wieder ein wenig still wurde, und ermahnte die bösen Buben, es werde ein Tag kommen, da sie auf dem Siechenbette lägen; dann würden sie die heutige Kirchenschändung bereuen. Die bösen Buben waren aber feuerfest gegen diese Ermahnung und antworteten ihm mit einem ungeheuren Hohnlachen. Es erscholl der Ruf: „Wir wollen den Altar in Trümmer schlagen!“ und das wäre geschehen, wenn nicht ein starker Mann, den ein Chorsänger unterstützte, die zum Altare führende Gitterthüre mit großer Anstrengung vertheidigt hätte, aber die Leuchter in der Kirche wurden herunter gerissen, die Kniepolster umhergeworfen und den Geistlichen an die Köpfe geschleudert. Auch das hohe Kreuz über dem Altar blieb nicht verschont; es diente zur Zielscheibe für allerlei Wurfgeschosse. Während das geschah, waren in allen Theilen der Kirche heftige Prügeleien, das Schreien und Absingen von schmutzigen Liedern nahm seinen Fortgang. Niemand konnte dem Unwesen steuern. Ein Berichterstatter schreibt: „Der Auftritt war in der That gräßlich, und es wäre ohne Zweifel viel Blut vergossen worden, wenn nicht endlich der Polizeiinspector, auf seine eigene Verantwortlichkeit, mit sechs Mann in der Kirche erschienen wäre. Er vertrieb die Unruhestifter aus der Kirche, aber nun zogen sie vor Kings Haus. An jenem Abend ist viel werthvolles Kirchengut zu Grunde gegangen, die Gallerien und Bänke sind zertrümmert und hinabgeworfen worden, Bibeln und Gebetbücher wurden zerrissen oder als Wurfgeschosse benutzt, die Altarverzierungen sind beschädigt.“

Man begreift nur mit Mühe, weshalb ein offenbar der Gemeinde so widerwärtiger Prediger sich derselben noch immer aufdrängt. Sie mag nichts von ihm wissen, Gutes kann er nicht mehr stiften, Aergerniß gibt er und ruft er hervor, und doch geht er nicht! Aber in England haben viele Prediger gar keinen Begriff von Schicklichkeit und Anstand. Eben jetzt ist es förmlich Mode geworden, Kirche in den Komödienhäusern zu halten. Ein lächerliches Gesetz verordnet, daß am Sonntage in England keine Theatervorstellung gegeben werden darf. Darauf speculiren solche Pastoren, welche ein Publicum anlocken wollen; die sogenannten freien Prediger, die keine feste Kirche und keine eingepfarrte Gemeinde haben. Vom Sonnabend Abend zwölf Uhr bis Montag früh sind die „Satanstempel“ für Satan geschlossen, und dann ist Raum für Jehova. Die glänzenden Lampen, deren Strahlenlicht sonst auf Ballettänzerinnen fällt, scheinen am Sonntag auf die Frommen, und die Theaterdirectoren haben natürlich nichts dagegen, daß sie ihr Komödienhaus als Kirche vermiethen können. Ein ungemein eifriger Zionswächter, der früher schon als Straßenprediger viel von sich reden machte, hat lange Zeit im großen Concertsaale der Surrey Gardens Gottesdienst gehalten; er hielt seine Rede gewöhnlich vor zwölf- bis funfzehntausend Zuhörern. Der Mann heißt Spurgeon. Sein Vorgang fand Nachfolge; jetzt wird in nicht weniger als vier Theatern (dem Victoria-, dem Garrick-, dem Britannia- und dem Saddlers Wells-Theater) Sonntag Abends Kirche aufgeführt.

Am 15. December, sagt ein Londoner Blatt, fanden zwei Aufführungen statt, die eine um drei Uhr Nachmittags, die zweite um sechs Uhr Abends. Das Haus war trefflich beleuchtet, in den Logen saß ein Publicum mit Glanzhandschuhen, gerade wie an Theaterabenden. Das Publicum im Parterre war gemischt und offenbar sehr neugierig, einmal eine Kirche in der Komödie zu sehen. Prediger Goodhart bestieg nebst anderen Geistlichen die Bühne und stimmte einen Gesang an; nachher las er ein Stück aus der Bibel vor und sprach dann ein Gebet. Darauf folgte die Predigt, deren Text lautete: „Jesus ist in die Welt gekommen, um zu erlösen die Sünder, deren vornehmster ich bin.“ Die Predigt soll gut gewesen sein. Am andern Tage zog dann Harlekin wieder über dieselben Breter.



Für Vater Arndt!
Aufruf an alle Deutsche des In- und Auslandes.

Es ist im Werke, dem tapfern Kämpfer für deutsche Einheit und Größe, Ernst Moritz Arndt, ein ehernes Standbild zu Bonn auf dem linken Ufer des Stromes zu errichten, an welchem der Greis seit Jahren wohnte, als ein Wächter deutscher Zucht und Kraft. – Seit fast drei Generationen ist seine Gestalt auf das Innigste verbunden mit den größten Erinnerungen unserer Nation, mit den bittersten Leiden, dem mächtigsten Aufschwung patriotischer Empfindungen und dem männlichen Ringen um die höchsten Güter unseres Erdenlebens. Seine Lieder werden klingen, so lange deutscher Gesang die Seelen bewegt, seine Schriften werden als Werke des edelsten Patriotismus der Nachwelt immer werthvoll sein. Aber was uns, den Lebenden, sein Gedächtniß so theuer macht, das ist vor Allem sein ehrliches, tapferes, deutsches Gemüth, welches von der Jugend bis zum höchsten Greisenalter fest, opferbereit, in wärmster Begeisterung von einem großen Gefühl erglühte, von einer männlichen, leidenschaftlichen Liebe zum Vaterlande. – Das deutsche Volk hat ihm das herzlichste Beiwort gegeben, das je ein Deutscher erhalten, es hat ihn „Vater“ genannt; noch vor wenig Monden hat den Neunzigjährigen kindliche Pietät aus allen Landschaften deutscher Erde begrüßt.

Wenn die Unterzeichneten jetzt, einem Aufruf aus Bonn Folge gebend, zu Beiträgen für ein ehernes Standbild des Geschiedenen auffordern, so unterziehen sie sich dieser Ehrenpflicht in der frohen Empfindung, daß das Volk, einen seiner besten Männer ehrend, zugleich sich selbst, seiner eigenen Vergangenheit und der Tüchtigkeit aller tapferen deutschen Herzen eine Ehre erweist. – So ergeht denn an Alle, denen dieser Aufruf zu Gesicht kommt, die Bitte, daß Jeder in seinem Kreise den beginnenden Sammlungen Antheil und dem Comité bereitwillige Hülfe angedeihen lasse; auch der kleinste Beitrag wird willkommen sein.

Leipzig, den 21. Februar 1860.
Hofr. E. Albrecht. Stadtr. M. Bering. Dr. E. Brockhaus. Stadtr. Theod. Cichorius. A. Diezmann. Stadtr. Wilh. Felsche. Gustav Freytag. Dr. E. Härtel. Gust. Harkort. Dr. Heyner. S. Hirzel. Ernst Keil. Brgrm. Dr. Koch. Super. Dr. Lechler. Albert Leppoc. Carl Linnemann. Jul. Müller. Jos. Nörpel. Jul. Schunck. Dr. E. Stephani. H. A. Taeschner. G.-R. Wächter. Prof. W. Wenck.

Indem ich den obigen Aufruf den vielen tausend Lesern der Gartenlaube, die wohl Alle, sie mögen in Europa oder drüben über der See wohnen, zu den Verehrern des Vater Arndt gehören, auf das Dringendste empfehle, erkläre ich mich zugleich zur Annahme von Geldern bereit, deren Empfang ich prompt in diesen Blättern quittiren werde.
Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Im intelligenten Leipzig ist man in der Citirung der Geister bereits weiter vorgeschritten. Es antworten hier ältere (aus dem 12–17. Jahrhunderte stammende) und jüngere Geister. Die Letzteren, welche leichter zu citiren sind, weil sie noch mehr mit der Erde zusammenhängen, stehen unter Aufsicht der älteren Veteranen und haben den Befehlen derselben unbedingt zu gehorchen. Sie schreiben Recepte, geben Rath und Auskunft über verborgene Dinge. Durch längeres Arbeiten an der Maschine erwerben sich die alten Burschen endlich die ewige Seligkeit und treten für immer ab. Das ist kein Spaß, sondern bitterer Ernst, für dessen Wahrheit Viele den höchsten Eid schwören würden.
    Die Redaction.
  2. Travels in Marocco. By the late James Richardson. London, Skeet, 1860. Berlin, Asher and Co.