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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 9.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.       Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Sand.

Historische Novelle von Max Ring.
(Schluß.)

„Es sollte doch Einer muthig über sich nehmen, dem Kotzebue oder sonst einem solchen Landesverräther das Schwert in’s Gekröse zu stoßen,“ fuhr Sand auf.

„Wo denkst Du hin?“ entgegnete Hagen erschrocken. „Du vertheidigst einen Mord.“

„Unter gewissen Verhältnissen läßt sich selbst der Mord rechtfertigen. Haben nicht Harmodius und Aristogeiton ihr mit Rosen umwundenes Schwert dem Tyrannen und Unterdrücker ihres Vaterlandes in die Brust gestoßen und wird nicht ihre That als eine unsterbliche in den Liedern der Sänger gepriesen?“

„Das war zu einer anderen Zeit und unter anderen Verhältnissen. Das Christenthum mit seiner milden Lehre verdammt den Mord und will nicht, daß der Sünder sterbe, sondern Buße thue.“

Sand antwortete nicht; er war wieder in Gedanken versunken. Vor seiner Seele stand ein Bild, das er sich mit immer lebhafteren Farben ausmalte. Vor einem gothischen Thorgewölbe kniete ein Jüngling, der seine eigenen Züge trug, mit einem Dolche in der Brust, mit einem andern ein Papier an das Thor heftend. Das Alles sah er deutlich vor seinen Augen stehen; er erkannte die Jesuiterkirche in Mannheim, die er einmal bei einem Besuche der Stadt flüchtig gesehen hatte.

Was wollte jetzt diese Erinnerung von ihm, die ihn nicht mehr verließ und ihn in seinen Träumen verfolgte? Eine unerklärliche Ahnung erfüllte seine Brust; sie gewann immer festere Gestalt, bis sie mit dämonischer Gewalt als eine ungeheuere That hervorbrach.

Hagen hatte die ihm peinliche Unterredung bald wieder vergessen, auch gab ihm das fernere Betragen des Freundes keine Veranlassung, darauf zurückzukommen. Dieser lebte zurückgezogen und anscheinend eifriger, als je, mit seinen Studien beschäftigt; seine Stimmung war heiterer, als gewöhnlich, obgleich er zuweilen sich den plötzlichen Ausbrüchen einer wunderlichen Laune überließ, die ihm von seinen Bekannten den Studentennamen „Spukmeier“ zuzog.

Trotz des ernsten Strebens, welches in der Burschenschaft vorherrschte, fehlte es doch der heiteren Jugend nicht an frischer Lebenslust und dem lustigen Studentengeist, der sich mit dem Ringen nach dem Höchsten wohl verträgt. So hatte die Verbindung zum Ergötzen ihrer Mitglieder ein eigenes „Bierreich“ in dem weitbekannten Dorfe Lichtenhain gegründet. Dort versammelte zu bestimmten Zeiten der erwählte Herzog, welcher den Namen „Tus“ führte, seinen ganzen Hofstaat in der sogenannten Hofburg, einer dortigen Bierwirthschaft. Einen solchen „Hoftag“ hatte der damals regierende Herzog Tus VIII. ausgeschrieben, und alle Unterthanen seines Reiches leisteten willig seinem Aufgebote Folge. Unter den Getreuen befanden sich auch Hagen und Sand, der sich von dem Freunde zu dieser Wanderung nach dem nahe gelegenen Dorfe bereden ließ. Bei ihrem Eintritte fanden sie bereits den Bierstaat in seinem vollsten Glanze. Auf einem alten Großvaterstuhle, der ihm zum Throne diente und zum Schmucke mit weiß und brauner Leinwand behängen war, saß der regierende Fürst, ein alter Bursche mit stattlichem Barte und vollen rothen Wangen, in einem mit Goldpapier besetzten Flauschrock. Statt des Scepters hielt er einen gewichtigen Ziegenhainer in der Hand, und die Stelle der Krone vertrat ein alter Hut mit einer langen Hahnenfeder. Um die halb zerbrochene Tafel, in welcher über tausend Namen eingeschnitten waren, hatten sich die apanagirten Prinzen und die Würdenträger niedergelassen. Da gab es einen Reichsverweser, einen Erzkanzler, Truchseß, Schatzmeister, Ritter und Mannen, darunter der Hofpoet und der Zeitungsschreiber bis herab zu dem Scharfrichter, welcher bezeichnend der „Bluthund von Galgenbach“ genannt wurde. Sämmtliche Chargen waren in der ihrem Charakter angemessenen Kleidung erschienen, der sie natürlich einen komischen Anstrich zu geben suchten. So trug der Hofpoet einen zerrissenen Rock und einen Lorbeerkranz in den langen Locken, in seiner Hand hielt er die siebensaitige Leyer von vergoldeter Pappe; der Scharfrichter zeigte sich in blutrothem Mantel, wozu eine alte Fenstergardine von dieser Farbe dienen mußte; ein schartiges Vorlegemesser galt als Richtschwert und sein grauenvoll gefärbtes und mit einem falschen Barte ausstaffirtes Gesicht gab ihm ein zugleich schreckliches und lächerliches Aussehen.

Auf einen Wink des Herrschers gab ein Herold mit einer verborgenen Trompete ein lautes Zeichen, und alsbald herrschte die tiefste Stille. Hierauf erhob sich der Herzog Tus VIII. und trank feierlich auf das Wohl seines durstigen Landes eine volle Kanne, „Stübchen“ genannt, kredenzt von der alten, runzligen Hofdame, der Mutter des Bierwirthes, der zum Burgvogt erhoben worden war.

„Es beginne das Kampfspiel!“ rief darauf der würdige Fürst mit gnädigem Lächeln.

„Die Schranken sind geöffnet!“ verkündigte der Herold laut und Allen vernehmlich.

Vor jedem Ritter stand eine „Lanze“, ein kleines ausgepichtes, mit Reifen umlegtes Trinkgefäß von Lindenholz in Form eines [118] niedrigen, abgestumpften Kegels. Jeder wählte sich nun einen Gegner und Beide kürten einen „Kampfrichter“ und einen „Kriegswärtel“, welche dafür sorgten, daß die Lanzen zuerst gefüllt und gleichgemacht wurden, was mit dem größten Ernste und der strengsten Unparteilichkeit geschah. Sobald die Waffen vollkommen gleich gefunden waren, ertönte der Commandoruf des Wärtels:

„Ergreifet die Waffen!“

Dies geschah, wobei die Kämpfer sich mit stolzen Blicken maßen.

„Legt Euch aus!“

Die edlen Ritter setzten die Trinkgefäße an den Mund; rings umher herrschte lautlose Stille und die höchste Spannung.

„Stoßt aus!“

In einem Nu war das Bier, auch „Stoff“ geheißen, in den Schlund hinabgestürzt und augenblicklich die Lanze auf den Tisch gestampft, daß dieser dumpf erdröhnte. Wer nur eine Secunde zu spät kam, war „in den Sand gestreckt“, wer einen Tropfen verschüttete, hatte „geblutet“ und wurde für besiegt erklärt und zuweilen noch dafür gestraft, indem er auf Befehl des Herzogs mehrere Kannen leeren mußte. War der Ausgang zweifelhaft oder fügte sich der Betreffende nicht dem Richterspruche, so wurde ein „Biergericht“ zusammengerufen, der Verbrecher angeklagt und von einem ihm beigegebenen Vertheidiger vertheidigt. Es entwickelte sich dann ein oft höchst wichtiger und ernsthafter Streit über die Auslegung und Anwendung des „Biercomments“, wie das ehrwürdige Gesetzbuch dieses Bierstaates hieß. Von beiden Seiten wurden dann die scharfsinnigsten Gründe, die witzigsten Bedenken vorgebracht und so lange hin- und hergestritten, bis der Angeklagte entweder freigesprochen oder „verdonnert“ wurde; worauf er sich mit so und so vielen Maß Bier „herauspauken“ mußte, um wieder „bierhonorig“ zu werden. Mit diesem Biertournier wechselten heitere und ernste Lieder, Rundgesänge und Vorträge des Hofpoeten, der ein allseitig fertiger Gelegenheitsdichter sein mußte.

Der muntere und jüngere Hagen fand an diesem lustigen Treiben viel Gefallen und hatte schon manchen harten Strauß mit der Bierkanne so ehrenhaft bestanden, daß Herzog Tus VIII. auf seine Verdienste aufmerksam geworden war.

„Tritt näher!“ rief er ihm mit gnädiger Miene zu.

Friedrich gehorchte und verneigte sich vor dem zum Throne erhobenen Großvaterstuhle.

„Kniee nieder!“ befahl der erhabene Fürst, „und empfange aus unseren eigenen durchlauchtigen Händen den Bierorden erster Classe mit Eichenlaub am gelben Bande.“

Mit diesen Worten hing ihm der Herzog den besagten Orden um, der in einer kupfernen, mit komischen Emblemen verzierten Medaille bestand. – Nach beendeter Ceremonie drängte Sand, der weit weniger Antheil an dem fröhlichen Schauspiele nahm, den Freund zum Fortgehen.

„Ich fürchte,“ sagte er auf dem Rückwege, „daß Du ein zu großes Wohlgefallen an derartigen Spielereien findest. Es geht Dir, wie vielen unserer Brüder, welche die Schale für den Kern nehmen.“

Hagen vertheidigte sich nicht, da er bereits die düstere Lebensanschauung seines Begleiters kannte und diese seiner melancholischen Gemüthsart zuschrieb. Auch befand er sich in Folge des reichlich genossenen Bieres in einem rauschähnlichen Zustande, der sich jedoch bei ihm in der liebenswürdigsten Weise äußerte. Er gedachte seiner Angehörigen in Berlin und besonders seiner Schwester mit rührender Zärtlichkeit. Nach und nach wurde auch Sand wieder weicher und mittheilsamer; er erzählte viel von seinen Eltern und Geschwistern, die er überaus zu lieben schien. Plötzlich aber brach er dies Gespräch, das ihn schmerzhaft berühren mußte, in schroffer Weise ab und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, als wollte er dem Freunde seine hervorbrechenden Thränen verbergen.

„Was fehlt Dir?“ fragte dieser teilnehmend.

„Nichts! Was geschehen muß, muß geschehen.“

Sie waren bereits bis in die Nähe der Stadt gekommen, als ihnen aus einer benachbarten Schenke einige Studenten begegneten. Bei dem hellen Mondscheine erkannten sie an den bunten Abzeichen, daß es einige angetrunkene Landsmannschafter waren. Auch sie wurden bemerkt und bei der bestehenden Feindschaft der Verbindungen sogleich verhöhnt und „angerannt“.

„Halt Kameel!“ rief ein großer, wüster Bursche Hagen zu, indem er ihn unsanft anstieß.

„Was soll das heißen?“ fragte dieser im gereizten Tone.

„Daß so ein lumpiger Burschenschafter einem anständigen Landsmannschafter, wo er ihm begegnet, ausweichen muß.“

„Das werde ich nicht thun. – Ich finde dies Benehmen „sonderbar“.“

„Sonderbar!“ entgegnete der Händelsucher. „Das ist „Tusch“ und Sie werden wissen, daß Sie mir Satisfaction schuldig sind.“

„Das weiß ich. Mein Name ist Hagen.“

„Und der meinige von Bärenfeld. Ich werde Ihnen, morgen meinen Secundanten schicken.“

Nach bestehender Studentensitte war ein Duell die natürliche Folge dieser nächtlichen Begegnung, da seltsamer Weise das unschuldige Wörtchen: sonderbar unter Burschen für eine der größten Beleidigungen gehalten wird. Pünktlich stellte sich auch am nächsten Morgen der Secundant seines Gegners ein, um Hagen in aller Form zum Zweikampfe auf die in Jena beliebten Stoßdegen zu fordern, welche unter dem Namen „Pariser“ eine dort bekannte Waffe sind. Sand hatte sich von freien Stücken dazu erboten, der Secundant seines Freundes zu sein. Nachdem die nöthigen Verabredungen getroffen, Zeit und Ort festgesetzt waren, erschienen die beiden Duellanten zur bestimmten Stunde in dem Wirthshause eines benachbarten Dorfes, wo dergleichen „Scandäle“ ausgefochten wurden, in Begleitung ihrer Zeugen und des dazu berufenen Paukarztes, der sich bereits eine bedeutende Praxis in seinem Fache erworben hatte. Hier wurden die beiden „Paukanten“ von ihren Freunden erst mit dem sogenannten „Paukwichs“ bekleidet, der in einem vollständigen Apparate zum Schutze der gefährlichsten, bloßliegenden Körpertheile bestand. Um den Leib mußten sie eine breite, dick gepolsterte Binde legen, welche zum Theil noch die Brust bedeckte. Der Hals wurde durch eine ähnliche Vorrichtung geschützt und die Arme aus Fürsorge an den Stellen, wo die Pulsadern an der Oberfläche liegen, mit seidenen Taschentüchern umwunden, über die noch undurchdringliche hirschlederne Handschuhe kamen, die fast bis zum Ellenbogengelenke reichten. Den Kopf bedeckte nur eine leichte Mütze ohne Schirm; das Gesicht und der obere Theil der Brust war somit den Stößen des Gegners freigegeben. So ausgerüstet, standen sich die „Paukanten“ mit den Waffen in der Hand gegenüber, sich mit feindlichen Blicken messend; ihnen zur Seite waren die Secundanten aufgestellt, um die falschen Hiebe mit ihren Rappieren aufzufangen und, wenn es nöthig sein sollte, sogleich einzuspringen und die Kämpfenden zu trennen. In einer Ecke des Saales machte sich der Arzt mit seinen Binden und Instrumenten zu thun, die er behaglich und, an derartige Scenen bereits gewöhnt, theilnahmlos untersuchte und auf dem Tische ausbreitete.

Es herrschte die tiefste Stille.

Da erschallte der Commandoruf des Unparteiischen und der Kampf begann. Im hellen Sonnenlichte funkelten die Waffen und kreuzten sich, wie zwei gleißende Schlangen, die aufeinander losschießen. Beide Gegner waren sich an Kraft und Gewandtheit gleich, nur hatte der Landsmannschafter den Vortheil für sich, daß er besser, als Hagen, mit der Stoßwaffe umzugehen wußte, da dieser bis jetzt meistentheils nur mit dem „Hieber“ gefochten hatte. Diesen Mangel ersetzte er jedoch hinlänglich durch seinen kalten Muth, während der Andere durch sein hitziges Vordringen sich manche Blöße gab. Stoß auf Stoß folgte mit blitzähnlicher Schnelligkeit und ein kleiner Blutfleck bezeichnete die getroffene Stelle. Die Umstehenden verfolgten das Schauspiel mit der größten Spannung, da hier zwei ebenbürtige Gegner einander gegenüberstanden und der Ausgang des Kampfes sich nicht so leicht absehen ließ. Mehrere „Gänge“ waren bereits abgemacht, ohne ein erhebliches Resultat herbeigeführt zu haben, als Hagen, dessen Kraft zu erlahmen anfing, seine ganze Stärke zu einem gewaltigen Stoße zusammennahm, um dem Streite ein Ende zu machen. Diesen Augenblick benutzte sein Gegner und fuhr mit der scharfen Spitze seiner Waffe zwischen Brust und Armgelenk mit solcher Gewalt, daß ein Blutstrom sogleich hervorsprang und der Getroffene ohnmächtig in die Arme seines Freundes sank. – Der herbeigerufene Arzt machte ein bedenkliches Gesicht und erklärte die Wunde für gefährlich. Vorsichtig wurde der Verwundete nach Jena zurückgebracht, wo sich bald ein heftiges Fieber entwickelte. – Sand ließ es nicht an der sorgfältigsten Pflege fehlen, Tag und Nacht brachte er an seinem Lager zu. Als die Gefahr auf das Höchste gestiegen war, hielt er es für seine Pflicht, die Eltern des unglücklichen Freundes von dem Vorfalle in Kenntniß zu setzen. Schon nach einigen Tagen traf die besorgte Mutter in [119] Begleitung Emma’s ein, um sich selbst von dem Zustande des Sohnes zu überzeugen und seine Pflege zu übernehmen.

Hier am Krankenbette des Bruders zeigte Emma all’ die herrlichen Eigenschaften ihrer reichen Seele. Wie ein Engel des Himmels erschien sie Sand in ihrer aufopfernden Hingebung, in ihrer liebevollen Selbstverleugnung. Ihre schwache Kraft schien sich zu verdoppeln; sie ertrug Alles mit einer sich stets gleich bleibenden Heiterkeit, mit einem rührenden Gottvertrauen. Wie lieblich war sie nicht, als sie ihm mit sanftem Erröthen für die Treue dankte, die er dem liebenden Bruder bisher erwiesen!

Nach und nach erholte sich Hagen unter dieser sorgfältigen Pflege so weit, daß ihn der Arzt außer Gefahr erklären konnte. Mit strahlenden Augen und holdem Lächeln theilte ihm Emma dieses Glück mit. Diese tagtäglichen Berührungen am Krankenbette, die innige Theilnahme für einen Beiden gleich theueren Gegenstand, die gemeinschaftliche Furcht und Hoffnung waren wohl geeignet, ein inniges Band zu knüpfen und die Brust des liebenswürdigen Mädchens von Neuem mit süßen Träumen zu erfüllen. Sie gab sich um so leichter einer solchen Täuschung hin, da auch Sand in manchen Augenblicken sein strenges Wesen schwinden ließ und, eine wehmüthige Weichheit zeigte, die mit seiner sonstigen Zurückhaltung wunderbar contrastirte und durch den überraschenden Gegensatz um so ergreifender war. Mit dieser Hingebung wechselte freilich oft genug jene düstere Stimmung; mitten im Gespräch verstummte er plötzlich, wie von einem tiefen Schmerz ergriffen; dann sprang er auf und eilte in das Freie, wo er oft bis nach Mitternacht auf einsamen Wegen seinen Plänen nachhing. Ein furchtbarer Entschluß hatte sich allmählich in seiner Seele gebildet und eine solche Gewalt erlangt, daß seine bessere Ueberzeugung vergebens dagegen ankämpfte. Nur in Emma’s milder und besänftigender Nähe verließen ihn jene finstern Mächte, die seinen Geist immer mehr verdunkelten; so lange er in ihr den Himmel wiederspiegelndes Auge blickte, ihre zu Herzen dringende Stimme hörte, wich der Dämon, dem er bereits verfallen war.

Es war auch jetzt nicht Liebe, was er für die Schwester seines Freundes empfand, aber ein nahe daran grenzendes Gefühl von Verehrung, die sich seiner schwärmerischen Natur gemäß zur Begeisterung steigerte. Zuweilen war es ihm, als müßte er ihr Alles sagen und das gefährliche Geheimniß anvertrauen, seine innersten Gedanken vor ihr erschließen, aber wenn er den Mund ihr gegenüber aufthun wollte, da überkam ihn jene wilde Hast, die ihn aus ihrer beruhigenden Nähe forttrieb.

Vielleicht fürchtete er, daß ihr Einfluß stark genug sein könnte, ihn von seinem Entschlusse abzubringen; vielleicht schwankte er noch und kämpfte mit sich selber, vor der ungeheueren That zurückschaudernd. – Gewaltsam riß er sich von der holden Erscheinung los. Eines Tages war Sand aus Jena verschwunden; er war gegangen, ohne von Emma und dem noch immer leidenden Freunde Abschied zu nehmen.


VI.
Der Mord.

An einem trüben Märztage kam ein Reisender nach Mannheim und kehrte daselbst in den Gasthof zum „Weinberg“ ein; sein ganzes Gepäck bestand in einem leichten Tornister, worin einige Leibwäsche und mehrere Bücher lagen, darunter das Neue Testament und Körner’s „Leyer und Schwert“. Weder in seinem Aeußeren, noch in seinem Benehmen zeigte sich irgend etwas Auffallendes. Er ließ sich einen Schoppen Wein geben, den er in aller Ruhe trank, wobei er sich mit dem Wirthe unterhielt. Nachdem er den vor ihm stehenden Schoppen ausgeleert, forderte er einen Lohnbedienten, der ihn nach der Wohnung des Herrn von Kotzebue führen sollte. Zuvor brachte er seine von der weiten Reise bestäubte Toilette noch in Ordnung; er ließ sich die Kleider abbürsten und band ein seidenes Tuch um den Hals, den er gewöhnlich offen trug.

Nachdem der Lohnbediente dem Fremden die verlangte Wohnung gezeigt, gab dieser ihm ein Trinkgeld, winkte ihm, sich zu entfernen, und klingelte an der Hausthür. An der Schwelle schien ihn ein leiser Schauder zu erfassen, seine von der rauhen Märzluft gerötheten Wangen verfärbten sich, unwillkürlich trat er einen Schritt zurück; bald hatte er dies unter seinen Verhältnissen natürliche Gefühl überwunden. Vorsichtig fühlte er nach seinem linken Rockärmel, als wollte sich von dem Vorhandensein eines darin verborgenen Gegenstandes überzeugen. Eine Magd öffnete die Thür und fragte nach seinem Namen und seinem Begehr. Er nannte sich Heinrichs aus Mitau und verlangte den Herrn Staatsrath Kotzebue zu sprechen. Dieser war nicht zu Hause und die Magd bestellte den Besuch zwischen fünf und sechs Uhr wieder.

Hierauf eilte der Fremde dem Lohnbedienten nach, von dem er sich nach der Jesuiterkirche führen ließ. Dieselbe war jedoch verschlossen; er betrachtete dieselbe von außen und blieb einige Augenblicke unter dem gewölbten Portale des schönen Gotteshauses wie in tiefer Betrachtung versunken stehen. Da auch das Naturaliencabinet, das er zu sehen begehrte, nicht geöffnet war, so ging er in Begleitung des Lohnbedienten nach dem herrlichen Schloßgarten, wo er einige Zeit unter den Bäumen auf- und abwandelte; dann ließ er sich den Rhein zeigen, auf dessen Wellen er träumerisch niederblickte. Um ein Uhr kehrte er von seinem Spaziergange in den Gasthof zurück, wo er table d’hôte speiste und sich mit zwei Geistlichen aus der Umgegend angelegentlich über Luther und die Reformation unterhielt. Alles, was er sagte, war besonnen und durchdacht; keine Spur von Zerstreuung und Mißstimmung ließ sich an ihm wahrnehmen.

„Haben Sie den Herrn von Kotzebue getroffen?“ fragte ihn bei Tische der Wirth.

„Nein!“ entgegnete der Fremde trocken.

Das Fremdenbuch wurde ihm nach dem Essen vorgelegt, er schrieb ohne Zögern den Namen Heinrichs ein und gab als seinen Wohnort Mitau an, wie er dies bereits bei seiner Ankunft gethan. Seine Zeche bezahlte er sogleich; gegen fünf Uhr entfernte er sich, ohne Abschied zu nehmen, und schlug den Weg nach der ihm jetzt bekannten Wohnung Kotzebue’s ein. In ruhig festem Schritte näherte er sich dem Hause, welches an der Ecke der Straße und in der Nähe des Platzes lag, wo das Mannheimer Theater steht. – Der bekannte Schauspieldichter lebte hier seit kurzer Zeit, nachdem er von Weimar fortgezogen war. Er genoß eine jährliche Pension von 15,000 Rubeln, welche ihm die russische Regierung für seine Berichte über deutsche Zustände und anderweitige Dienste zahlen ließ. Ein geborner Deutscher, war er nach Rußland gekommen und der Kaiserin Katharina empfohlen worden. Bald gelangte er daselbst zu Ansehen und Vermögen, demungeachtet forderte er seine Entlassung und kehrte nach Deutschland zurück. Wo er durch seine berüchtigte Schmähschrift „Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn“, die er noch dazu unter Knigge’s Namen erscheinen ließ, die Achtung verlor, welche er sich durch sein leichtes, gefälliges Talent nicht mit Unrecht erworben hatte. Da er zwei Söhne im Cadettenhause zu Petersburg gelassen hatte, so kehrte er nach Rußland zurück. Ohne bestimmten Grund wurde er hier an der Grenze verhaftet und auf Befehl des Kaisers Paul nach Sibirien gebracht. Ein glücklicher Zufall rettete ihn, indem dem Kaiser die russische Uebersetzung eines kleinen Drama’s, „Der Leibkutscher Peter des Großen“, in die Hände fiel, worin der Dichter den großen Herrscher verherrlichte. In Folge dieses günstigen Ereignisses wurde Kotzebue begnadigt, durch Schenkung eines Krongutes entschädigt und wieder in russischem Dienste als Collegienrath angestellt. Während der Regierung Alexanders zeichnete er sich durch seinen Haß gegen Napoleon aus, den er von der Bühne und in öffentlichen Blättern mit allen ihm zu Gebote stehenden Waffen bekämpfte.

Nach der Besiegung des Usurpators nach Deutschland geschickt, um die dortigen Zustände zu überwachen, trat er jetzt mit demselben Fanatismus als ein Gegner der auftauchenden liberalen Ideen und als offenkundiger Russenfreund auf, indem er mit seinem beißenden und oft frivolen Spotte das Verlangen der Völker nach ständischer Verfassung, Preßfreiheit und vor Allem den Gedanken an ein einiges Deutschland mit seiner satirischen Laune geißelte. Grund genug, daß er den Haß der Freisinnigen auf sich zog und besonders den Unwillen der feurigen Jugend erregte. Kotzebue war damals nicht der Einzige, der im russischen Sinne den Absolutismus vertheidigte und die sich immer mehr ausbreitende Reaction begünstigte. Zu allen Zeiten aber sucht der Fanatismus der Menge nach einem Opfer und ist nur zu geneigt, die Uebelstände, welche in der Zeit und in den Verhältnissen liegen, einer hervorragenden Persönlichkeit zuzuschreiben und auf diese ihren ganzen Haß zu übertragen. Zu dieser nicht beneidenswerthen Stellung war Kotzebue weniger durch seine Bedeutsamkeit und große Schädlichkeit, als vielmehr durch seine maßlose Eitelkeit und die Verachtung gelangt, die er sich durch seine fortwährenden literarischen Händel zugezogen hatte. Es bedurfte [120] daher nur der geringsten Veranlassung, um diesen Unwillen zum Ausbruch zu bringen und dem dumpfen Zorngefühle eine bestimmte Richtung zu geben. Auch daran fehlte es nicht, indem die Veröffentlichung seiner russenfreundlichen Berichte und seine Vertheidigung einer Schrift des russischen Staatsrathes Stourdza, worin dieser die deutschen Hochschulen auf das Schmählichste angriff, die allgemeine Gährung zur bedenklichsten Höhe steigerte, wovon das Autodafé auf der Wartburg bereits ein warnendes Vorzeichen war. – In einer ohnehin politisch aufgeregten Zeit, wo die Gemüther noch von Liebe zum Vaterlande und von Haß gegen seine Unterdrücker glühten, wo die gespannte Thatenlust noch nicht zur vollen Ruhe gekommen, die höchste Opferfreudigkeit noch nicht erloschen war, konnte leicht bei einem jener schwärmerischen Jünglinge dieser Haß zum wildesten Fanatismus werden und selbst vor einem Verbrechen nicht zurückschaudern, wo es sich um einen vermeintlichen oder wirklichen Verräther handelte.

Von ähnlichen Gedanken war der Fremde beseelt, der um fünf Uhr wieder vor Kotzebue’s Thür stand. Der Bediente, welcher ihm diesmal öffnete, führte ihn, ohne erst nochmals nach seinem Namen zu fragen, die Treppe hinauf und meldete ihn. Drei Damen, welche Frau von Kotzebue besuchen wollten, gingen an ihm vorüber; er grüßte sie höflich. Der Bediente lud ihn ein, in das Wohnzimmer der Familie zu treten. Kotzebue, ein hoher Fünfziger mit verschwommenen Zügen, die mehr auf einen schwachen, eiteln, als auf einen gefährlichen Charakter schließen ließen, trat ihm mit freundlichem Lächeln entgegen. Bei seinem Anblicke zuckte der Fremde zusammen, doch beherrschte er sich so weit, um ihn zu begrüßen und sich ihm als einen Reisenden vorzustellen, der die Bekanntschaft des berühmten Theaterdichters zu machen wünschte, worin durchaus nichts Auffälliges liegen konnte.

„Sie sind aus Mitau?“ fragte Kotzebue arglos.

„Ich rühme mich,“ entgegnete der Fremde, der ihm ganz nahe getreten war, „Ihrer gar nicht – Hier, Du Verräther des Vaterlandes!“

In demselben Augenblicke zog er den verborgenen Dolch rasch hervor und stürzte auf den Erschrockenen, der vor Entsetzen sprachlos stand. Ehe dieser noch um Hülfe schreien konnte, fiel er am Eingange des Zimmers von mehreren Stichen durchbohrt auf die Erde. Keine Reue schien den Mörder zu beschleichen, selbst da nicht, als er in das brechende Auge seines Opfers starrte.

Aus diesem dumpfen Brüten wurde der Fremde durch die Erscheinung eines Kindes geweckt, dessen Anwesenheit er bisher nicht bemerkt hatte.

„Du hast wohl mit Vater Krieg gespielt?“ fragte ihn der vierjährige Knabe Kotzebue’s, der den Ermordeten vergebens zu erwecken suchte. Als das Kind aber das Blut des Vaters aus der Wunde hervorströmen sah, stieß es einen lauten Schrei aus. Dieser Schrei klang dem Verbrecher wie die Stimme des Gerichts und mahnte ihn an seine furchtbare That; jetzt erst erfaßte ihn die Reue und er kehrte den noch blutigen Dolch gegen seine eigene Brust. Der Stoß ging jedoch nicht tief und hatte nur einen erschöpfenden Blutverlust zur Folge, so daß auch er zusammenbrach. Das laute Geräusch, welches sein Fall verursacht haben mochte, führte den Bedienten und Kotzebue’s Tochter Emmy herbei. Als Beide eintraten, fanden sie ihren Herrn und Vater als einen Sterbenden, sie hoben ihn vom Boden auf und führten ihn, da er noch so viel Kraft besaß, in das nächste Zimmer. Dort gab er noch einige unarticulirte Töne von sich, dann sank er einige Schritte von der Thür zusammen und starb in dem Schooße seiner Tochter, noch ehe ärztliche Hülfe herbeigerufen werden konnte.

Der Mörder war allein, da bei der allgemeinen Verwirrung Niemand an ihn gedacht hatte; er stürzte durch die geöffnete Thür an zwei Dienstmädchen vorüber, die, entsetzt vor seinem Aussehen und dem blutigen Dolche, den er noch immer in der Hand hielt, ihn nicht aufzuhalten wagten. Sie schrieen nach Hülfe; zugleich riefen die Damen aus dem geöffneten Fenster: „Haltet den Mörder fest!“

Schon sammelten sich Leute auf der Straße; der Fremde sah wohl ein, daß er nicht mehr entfliehen konnte; er zog aus seiner Brusttasche ein Papier, das er dem Bedienten, welcher nach der Wache eilte, mit den Worten überreichte: „Da nimm es!“

Das Papier trug die Aufschrift: „Todesstoß für August von Kotzebue“ und enthielt eine Rechtfertigung seiner That vom politischen Standpunkte aus. Die ursprüngliche Absicht des Thäters war es, diese Schrift wie ein Urtheil der geheimen Vehme an Kotzebue’s Thür zu befestigen. Durch die Umstände war er jedoch daran gehindert worden.

„Haltet den Mörder!“ tönte es wieder aus dem geöffneten Fenster des Trauerhauses.

„Ich bin kein Mörder,“ entgegnete stolz der junge Mann den hülferufenden Damen. „Hoch lebe mein deutsches Vaterland!“

Dann ließ er sich vor der versammelten Menge, die bestürzt in dumpfer Betäubung ihn umstand, auf ein Knie nieder, während sein bleiches Gesicht von fanatischer Begeisterung erglühte.

„Ich danke Dir, Gott,“ murmelte er, „daß Du mir die Kraft verliehen.“

Ehe ihn Jemand hinderte, setzte er den Dolch auf die eigene linke Brust und stieß ihn langsam und mit fester Hand hinein, bis er festsaß. – Jetzt erst schien die Menge zu erwachen; man sprang hinzu. Ein Schuhmachergeselle zog ihm den Dolch aus der Brust, eine Frau wusch den Ohnmächtigen mit schnell herbeigeholtem Essig, worauf er die Augen wieder öffnete und Zeichen gab, daß er noch am Leben sei. Jetzt kam auch die indeß herbeigeholte Wache, welche den Schwerverwundeten auf eine Tragbahre hob und ihn in das Hospital brachte.

Niemand kannte ihn, aber man ahnte, daß der Mörder kein gewöhnlicher Mensch sei und seine That nicht mit dem gewöhnlichen Maßstäbe gemessen werden könnte.

Bis zum Abend blieb er bewußtlos; sein Gesicht war todtenblaß, sein Puls kaum fühlbar. Erst nach einigen Stunden erholte er sich so weit, daß ein Verhör mit ihm angestellt werden konnte, nachdem er zu seiner Stärkung einige Tropfen Wein genossen hatte. Auf die Frage, ob er Kotzebue ermordet habe, richtete er den Kopf in die Höhe und nickte einige Mal kräftig und rasch. Da ihn seine Wunde am Sprechen hinderte, verlangte er Papier und schrieb seinen Namen, den man ihm abforderte.

Er hieß: Karl Ludwig Sand aus Wunsiedel, Student.

Darunter setzte er die Worte: „August von Kotzebue ist der Verführer unserer Jugend, der Schänder unserer Volksgeschichte und der russische Spion unseres Vaterlandes.“

Bei dieser Aussage verharrte er auch im ferneren Verlaufe der mit ihm angestellten Untersuchung; er behauptete, keinen Mitwisser seiner That gehabt zu haben, und wies alle derartigen Fragen mit Entschiedenheit zurück. Seine Angaben wurden durch die peinlichsten und genauesten Nachforschungen der Gerichte bestätigt.

Sand hatte keine Mitschuldigen, seine That gehörte ihm allein; keiner seiner Freunde wußte darum.

Ehe er von Jena abreiste, hatte er in einem Schreiben an die Burschenschaft dieser seinen Austritt aus der Verbindung angezeigt; einen ähnlichen Brief richtete er an seine Freunde und an seine Eltern, worin er diese um Verzeihung bat und seine That als den Ausfluß seines eigenen Entschlusses entschuldigte. Diese Briefe wurden in seinem Schreibtische vorgefunden und lieferten den Beweis, daß sein Vorhaben, Kotzebue zu tödten, nach schweren inneren Kämpfen nur in seiner Brust entstanden war. Nichts sprach für die Wissenschaft und Theilnahme seiner Freunde oder der damaligen Burschenschaft, der er zufällig angehörte. Am wenigsten war die Annahme gerechtfertigt, daß Sand den Mord im Auftrage einer politischen Partei begangen, obgleich es nicht an ähnlichen Beschuldigungen fehlte.

Ungeheuer war das Aufsehen, welches seine That erregte. Durch ganz Deutschland flog die Kunde wie ein Blitz und erfüllte die Gemüther mit Furcht und Entsetzen. Die Freunde der Freiheit trauerten, ihre Gegner ergriffen die willkommene Gelegenheit, ihrem langverhaltenen Hasse Luft zu machen. Die Schuld eines Einzelnen sollte dazu dienen, die ganze Jugend Deutschlands zu unterdrücken, die Freiheit der Universitäten zu beschränken, dem Geiste Fesseln anzulegen. Die Reaction triumphirte und beutete den Mord Kotzebue’s in ihrem eigenen Interesse aus. Eine an sich verwerfliche Handlung, welche zu allen Zeiten geschehen konnte, wurde zu einem Verbrechen gestempelt, dessen Strafe nicht nur den eigentlichen Urheber, sondern unzählige Unschuldige treffen sollte. Nicht Sand allein, die ganze deutsche Studentenwelt wurde dafür verantwortlich gemacht. Der Bundestag in Frankfurt am Main bot seine Hand zu einem Inquisitionsverfahren, das von den traurigsten Folgen begleitet war; an verschiedenen Ort wurden Untersuchungscommissionen eingesetzt, besondere Gerichtshöfe bestellt, Maßregeln getroffen, welche die Axt an die Universitäten, diese Bildungsstätten [121] der Nation, legten und für Lehrer und Schüler gleich verderblich wurden. Schon im August desselben Jahres traten unter Metternich’s Vorsitz eine Anzahl deutscher Minister in Karlsbad zu einem Congresse zusammen, um die angeblich revolutionären Tendenzen der Jugend in ihrem Keime zu ersticken. Dort wurden jene bekannten Beschlüsse gefaßt, welche die Lehrfreiheit auf den Universitäten aufhoben, die Presse gänzlich knebelten und jede freie Aeußerung unnachsichtlich der Verfolgung preisgaben.

Ohne Untersuchung, Schuld und Urtheil wurde die deutsche Burschenschaft geächtet; die Mitglieder derselben für unfähig erklärt, ein Staatsamt zu bekleiden.

Es war am 26. November Abends acht Uhr, als sich die Jenaer Burschenschaft im Rosensaal zum letzten Male versammelte, da die sonst so nachsichtige weimar’sche Regierung, durch den Bundesbeschluß gezwungen, ihre Auflösung anbefohlen hatte. Es war ein ernster, feierlicher Augenblick!

Tiefe Trauer drückte sich in der ganzen Versammlung aus; die anwesenden Jünglinge waren von tiefem Schmerz bewegt, die große Idee, deren Verwirklichung sie anstrebten, so verkannt und verdächtigt zu sehen. Sie waren sich bewußt, keine Veranlassung zu einem solch harten Verfahren gegeben zu haben; sie hatten keine Schuld, kein strafwürdiges Verbrechen begangen, indem sie kein anderes Ziel im Auge hatten, als den Geist sittlicher Freiheit und Gleichheit, den Geist der Gerechtigkeit und Liebe zum Vaterlande nach ihren besten Kräften zu fordern. Kein Vorwurf konnte sie damals treffen, da sie offen und vor aller Welt ihre Grundsätze bekannten, fern von jeder Heimlichkeit und Verschwörung, zu der erst später Einzelne unter ihnen durch den Zwang und die Verfolgung gedrängt wurden.

Darum gelobten sie auch jetzt voll Begeisterung mit Hand und Mund, treu zu bleiben dem Geist der Burschenschaft, wenn auch die Form durch die Gewalt der Umstände vernichtet war. In diesem Sinne stimmten sie jenes herrliche Lied an, das der edle Binzer[WS 1] gedichtet hatte, um dem Ausdrucke des allgemeinen Gefühls Worte zu leihen. Es lautete:

Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus,
Und drin auf Gott vertrauet
Trotz Wetter, Sturm und Graus.
- - - - - - - - -
- - - - - - - - -
Das Band ist zerschnitten,
War schwarz, roth und gold,
Und Gott hat es gelitten,
Wer weiß, was er gewollt.
Das Haus mag zerfallen –
Was hat’s denn für Noth?
Der Geist lebt in uns allen,
Und unsre Burg ist Gott!

Das Schwanenlied der alten Burschenschaft war verklungen; die Anwesenden umarmten sich noch einmal und gaben sich den Bruderkuß. In manchem Auge glänzten helle Thränen. Der Sprecher erklärte die Versammlung für aufgelöst; still und tief bewegt fügten sich die Mitglieder in ihr Geschick, aber die meisten bewahrten in ihrem Herzen jene edlen Grundsätze und Gesinnungen wie ein Heiligthum für ihr ganzes Leben.

Unter diesen befand sich auch Hagen, den seine Wunde in Jena zurückgehalten hatte, trotz des Verbots, das die preußische Regierung bald nach der Ermordung Kotzebue’s an alle Angehörige erlassen hatte, die dortige Universität länger zu besuchen. Da Friedrich damals noch auf dem Krankenbette lag, konnte er dem Befehl nicht sogleich Folge leisten; er blieb noch einige Zeit, nachdem Mutter und Schwester ihn verlassen hatte, da die größte Gefahr vorüber war. – Die Nachricht von Sand’s That hatte er aus Emma’s eigenem Munde erfahren, als sie ihm die nöthige Kraft zutraute, die Schreckensbotschaft anzuhören. Sie selbst schien in unerklärlicher Weise ruhig und gefaßt, so daß sie den erschrockenen und auf das Schmerzlichste ergriffenen Bruder tröstete. Nur war sie noch bleicher, der Glanz ihrer Augen noch überirdischer geworden. Ihre zarte Gesundheit schien zu leiden und sie verfiel seitdem sichtlich, so daß die Mutter ihre Abreise nach Berlin beschleunigte, um mit dem befreundeten Hausarzt der Familie Rücksprache zu nehmen.

Erst nach Auflösung der Burschenschaft kehrte Hagen nach Berlin und in das elterliche Haus zurück; er zögerte noch so lange, weil er es sich nicht versagen konnte, dieser schmerzlichen Feier beizuwohnen. Ein trauriger Empfang erwartete ihn in der Heimath. Mit Thränen in den Augen begrüßte ihn Julie, die nur heimlich ihn sehen durfte, da ihr Vater ihr auf das Strengste anbefohlen hatte, jede Verbindung mit dem „Demagogen“, wie er Friedrich bezeichnete, für immer abzubrechen. Auch sein Vater, der zwar vorurtheilsfrei genug war, seinen Sohn nicht für das Verbrechen eines Freundes verantwortlich zu machen, trat ihm mit trübem Ernst entgegen.

„Ich habe mich,“ sagte er, „leider in dem Charakter Sand’s nicht geirrt. Eine ursprünglich edle Natur ist hier an der Unklarheit der Begriffe und an einer maßlosen Schwärmerei zu Grunde gegangen, indem sich der Unglückliche zu einem Verbrechen hinreißen ließ, das unter keiner Bedingung sich entschuldigen oder gar rechtfertigen läßt. Dieser Mord aber ist um so verwerflicher, da durch ein unglückliches Zusammentreffen der verschiedensten Verhältnisse die Folgen desselben für uns Alle unübersehbar sind. Volk und Regierungen werden in gleicher Weise darunter leiden. Der Geist des Mißtrauens wird das kaum geknüpfte Band gewaltsam zerreißen und Haß, Zwietracht und Feindschaft säen. Ich fürchte eine traurige Zeit der Verfolgung, die auch Dich nicht verschonen wird. Diese That hemmt auf lange Jahre die Entwicklung einer gesetzmäßigen Freiheit und stellt auf’s Neue Alles in Frage, was wir seither errungen haben.“

Leider fanden die Worte des Vaters bald in den nachfolgenden Ereignissen ihre Bestätigung. Es begann jene Zeit der Verfolgungen und Demagogenriecherei, die sich wie eine epidemische Krankheit über ganz Deutschland verbreitete, und in Preußen am stärksten wütheten. Die Gefängnisse reichten nicht mehr hin, alle die Angeklagten zu fassen. Unter ihnen befand sich auch der wackere Turnvater Jahn, der auf die Aussagen eines überspannten Gymnasiasten, welche dieser in seinem Tagebuche niedergeschrieben, plötzlich verhaftet und nach der Festung Colberg geschleppt wurde, wo er mehrere Jahre schmachtete, ehe er entlassen wurde, um seinen gezwungenen Aufenthalt in Freiburg an der Unstrut zu nehmen. – Auch Hagen wurde von einem ähnlichen Geschick bedroht, dem er nur dadurch entging, daß er mit seiner kranken Schwester auf den Rath ihrer Aerzte zuvor eine Reise nach dem Süden angetreten hatte. Emma’s Gesundheit war mit jedem Tage schlechter geworden; ein unheilbares Brustleiden schien sich zu entwickeln, für das sie unter dem milden Himmel Italiens jetzt Hülfe suchen sollte. Auf dem Wege dahin sprach sie mit dem Bruder voll Ergebung in ihr Geschick.

„Ich glaube,“ sagte sie mit einem traurigen Lächeln, „daß ich nicht wieder genesen werde, und betrachte mich wie eine Sterbende. Willst Du meinen letzten Wunsch erfüllen?“

„Rede nicht so, liebe Emma! Du betrübst mich durch Deine Hoffnungslosigkeit; aber gern werde ich thun, was in meinen Kräften steht.“

„So versprich mir, mit mir nach Mannheim zu gehen. Der Umweg ist nicht groß.“

„Wo denkst Du hin? Die Aerzte haben Dir streng jede Gemüthsbewegung verboten.“

„O, ich bin weit stärker, als Du glaubst. Ich muß den Unglücklichen noch einmal vor meinem und vor seinem Ende sehen. Ich fühle, daß ich einer heiligen Pflicht zu genügen, eine große Aufgabe damit zu erfüllen habe. Auch Du wirst von ihm Abschied nehmen und ihn noch einmal umarmen wollen.“

Emma bat so dringend und inständig, daß ihr der Bruder nicht zu widerstehen vermochte. Auch er sehnte sich, den armen Freund noch einmal zu sehen, von dem er wußte, daß er zum Tode verurtheilt war. Weit lieber hätte er ihn aus seinem Kerker befreit, selbst auf die Gefahr hin, sein hartes Loos zu theilen.


VII.
Die Sühne.

Sand saß in seinem Gefängnisse zu Mannheim; ruhig und gefaßt hatte er sein Todesurtheil mit angehört. Sein Aussehen hatte sich durch das Leiden, welches seine noch nicht geheilte Wunde verursachte, und durch die Kerkerluft bedeutend verändert. Seine Wangen waren eingefallen, der Glanz seiner Augen erloschen, seine ganze Gestalt gebrochen; aber sein Muth hielt ihn aufrecht. Eine milde, sanfte Stimmung war über ihn gekommen, vor der sein düsterer Fanatismus weichen mußte. Er hatte soeben den Abschiedsbrief [122] an seine Eltern beendet, die ihre Liebe für den Verirrten nur noch verdoppelten. Auf dem Tische stand ein frischer Blumenstrauß, den ihm der freundliche Gefangenwärter gebracht.

„Sie blühen und verwelken,“ sagte Sand mit melancholischem Lächeln. „Alles Schöne in der Natur muß so vergehen, wenn es zeitigen und zur Reife kommen will.“[1]

Er nahm eine weiße Monatsrose, die er sinnend betrachtete; in ihrer blassen Schönheit erinnerte sie ihn an das Bild einer eben erst entbundenen Mutter. Als er sie genauer ansah, bemerkte er einen weißen Streifen, der vom Bisse eines Wurmes herrührte. Mit einem leisen Seufzer legte er die kranke Rose aus der Hand.

Der Gefangenwärter trat jetzt ein, und meldete ihm den Besuch eines Herrn und einer Dame, die ihn zu sprechen wünschten. Seit Verkündigung des Urtheils hatte das Gericht ihm Erlaubniß ertheilt, Fremde in seinem Kerker zu empfangen. Ueberhaupt wurde ihm während seiner Haft die schonendste Behandlung zu Theil, so weit dies möglich war.

Bei Nennung des theuern Freundesnamens unterdrückte Sand einen leisen Ruf, um seine innere Bewegung nicht zu verrathen. Unwillkürlich griff er nach der kranken Brust, wo er in der Gegend des Herzens einen lebhaften Schmerz empfand.

Hagen führte seine bleiche Schwester am Arme, die bei Sand’s Anblick fast zusammen brach, aber bald sich wieder emporrichtete. Welch ein Wiedersehen!

Die Nähe des Gefangenwärters legte den Freunden einigen Zwang auf; erst als sich dieser auf einige Augenblicke zurückzog, überließen sie sich dem Ausdruck ihrer schmerzlichen Empfindungen. Emma reichte ihm die zarte Hand, die er lange Zeit in der seinigen hielt. Als sie dieselbe zurückzog, war sie feucht von seinen Thränen. Sand hatte sich zuerst gefaßt und behauptete eine seltene Ruhe, während Friedrich seine tiefe Trauer, die an Verzweiflung grenzte, nicht in eben dem Maße zu bemeistern wußte.

„Ihr habt mir,“ sagte der Unglückliche, „eine unerwartete Freude durch Eure Gegenwart bereitet. Wie oft habe ich an Euch gedacht! Ist es mir doch in diesem Augenblicke, wo ich Emma’s theure Züge sehe, als umschwebte mich das Bild der fernen Mutter, als brächte mir mein Schutzengel Trost und Segen vom Himmel selbst herunter.“

„O, wenn ich Dich retten könnte!“ rief Hagen voll Verzweiflung über seine Ohnmacht.

„Ich sterbe gern und freudig; in der Kraft Gottes will ich mich fassen. Unter allen Leiden des menschlichen Lebens halte ich es für das schwerste, zu leben, ohne dem Vaterlande und den höchsten Zwecken der Menschheit dienen zu können. Was ist das Dasein, wenn ich nicht in meiner Liebe wirken kann für die Idee, wenn ich nicht frei sein darf! – Ich nähre die Hoffnung, durch meinen Tod denjenigen zu genügen, die ich und die mich hassen, und wiederum die zu befriedigen, deren Gesinnungen ich theile und deren Liebe mit meiner Erdenseligkeit eins ist. Willkommen ist mir der Tod, da ich noch die nöthige Kraft in mir fühle, um mit Gottes Kraft so zu sterben, wie ich soll.“[2]

„Diese Resignation,“ entgegnete der Freund, „mag erhaben sein, aber ich begreife sie nicht. Hat das Leben keinen Reiz für Dich? Du darfst nicht sterben, nicht auf dem Blutgerüste enden.“

„Wie willst Du es hindern?“ fragte Sand, in dessen erloschenen Augen ein Hoffnungsschimmer blitzte.

„Du hast Freunde,“ flüsterte Hagen leiser, „die für Dich das Aeußerste wagen würden. Sage, daß Du nicht sterben willst, und es wird uns nicht an Mitteln fehlen, Dich zu retten. Die Grenze ist nahe, und wenn es Noth thut, tragen wir Dich auf unsern Schultern fort, wenn Deine Wunden Dich am Gehen hindern sollten.“

„Nein!“ entgegnete Sand mit Festigkeit. „Ich habe bereits Unheil genug über meine theuern Brüder gebracht. Rufe nicht die eitle Hoffnung wieder wach, rüttle nicht an meiner Fassung, die ich mühsam mir erworben habe. Ich muß und will sterben, wäre es auch nur, um das vergossene Blut zu sühnen.“

„Er hat Recht,“ entschied Emma mit sanfter, aber kräftiger Stimme. „Wie gern wollte ich den Tod für ihn erleiden, und doch sehe ich ein, daß er nicht anders kann und darf. Nicht die irdische Gerechtigkeit, sondern der Himmel muß versöhnt werden. Ja, Sand, ich begreife Sie und fühle wie Sie, daß Ihr Bleiben nicht auf dieser Erde ist. Gott wird Ihnen ein milder Richter sein und Sie in der schweren Stunde nicht verlassen.“

„Das ist die Stimme meiner Mutter!“ rief er tief bewegt.

„Segne mich, wie sie mich segnen würde in diesem Augenblick.“

Eine tiefe Stille herrschte in dem Kerker; Emma betete für den zum Tode Verurtheilten.

Als sie geendet, hauchte sie einen leisen Kuß auf seinen Mund, rein wie ein Engel Gottes, der eine verirrte Seele in die Heimath führt. Kein Wort wurde mehr gesprochen; so schieden sie.

Sand blieb allein in Gedanken versunken. Zum ersten Mal in seinem kurzen Leben hatte er ein Gefühl, das der Liebe glich.

„Zu spät!“ murmelte er mit bleichen Lippen. „Als ein Sterbender erfahre ich erst, daß das Weib die Krone der Schöpfung ist. Alles Heil ruht im Schooße der Familie; sie muß uns eben so heilig sein, wie das Vaterland. Ach! warum hab ich diese Wahrheit erst am Rande des Grabes kennen gelernt?“

Dieses schmerzliche Bedauern war jedoch mit einer wunderbaren Freudigkeit gemischt, als hätte der Segen Emma’s jedes Leid von ihm gebannt.

Seine Betrachtungen wurden durch den Eintritt eines Mannes unterbrochen, den Sand selbst dringend zu sprechen gewünscht hatte.

Der fremde Gast, welcher sich ihm jetzt näherte, verrieth in seinem wohlwollenden Gesichte eine tiefe Theilnahme, die wunderbar mit seiner gewohnten Beschäftigung contrastirte.

Es war der Scharfrichter Widmann aus Heidelberg, der Sand am morgenden Tage hinrichten sollte.

Als der Zuchthausverwalter diesen Namen nannte, erheiterte sich das Gesicht des Verurtheilten; er richtete sich von dem Lager auf, ließ den Scharfrichter neben sich setzen und faßte seine Hand, die er während der ganzen Unterhaltung mit ihm nicht wieder log ließ. – Widmann war dagegen so niedergeschlagen und konnte so wenig seine Bewegung unterdrücken, daß er der Delinquent zu sein schien. Sand mußte ihn ermuthigen.

„Bleiben Sie standhaft,“ sagte er freundlich; „an mir soll es nicht fehlen. Ich werde nicht zucken. Und wenn auch zwei oder drei Hiebe erforderliche sind, so dürfen Sie darum die Fassung nicht verlieren.“[3]

Darauf bat er ihn, sich Zeit zu nehmen, und fragte, wie er sich zu verhalten habe; worauf er ihm im Voraus für seine Mühe dankte.

„Denn nachher,“ fügte er mit einem ihm sonst nicht eigenen Humor hinzu, „werde ich Ihnen nicht mehr danken können.“

Als der Scharfrichter sichtlich erschüttert gegangen war, legte sich Sand zu Bett und schlief wie zu jeder andern Zeit so fest, daß er um vier Uhr Morgens geweckt werden mußte. Es wurde ihm angekündigt, daß seine Hinrichtung schon um fünf statt um elf Uhr Vormittags stattfinden würde, wie anfänglich bestimmt war, vorausgesetzt, daß er hinlänglich vorbereitet sei.

„Das bin ich in diesem Augenblick!“ erwiderte Sand.

Er hatte die Begleitung der Geistlichen zur Richstätte zwar abgelehnt, aber er betete mit ihnen voll tiefer Andacht. Nachdem dies geschehen, sprach er die Worte Körners, seines Lieblingsdichters: „Alles Ird’sche ist vollendet und das Himmlische geht auf.“

Auf einer Wiese vor dem Heidelberger Thore, welche seitdem im Munde des Volkes „Sand’s Himmelfahrts-Wiese“ hieß, wurde das Schaffot fünf bis sechs Fuß hoch aufgeschlagen. Unzählige Fremde strömten von den benachbarten Städten und Dörfern herbei. Besonders fürchteten die Behörden die Gegenwart der Studenten aus dem nahen Heidelberg und möglicherweise von ihnen ausgehende Unruhen; weshalb die Hinrichtungsstunde so sehr beeilt wurde. Es waren alle nöthigen Vorsichtsmaßregeln getroffen; das Militair, aus zwölfhundert Mann Infanterie bestehend, umgab im Quarré das Schaffot. Dreihundert Reiter wurden zur Begleitung des Gefangenen verwandt, und außerdem stand die ganze Artillerie in Bereitschaft, um mit brennender Lunte jeden Versuch zur Befreiung Sand’s zu unterdrücken. Alle Straßen wimmelten von Neugierigen und Wachen, obgleich die gebildeteren Einwohner Mannheims in ihren Häusern blieben, und viele selbst schon vorher die Stadt verlassen hatten, um nicht Zeugen des blutigen Schauspiels zu sein.

Es war ein regnerischer Morgen, als Sand in einer offenen, niedrigen Chaise die Thore seines Kerkers zum letzten Male verließ. [123] Er grüßte noch vorher seine Mitgefangenen, die an den Fenstern lagen und hinter den eisernen Gittern ihm weinend nachschauten. Als das Hofthor aufging und die versammelte Menge den Verurtheilten erblickte, hörte man ein allgemeines Schluchzen. Langsam bewegte sich der Zug nach dem kaum 800 Schritte entfernten Richtplatz. Zur Seite des Wagens gingen zwei Zuchtmeister mit Trauerfloren. Sand saß, da die lange Krankheit ihn abgezehrt, zurückgelehnt im Arme des Oberzuchtmeisters, den er ersucht hatte, wenn er etwas Schwächliches an ihm bemerken sollte, ihm seinen Namen zuzurufen. Sein Gesicht war leidend, die Stirn aber offen frei; die Züge interessant, ohne schön zu sein. Alles Jugendliche war daraus geschwunden. Er trug nicht seine altdeutsche Kleidung, sondern einen schlichten, grünen Oberrock, weißleinene Beinkleider und Schnürstiefeln. Der Kopf war unbedeckt. Auf dem Schaffot erwartete ihn der Scharfrichter mit seinen Helfern, alle schwarz gekleidet. Das Gesicht des Nachrichters war noch bleicher, als das des Verurtheilten. Von zwei Begleitern unterstützt, betrat Sand das Blutgerüst; er blickte noch einmal nach Mannheim und auf das versammelte Volk zurück, dann schweifte sein Auge über die Natur im Frühlingskleide, ein Schauspiel, das er seit vierzehn Monaten schmerzlich entbehrt hatte. Es war im Monat Mai, der Sonnabend vor Pfingsten, wo Alles lebt, blüht und duftet.

Vielleicht war ihm der Abschied nicht so leicht, als er geglaubt; oder hoffte er im Geheimen, wie das Volk, noch immer auf Befreiung? zürnte er, daß diese sich nicht sehen ließ, daß seine Brüder sich nicht zeigten, um ihn dem Henker zu entreißen, ihn nach dem Kahne zu führen und an das rettende Ufer zu tragen?

Denn nachdem er sich so im Kreise umgeschaut, warf er sein Taschentuch kräftig zu Boden; dann hob er die rechte Hand in die Höhe, als ob er einen Eid schwöre, richtete seine Augen zum Himmel und öffnete seine Lippen, um das Volk noch einmal anzureden. Der anwesende Beamte mahnte ihn jedoch an sein Versprechen, daß er jede derartige Ansprache unterlassen wollte.

„Gott gibt mir,“ flüsterten nur noch leise seine Lippen, „viel Freudigkeit – es ist vollbracht – ich sterbe in der Gnade meines Gottes.“

Darauf ließ er sich ruhig, nachdem der Actuar nochmals mit lauter Stimme ihm das Todesurtheil vorgelesen, die Hände binden. Nur die Binde um die Augen bat er fortschieben zu dürfen, um noch einmal das goldene Licht des Tages zu schauen. Als er die kalte Scheere im Nacken fühlte, womit die langen Locken ihm abgeschnitten wurden, flehte er, ihm diesen Schmuck doch zu lassen.

„Sie sind für Ihre Mutter bestimmt,“ sagte der mildherzige Scharfrichter.

Sand nickte dazu und gab ihm leise den Auftrag, eine Locke für Emma Hagen aufzubewahren, was Widmann ihm versprach.

Seine Mutter und Emma waren sein letzter Gedanke.

Der Scharfrichter trat einige Schritte zurück, und schwang das blitzende Schwert mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Schmerz und Trauer.

Feierlicher Ernst und tiefes Schweigen herrschte rings umher.

Ein kräftiger Hieb und der Unglückliche hatte geendet.

Ein Schauer durchzuckte die Versammlung bei dem Todesstreich. Die Umstehenden tauchten ihre Tücher in das strömende Blut. Nach und nach verlief sich die Menge, nur der Scharfrichter blieb wie vernichtet zurück und weinte, als hätte er sein eigenes Kind gerichtet.

Einige Monate nach seinem Tode starb Emma in Italien; auf ihrem Herzen ruhte die Locke Sand’s, welche Widmann ihr seinem Versprechen getreu nachgeschickt hatte. – Ihr Bruder durfte nicht nach Berlin zurückkehren; er wurde dort steckbrieflich verfolgt. Berthold Zeisig war sein Angeber und bewarb sich von Neuem um Juliens Hand, die ihm von ihrem Vater auch zugesagt wurde. Schon war der Verlobungstag festgesetzt, als das treue Mädchen heimlich Berlin verließ, um nach der Schweiz zu gehen, wo Hagen eine Zuflucht gefunden hatte. Mit Juliens Hülfe gründete er ein Erziehungsinstitut, das einen bedeutenden Aufschwung nahm und mehr als hinreichte, um ihn mit seiner Frau zu ernähren. Er wurde in contumaciam zu mehrjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt, die er natürlich nicht antrat; tief schmerzte es ihn, daß er deshalb das Vaterland nicht betreten durfte.

Erst im Jahre 1848 kehrte er nach mehr als zwanzigjähriger Abwesenheit nach Deutschland zurück, um an dem Frankfurter Vorparlamente Theil zu nehmen. Ueberall blickten ihm die alten Farben seiner Verbindung entgegen, an Fahnen, Hüten und Mützen begrüßte ihn das theure Schwarz-roth-gold. Die früheren Burschenschafter durften wieder offen ihre Gesinnungen zeigen, die der bessere Theil des deutschen Volkes jetzt laut bekannte und zu den seinigen gemacht hatte. Hagen fand in Frankfurt viele seiner Brüder wieder, unter diesen den alten Turnvater Jahn, der als Greis sich die Frische der Jugend bewahrt hatte.

Es waren schöne Tage, denen leider nur zu bald die Enttäuschung folgte.

Hagen konnte es sich nicht versagen, mit seiner Frau nach dem nahen Mannheim zu gehen. Dort ließ er sich auf den protestantischen Kirchhof führen. An der niedern Kirchhofsmauer hatte Sand ein Grab gefunden; keine Inschrift, nicht einmal ein gewöhnlicher Rasenhügel bezeichnete den Platz, wo der Unglückliche begraben war. Wein rankte sich an der Mauer auf; ewiger Klee und Vergißmeinnicht waren rings umher gesäet. Mit Wehmuth gedachte Hagen an dieser Stätte des Freundes, der das Opfer eines düstern Wahns geworden war, während Julie einen zu diesem Zwecke mitgebrachten Kranz auf das Grab niederlegte.

„Armer Sand,“ sagte sie weich. „So zu sterben! Wäre sein Fanatismus nicht gewesen, so hätte er mit uns die schöne Zeit der wiedergebornen Freiheit schauen dürfen.“

„Sein Tod,“ sagte der zum Manne gereifte Friedrich, „soll uns Allen eine Mahnung sein, in der Begeisterung selbst noch Maß zu halten. Nur zu sehr ist die Jugend geneigt, die Freiheit im Reiche der Träume zu suchen und darüber die Wirklichkeit in ihrer gesetzmäßigen Entwicklung zu vergessen. Nicht blinde Schwärmerei, sondern Klarheit und Besonnenheit führen uns zum Ziele. Die That unseres unglücklichen Freundes war der Blitzstrahl, welcher die in der Atmosphäre angesammelten ungesunden Dünste zertheilt und verscheucht hat. Wir sahen den Abgrund, der zu unsern Füßen lag. Ein Opfer mußte erst fallen, um die Götter der Unterwelt zu versöhnen. Wohl uns, wenn es nicht umsonst geblutet hat, wenn das deutsche Volk sich nicht von Neuem in phantastischer Schwärmerei um die Früchte seines Sieges selbst betrügt! Ich fürchte nur zu sehr, daß der augenblickliche Rausch ähnliche Ereignisse hervorrufen wird. Möge Sand’s blutiger Schatten uns dann eine Warnung sein, daß nicht das Verbrechen, sondern das Gesetz die wahre Freiheit begründet und befestigt.“

„Und mit dem Gesetz muß die Liebe sich verbinden; der Unglückliche hat sie nicht gekannt.“

„Sage lieber, daß sie ihm zu spät erschienen ist, um ihn mit dem Leben auszusöhnen.“

„Emma!“ flüsterte Julie mit Thränen in den Augen, die dem Andenken der dahingeschiedenen Schwester und Freundin flössen.

„Gott schenke Beiden seinen Frieden!“ rief Hagen tief bewegt.

Einen Strauß von Vergißmeinnicht pflückten noch die Gatten zur Erinnerung an den unglücklichen Sand; dann schieden sie in ernster Stimmung von dem Grabe, an dem Hagen Treue dem Vaterlande still gelobte, dem er von nun an wieder angehören durfte. –




Gäste auf offenem Meere.

Die alten Postkutschen, in denen man oft während einer Reise von zwanzig Meilen interessantere Bekanntschaften machte, als jetzt auf einer Eisenbahntour von fünfhundert Meilen, die alten Postkutschen und Passagiere sind bald ganz und gar in Vergessenheit gerathen. Das ist in vieler Beziehung jammerschade. Der Dampf als Locomotivkraft hat unendlich viel Gutes, aber er vermag nichts Preiswürdiges für die verloren gegangene Gemüthlichkeit und Geselligkeit der Postkutsche und des Segelschiffes zu bieten. Der Dampf saust gleichgültige Massen durch die Wunder und Schönheiten der Natur und der Geselligkeit. Man fährt erster, zweiter, dritter Classe abgeschlossen, hochnäsig und ist an Ort und Stelle ehe man Gelegenheit gefunden, einer interessanten Dame etwas Angenehmes und einem vernünftig aussehenden Mitreisenden etwas Gescheidtes zu sagen. An Ort und Stelle stieben die fremden [124] Menschen wie geblasene Atome auseinander und andere drängen sich gleichgültig ein und treten uns auf die Hühneraugen, ohne sich zu entschuldigen, um vielleicht schon auf der nächsten Station einem neuen noch muckischer aussehenden Atome Platz zu machen.

Wie anders war’s in der Postkutsche! Und von den Freuden einer monatelangen Seereise in einem erfahren, praktisch und weise mit den grimmigen Elementen kämpfenden Segelschiffe haben nur Wenige eine Ahnung. Auf dem Dampfschiffe logirt man wie in einem sehr beschränkten Gasthofe und denkt kaum an die Menschen und die Natur um uns. Das Segelschiff ist ein lebendiges Wesen, ein poetischer Delphin. Es lebt und kämpft stets mit der unmittelbaren Natur und muß den Mantel nach dem Winde hängen und sich Zeit nehmen, alle Vortheile und Nachtheile genau studiren, um sie zu benutzen, Tag und Nacht Mathematik, Astronomie, Mineralogie und unzählige andere Wissenschaften prakticiren. Dabei kommen für Matrosen und Passagiere Zeiten, während welcher man aus Langeweile oder Neigung Beobachtungen macht, die sonst Niemandem auf der Erde zugänglich sind. Welch’ ein Leben und Phosphoresciren im Meere! Wie interessante meteorologische Phänomene, die man zwischen Himmel und Wasser in der Regel schöner, schärfer und deutlicher sieht, als irgendwo auf der Erde!

Wie interessant und willkommen die Gäste, die den Segelschiffern auf ihren langen Reisen Besuche machen! Es sind in der Regel Luftschiffer, die weite Reisen machen und unterwegs in der Luft keine Polizeistationen und Gasthöfe finden, so daß sie oft hungrig und müde jedes erreichbare Schiff zu Ruheplatz und Restauration machen. Es ist eine Art alte Ehrensache und Rechtsgewohnheit, daß Segelschiffer diesen Luftschiffern Quartier und Beköstigung liefern, ohne ihnen eine Rechnung zu machen.

Diese Gäste auf Schiffen sind in der Regel Zugvögel auf ihren Wegen von oder zu den Winter- oder Sommerquartieren, daher am häufigsten auf dem mittelländischen Meere, jenseits dessen die Winterquartiere fast aller unserer Zugvögel zu finden sind, Geier und Falken gehören zwar nicht zu den officiellen Zugvögeln, doch ist es bekannt, daß viele über die größte Breite des mittelländischen Meeres reisen, um bald in Afrika, bald in Europa ihre Geschäfte abzumachen.

Eines Tages kommt ein Goldfalke auf ein Schiff zwischen Marmorite und Griechenland. Er setzte sich oben auf einen Mast und guckte scharf und neugierig herunter. Ein Matrose macht ihm im Namen seiner Cameraden die Honneurs, klettert hinauf zu ihm und ladet ihn ein, gefälligst näher zu treten. Goldfalke horcht, zögert aber. Matrose streckt leise die Hand nach ihm aus, greift ihn und klettert mit ihm herunter. Unten wird er hingesetzt und bleibt sitzen, nur daß er sich sehr eifrig mit seinen sprüchwörtlich scharfen, runden Augen umsieht. Da man Gästen anständiger Weise etwas vorsetzt, beeilte man sich auch hier, ihm Fleisch anzubieten. Dies verschlingt er denn auch mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers, der etwas verschwinden läßt. Man vermuthete jetzt auf dem Schiffe, daß man die Ehre seiner Gesellschaft nur rasendem Appetite auf Fleisch verdanke. Da er nun stets von jedem Matrosen gern tractirt, aus der Hand gefüttert, sogar gestreichelt und überhaupt stets sehr gütig behandelt ward, schien er auch bleiben zu wollen. Manchmal machte er Ausflüge bis in’s Unsichtbare, schoß aber immer bald wieder herab, wie ein Pfeil. So blieb er acht Tage. Am neunten kam das Schiff in Sicht des Aetna, der 10,000 Fuß hoch aus dem Meere in’s blaue Firmament zu steigen und stets eine Mütze von Schneewolken zu tragen schien. Der Goldfalke studirte ihn sehr eifrig mit seinen scharfen, runden Augen, dann sah er sich wieder auf dem Schiffe um und lauter Freundesgesichter, so daß er offenbar zu bleiben beschloß. Aber der Aetna wurde immer größer und das blühende, glühende Sicilien immer lockender. Jedenfalls roch es sicher nach frischem Fleisch. Da hielt es ihn nicht länger. Nach zwei oder drei Umschwenkungen des Schiffes, als wollte er zärtlich Abschied nehmen, schoß er verschwindend in den Himmelsraum hinein.

Alte holländische Segel-Capitaine treiben gern ein Bischen Küchengärtnerei auf ihren Schiffen. Sie ziehen in großen, langen, tiefen Kasten Kresse, Salat u. s. w. Wenn Luftschiffer dies aus ihren Höhen bemerken, grüne Saaten auf dem unermeßlichen Meere, steigen sie in der Regel herab, weiden ihre Augen und zupfen oft mit großer Kühnheit etwas aus.

Unglücklicher Weise haben die meisten Köhler des Meeres den Aberglauben, daß solche Besuche Sturm bedeuten. Allerdings wittern die Reisenden der Luft Stürme eher, als Barometer, und suchen sich dann oft auf Schiffe zu retten, so daß nicht blos Möven als solche Wetterpropheten gelten können; aber häufiger kehren sie aus denselben Gründen ein, von welchen arme reisende Handwerksburschen in Bauerhöfe oder Schenken getrieben werden.

Wären die Matrosen mehr Naturforscher oder Naturforscher häufiger auf Segelschiffen, würden wir bereits mehr von dem geheimnißvollen Zuge der Zugvögel wissen. Bekannt ist nur, daß viele Arten derselben im Herbste aus Nord-Europa verschwinden und nach einiger Zeit in Südspanien oder Nordafrika ihre Winterquartiere beziehen. Auf letzterem Wege werden kleinere Species manchmal von Hunger oder Stürmen gepackt, gegen welche sie auf Schiffen des mittelländischen Meeres Schutz suchen. So der Rothschwanz, die Schwalbe u. s. w. auf dem Wege nach der Sierra Nevada oder nach den schönen Abhängen des Atlasgebirges.

Für die kurzflügeligen Zugvögel bietet der Felsen von Gibraltar ein Rastquartier, auch einen Versammlungsort von Vögeln aus verschiedenen Gegenden Europa’s, so daß sie fast die ganze Reise zu Lande machen können. Die kleine Meerenge von Gibraltar ist ihnen blos ein Katzensprung. Andere Arten, auch manchmal Schwalben, treten eines Nachts den Weg über das mittelländische Meer an. Von heftigen Stürmen gepackt, werden sie manchmal gegen Schiffe oder Leuchtthürme geschleudert, auf welche sie sich zu retten suchen.

So bekommen die Schiffer auf verschiedene Weise geflügelten Besuch. Nur Nachtigallen, die ebenfalls in Europa und Afrika (oder Kleinasien) zugleich wohnen, hat man noch nie auf dem Meere bewirthet. Die Naturforscher glauben deshalb, daß sie stets Landreisen machen, sich auf dem Gibraltarfelsen versammeln, und nur die kurze Seereise der Meerenge zu überwinden haben.

Im indischen Ocean stellen sich oft die prachtvollsten Vögel ein. Sie amüsiren sich in der Takelage und verschwinden dann wieder zwischen Himmel und Wasser. Zwei Arten von Kuckuks wandern zwischen Australien und Neu-Seeland, 1000 englische Meilen von einander, die sie, ohne zu rasten, in fünf bis sechs Stunden zurücklegen. Ein Capitain des stillen Oceans bekam einmal, 1000 englische Meilen von der nächsten Insel, Besuch von einem schwalbengroßen, aber überaus prachtvollen Vogel mit tiefblauer Brust, grünem Schwanz, scharlachrothen Flügeln, hochgefiedertem goldenem Kamme und rothem Gefieder um die Augen. Man entdeckte ihn oben im Tauwerke. Der Capitain hielt ihm Reis auf einem Teller hin. Sofort flog er herunter auf seinen Arm und verzehrte seine Reisspeise mit dem wunderbarsten Appetite. Er war gleich zahm und that sofort wie ganz zu Hause. Wenn in der Cajüte gegessen ward, hüpfte er ganz zutraulich von Teller zu Teller und kostete von Allem, wobei er sich manchmal den Schnabel an den harten Fingern eines Seemanns wetzte. Einmal beobachtete man ihn allein in der Cajüte vor dem Spiegel, seinem Ebenbilde die rührendsten Klagen zuglucksend. So wie er bemerkte, daß er beobachtet ward, flog er, wie beschämt, an das entgegengesetzte Ende. Endlich landete das Schiff an einer kleinen Gesellschaftsinsel, von der mehrere Häuptlinge an Bord kamen. So wie sie den Vogel sahen, stürzten sie auf ihre Kniee, beugten ihre Häupter und beteten. Es ergab sich daß der Vogel der Gott der Insel war, der auf einer Spazierfahrt den Weg verloren und sich auf das Schiff gerettet hatte. Die Häuptlinge boten eine große Summe für die Auslösung ihres Gottes. Aber Schiffer sind nach alter Sitte gastfrei gegen alle solche Gäste, so daß der bunte, geflügelte kleine Gott umsonst ausgeliefert ward. Manche Vögelchen sind ja auch viel schöner, als die mächtigsten steinernen oder goldenen Götter und Götzen der Heiden und frommen Christen.

Näher am Lande sehen die Schiffe manchmal wie ordentliche Vogelbauer in der Takelage aus. In der Bucht von Biscaya, mehrere hundert Seemeilen vom Gestade, bekam ein Segelschiff Besuch von einem Gold- und einem Buchfinken. Zu ihnen gesellten sich bald Schnepfen und eine weiße Eule. Später erlebte man das Wunder, daß ein Habicht in Gesellschaft von (Haus- und Mauer-) Schwalben ankam. Weder Eule noch Habicht vergriffen sich an den Kleinen, die hier auch gar keine Befürchtung der Art verriethen. Man hat ähnliche Beobachtungen gemacht und daraus geschlossen, daß die Wanderzeit oder die gemeinsame Noth die Grausamkeit der Raubvögel tödten oder die feindlichen Theile unter diesen Umständen förmlichen Waffenstillstand abschließen. Poetischer Weise [125] kann man annehmen, daß die Vögel als Gäste des Schiffes zu honorig sind, das Gastrecht zu verletzen. Die erwähnte Gesellschaft lebte mehrere Tage in größter Eintracht auf dem Schiffe. Durch ein Loch über einer Kanone kam noch eine Rothschwänzin hinzu, die sich alle Tage treuherzig von den Matrosen füttern ließ. Letztere sind gewöhnlich roh, aber seit uralten Zeiten unverbrüchlich human und menschenfreundlich gegen solche beschwingte Gäste, unter denen sich deshalb der Glaube an die Noblesse der Schiffer traditionell wie ein Dogma fortgepflanzt haben mag. Wer weiß, ob nicht die Vögel auch ihre eigene Sagen- und Volkspoesie haben!

Wären die Schiffer nur bessere Beobachter, wir wüßten gewiß schon manches interessante Geheimniß von den Sitten und Gebräuchen der Zugvögel auf Reisen. Schon Homer singt von den Zügen der Kraniche. Und so ziehen sie noch. Nachdem sie sich auf den Sümpfen des weißen Nil oder an den Ufern des Euphrat und Tigris des warmen Winters erlabt, ziehen sie in regelmäßiger Ordnung über Kleinasien oder über das mittelländische Meer nach ihren europäischen Sommerquartieren. Die Schiffer sahen oft ganze Phalanxen in Keilform mit wechselnden Führern vorn hoch in dem Aether bald hin-, bald herwärts ziehen mit dem eigenthümlichen Singsang, der in seiner Schauerlichkeit aus den Kranichen des Ibykus von Schiller herausklingt. Die Kraniche sind starkgefittigt und nehmen kein Gastrecht auf Schiffen in Anspruch. Ebenso die Pelikane, obgleich schwer von Gewicht. Sie formiren sich in der Luft zu einer mathematisch genauen Keilform mit scharfer Spitze und durchschneiden so die Luft, wie ein Pfeil. Von den Sümpfen des Nil aufsteigend und sich Morgens sammelnd, bieten sie in ihrer schneeweißen Farbe mit den rothen Pünktchen oben, von der Sonne beschienen, einen seltsam schönen Anblick.

Kleinere, schwächere Zugvögel, wie Motacilla Hispanica, eine Art Bachstelze, Lerchen u. s. w. kommen in Masse auf Schiffe. Ein schwedischer Capitain sah einmal eine ganze Wolke Bachstelzen gegen einen Gewittersturm kämpfen, um sein Schiff zu erreichen. Es wurde Nacht und das Gewitter furchtbar mit seinem Orkane. Am folgenden Morgen sah er das Meer mit Bachstelzen und Lerchen besäet. Blos eine Lerche und eine Motacille hatten das Schiff erreicht und fraßen sofort aus der Hand.

Der Sperling macht oft aus bloßer Neugier Besuche auf Schiffen. Auch liebt er menschliche Gesellschaft, die er in Afrika oft nicht findet. So kommt er oft von der Nordküste herüber, hüpft und flattert auf dem Deck herum, schnappt und stiehlt, was er kriegen kann, und macht sich beiläufig wieder fort, ohne nur Adieu zu sagen. Sicilien ist reich an Sperlingen und alten griechischen Tempelruinen. Reisende, welche Letztere besehen, werden oft von Sperlingen auf Schritt und Tritt verfolgt, als wollten sie auch Antiquitäten studiren oder horchen, was die Fremden dazu sagen.

Drosseln machen oft beinahe die ganze Seereise auf Schiffen, die zwischen den Cykladen und Griechenland laufen. Der Fettammer benutzt oft die Küstenschifffahrt Englands, um wohlfeil zu reisen. Manchmal bleiben kleine Heerden über 24 Stunden an Bord.

Das interessanteste Feld für das Studium der Zugvögel sind die Liparischen Inseln, ein Hauptabsteigequartier der Frühlings- und Herbstreisenden, darunter ganz seltene Zugvögel. Die vulcanischen Kegel und Spitzen dieser Inseln sind oft dicht belebt von mehreren Gesellschaften dieser beschwingten Karawanen. Auf diese können sie sich verlassen, da sie fest stehen und nicht, wie die Schiffe, blos den Glücklichen im Unglück Herberge bieten.

Dies ist ein flüchtiger Blick in eine interessante, noch wenig beachtete Sphäre der Natur und ihrer Lebensphänomene, der sich noch viel abgewinnen ließe. „Ueberall, wo man das Leben packt, ist’s interessant,“ und hier gewiß mehr, als in vielen andern Ausflüssen.




Italienische Skizzen.
Von G. R.
Nr. 1. Como.
Ein deutscher Eisenbahnconducteur. – Italienische Räuber. – Neun schöne Mädchen, – Das Officierkaffeehaus in Como. –

Schon schlug es drei Viertel auf vier Uhr auf dem Marmordome von Mailand, als ich im gestreckten Trabe mit dem Grafen T. aus der Bella Venezia nach der Eisenbahnstation vor der Porta Nuova fuhr, um mit dem um vier Uhr abgehenden Zuge nach Camerlata und von dort nach Como zu reisen. Im Nu waren wir aus den Wagen und, nachdem unsere Effecten an den Ort ihrer Bestimmung geschafft, nahm ich von dem hübschen lombardischen Kutscher durch ein gutes Trinkgeld Abschied. Er nickte mir freundlich zu, und wir gingen zur Expedition, um Billets nach Camerlata zu lösen und uns in ein Coupé des bereits zum Abgange fertigen Zuges zu setzen.

Auf dem Perron stand ein Eisenbahnconducteur, ein Deutscher, ein geborner Sachse. Er war Postconducteur auf der Postlinie durch das tyroler Pusterthal gewesen und hatte mich vor zwei Jahren auf der neuen Hochstraße durch das Amgezzanerthal nach Treviso gefahren, als ich die Formation der Dolomiten, welche sich nirgends in den Alpen so großartig und so charakteristisch aufbauen, wie in diesem wunderbar schönen Querthal, untersuchte. Trotz seines großen Schnurr- und Backenbartes, welcher die ganze untere Hälfte seines echt deutschen Gesichtes einrahmte, erkannte ich ihn sofort wieder, redete ihn freundlich an und fragte ihn, seit wie lange er an der Eisenbahn angestellt sei, und ob wir in Camerlata Wagen finden würden, um nach Como zu fahren. Der Mann sah mich an, als wenn er mich niemals gesehen hätte. Ich erinnerte ihn an meinen Streit mit dem Postmeister zu Lengarone, der mir keine Postpferde geben wollte und nur dann erst nachgibig wurde, als ich mich, auf seinen Rath, so grob wie nur irgend möglich benahm. Sein Gesicht behielt indeß immer denselben verwunderten Ausdruck, keine Miene verrieth, daß er mich wiedererkenne, und als ich, voll Verwunderung über sein schwaches Gedächtniß, immer weiter in deutscher Sprache auf ihn einredete, sah er mich noch erstaunter an und sagte und erwiderte nichts, als: „No capisco, Signor.“ Jetzt machte ich ein noch erstaunteres Gesicht, wie er selbst, da ich meiner Sache und seiner Person ganz gewiß war.

„Was, Sie verstehen kein Deutsch? das ist denn doch zu arg. Sie sind ja aus Leipzig. Wir sind ja einen ganzen Tag miteinander auf der Briefpost gefahren, von Niederndorf bis nach Belluno. Sie hatten ja ein Exemplar der Gartenlaube in der Tasche und haben mich zwanzig Mal auf unserer Tour nach dem Verleger derselben, nach dem Buchhändler Keil, und dem Professor Bock gefragt, von denen ich Ihnen haarklein Alles erzählen mußte, was ich wußte und was ich nicht wußte. Haben Sie denn das hübsche Mädchen in Cortina auch vergessen, über welches ich beinahe alle meine geognostischen Untersuchungen der Dolomiten vergessen hätte?“

Der Mann blieb ganz stumm. Und als ich weiter auf ihn eindrang und mir alle mögliche Mühe gab, sein Gedächtniß zu schärfen, um ihn zu einer vernünftigen Antwort zu vermögen, wiederholte er nochmal ebenso eintönig sein „No capisco, Signor.“ und drehte sich um. Die Locomotive pfiff zur Abfahrt und schleunig stieg ich in das Coupé, wo der Graf neben einem österreichischen Gensd’armerieofficier längst seinen Platz genommen hatte.

Beide Herren lachten, als ich mich zu ihnen setzte. Sie hatten mein Gespräch mit dem Eisenbahnconducteur Wort für Wort mit angehört.

„Aber warum lachen Sie denn, Messieurs?“ fragte ich. „Haben Sie gehört? Begreifen Sie das? Der Mann ist in der That ein Deutscher. Ich irre mich nicht.“

„Nein, Sie irren sich auch nicht, Sie haben ganz Recht, der Mann ist aus Leipzig,“ erwiderte mir der Officier. „Ich bin in Mailand stationirt, fahre wöchentlich mehrmals nach Como und kenne ihn ganz genau. Er spricht nur kein Deutsch, aber Italienisch redet er ganz vortrefflich.“

„Er spricht kein Deutsch? Man kann doch nicht auf solche Weise in zwei Jahren seine Muttersprache vergessen.“

„Ach, Sie verstehen mich noch nicht,“ sagte der Officier. „Wenn Sie allein mit dem Manne wären, würde er mit Ihnen Deutsch sprechen; er thut es nur nicht hier auf dem Perron in Gegenwart seiner Cameraden. Es geht mir gerade so mit ihm. Wenn ich ihn jetzt in deutscher Sprache anredete, würde er mir sein „No [126] capisco, Signor“ eben so trocken erwidern, wie Ihnen. Verstehen Sie nun?“

Die einzelne Thatsache begriff ich, aber noch nicht den Grund derselben. Der Officier mochte dies auf meinem Gesichte lesen und fuhr fort:

„Die Mehrzahl der Eisenbahnbeamten und Conducteure in der Lombardei sind Italiener, denn die österreichische Regierung vermeidet vernünftiger Weise Alles, um das Nationalgefühl der Lombarden nicht durch Anstellung deutscher Beamten zu verletzen. Die wenigen Deutschen, welche sich unter dem Eisenbahnpersonal befinden, haben deshalb keine angenehme Situation und vermeiden Alles, was ihren italienischen Cameraden unangenehm sein könnte; insbesondere sprechen sie in ihrer Gegenwart kein Deutsch und geriren sich auch nicht als Deutsche. Derselbe Fall, der Ihnen so eben passirt ist, passirt mir, da ich viel unterwegs bin, häufig und auf allen italienischen Eisenbahnlinien. Begreifen Sie nun, warum der Mann Sie nicht wiedererkennen wollte?“

Jetzt war mir das Benehmen des deutschen Eisenbahnconducteurs ganz natürlich, obschon es mich gerade nicht mit besonderer Achtung gegen meinen deutschen Landsmann erfüllte. Wenn der Italiener kein Deutsch sprechen will, hat er Recht; wenn aber der Deutsche seine Nationalität verleugnet, um sich seine sogenannte bürgerliche Stellung vortheilhafter zu machen, so ist das eine Charakterlosigkeit, worüber man sich – leider muß ich es zugestehen – bei einem Deutschen nicht wundern kann. Ich habe in Italien viel und häufig mit Italienern verkehrt und sagte ihnen ganz offen, daß ich ein Deutscher sei, aber ein Freund Italiens und der italienischen Sache, und bin dann immer mit Freundlichkeit und sogar mit Herzlichkeit aufgenommen worden. Unduldsam ist der Italiener gerade nicht, die Unduldsamkeit liegt nicht in seinem Charakter, welcher offen, weich und leicht empfänglich ist, nicht tückisch und hinterlistig, wie die Lüge behauptet. Ich habe italienische Patrioten gesprochen, die, trotz ihres starren und unbeugsamen Festhaltens an der italienischen Nationalität, die großen Vorzüge, welche die österreichische Regierung für die Lombardei im Vergleich mit anderen italienischen Staaten habe, mit großer Offenheit anerkannten und nur bedauerten, daß die österreichische Regierung nun einmal keine italienische sei. Der junge Erzherzog, welcher jetzt Statthalter in Italien ist, ist nicht nur durchaus nicht unbeliebt, er ist durch seine große Humanität und durch sein intelligentes Wesen sogar sehr beliebt. Nur in diesem Sinne habe ich, selbst von heißblütigen Patrioten, von dem Erzherzoge sprechen hören. Wäre es die Absicht der österreichischen Regierung, wie kürzlich die Rede war, ihn zum Herzoge der Lombardei zu machen, und würde es ihm dann überlassen, die Lombardei nach seinen eigenen Intentionen zu regieren, so glaube ich mit Gewißheit versichern zu können, Oesterreich könnte durch nichts die Lombardei gegen perfide französische Interventionsgelüste besser sicher stellen, als durch diese einzige politische Maßregel.

Auch der verstorbene Radetzky war durchaus beliebt in der Lombardei, weil Grausamkeiten und Brutalitäten seinem Charakter fremd waren; er kannte Italien und den Charakter der Italiener, vermittelte deshalb die Amnestieen und rieth immer zur Milde und zur Vermeidung jeder Verletzung der italienischen Nationalität. Oesterreich hat an ihm die beste Stütze seiner Regierung in der Lombardei verloren. Ich kenne einen andern Obergeneral der österreichischen Armee, der ganz die Intentionen Radetzky’s verfolgt hat und der überall, wo er commandirte, von den Italienern nicht allein geachtet, sondern sogar geliebt wird. Niemand hat der österreichischen Regierung in Italien mehr geschadet, als einige Oberofficiere. Haynau – um nur Einen zu nennen – war der größte Feind Oesterreichs sowohl in Ungarn, als in Italien. Brescia wird ihm von den Italienern nie vergessen. Der alte Radetzky wußte dies recht wohl und der geistvolle und humane junge Erzherzog weiß dies auch.

Meinen deutschen Landsmann, den Eisenbahnconducteur, sprach ich nach einigen Wochen wieder, als ich von Mailand nach Bergamo fuhr. Es war kein Mensch auf dem Perron, der ihn hören konnte, und er redete mich freundlich in wohlverständlichem Leipziger Deutsch an. Ich betrachtete ihn einen Moment und machte ein verwundertes Gesicht, als wenn ich ihn nie gesehen hätte, gerade wie er auf der Eisenbahnstation vor der Porta Nuova in Mailand, dann sagte ich: „No capisco, Signor.“ drehte mich um und ließ ihn stehen.

Ich sprach viel mit dem Gensd’armerieofficier, der seit zehn Jahren in der Lombardei stand und ein sehr verständiger Mann war, über diese Dinge und er gab mir vollkommen Recht und war ganz meiner Ansicht. Während dem durchbrauste die Locomotive das fruchtbare Flachland, welches aussah, wie ein unabsehbarer Wald von Maulbeerbäumen, Platanen und Weinlaub, und die alte Stadt Monza mit ihrem alten, schon von der lombardischen Königin Theodolinda erbauten Dome und dem Sommerpalaste des Erzherzogs Statthalter mit seinem schattigen Parke flog an uns vorüber. Im Dome wird die eiserne Krone aufbewahrt, mit welcher vierunddreißig lombardische Könige gekrönt wurden. Louis Bonaparte würde gar zu gern auch hier die Scene aus der Lebens- und Feldzugskomödie seines Onkels wiederholen, die Krone sich auf den Kopf setzen und dabei Gott anrufen, wie es sein Onkel und er that, als er im Palaste der Nationalversammlung zu Paris den Eid auf die Verfassung schwor. In dem Sommerpalaste starb im vorigen Sommer die junge und hübsche Gemahlin des Erzherzogs Karl Ludwig, Statthalters von Tyrol, Margarethe, Tochter des Königs von Sachsen. – Dann wurde das Flachland hügelig und die grünen Hügel waren durch weiße Landhäuser mit schlanken Säulen geschmückt; es war die fruchtbare, reiche Brienza, durch welche wir fuhren, einer der schönsten Districte der Lombardei; das große Schloß von Desio mit seinem schönen Park und Seregno erschienen, und jenseits Seregno erhob sich ein langer, bewaldeter Bergrücken.

„Sehen Sie dort die Berge?“ fragte der Gensd’armerieofficier. „Es ist der Monte Resegnone. Im vorigen Jahre habe ich jene Berge viel mit meinen Gensd’armen durchstreift. Es hielten sich dort Räuber auf, welche die Gegend unsicher machten.“

„Räuber?“ fragte ich. „War es Diebsgesindel, welches nur stahl, oder waren es ordentliche Räuber, welche bewaffnet waren und sich wehrten?“

Der Officier lächelte über meine Terminologie.

„Nein,“ erwiderte er, „es waren keine ordentlichen Räuber, es war nur Diebsgesindel, und wir fingen sie ohne Widerstand. Aber kennen Sie den Höhenzug, der sich nördlich von Brescia nach Bergamo ausdehnt?“

„Ich kenne das Gebirge, ich habe es durchstreift!“

„Allein?“

„Ja, allein!“

„Das hätten Sie auch besser unterlassen können. Das Gebirge ist dort unsicher. Daß Sie so wieder herausgekommen sind, haben Sie von Glück zu sagen.“

„Aber ich war bewaffnet.“

Der Officier lachte.

„So, worin bestanden denn Ihre Waffen?“

Ich zeigte ihm meinen schönen damascirten, gewundenen Dolch und ein doppelläufiges Terzerol.

„Nun,“ sagte er, „gegen das Diebsgesindel im Monte Resegnone hätten Sie Ihre Waffen wohl verwenden können, aber nicht gegen die ordentlichen Räuber, wie Sie sie tituliren, im Brescianer Gebirge.“

„Sind diese Räuber denn tapfer?“ fragte ich.

„Die Italiener sind meistens tapfer,“ erwiderte der Officier. „Unter den vielen Unwahrheiten, welche die deutsche Presse und deutsche Reiseschriften über Italien verbreiten, gehört auch die Behauptung, daß die Italiener feige seien. Der einzige italienische Volksstamm, von dem ich behaupten möchte, daß er weniger Energie und weniger Thatkraft besitzt, wie die andern, sind wohl die Venetianer. Sie sind überhaupt weicher organisirt, wie die übrigen Italiener. Sie hören es auch an der Sprache und an dem Dialekt, der voll Vocale ist. Die Lombarden sind durchgängig rauher, sowie die Sarden, auch energischer und tapferer, besonders die Bewohner der Bergdistricte. Die Comasken und Savoyarden haben sich in allen Aufständen der vergangenen Jahre durch Energie und Tapferkeit ausgezeichnet.“

Wie klang das anders, als wenn man in den deutschen Zeitungen Artikel über Italien liest, Artikel, aus der Feder von Correspondenten, welche niemals in Italien waren, sondern nichts thun, als abgebrauchtes, dummes Geschwätz traditionell mittelst der Tinte fortzupflanzen!

„Aber, um nochmals auf die Räuber in den Brescianer Gebirgen zu kommen, nach denen Sie streiften, Herr Oberlieutenant?“

„Nun,“ erwiderte er, „ich durchstreifte mit sechzehn Gensd’armen die Berge, welche Sie ja kennen. Am zweiten Tage trafen [127] wir das Räubergesindel. Es waren zehn Mann, Bergamesen und Brescianer, von denen ich Einige persönlich aus den Gefängnissen kannte, schlechtes und nichtsnutziges Volk. Sie entbehrten aller romantischen oder gar politischen Vorzüge, mit denen man in Deutschland so gern italienische Räuber ausschmückt, aber sie schlugen sich tapfer, das muß ich sagen. Von Pardon und Ergebung wollten sie nichts hören, obwohl Alle am Ende nur Gefängnißstrafe zu erwarten gehabt hätten. Wir griffen sie an, sie schossen gut aus ihren langen Flinten und tödteten drei Gensd’armen. Mehrere von meinen Leuten wurden schwer verwundet, ich selbst erhielt einen Streifschuß am linken Oberarm. Sieben Räuber blieben auf dem Platze, und wir brachten nur drei gefangen nach Brescia zurück, welche schwer verwundet waren. Einer, ein großer, stattlicher Mann, ein Bergamese, vertheidigte sich, bereits aus mehreren Schußwunden blutend, an ein Stück alten Mauerwerks gelehnt, mit dem Kolben seiner langen Flinte um sich schlagend, gegen fünf Gensd’armen. Ich befahl meinen Leuten, nicht zu schießen, und rief ihm zu, sich zu ergeben, da jeder Widerstand nutzlos sei. Es war vergebens. Ein wohlgezielter Schuß durch den Kopf streckte ihn todt an der Mauer nieder. Ich kann nicht leugnen, ich empfand ein Gefühl schmerzlichen Mitleids, als ich Feuer geben und ihn stürzen sah. Die Tapferkeit flößt mir, selbst bei einem Räuber, immer Respect ein. Doch da ist Camnago, meine Herren, hier muß ich mich von Ihnen trennen.“

Der Zug hielt. „Camnago, Signori,“ schrie der Conducteur durch die Wagen, und der Officier stieg aus.

„Wenn Sie mal wieder die Brescianer Gebirge durchstreifen wollen, dann melden Sie sich bei mir,“ rief er nur noch zum Abschiede vom Perron zu, „ich will Ihnen dann doch lieber ein paar Gensd’armen mitgeben.“

Der Zug brauste weiter und die grünen Waldberge von Como, in den Duft des anbrechenden Abends getaucht, erschienen mit ihren weißen Häusern und Villen, in deren Fenstern die röthlichen Strahlen der Sonne funkelten, im Hintergrunde des schönen Landschaftsbildes. Ein hoher, bewaldeter Bergkegel trat aus dem Höhenzug hervor, und auf ihm erhob sich der alte Thurm des Castello Baradello, welches Kaiser Friedrich der Rothbart zerstörte. Mit jeder Minute Zeit, welche die Locomotive zurücklegte, rückte das Gebirge näher heran, immer deutlicher zeichneten sich die runden Conturen der Berge auf dem tiefblauen Himmel ab, und weiße Häuserstreifen, über denen einige alte Mauerreste hervorragten, bezeichneten die Stadt Como. „Camerlata,“ riefen die Conducteure wieder in die Wagen hinein. Der Zug hielt, wir stiegen aus, und fuhren auf einem der kleinen, einspännigen, italienischen Wagen, welche an der Station hielten, durch eine schöne Pappelallee im gestreckten Trabe der alten Stadt zu. In kaum einer halben Stunde rasselte unser Wagen bereits auf dem Pflaster der langen Straße, welche vom Mailänder Thor nach dem Hafen führt. Wir hatten dem Kutscher befohlen, nach der Italia, einem der Gasthöfe, welche am Hafen liegen, zu fahren, um noch eine kurze Fahrt auf dem See machen zu können. Da stand in der langen Straße ein hübsches Mädchen vor einer Hausthür, und über der Hausthür hing ein Wirthshausschild. Der Graf nickte dem Mädchen zu, und sie lachte. Schnell zog ich den Arm des Kutschers an, welcher die Zügel hielt, und unser Wagen rollte vor die Hausthür, in der das hüsche Mädchen stand, und der Wirth im Albergo zur Italia hatte die Aussicht verloren, uns am andern Tage theure Rechnungen zu schreiben, was in Como in den Gasthöfen am Hafen der Brauch ist.

Der Hausknecht nahm unsere Reisekoffer vom Wagen und das Mädchen ging voraus, um uns unser Zimmer zu zeigen. Als wir die Treppe hinaufstiegen, fragte ich den Grafen in französischer Sprache, was er meine, ob die hübsche Kleine die Kellnerin oder eine Tochter des Wirthes sei? Das Mädchen drehte sich, bevor der Graf antworten konnte, schelmisch zu uns um und sagte:

„La petite est la fille, Monsieur, pas la servante.“

Etwas betroffen darüber, daß sie meine Frage verstanden hatte, nahm ich den Hut ab, und entschuldigte mich wegen des, „la petite jolie,“ sie lachte, öffnete die Thüre des für uns bestimmten Zimmers, machte einen Knix, wiederholte nochmals „La fille, Monsieur,“ und lief die Treppe hinab. Die Stube enthielt, wie die meisten Zimmer in den italienischen Wirthshäusern, außer dem übrigen Mobiliar ein Bett, so breit, daß vier Menschen neben einander darin Platz hatten, und ein breites großes Sopha, welches so hoch war, daß man sich nur vermittelst eines Sprunges auf dasselbe setzen konnte, und die Füße, wenn man glücklicherweise zum Sitzen gekommen war, nicht ganz den Boden berührten. Die Fenster reichten ganz bis auf den steinernen Estrich hinab, und führten auf einen kleinen eisernen Balkon, von dem man auf die Straße blickte, auf der das Wagengerassel gar nicht aufhörte. Es war ja die Straße, welche in ihrer Fortsetzung die italienische Eisenbahnlinie mit zwei Hauptstraßenzügen verbindet, welche über die Alpen nach Deutschland führen, mit dem Straßenzug über den Splügen und mit dem über das Wormserjoch, der höchsten Alpenstraße Europa’s, auf welcher mich vor zwei Jahren in der letzten, großen Gallerie kurz vor der Höhe des Jochs eine Lawine verschüttete.

Behaglich streckte ich mich auf dem weichgepolsterten Sopha aus, nachdem es mir gelungen war, durch einen Sprung auf seine Höhe zu kommen, und der Graf ging hinunter, um ein Mittagessen zu bestellen. Nach wenigen Minuten trat er lachend wieder ein, und rief mir zu: „Denken Sie mal, ich habe unten noch zwei junge Mädchen gesehen, welche noch weit hübscher sind, wie die Kleine, welche vor der Hausthüre stand.“

Schleunigst kletterte ich von meinem Sopha herunter, und ging nun auch hinab. Nach einigen Minuten kam ich wieder herauf und machte meinem Reisegefährten die überraschende Mittheilung, daß ich unten außer den drei jungen Mädchen, welche wir jetzt Beide gesehen hätten, noch eine vierte entdeckt habe, mit so schönen Augen, daß ich sie zur Unterscheidung von den andern die flammenäugige Luigia nennen wolle.

Wir lachten, und gingen nun Beide in das Gastzimmer, da der Graf die flammenäugige Luigia sehen wollte, und als wir unten am Tische saßen, und unsere Suppe mit Fromajo würzten, traten zwei andere Mädchen herein, ebenso hübsch und ebenso zierliche Figuren, wie die waren, welche wir jetzt bereits gesehen hatten, und fragten uns, welchen Wein wir zu trinken beabsichtigten.

Wir sahen uns erstaunt an. „Nun habe ich bereits sechs gezählt, ich werde wirklich neugierig, wann das ein Ende nimmt,“ sagte der Graf erstaunt zu mir, und schenkte sich ein Glas von dem rothen Wein ein. Gerade trat die blonde Teresa, welche, als wir durch die lange Straße fuhren, vor der Hausthüre stand, herein, und sagte, ebenso schelmisch lächelnd, als sie mir auf der Treppe mittheilte, daß sie die Tochter vom Hause sei:

„Encore pas, Monsieur, nous sommes neuf.“

Verwundert legte ich die Gabel aus der Hand.

„Neun Mädchen,“ rief ich aus, „und alle so hübsch?“

„Alle so hübsch,“ erwiderte Teresa, „aber zwei von uns sind verheirathet, und haben den Gasthof in Varese. Wenn Sie nach Varese reisen und auf den Madonna del Monte steigen, können Sie dort auch meine Schwester Eliza sehen, welche Sie auch wohl so nennen werden, wie meine Schwester Luigia; denn ihre Augen sind noch dunkler. Wie hieß das Wort doch?“

„Flammenäugig, Signora,“ widerholte der Graf italienisch, „hat mein Freund gesagt.“ Alle drei Mädchen lachten, das Wort hatten sie noch nicht gehört; wenigstens hatte es wohl noch Niemand auf Luigia’s Augen angewandt.

„Bereuen Sie noch, daß wir nicht am Hafen eingekehrt sind, Herr Graf?“ fragte ich meinen Reisegefährten, welcher die auf dem Rost gebratene Cotelette vergessen zu haben schien, welche schon lange vor ihm stand und kalt wurde.

Er schien meine Frage zu überhören. „Jetzt weiß ich, wo wir sind,“ rief er plötzlich aus. „Der Marchese P. in Venedig hat uns ja diesen Gasthof dringend empfohlen.“

„Der Marchese?“ wiederholte die Flammenäugige. „Kennen Sie den Marchese? Er ist hier und muß sogleich zurückkommen. Er wollte nur einen kurzen Besuch bei einem Freunde machen.“

Sie hatte kaum ausgesprochen, als der Marchese in das Zimmer trat. Wir hatten seine Bekanntschaft in Venedig im Salon der Principessa G. gemacht. Er war ein Verwandter der Fürstin Belgiojoso, der die Villa Pliniana am Comer See gehört, jener bekannten Dame aus der italienischen Aristokratie, welche sich an dem Feldzuge des Sardenkönigs Karl Albert im Jahre 1848 betheiligte und später nach Paris floh. Der Marchese war ein schöner, stattlicher Cavalier, in seinem ganzen Wesen, in seinem Gesicht und in seinem Nationalgefühl so recht ein Repräsentant der italienischen Aristokratie. Seine politischen Ansichten trugen eine prononcirte Färbung, die Einheit Italiens und die Republik waren in seinen Ideen identisch, er wollte von den liberalen Bestrebungen und vom König von Sardinien nichts hören, von dem er behauptete, daß er [128] nur die Vergrößerungspolitik seines Hauses und seines Vaters im Kopfe habe. Er stand deshalb auch zu der constitutionellen Partei in gar keinen Beziehungen. Besonders haßte er die Priester, denen er die meiste Schuld an dem Unglücke Italiens beimaß.

Wir waren alle drei ebenso erstaunt als erfreut, uns so zufällig hier in Como wieder zu treffen; der Graf und ich beschleunigten die Beendigung unsers Diners, und als wir von der flammenäugigen Luigia und ihren hübschen Schwestern für den Abend Abschied genommen hatten, schlenderten wir in den Straßen von Como plaudernd umher. Als wir aus dem Gastzimmer auf die Straße traten, saßen drei Männer, anscheinend Landleute, an einem in der Ecke stehenden Tische und tranken Wein. Sie summten, als wir an ihnen vorübergingen, halblaut ein italienisches Lied, welches ich nicht verstand, und sahen uns finster an. Der Graf und ich hatten einige Mal bei Beendigung unserer Mahlzeit deutsch gesprochen.

„Die Comasken sind ein rauhes und energisches Volk,“ sagte der Marchese im Herausgehen zu mir. „Es war ein republikanisches Lied, was sie sangen, als wir vorübergingen, ich kenne es recht wohl. Sie sahen Sie so finster an, weil sie Sie für einen Tedesco hielten. Hier in den Bergen wird die österreichische Regierung recht gehaßt.“

Nur die Straße, welche in Como von der Eisenbahnstation an den Hafen führt, war lebendig, die übrigen Straßen waren eng, finster und wenig belebt. Die Häuser waren hoch, und selbst einige palastartige neue Gebäude, welche mit vielem Geschmacke aufgeführt waren, machten einen düstern Eindruck. Die wohlhabenden und reichen Bürger und Adelsfamilien waren noch auf dem Lande. Die Stadt Como ist für den Sommer kein angenehmer Aufenthalt. Die Trennung und Zurückhaltung von Deutschen war hier noch weit entschiedener und schärfer durchgeführt, wie in Mailand und in den andern Städten der Lombardei, wie mir der Marchese erzählte; den Officieren, welche in Como in Garnison standen, mußte der Aufenthalt hier noch weit öder und langweiliger sein, als in den andern italienischen Städten. Wir gingen in den Dom, der zu den schönsten Kirchen Oberitaliens gehört, und dessen vordere Seite ganz mit vorzüglich gearbeiteten Reliefs und Statuen bedeckt ist, sahen uns das eherne Standbild des großen Physikers Volta an, der in Como geboren ist, und setzten uns dann in der Halle des großen Kaffeehauses am Hafen hin, um unsern Kaffee zu trinken und auf den See hinaus zu sehen.

Ich äußerte den Wunsch, in das Officierkaffeehaus zu gehen, weil ich einen Gruß an einen der Officiere auszurichten hatte. Es war in Como gerade so, wie überall in der Lombardei. Die Officiere hatten sich ein eigenes Kaffeehaus ausgesucht, welches sie ganz allein frequentirten und welches von den Bürgern seit der Zeit nicht mehr besucht wurde. Der Marchese verweigerte es, mich zu begleiten, und versprach mir, mich mit meinem Reisegefährten am Hafen zu erwarten, um später in’s Theater zu gehen. Ich ging allein in die Stadt zurück in das Officierkaffeehaus.

Das Officierkaffeehaus in Como lag in der Straße, welche an dem schönen Portal des Domes vorüber zum Hafen führt. Die Straße war eine der breitesten in Como; dennoch war das Kaffeehaus düster und gewährte einen nichts weniger als freundlichen und eleganten Anblick, denn die Straße hatte an beiden Seiten Bogengänge, Lauben, wie man in Südtyrol sagt, und unter diesen Lauben befand sich das Officierkaffeehaus.

Diese weit vorspringenden, steinernen Bogen mögen im heißen Sommer zur Kühlung der Temperatur viel beitragen, ihre großen Schlagschatten geben aber den hinter ihnen befindlichen Räumen ein düsteres und unfreundliches Colorit. Das Officierkaffeehaus in Mailand lag an dem großen belebten Domplatz und hatte nach der andern Seite die Aussicht auf den prächtigen Corso Francesco, und in seinen eleganten und hellen Räumen verkehrte das ganze Officiercorps einer Garnison von 20,000 Mann; hier, im Officierkaffeehaus in Como, blickte man auf einen Halbdunkeln Bogengang, und drinnen saßen drei Officiere, ein alter pensionirter Rittmeister, der in Como seine Pension verzehrte, und ein deutscher Postbeamter und spielten Domino. Die Garnison in Como besteht aus einer Infanteriecompagnie, das ganze Officiercorps wird also durch den Compagniechef und einige Lieutenants repräsentirt, welche in Betreff ihres gesellschaftlichen Umgangs einzig und allein auf sich angewiesen sind. Ich bestellte dem Hauptmann meine Grüße, welche mir in Mailand aufgetragen waren, setzte mich zu den Officieren an den Tisch und sah ihrem Dominospiel zu. Der Hauptmann war ein intelligenter junger Mann.

In der österreichischen Armee macht man schnell Carriere. Ich habe Hauptleute kennen gelernt, welche noch nicht vierundzwanzig Jahre alt waren und Aussicht hatten, in einigen Jahren zu Majors zu avanciren; ich fand Oberstlieutenants und Obersten, welche noch nicht die Mitte der Dreißig überschritten hatten, sie waren aber immer intelligente und befähigte Männer. Intelligenz, Fähigkeit und Tapferkeit können in der österreichischen Armee immer auf schnelle Beförderung rechnen. Ist diese schnelle Beförderung innerhalb des Regimentes wegen der älteren Officiere nicht möglich, so ist die Versetzung in ein anderes Regiment leicht ein Mittel, um einen Officier wegen seiner Befähigung zu befördern. In keiner europäischen Armee wird wohl so wenig auf Stand, Familie, persönliche Protection und Anciennetät gegeben, wie in der österreichischen; Fähigkeiten finden dort immer ihre Würdigung. Wenn ich Officiere kennen lernte, welche, trotz ihres vorgeschrittenen Lebensalters, noch nicht über die Hauptmannscharge hinaus waren, so zeichneten sie sich auch gewiß nicht durch große Befähigung aus.

So theilte mir auch der Capitain, welcher die in Como garnisonirende Compagnie befehligte, mit, daß er in spätestens zwei Jahren Major zu sein hoffe – er konnte kaum sechsundzwanzig Jahre alt sein –, übrigens seine Versetzung von Como recht sehnlichst herbei wünsche. Die Trennung zwischen dem Militair und der Bürgerschaft sei noch weit schärfer und prononcirter, als in Mailand, und die Officiere seien ganz auf den Umgang unter sich beschränkt. Kein Haus und keine Familie öffne sich ihnen. Im Sommer biete ihnen die Nähe des Gebirges und der Seen, überhaupt die außerordentlich schöne landschaftliche Umgebung freilich viel Gelegenheit zu interessanten Ausflügen; der Langeweile und Eintönigkeit des Winters könne er aber nur mit Schrecken entgegensehen. Es ist wahr, die österreichischen Officiere haben in Tyrol und Italien viel Sinn für Natur und landschaftliche Schönheiten und kennen das Land ganz vortrefflich; ich habe gewöhnlich von ihnen bei meinen Streifereien die genauesten und auch gediegensten Notizen erhalten. Alle ihre Bemühungen, auf den Landhäusern in der Brienza einige Bekanntschaften anzuknüpfen, seien gänzlich fruchtlos gewesen, und diese unangenehme Situation würde sich auch bestimmt für die Wintersaison, wo die Familien vom Lande in die Stadt zurückkehrten, gewiß nicht ändern. Besuche der Cameraden aus den benachbarten Garnisonen und Bekanntschaften mit durchreisenden Fremden seien ein wahrer Trost.

Der Officier mochte Recht haben. Es war selbst im Officierkaffeehause recht eintönig und langweilig. Die Unterhaltung des pensionirten Rittmeisters und des kaiserlichen Postbeamten war auch nicht sehr anregender Natur. Und ich sah die Herren doch alle zum ersten Mal. Auch geistreiche und interessante Menschen werden sich ja schließlich langweilig, wenn sie im Umgange immer auf sich allein beschränkt sind; es liegt das in der menschlichen Natur, welche äußere geistige Anregung zu ihrem Wohlbefinden gebieterisch fordert. Meine Cigarre war deshalb kaum ausgeraucht und der Café Nero getrunken, als ich das Kaffeehaus verließ und wieder zum Hafen ging, um meine Freunde wiederzufinden. Die Dominosteine klapperten wieder von Neuem, als sich die Thüre noch nicht hinter mir geschlossen hatte.




Die Traglasten der Frauen.
Von K. v. Sp…e.

Zahllos sind die Gegenstände der socialen Frage; aber ihr Feld ist so verschieden, wie die Staaten, worin sie spielt. Das Leben im Staate vernünftig, bequem und angenehm zu machen, den Menschen mit sich und der Welt zu versöhnen, Körper-, Geistes- und Herzensbildung zu fördern, religiöse und sittliche Pflege, daneben Erwerb und Vertrieb der materiellen Güter und endlich Entwicklung [129] aller Anlagen im Menschen, die alle diese Schätze zu erwerben, zu vertheilen und zu verwerthen vermögen – das ist ihre schöne Aufgabe.

Das Feld ist also ein unbegrenztes, und wenn wir hier nur einen einzigen Gegenstand auf ihrem materiellen Gebiete berühren wollen, so soll dies blos Anleitung geben, ähnliche Fragen, die bisher kaum der Beachtung werth gefunden wurden, dem Nachdenken und der Besprechung zu unterwerfen.

Verdienstlich ist es unstreitig, wenn z. B. dem Volke eine Last abgenommen wird, deren es schon so viele trägt, und die es aus Unverstand sich selbst auflud, sie sei groß oder klein. Groß ist sie immer, wenn sie tief hinabreicht in die täglichen, ja stündlichen Lebensverrichtungen, Verhältnisse und Gewohnheiten, wenn Viele, sehr Viele an dieser Last tragen, wenn die niederen Classen mehr als nöthig sich krümmen müssen, um uns Genüsse zu verschaffen. Der Werth der Abhülfe nimmt dann zu in dem Verhältniß, als Meinung und Gewohnheit für das Hergebrachte allgemein geworden.

Mädchen aus der Gegend von Cassel.  Rheinisches Mädchen.   Thüringer Mädchen. 

Dresdner Mädchen.   Soldat von 1806.  Winzerin von der Mosel.

In einer Berliner Zeitung von 1858 hat man gelesen, daß das Problem, Lasten mit geringerer Kraftanstrengung als bisher fortzubewegen, gelöst sei. Man habe nämlich eine Vorrichtung an den Lastwagen erfunden, welche nur den dritten Theil der Kraft zu deren Fortschaffung erfordere und die Kosten der Vorrichtung und Instandhaltung seien unbedeutend gegen die dadurch bewirkte Ersparniß. Ein Lastwagen, welcher jetzt zur Fortbewegung dreier Pferde bedürfe, werde künftig von einem Pferde gezogen werden. – Wir glauben nicht an diesen Artikel. Aber wäre es möglich, die Reibung dergestalt zu überwinden, so wäre diese Erfindung ein unschätzbarer Gewinn für das Leben, das um so bequemer wird, je wohlfeiler es herzustellen ist.

Und so lassen sich viele Gegenstände und Gewohnheiten in den verschiedenen Gegenden und Ländern betrachten, die alle mehr oder weniger tief eingreifen in den Haushalt des Volks, die alle das sociale Leben verschiedenartig gestalten. Wie z. B. eine körperliche Last von einem Menschen getragen, bewegt, fortgeschoben oder gezogen wird, wie die Zugthiere gebraucht und angeschirrt werden, wie überhaupt die Kraft zur Last in vielen Stücken vertheilt wird, wie die Pumpenwerke, die Kindeln auf die Straße ausgehen, wie die Oefen, die Feuerheerde, die Geschirre des täglichen Gebrauchs in Haus und Hof beschaffen sind - das Alles ist fast in allen Gegenden verschieden. Gleichwohl kann es nach Maßgabe der Localität und der eigenthümlichen Verhältnisse nur eine Zweckmäßigkeit geben, wie es nur eine Wahrheit geben kann. Was ist nun das Richtige, das Beste? Ist es z. B. besser, daß die Frauenspersonen ihre Lasten auf dem Kopfe tragen, oder an den Händen, oder auf dem Rücken, entweder in langen Gefäßen von Holz oder Flechtwerk, wie die rheinischen Winzer mit ihren langen Böcken, [130] oder wie die thüringer Frauen in langen Kiepen, oder aber wie die Frauen in Kurhessen in ihren plumpen Kötzen, oder in der Dresdener Gegend mit ihren kurzen, weiten, fern abstehenden Tragkörben? – wie Figuren zeigen.

Eins muß doch das Richtige sein, nachdem der Arzt die Sanitätsrücksicht festgestellt hat.

Man kann in unserer Zeit als zuverlässig annehmen, daß Einrichtungen für den Militairstand als das Zweckmäßigste, Wohlfeilste und der Gesundheit am wenigsten Schädliche zur allgemeinen Geltung gekommen sind, und darum auch für das bürgerliche Leben manche Nachahmung verdienen. Denn bei der Masse der Heere hat der Kriegsherr das größte Interesse, daß seine Soldaten so wenig als möglich Last tragen, daß sie dabei gesund und kräftig bleiben, um stets mobil und kriegstüchtig zu sein. Er hat daher das Bestmögliche für die Soldaten herausgefunden. Dahin gehört denn auch, daß die alten, dicken, schweren, vom Rücken weit abstehenden Tornister, wie sie vor 1806 bei allen Heeren in Gebrauch waren, abgeschafft und durch andere längere und leichtere, platt und dicht an den Rücken sich anschließende Tornister ersetzt wurden, wie sie noch jetzt überall beim Militair gebräuchlich sind, dem sie eine mehr gerade Haltung und Mobilität verschaffen.

Dasselbe ist bei den Tragkörben der Dresdner Frauen der Fall. Auch jene sind ganz ähnlich den alten Soldatentornistern. Sie concentriren die Last auf einen Seitenpunkt des Körpers, schließen sich diesem nur insofern an, als sie auf dem Rücken weniger hängen als liegen, diesen nach vorwärts beugen, um den Schwerpunkt und dessen Unterstützung zu suchen. Solche Träger gehen daher stets gebeugt, und keuchen unter der Last. Ihr Körper beschreibt eine um so größere Curve, je schwerer die Last ist. Die Gesetze der Physik zeigen, daß, sobald der Schwerpunkt eines Körpers unterstützt ist, derselbe nicht fallen kann, und daß er um so fester steht, je mehr er in der Nähe der Grundfläche liegt. Thiere und Menschen, deren Theile sich bewegen, ändern dadurch jeden Augenblick die Lage ihres Schwerpunkts, und suchen diesen durch ihre Stellung. Der schwer tragende Körper (die Kraft) muß sich so lange krümmen, bis der Schwerpunkt in die Grundfläche fällt. Bei den rheinischen Mädchen, die ihre Last auf dem Kopfe tragen, fällt der Schwerpunkt in gerader Linie zwischen ihre beiden Füße. Nicht so bei den Soldaten alten Styls, noch weniger bei den hessischen und Dresdner Frauen, die stets eine Ausgleichung suchen und von der natürlichen Stellung sich entfernen müssen. Wie diese armen Geschöpfe unter ihrer Last keuchen, ist ersichtlich, aber wie das Rückgrat und die Muskeln der Brust und des Unterleibes mehr als nöthig gedrückt werden – das wird nur gefühlt, nicht gesehen.

Es ist zu wünschen, daß die Aerzte des Landes sich dieser und ähnlicher Fragen des socialen Lebens bemächtigen und mit den Regierungen zu Rathe gehen möchten, wie so manche schädliche Gewohnheit des Landvolks abzustellen und in ein Besseres zu verkehren sei. Denn das eben ist das nobile officium des Arztes, daß er durch Rath und That Krankheiten, Körpermißhandlungen und weit verbreiteten Uebelständen vorbeuge, daß er überall in socialen Verhältnissen aufspüre, wo etwas durch seine Hülfe gebessert, Gemeinwohl gefördert werden könne. Der Arzt soll sein wie der Blitzableiter, nicht blos wie die Feuerspritze. Warnt doch schon der Hahn seine Hühner, wenn der Raubvogel sich in der Luft zeigt, warum nicht auch ein verständiger Mensch die Unverständigen? – Keine Gesetzgebung, keine das Gemeinwesen betreffende Verordnung, die Leben und Gesundheit möglicherweise gefährden könnte, wie z. B. im Zollwesen, sollte ohne ärztlichen Beirath zu Stande kommen. Aber alle Staatsweisheit ist Monopol anderer Classen, die das Leben des Menschen wie ein Schemen ansehen, die auf das Naturwissen und die Erfahrung des Arztes, an den das sociale Leben so nahe herantritt, tief herabblicken.

Die Frage, wie solchen Mißständen abzuhelfen sei, wenn sie einmal erkannt sind, ist leichter zu beantworten, als durchzuführen. Gewohnheiten, die seit vielen Menschenaltern in verjährter Uebung sind, die durch Ansicht und Oertlichkeit eine besondere Beschönigung finden, werden schwer, sehr schwer abgeschafft. Das Sicherste ist wohl, eine andere Gewohnheit an die Stelle zu setzen, durch Beispiel zu wirken und so nach und nach auf die Ueberzeugung hinzuarbeiten, daß das Neue doch Vorzüge habe und darum nachzuahmen sei. Ist dann einmal aus einflußreichen Kreisen Bresche geschossen, dann wird auch der gemeine Troß, der nicht nachdenkt, nur nachzuahmen pflegt, nachfolgen.

Man wähne doch nicht, daß diese und ähnliche Volksgewohnheiten als unbedeutend anzusehen sind. Wenn von jeder Haushaltung in einem Staate nur einige Pfund Kraft in verschiedener Weise täglich erspart werden, welche Ziffer macht das nicht bei den Millionen, die von so viel Lasten befreit werden! Und ein Pfund Kraftersparung wiegt mehr als ein Pfund Last auf.

Werden diese Worte günstig aufgenommen, so findet sich wohl Gelegenheit, einen andern Gegenstand des socialen Lebens herauszugreifen und zu besprechen.




Berliner Polizei.

(Fortsetzung.)
IV.

Es war beinahe Mitternacht. An der Ecke der Weinbergsgasse trafen sich zwei Personen. Es waren, so viel man in dem halben Scheine der in jener Gegend von Berlin schlecht genug brennenden Straßenlaternen unterscheiden konnte, ein paar junge Menschen, schlecht gekleidet, übrigens nicht ungewandt, und von leidlich hübschem Aussehen. Sie blieben, als sie zusammentrafen, bei einander stehen.

„Bist Du es, Fritz?“

„Ja. Hast Du Alles beisammen?“

„Ja.“

„Gehen wir.“

Sie schlugen den Weg nach dem Monbijouplatze ein, überschritten diesen, passirten dann die Herkulesbrücke, darauf die Friedrichsbrücke, gingen an dem neuen Museum vorbei, über die Schloßbrücke, über den Opernplatz, nach dem Gensd’armenmarkte zu. Sie hielten sich so viel als möglich außer dem Lichte der Gaslaternen. Wenn sie hörten, daß ihnen Jemand entgegenkam, so trennten sie sich, der Eine ging auf die eine, der Andere auf die andere Seite der Straße. War der Entgegenkommende vorüber, und wußten sie sich wieder unbemerkt, so vereinigten sie sich wieder, um in Gesellschaft ihren Weg fortzusetzen. Wenn sie beisammen gingen, sprachen sie leise mit einander. Der Eine von ihnen hatte offenbar das Uebergewicht über den Andern. Er blieb meist auf derselben Seite der Straße, und der Andere mußte auf seinen Wink nach der andern Seite springen und sich dann wieder mit ihm zusammenfinden. Nach seinem Schritte mußte dieser Andere den seinigen einrichten. Er sprach weniger, kürzer, mehrfach befehlend. Es war der, den der Andere Fritz genannt hatte.

„Ich hatte schon auf Dich gewartet, Fritz,“ sagte der Andere.

„So?“

„Wir werden heute Nacht ein gutes Geschäft machen.“

„Lobe es nachher.“

„O, es kann nicht fehlen. Dreitausend Thaler hat der Alte noch vorgestern Abend eingenommen. Die Nachschlüssel habe ich zu allen Thüren. Es hat mir Mühe genug gekostet, die Wachsabdrücke zu nehmen. Ich habe drei Tage lang darnach schleichen und laufen müssen. Sie müssen aber auch passen, wie das Werk einer Dampfmaschine.“

„Du bist sicher, daß der Alte nicht zu Hause sein wird?“

„Er ist auf einem großen Souper. Eine sehr fromme Missionsgesellschaft gibt es. Morgen früh mit dem ersten Zuge geht ein Transport Missionäre ab. Die Gesellschaft will die Nacht mit ihnen beisammen bleiben – im Gebet, sagen sie.“

„Und in der Wohnung ist nur seine Magd?“

„Nur seine alte Magd. Sie schläft hinten nach dem Hofe zu. Das Geld hat er in seinem Secrctair in der Wohnstube.“

„Diese liegt nach vorn?“

„Sie geht auf den Gensd’armenmarkt.“

„Im zweiten Stockwerke?“

„Ja.“

„Wer bewohnt die andern?“

[131] „Der Wirth ist Zimmervermiether; er selbst wohnt in den Mansarden.“

Sie gingen eine Weile schweigend, dann fing der Andere wieder an: „Du hast mir noch nichts von Deiner Stettiner Reise erzählt, Fritz.“

„Wozu?“

„Hast Du gute Geschäfte gemacht?“

„Es ist nicht viel zu machen.“

„Ja, ja, jeder Fremde ist jetzt wie ein Polizeidiener. Wenn man auf so einen Eisenbahnhof kommt und die Leute aussteigen sieht, Jeder sieht den Andern an, als wenn er nur Spitzbuben sähe, vor denen er sich zu hüten habe, die er einfangen müsse. – Aber hast Du denn gar nichts gemacht?“

„Es war zum Glück ein hinterpommerscher Landsimpsl da.“

„Der hat wohl Haare lassen müssen?“

„Seine Uhr –“

„Eine goldene?“

„Sie haben arme Bauern genug, um goldene Repetiruhren tragen zu können.“

„Und was weiter?“

„Seine Börse.“

„Gut gespickt?“

„So ziemlich.“

Sie hatten den Gensd’armenmarkt erreicht und blieben in der Nähe eines großen Hauses stehen. Es hatte drei Etagen. Alle drei waren dunkel. Nur ein Fenster in der Bel-Etage war erleuchtet.

„Das ist das Haus, Fritz.“

„Wo ist die Stube des Alten?“

„Gerade über dem erleuchteten Fenster.“

„Schlimm.“

„Es wohnen nur Chambregarnisten da.“

„Wer?“

„Fremde, die am Nachmittage eingezogen sind. Ich hörte es, als ich am Abend noch nachsah, ob die Luft rein bleiben werde.“

„Wiederhole mir, wie es im Hause aussieht.“

„Wir kommen durch die Hausthür auf einen geräumigen Flur. In diesem ist gleich links die Treppe. Sie führt an dem abgeschlossenen Flur der Bel-Etage zum zweiten Stock. Auch der Flur des zweiten Stocks ist abgeschlossen. Ich habe den Nachschlüssel zu der Thür. Der Flur ist schmal. Gleich links ist die Küche. Die Thür weiter ist die zu der Stube des Alten. Es liegt Alles ganz bequem.“

„Du hast also vier Schlüssel?“

„Vier: zur Hausthür, zur Flurthür, zu der Thür des Alten, zum Secretair.“

„Du wirst sie mir einen nach dem andern geben; meine Hand schließt leichter, wie die Deinige. Komm! – Noch Eins. Wenn ich ertappt werde, so kostet es mich zwanzig Jahre; merke Dir das. Ick habe ein Messer bei mir, das in diesem Falle zuerst für Dich bestimmt wäre.“

„Was fällt Dir ein, Fritz?“

Sie gingen vollends an das Haus. Vor der Thür blieben sie stehen und horchten nach allen Seiten. Es war überall still.

„Den Schlüssel her!“

Die Hausthür schloß sich leicht, ohne Geräusch auf. Die Diebe traten in das Haus. Sie legten die Thür in das Schloß, zogen den Nachschlüssel heraus und stiegen die Treppe hinauf. Alles leise; eine Katze hätte sich nicht leiser bewegen können. Sie gingen an dem ersten Stock vorüber und erstiegen die Treppe zum zweiten Stock. An der Flurthür des zweiten Stocks blieben sie wieder stehen. Sie horchten wieder, vernahmen aber nichts.

„Den zweiten Schlüssel!“

Auch diese Thür wurde ohne das mindeste Geräusch aufgeschlossen. Sie traten in den Flur, die Thür hinter sich anlehnend. Es war hier eben so still, wie dunkel. Sie gingen an der Küchenthür vorbei und standen an der Thür der Wohnstube, in welcher der Diebstahl ausgeführt werden sollte.

„Den dritten Schlüssel!“

Die Thür schloß leicht und leise, wie die beiden anderen. Die Nachschlüssel paßten in der That, wie die verschiedenen Stücke in dem Getriebe einer Dampfmaschine. Die Diebe traten in die dunkle Wohnstube.

„Hier ist der Secrctair.“

„Gib den vierten Schlüssel her. – Teufel, was ist das? Was hast Du mit dem Schlüssel gemacht? Er schließt nicht.“

„Laß mich probiren.“

„Hier.“

„Wahrhaftig, der Schlüssel will nicht öffnen. Der verdammte alte Geizhals muß ein Geheimniß an dem Schlosse haben.“

„Wir müssen es mit Gewalt sprengen. Gib Bohrer und Stemmeisen her.“

„Hier.“

„Du bohrst; ich breche auf. Dort! Nur leise, kein Geräusch.“

Sie arbeiteten mit Bohrer und Stemmeisen an dem Secretair.

„Das ist Alles verflucht fest und hart.“

„Da ist der Teufel im Spiele.“

„Man muß die Geduld nicht verlieren.“

„Wenn uns nur Niemand hört.“

„Schwätze nur nicht.“

„Da unter uns wird es lebendig; ich höre Schritte.“

„Es sind ja Fremde, sagtest Du.“’

„Ja.“

„Sie werden denken, der Alte sei zurückgekommen.“

„Aber wenn nun auf einmal der Alte käme?“

„Mein Messer träfe ihn oder Dich.“

„Teufel, Mensch!“

„Schwätze nachher. Arbeite.“

„Das Holz fängt schon an nachzugeben.“

„Hier auch.“

„Gleich sind wir am Ziele.“

„Hoffentlich.“

„Horch!“

„Was hörst Du?“

„Sind das nicht Schritte vorn im Flur?“

„Deine Angst hört sie wohl!“

„Gewiß.“

„Alle Teufel, da geht Jemand im Flur.“

„Er kommt näher.“

„Er ist vor der Thür.“

„Was fangen wir an?“

„Ruhig!“

Der Dieb, den der Andere Fritz nannte, derselbe, der aufder „Stettiner Reise“ einem „hinterpommerschen Landsimpel“ Uhr und Börse abgenommen hatte, sprach ruhig das Wort „ruhig!“ und ging dann leise zu der Thür, an deren anderer Seite man unmittelbar die Schritte hörte, suchte an der Thür nach einem Schieber, fand diesen und schob ihn ohne Geräusch vor.

„Vor einem plötzlichen Ueberfall wären wir sicher. Nun weiter!“

„Aber was nun weiter?“

„Es kommt darauf an. Vielleicht ahnt man uns gar nicht einmal hier.“

„Dann?“

„Dann arbeiten wir einfach weiter.“

„Wenn man uns aber ahnt?“

„So horchen wir, ob der Mensch allein ist. Ich höre bis jetzt nur Schritte eines Einzelnen. Ist er allein, so wird er zunächst uns hier oben einschließen wollen, um Hülfe zu holen; dem müssen wir dann zuvorkommen.“

„Wodurch?“

„Wodurch? Wir reißen die Thür auf, werfen ihn nieder und stürzen über ihn fort. Es wäre nur ärgerlich, daß wir hier alles im Stiche lassen müßten.“

„Aber wenn er nun schon für Hülfe gesorgt hätte? Schon unten? Er fand die Hausthür offen.“

„Es wäre schlimm.“

„Dann? Was machten wir dann?“

„Still! Die Schritte entfernen sich.“

„Sie gehen hinten in den Gang; da schläft die alte Magd.“

„Es ist also doch der Alte, der zurückgekommen ist?“

„Er wird die Magd wecken wollen.“

„Sieh durch das Fenster.“

„Wonach?“

„Ob Platz und Straße frei sind.“

„Ich sehe keinen Menschen.“

„Dann fort!“

„Wohin?“

„Zum Teufel, aus dem Hause, aus der Wohnung, ehe der [132] Mensch von der Alten zurückkommt! Vorwärts! Oeffne die Thür! Spring rasch hinaus!“

„Gehe Du voran.“

„Feige Memme!“

Auch diese Worte sprach jener Fritz. Er schob den Schieber an der Thür zurück, riß sie eben so schnell wie leise auf, stürzte in den Flur, an der Küchenthür vorbei, fand die Flurthür offen, flog hinaus, die Treppe hinunter, an dem ersten Stock vorüber, zu der Hausthür, um dann durch diese in’s Freie zu springen. Aber die Hausthür war verschlossen, und als er an dem Schlosse drehte, flüsterten von außen mehrere Stimmen durch das Schlüsselloch:

„Die Gensd’armen kommen da schon. Wie viele Diebe sind es denn?“

Der Dieb flog entsetzt zurück.

„Wohin nun?“

In demselben Augenblicke hörte er oben einen Schrei, dann ein kurzes Balgen und darauf zwei Stimmen triumphirend rufen:

„Ah, haben wir Dich, Bursche!“

„Gefangen!“ schlug der Dieb sich vor den Kopf. „Gefangen in einer nichtswürdigen Mausefalle! Zwanzig Jahre Zuchthaus! Was nun? Was nun?“




Blätter und Blüthen.

Fünfhundert Briefe aus der Geisterwelt. Thatsachen sind oft seltsamer, als Dichtung, und die Wahrheit unwahrscheinlich, wie ein englisches und ein französisches Sprüchwort lauten. „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen“ sagt Goethe; im Gegentheil, sie macht sich just unter den nüchternsten, prosaischsten, praktischsten Völkern, den Amerikanern und Engländern, auf eine so phantastische Weise geltend, wie wir im ruhigen Deutschland kaum glaublich finden werden. In Amerika erscheinen über funfzig Zeitschriften, ausschließlich der Geisterwelt, den Klopfern unter Tischen, citirten Geistern, den Erscheinungen Verstorbener, dem Besessensein und dem Austreiben von Geistern gewidmet. In der Times, welche die höchste Intelligenz Englands vertritt, erscheinen alle Tage Ankündigungen: „Die Zukunft vorher verkündet!“ „Das Horoskop gestellt!“ u. s. w. und die Polizeiberichte bringen immer wieder erstaunliche Beispiele von der ungeschwächten Wirksamkeit des Glaubens an Hexen, Wahrsagerinnen und Künstler des Ueber- und Unnatürlichsten. Der Engländer Black zeichnet Portraits Verstorbener, die er nie gesehen, ganz nach dem Leben und gibt ordentliche Vorstellungen. Er soll, wie öffentliche Blätter melden, in jeder Familie, die seine Dienste verlangt, erscheinen, sich das Leben und die Eigenthümlichkeiten irgend einer verstorbenen Person, die er portraitiren soll, erzählen lassen, sie dann in Person und „im Geiste“ vor seine Augen zaubern, sie wirklich sehen und danach richtig und lebenswahr abzeichnen.

Dies geht weit, aber noch lange nicht so weit, wie die Wunderthätigkeit des Barons von Guildenstubbe in Paris, wohin Black auch jetzt sein Atelier zum Portraitiren Verstorbener verlegt hat. Der Baron v. Guildenstubbe läßt sich von Verstorbenen, gleichviel, wie lange sie todt sind, welche Sprache sie gesprochen und wo sie begraben sein mögen, Briefe schreiben, Briefe in der Sprache und der Handschrift des Verstorbenen. Er behauptet, über fünfhundert Briefe von Verstorbenen aller Zeiten und Völker zu besitzen. Vor mir liegen in großen, lithographirten Tafeln Copieen von 67 solchen Briefen oder geschriebenen Symbolen, darunter Briefe von alten Chinesen, von Plato, Isokrates, Cicero, Julius Cäsar u. s. w., von Engländern, Franzosen und Deutschen.

„Ist es möglich, daß der Wunderglaubenswahnsinn oder der Betrug im neunzehnten Jahrhundert noch bis zu diesem Grade des Blödsinnes gehen können?“ wird der aufgeklärte Deutsche entrüstet fragen. Die Antwort ist: „Allerdings, und noch weiter.“

Die Copieen der Originalbriefe Verstorbener bilden den Anhang eines großen, gelehrten, splendid gedruckten französischen Werkes, voriges Jahr in Paris gedruckt und verdeutscht den Titel führend: „Positive und experimentale Geisterkunde. Die Realität der Geister und das wunderbare Phänomen ihrer unmittelbaren Schrift, nachgewiesen von Baron de Guildenstubbe. Paris. Buchhandlung von A. Franck, Rue Richelieu 67.“[4]

Das beinahe dreihundert große Octavseiten füllende Werk ist kein Phrasenwerk, sondern ungeheuer gelehrt. Es holt aus allen Literaturen, Religionen und Aberglaubensformeln der ganzen Menschheit, aus uralten Chinesen, Sanskrit, der Bibel, aus griechischen Orakeln und römischer Vogel- und Eingeweideschau, aus dem Mittelalter und der modernen Menschheit, aus Schriften und Doctrinen Plato’s, Humboldt’s, Arago’s Beweise für den Glauben an die Existenz der Geister Verstorbener und ihre Fähigkeit, mit den Geistlosen in Fleisch und Bein zu verkehren, zusammen und beweist dann durch eine Reihe von hochnamigen Zeugen, daß Guildenstubbe wirklich die fünfhundert Schreibebriefe von den verschiedensten Verstorbenen erhalten und in deren Gegenwart habe schreiben lassen.

Diese directen und übernatürlichen Schreibebriefe in egyptischen Hieroglyphen, Griechisch von Plato, Isokrates, den Aposteln Johannes und Paulus mit Unterschrift, Lateinisch von Cicero, Virgil, Julius Cäsar, Kaiser Augustus, Französisch von Marie Antoinette u. s. w., Englisch von Maria Stuart, Deutsch von Annette v. B., Nanny v. A., „Onkel Gustav und seinem Weibchen Wilhelmine“, einem nicht unterschriebenen deutschen Geiste u. s. w. sind die Frucht eines langen, gründlichen Studiums und vieler Experimente mit tanzenden Tischen. Unser Baron kam am 1. August 1856 zuerst auf den Gedanken, zu versuchen, ob die Geister nicht bequemer direct schreiben könnten, statt sich lächerlich und unbeholfen, wie Leporello im Don Juan, hinter Tische zu stecken. Auch die Wunder Stratfords in Amerika führten auf den Gedanken. Er steckte ein Stück weißes Papier und einen gut gespitzten Bleistift in einen Kasten, verschloß ihn, trug den Schlüssel stets bei sich und sah verschiedene Male nach, ob kein Geist in dem Kasten sich der ihm gebotenen Gelegenheit bedient haben möchte. Zunächst vergebens, aber am 13. August ging’s los. Er fand das Papier geheimnißvoll bestrichen und beschmiert. Der Anfang war gemacht. „Die Geister, die ich rief, die werd’ ich nun nicht los!“ Er legte ihnen bald nur weißes Papier hin, auf Tische, Gräber, Monumente etc., keine Tinte, keinen Bleistift, und siehe, es ging besser. Die Geister haben, wenn auch kein Papier, so doch gewiß einen Bleistift bei sich, einen Bleistift aus dem Geisterreiche, mit dem sie jedenfalls besser schreiben können, als mit dem besten eitel irdischen von Faber.[5] Sie beschrieben ihm alle Stückchen Papier, die er ihnen hinlegte. Jetzt theilte er seine wunderbare Entdeckung dem Gelehrten des Geisterreichs und Freunde, Graf d’Ourches, mit. Beide zusammen erhielten Schreibebriefe von verschiedenen Geistern, auch von dem Apostel Johannes. Bald wurden auch andere Gelehrte des Uebernatürlichen hinzugezogen, so daß die mehr als 500 Briefe aus der Geisterwelt vor den verschiedensten Zeugen vor deren Augen entstanden. Unter diesen Zeugen nennt er folgende: M. Ravené senior aus Berlin, Besitzer einer schönen Gemälde-Gallerie (zum Unterschiede von dem Eisenhändler?), Fürst S. Metschersky, Dr. Georgii, Schüler Ling’s, jetzt in London, Oberst Toutcheff, Dr. Bowron in Paris, Kiorboë, Artist in Paris, Chemin de Versailles 43, Oberst Kollmann in Paris, Baron von Voigts-Rhetz, Baron Borys d’Uexhull. Also den Titeln nach wohl lauter höchst respectable Gesellschaft, sogar ein gebildeter Berliner, Voigts-Rhetz nicht zu rechnen.

Die meisten Experimente wurden im Antiken-Saale des Louvre, in der Kirche St. Denis, außerdem in andern Kirchen und auf verschiedenen Kirchhöfen gemacht, auch in der Wohnung des Verfassern vorhin angegebener Schrift, Rue du Chemin de Versailles 74.

Aber nun ist’s genug. Wie ist das möglich? Respectable Herren, nicht aus Irrenhäusern geholte Narren, mit Namen und Wohnung als Zeugen! Ungläubige, die an Betrug mit chemisch beschriebenem Papier erinnerten, wurden zu ihrem Schrecken dadurch überzeugt, daß Geister in ihrer Gegenwart von ihnen – den Ungläubigen selbst – geliefertes Papier beschrieben.

Mit der Annahme einer absichtlichen Schwindelei kommen wir hier nicht durch. Aus dem Buche geht deutlich hervor, daß der Mann mit tiefer, ernster Gelehrsamkeit aus allen Jahrhunderten seinen Glauben begründet hat, daß die Andern denselben Glauben theilen. Wir haben hier also ganz gewiß ein psychologisches Wunder der tollsten Art vor uns. Wie kamen diese Massen zum Theil ganz gebildeter Menschen in Frankreich, Amerika, England zu diesem oft fanatischen Geistercultus in diesem nüchternen, naturwissenschaftlich gebildeten, praktischen Jahrhundert? Das will gesagt, will erklärt sein. Wir können zwar mit einem Justinus Kerner, einer Seherin von Prevost u. s. w. aufwarten, aber das ist schon lange her, blieb vereinzelt, verlacht und bedauert als eine fixe Idee stehen. Was will es sagen gegen diese Fürsten, Barone, Doctoren und gebildeten Berliner, welche bezeugen, daß die Geister aus allen möglichen Zeiten und Zonen in allen möglichen Sprachen ihnen Briefe schrieben? Und der Verfasser des Wunderbuches ruft in die Welt: „Die jetzige Zeit verlangt Thatsachen. Hier sind mehr als 500 Briefe von Verstorbenen. Ich wiederhole meine Beweise, ich lasse Briefe von Verstorbenen in Gegenwart der Ungläubigen schreiben.“

Steckt ein höherer Bosco dahinter oder was? Aufgeklärte Polizei und Gelehrte des Kladderadatsch, Gelehrte aller Art, verschafft uns den Geburtsschein dieses Kindes. „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.“


  1. Sand’s eigene Worte.
  2. Sand’s eigene Worte.
  3. Historisch.
  4. Pneumatologie Positive et Expérimentale. La Réalité des Esprits et le Phénomène Merveilleux de leur écriture direct démontrées par le Baron de Guildenstubbé. Paris etc.
  5. Nein, ich finde eben auf Seite 70, daß die Geister direct ohne Schreibmaterialien ihre Handschrift auf dem ihnen hingelegten Papiere bewirken. Nur sieht es meist wie mit Bleistift geschrieben aus.




Die ungewöhnliche Ausdehnung der Novelle „Sand“ verhinderte für diese Nummer die Placirung größerer Illustrationen. Wir werden unsere Leser in den nächsten Nummern dafür entschädigen. D. Redact.




Nicht zu übersehen!

Alle Einsendungen von Manuscripten, Büchern, etc. etc. für die Redaction der Gartenlaube sind stets an die unterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren. Ernst Keil.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bieger; s. Berichtigung in Heft 11