Die Gartenlaube (1859)/Heft 37
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No. 37. | 1859. |
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Sie ging zum Schulrathe hin, und bot ihm ihre schöne Hand. Dieser that, als sehe er es nicht, und verblieb in seiner Stellung.
„Also wirklich bös?“ fuhr sie langsam und lächelnd fort, und legte ihr Händlein, das sie ihm dargeboten, auf seine in der Brustöffnung des Fracks versteckte Hand.
Der Schulrath wich einen Schritt zurück.
„Als reuevolle Sünderin folge ich Ihnen nach,“ erklärte Rosa, während sie ihre kleine Hand ein Stück tiefer herabgleiten und dann wieder festruhen ließ. „Hier schlägt das Herz,“ fuhr sie fort, „ich fühle es schlagen. Gewiß ein gutes Herz, das unter diesem Frack schlägt. Für mich schlägt es nicht, für wen mag es schlagen, so recht in Liebe schlagen? Für Amt und Beruf? für Weib und Kind? O gewiß, für wen und was es auch schlägt, es schlägt gut.“
Sie sprach das mit so innigen, mit einem so tiefen Ausdrucke des Gefühls, daß man deutlich sah, wie es nicht etwas Gemachtes, sondern die reinste Natur war. Dabei blickte sie ihm tief in die Augen, musterte scharf den ganzen Kopf, es war, als steige eine Erinnerung in ihr auf.
„Ich glaube, auch die Hand ist gut, die sich da in der Herzgegend verstecken will,“ sprach sie dann langsam weiter, „Nur hübsch heraus damit, Herz und Hand machen ja eigentlich den ganzen Menschen!“
Und sie zupfte leise an dem Frackaufschlage, sie zupfte leise wieder, und langsam und leise glitt des Schulrathes Hand aus der Brustöffnung. Rosa aber ergriff die Hand und drückte ihre Lippen auf dieselbe.
Das Alles war sehr still und schweigend geschehen. Durch das Herz des Schulrathes waren tausend Gedanken und Empfindungen gegangen. Er blickte jetzt um sich. Rosa hatte sich schnell entfernt, stand beim Oheim Schnurr und gab diesem das Pistol.
„Hier nimm!“ rief sie, jetzt wieder in den heitern Ton fallend, „Dein Herr Oberst mit dem guten Herzen dort machte mir den Vorwurf, mein ganzes Betragen scheine wenig Rücksicht zu nehmen auf dieses Haus! Jetzt wird er sehen, daß ich ja doch wohl Rücksicht nehme auf dieses Haus, eine Rücksicht, die er nicht und die Du nicht nimmst. Vielleicht sieht er noch mehr dabei.“
„Was soll denn wieder losgehen? ich bitte Dich, Rosa! so eben warst Du so friedlich, so gut, ich bitte Dich doch!“ warnte halblaut Schnurr.
„Ist es nicht Schade um die Zeit?“ fragte sie, „und die zwei Herren stehen so müßig im Weinberge? Bitte, mir auf einige Augenblicke!“ wendete sie sich schnell an den Schulrath und nahm ihm die ABC-Buchblätter aus der Hand.
„Was wollen Sie, Fräulein?“ rief dieser ihr nach und schien wieder ausbessern zu wollen, was er vorhin an amtlichem Takt sich vergeben zu haben glaubte.
Aber Rosa öffnete eiligst die Schulstube, trat hinein, grüßte die Kinder, und von den Kindern zurück schallte fröhlich der Gruß heraus: „Schönguten Morgen, Fräulein Rosa!“
„Mein Gott! was soll das werden?“ hob der Schulrath an, „das ist denn doch zu arg!“
„Wegen des Pistols können der Herr Doctor ruhig sein!“ antwortete Schnurr und hielt mit sichtbarer Befriedigung die Waffe empor.
„Aber Ihr dummes Zeug! den Wolf, das Winkelmaß! Mein Gott, ich kann es nicht verantworten!“
„Belieben der Herr Doctor sich zu erinnern, daß Dieselben die traurigen Blätter in der Hand hatten,“ rechtfertigte sich Schnurr halblaut und mit einer Verbeugung; „diesmal bin ich nicht Schuld.“
„Und hat sie schon öfter Schule gehalten?“ fragte Jener, und trat aus dem Hinterraume des Hauses näher heran an die Stubenthüre,
„Noch niemals! Heute die erste derartige Ausschreitung! Aber hören Sie, wie gewandt, wie geschickt!“
Rosa, nachdem sie den Kindern eröffnet hatte, daß, da ihr Oheim Abhaltung habe, sie selbst jetzt ein Weilchen Unterricht ertheilen werde, war von dem vorhin abgebrochenen Tafelrechnen zum Kopfrechnen übergegangen. Die Kinder liebten sie ja. So gehorchten sie ihr auf’s Wort. Alles ging in bester Ordnung. Dem ermunternden Scherze fehlte der nöthige Ernst nicht, und sie stellte die Aufgaben so geschickt, half corrigirend so faßlich nach, als habe sie schon Jahre lang als Lehrerin fungirt.
Der Schulrath wurde aufmerksamer. Er hörte mit Schnurr dem Unterrichte zu. Das Rechnen war ein beruhigendes Oel in die Wogen der Gefühle, die kurz vorher noch stürmisch ihn bewegten. Er vergaß auf Augenblicke seinen Sohn und dessen Brief und alle die wichtigen Lebensfragen, welche sich daran knüpften.
Plötzlich trat er einige Schritte seitwärts und sann. Dann sagte er: „Schnurr, ich habe einen Plan.“
„Mit mir?“
„Auch mit. Hören Sie. Sie wissen doch, wie mein Sohn heißt?“
„Zu dienen, der Herr Assessor Theodor Werner.“
[522] „Und wohin war er neulich gereist?“
„Nach Berlin.“
„Wann?“
„Vor zwei Monaten.“
„Gut, Herr Schnurr, es wäre möglich, daß ich diese Antworten brauchte.“
Schnurr, dem das sehr räthselhaft vorkam, verbeugte sich vor seinem Gebieter. Dieser trat wieder näher. Beide horchten von Neuem der gewandten Lehrerin zu.
Nach etwa einer Viertelstunde schloß diese den Unterricht im Rechnen.
„Ich bin zufrieden mit euch!“ sagte sie, „und nun das Zweite! theils zur Ergötzlichkeit, theils zum Lernen! ich werde katechisiren!“
„Ah, ah!“ riefen fröhlich und in lauter Bewegung sämmtliche Kinder, „der Wolf und das Winkelmaß! die Nonne und der Nagelbohr!“
„Da haben wir’s!“ seufzte Schnurr, „was thun wir?“
„Treten Sie auf die Seite!“ befahl der Schulrath, „daß Sie nicht helfen können, sehe ich!“
Erschrocken wich Schnurr zurück. Der Schulrath klopfte an die Thüre, Rosa rief: „Herein!“
„Was nun?“ fragte unentschlossen der Schulrath. „Gehe ich hinein, so gibt es eine Scene! katechisiren aber über die Bilder kann ich sie nicht lassen, wer weiß, was sie da vorbrächte!“
Er klopfte nochmals, öffnete die Thüre ein Stück, und rief so freundlich und ruhig, als er es vermochte, in die Schulstube hinein: „Fräulein, Sie haben vortrefflich unterrichtet! Kommen Sie doch gefälligst, ich muß Ihnen wirklich mein vollstes Lob –“
„Sie kleiner Schmeichler!“ fiel schelmisch die Lehrerin ein und ergriff die in der Nähe liegende Ruthe und drohte mit derselben nach der Thüre hin.
Die Kinder lachten, der Schulrath klappte schnell die Thüre zu, erschrocken rufend: „Mein Gott! das fehlte noch! und nun katechisiren über die Bilder, dieses Instrument in der Hand!“
„Der Herr Doctor irrten sich wahrscheinlich, ich habe das Instrument!“ tröstete Schnurr und deutete auf das Pistol.
„Aufgepaßt!“ commandirte es drinnen, und man hörte einige Ruthenschläge auf den Tisch, „jetzt werde ich die Bilder vorzeigen!“
„Fräulein!“ rief mit dem Ausdrucke der Angst schnell durch die wiederum ein Stücklein geöffnete Thüre der Schulrath, „Fräulein, ich bitte Sie, ich sehe jetzt ganz, was sie sind!“
„Wirklich? Sehen Sie es? sehen Sie es ganz?“ fragte Rosa überrascht und mit jener ernsten Innigkeit, welche wir schon einmal an ihr wahrnahmen.
„Gewiß, ich erkenne es gründlich!“ versicherte Jener, „aber kommen Sie, ich habe eine Bitte!“
„Und ich bin fertig!“ erklärte Rosa, und legte die Ruthe aus der Hand. „Kinder,“ ermahnte sie noch ernst, „verhaltet euch ruhig, bis mein Oheim kommt!“
„Fräulein, was Sie sind, sind Sie meisterhaft!“ redete der aus seiner Angst erlöste Schulrath die Heraustretende an. Rosa lächelte, schüttelte das Haupt, sah ihn wiederum forschend an, als studire sie sein Gesicht, seinen Kopf unter irgend einer Erinnerung.
„Sie blicken so ernst mich an, Fräulein? Was fällt Ihnen auf an mir?“
„O nichts, nichts,“ entgegnete leise zusammenzuckend Rosa, und legte die Hand an die Stirn. „Sie sind noch immer ein schöner Mann.“ Sie sprach diese Worte ohne galante Emphase, ruhig, fast mit einem Anstriche von Wehmuth. „Mit der Schule sind wir fertig,“ fuhr sie dann lächelnd fort, indem sie ihm die ABC-Buchblätter gab, „ich weiß, daß Sie Angst hatten, und Sie wissen nun, daß ich Schauspielerin bin.“
„Das wußte ich schon vorher,“ entgegnete der Schulrath.
„Vorher? Also doch von Dir, Oheim?“ wendete sie sich nach Schnurr hin.
„Von mir kein Wort!“ versicherte dieser.
„Ich wußte es schon, ehe ich in’s Schulhaus trat,“ erklärte ernst der Vorige, „Fräulein, und ich weiß noch mehr.“
„Noch mehr? Mag das sein. Sie können von mir nichts Unrechtes wissen,“ gab Rosa zur Antwort. „Und was wissen Sie?“
Der Schulrath wendete sich unruhig ab, that einen raschen Gang durch den Hausraum, kehrte zurück auf seinen alten Platz.
„Mein Herr, Ihre jetzige Haltung befremdet mich,“ sprach mit ruhiger, stolzer Würde nun Rosa. „Das einzige Gut, das ich besitze, ist meine Ehre. Ich muß Ihnen das sagen, weil ich Schauspielerin bin. Mein Herr, was hält Sie ab, mir zu eröffnen, was Sie von mir wissen?“
„Herr Schnurr!“ versetzte der Schulrath nach einigem Schwanken und mit unsicherer Stimme, während er wie zitternd mit der Dose spielte, die Augen aber fest auf Rosa richtete.
„Haben der Herr Doctor zu befehlen, daß ich mich entferne?“ fragte Schnurr unterwürfig.
„Im Gegentheil,“ fuhr Jener unruhig fort, „Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Schnurr. Ihre Schulmädchen könnten einen kleinen Act machen und zwar unter Ihrer Führung. Ein kleiner Aufzug, Kränze, weiße Kleider, ein hübscher Gesang, das würde so etwa das Nöthige sein. Nach einigen Tagen nämlich wird die Braut meines Sohnes hier durchreisen; mein Sohn wird ihr bis in’s Dorf entgegenkommen; es wäre mir lieb, wenn Sie mit Ihren Schulkindern –“
„O, ich verstehe,“ versetzte Schnurr erfreut, „also Bräutigam der Herr Sohn? ich bringe dem Herrn Vater meine herzliche Gratulation dar!“ fügte er unter Verbeugungen hinzu.
„Und Sie kennen meinen Sohn, Herr Schnurr?“
„O, zu dienen!“
„Sie dürften vielleicht bei der freundlichen Begrüßung der Braut seinen Namen gebrauchen. Wissen Sie, wie mein Sohn heißt?“ „Theodor!“ rief Schnurr, „zu dienen! da könnte man den Namen aus Blumen bilden.“
„Theodor?“ wiederholte kaum hörbar Rosa und trat einen Schritt zurück, flüchtig und nur mit einem Blicke die Züge des Schulrathes musternd, und dann erröthend die Augen niederschlagend.
„Und Sie wußten noch nicht, daß er Bräutigam?“ fragte der Schulrath weiter. „Wußten Sie auch nicht, daß er neulich verreist gewesen?“
„Das wußte ich, der Herr Assessor Theodor war in Berlin,“ entgegnete Schnurr.
„Sie können diesen Umstand vielleicht ebenfalls bei der kleinen Feier benutzen, – und wann war er in Berlin?“
„Zu dienen, der Herr Assessor Theodor waren vor etwa zwei Monaten in Berlin.“
Rosa erblaßte. Sie legte die Hände vor’s Gesicht, und wendete sich seitwärts.
„Das würde sich bei der Feier kaum anbringen lassen,“ meinte der Schulrath, dem nichts entging, was mit Rosa sich zutrug.
„Und doch,“ erinnerte Schnurr, „wenn der Herr Doctor erlauben, könnte man das richtige Datum des Verlobungstages ebenfalls aus Blumen winden.“
„Ich werde Ihnen das Datum später sagen,“ antwortete der Schulrath, „es ist vielleicht auch nicht nöthig,“ setzte er zerstreut und nicht ohne Bewegung hinzu, die Augen noch immer auf Rosa gerichtet.
Diese aber, beharrend in der abgewendeten Stellung, zog die Hände jetzt nieder vom Gesicht, griff tief in ihren Busen und nahm aus einem Medaillon einen kleinen, zusammengefalteten Papierstreifen hervor. Denselben öffnend und dann mit feuchten Augen überfliegend, trat sie zu Schnurr und fragte leise: „Oheim, kennst Du vielleicht diese Handschrift? Lies nicht laut. Sage blos ja oder nein.“
Schnurr las. Verwundert besah er den Zettel, drehte ihn vor den Augen hin und her. „Also blos ja oder nein?“ fragte er.
„So bitte ich,“ erwiderte Rosa bleich und gespannt.
„So muß ich nein sagen, aber sonderbar, diese Unterschrift, wenn ich nur wüßte, kennst Du denn –“
„Still, lieber Oheim!“ bat Rosa, und nahm den Papierstreifen. Sie legte sinnend die Hand an die Stirn. Man sah, wie der Papierstreifen in der schönen Hand zitterte.
„Mein Herr,“ sprach sie, indem sie das gesenkte Haupt erhob, „das muß zu Ende! Jetzt glaube ich Ihr Wort zu verstehen! Sagten Sie nicht, Sie wüßten noch mehr? O lassen Sie uns aufrichtig sein! Aus meinem heitern Spiel ist ein heiliger Ernst gestiegen, diese Augenblicke sind kein Spiel!“ Leuchtende Thränen in den Augen trat sie zum Schulrathe und fragte: „Kennen auch Sie diese Handschrift nicht?“
Der Schulrath nahm das Billet. Auch in seiner Hand zitterte dasselbe, und geschrieben auf dem Billet standen die Worte, welche der Schulrath vernehmbar, aber mit bewegter Stimme las:
[523] „Verehrte Rosa, morgen reise ich ab. Mein Herz mit tausend Gefühlen bleibt bei Ihnen zurück. Die wenigen Tage waren hinreichend für mich, zu erkennen, daß ich Sie liebe. Ihr Verhältniß mit Herrn Rauschenbach scheint mir nicht ernster Natur zu sein, und so drängte es mich, Ihnen mein gegenwärtiges Geständniß zu geben. Wir werden uns wiedersehen, geliebte Rosa, und dann wird sich mein Schicksal entscheiden.“ „Theodor.“
Eine Pause trat ein. Der Schulrath überflog das Billet nochmals. Dann erklärte er: „Das ist die Handschrift meines Sohnes! Es betrübt mich! Fräulein, ich bin Ihnen die Wahrheit schuldig!“
Rosa erwiderte kein Wort. Aus ihren Augen fielen Thränen auf das reine Morgengewand. Sie fuhr leicht mit den Fingern über die Augen hin, verneigte sich, floh die Treppe hinauf, aus dem Schmerze auch leuchtete Grazie.
Dicht an der Treppe verlor sie eine der Rosen, die sie im Gürtel trug. Der von Räthseln umstrickte Schnurr hob sie auf, wollte sie nachreichen.
„Laß das – hier sind auch die andern!“ sprach schmerzlich lächelnd Rosa, und warf die übrigen von der Treppe herab. Ich brach die Blumen heute früh unter Träumen, die nun fallen müssen, – und so mögen auch die Rosen fallen.“
Schnurr las die Rosen zusammen, seine Nichte war auf ihr Zimmer geeilt, und in demselben Augenblicke kam auch schon seine Magd herab und holte einen Koffer hinauf, wobei die Erklärung fiel, daß das Fräulein noch diesen Vormittag abreisen wolle.
„Das wäre ja traurig; das wird sie doch nicht!“ seufzte Schnurr. „Der Herr Doctor könnten das wohl verhindern. Ich verstehe nichts von Allem, – weiß nicht, was mit dem Billet geschehen ist.“
„Das hat mein Sohn geschrieben – an Ihre Nichte geschrieben!“ herrschte der Schulrath vor sich hin, während er noch keinen Schritt von seinem Platze gewichen war und das Billet fest in der Hand hielt.
„Ich verstehe das nicht,“ erwiderte Jener, demüthig auf das Pistol und die Rosen blickend.
„Ist’s denn so schwer? Mein Sohn hat sich in Ihre Nichte verliebt!“
„Aber der Herr Doctor sagten doch, er habe eine Braut?“
„Zum Schein!“
„Eine Braut zum Schein? – aber der Actus, der festliche Empfang durch die Schulkinder –?“
„Zum Schein!“ wiederholte heftig der Schulrath.
„Also nur eine Scheinbraut, – und da müßte doch Alles bei dem Actus anders eingerichtet werden. Die Schulkinder z. B. müßten –“
„Ich bitte Sie, Herr Schnurr, denken Sie doch lieber jetzt in anderer Beziehung an Ihre Schulkinder!“ entgegnete Jener, indem er schnell herbei schritt, die Stubenthüre öffnete und hineinrief:
„Gehet ruhig nach Hause, Kinder, Euer Herr Schnurr hat nicht Zeit, hat mit mir zu thun! Nehmen Sie doch das infame Pistol weg, Herr Schnurr!“ wendete er sich wieder an diesen, der nun mit Pistol und Rosen schnell unter den Rock fuhr, und dann die an ihm vorüberziehenden Kinder zu einem ruhigen Nachhausegehen ermahnte.
„Haben der Herr Doctor wirklich noch mit mir zu thun?“ fragte Schnurr kleinlaut, als die Schulkinder hinaus waren, und hielt nun Pistol und Rosen wieder frei in der Hand.
„Es ist gut, daß sie abreist!“ sagte der heftig schreitende Schulrath. „Sie liebt ihn, liebt ihn leidenschaftlich – und er – o, er darf sie nicht sehen! Herr Schnurr, reden Sie ihr also nicht zu, die Abreise zu unterlassen!“
„Die Abreise?“ seufzte dieser.
„Die sofortige, augenblickliche Abreise!“ erwiderte Jener in einem befehlenden Tone.
„Der Herr Doctor erlauben, daß das nicht geht,“ antwortete Schnurr verletzt, und sah betrübt auf Waffe und Blumen, „ich wäre der undankbarste Mensch unter der Sonne, wenn ich sie so ziehen lassen sollte. Der Herr Doctor wissen nicht, wie ich ihr verbunden, was sie an mir gethan, wissen nicht, wie edel sie ist.“
„Nun?“
„Ich habe ihr versprechen müssen, das nicht zu sagen – also wiederum edel. Und der Herr Doctor wissen, daß selbst unter den Barbaren das sogenannte Gastrecht oder die sogenannte Gastfreundschaft –“ er stockte – er verbeugte sich – „und sie ist meine Nichte, sie hat nichts Böses gethan, und dies ist meine Wohnung, wenn Sie wollen, mein Heerd, – auch Napoleon wollte sich einst niedersetzen an Englands Heerd, und der Herr Doctor dürften wissen, – o, was auch daraus entstehen mag, lieber will ich sterben, als gegen meine Wohlthäterin undankbar sein!“
Der Schulrath sah bedenklich vor sich hin. Er zog beide Papiere hervor, las nochmals den Bleistiftbrief, welchen er vorhin von seinem Sohne empfing, nochmals das Billet, welches derselbe an Rosa geschrieben. Er verglich sie gegenseitig – blieb stehen – that wieder einige Schritte. „Richtig, richtig – und wie konnte ich so Wichtiges vergessen? „„Das Verhältnis mit Herrn Rauschenbach scheint mir nicht ernster Natur zu sein, – und so drängte es mich, Ihnen mein gegenwärtiges Geständniß zu geben,““ – las er halblaut aus dem einen Billet, und blickte dann in das andere. „Ganz richtig, auch hier ist das Verhältniß zwischen ihr und dem Schauspieler Rauschenbach angedeutet – wie konnte ich das vergessen? Also heute Den, morgen Jenen!“ –
„Du wirst doch nicht wirklich gehen wollen, Rosa? Was habe ich Dir zu Leid gethan? Bin ich denn Schuld? Du wirst nicht abreisen, liebe Nichte!“ rief jetzt Schnurr zur Treppe hinauf.
Rosa kam herab. Der Schulrath erschrak, aber er faßte sich unter den Worten: „es muß geschehen!“ Mit den Briefen und den ABC-Buchblättern in der Linken und die Rechte in die Brustöffnung des Fracks steckend, trat er an die Treppe. „Fräulein,“ sprach er gezwungen, „erlauben Sie mir vor Ihrer Abreise wohl noch eine Frage?“
„Es gibt Minuten im Leben, wo jede Frage uns lästig, jede Antwort uns schwer wird,“ entgegnete die Angeredete ruhig und still.
„Kann aber meine Antwort zu Ihrem Frieden dienen, so will ich sie gern geben. Wollen wir nicht in’s Zimmer treten?“
Schnurr öffnete die saubere Wohnstube und folgte den Eintretenden.
„Was wünschen Sie mich zu fragen?“ begann hier Rosa. „Sie scheinen zu zögern! – Aufrichtig gestanden, mein Herr – Sie begreifen, daß mir es genehm sein muß, wenn Sie alle Fragen unterlassen können, doch bin ich auch bereit, Ihnen zu dienen.“
„Nur die einzige Frage, Fräulein, erlauben Sie mir,“ antwortete verlegen der Schulrath, „kannten Sie – kennen Sie – ist nicht mit Ihnen der Schauspieler Herr Rauschenbach bekannt?“
„Mein Herr,“ antwortete Rosa und trat stolz einen Schritt zurück, „mögen Sie diesen Namen nur aus dem Billet kennen, welches Ihr Herr Sohn an mich geschrieben, oder mag Letzterer Ihnen davon erzählt haben – es dürfte jetzt wenig Interesse für Sie haben, von einem Manne mit Ihnen zu sprechen, der die Schuld selbst trägt, daß ich nicht mehr mit ihm bekannt bin.“
„Also nicht mehr, – und warum nicht mehr?“ fragte der Schulrath nach einer Pause, „dürfte ich bitten, Fräulein?“
„Sie begreifen wohl, mein Herr,“ entgegnete mit schmerzlichem Lächeln Rosa, „daß es gegen das Gefühl der Frauen läuft, wenn sie von den Gebrechen eines Mannes reden sollen, der ihnen näher stand – Frauen sollen entschuldigen und zudecken. Und bedenken Sie, mein Herr, in welcher Stellung ich mich Ihnen gegenüber jetzt befinde. Haben Sie noch sonst eine Frage? Ich bitte um Eile – ich reise in dieser Stunde ab, und habe noch zu packen.“
Der Schulrath sah zerstreut vor sich hin, dann erhob er unruhig seinen Blick wieder zu dem Mädchen und sprach: „Ich hätte noch so Manches zu fragen.“
„Besorge mir einen Wagen, lieber Oheim!“ wendete sich Rosa an Schnurr.
„Du wirst doch nicht reisen, liebe Nichte, Du wirst nicht?“ bat dieser.
„Herr Schnurr, ich glaube, das Fräulein hat den richtigen Takt,“ warf der Schulrath hin.
„Takt, Takt!“ entgegnete Schnurr. „Aber was gibt’s denn im Garten?“ fuhr er fort, „wer kommt denn durch die Hinterthüre?“
Man hörte das Zuschlagen der Hofthüre, die zum Obstgarten führte; starke Schritte klangen schon durch die Hausflur.
„Das kann doch die Magd nicht sein,“ setzte Schnurr hinzu und wollte hinaus. Draußen erklang Theodor’s Stimme. Rosa bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht und floh in’s Nebengemach, ohne ein Wort, ohne einen Laut von sich zu geben.
Schnell öffnete sich die Stube. Herein trat der Assessor Theodor.
„Theodor, Du?“ rief erschrocken der Schulrath.
„Ich, mein Vater! Willst Du zürnen, so thue es!“ sagte Theodor fest und ruhig. „Der heutige Tag ließ mich das erste [524] Wort über Rosa Dir eröffnen, der heutige Tag muß auch Alles zum Abschluß bringen, was an dieses erste Wort sich knüpft! Du weißt, was ich vor nur zwei Stunden Dir schrieb.“
„Das weiß ich, mein Sohn,“ versetzte der Schulrath und hielt bestürzt das mit Bleistift geschriebene Billet empor.
„Und woher hast Du das zweite Papier, das ich in Deiner Hand sehe? den Brief, den ich an Rosa schrieb, als ich von Berlin abreiste? Mein theurer Vater, was ist das? Gab Dir Rosa diesen Brief? Und wo ist sie?“ Der Schulrath trat in’s Fenster und schwieg. „Hat Rosa auch den Brief gelesen, den ich an Dich schrieb, Vater?“ Der Schulrath schwieg fort. „Vater, hat sie meinen heutigen Brief an Dich gelesen?“ fragte der Sohn mit gesteigerter Stimme weiter. „Du hast beide Briefe in der Hand, und der eine ist so wichtig wie der andere! O, sei gerecht, Vater! Rede mit mir, antworte mir! Siehe, ich konnte nicht zurück nach Magdeburg, hierher trieb es mich, zu Dir und zu Rosa mußte ich! Hat sie den Brief gelesen, den ich Dir heute gab und den Du noch in Deiner Hand hältst, o dann weiß sie ja, wie ich sie liebe, dann weiß sie ja Alles, und mein Schicksal wird und kann sich dann sofort entscheiden! Was wissen Sie, Herr Schnurr?“ redete er diesen an, da sein Vater noch immer starr und schweigend im Fenster stand. „Hat Rosa –“
„Rosa hat Dero Brief nicht gelesen,“ antwortete Schnurr ängstlich.
„Hat mein Vater nichts davon erwähnt?“
„Nichts davon erwähnt, kein Wörtlein, im Gegentheil, Dero Herr Vater sind –“
„Herr Schnurr!“ warnte der Schulrath vom Fenster her, ohne sich umzusehen. Schnurr schwieg.
„Und wo ist Ihre Nichte. Herr Schnurr? Kommen Sie, führen Sie mich zu ihr!“
„Theodor!“ warnte der Schulrath vom Fenster her, ohne sich umzusehen.
„Rosa will in einer Stunde abreisen,“ sagte Schnurr, „sie hat noch einzupacken –“
„Sie reist ab?“ fiel Theodor ein.
„Weil der Herr Assessor Bräutigam sind.“
„Herr Schnurr!“ klang es vom Fenster her.
„Gerechter Gott, ich Bräutigam?“
„Wenigstens ein Scheinbräutigam, wie Dero Herr Vater mir andeuteten.“
„Vater!“ rief schmerzlich Theodor nach einer Pause, „ich ahne, was Du gethan! Ist es denn möglich? Kannst Du so spielen mit den Gefühlen Deines Sohnes und mit seinem Glücke? Vater, bin ich nicht Dein einziges Kind? Weißt Du nicht, wie ich Dich liebe?“
Und hin trat er an’s Fenster. Tiefer neigte sich der Vater, er wollte die Thränen nicht sehen lassen, die in seinen Augen schwammen – freiwillig, ohne sich umzublicken, ohne ein Wort zu reden, öffnete er die auf dem Rücken ruhende Hand, und ließ beide Briefe und die ABC-Buchblätter niederfallen. Theodor hob Alles auf. Dann ergriff er die Hand des Vaters, drückte sie an sein Herz und wendete sich schnell an Schnurr mit den Worten: „Wo ist Rosa? Führen Sie mich zu ihr! oder,“ setzte er nach einer Pause hinzu, „besser so, besser – bringen Sie ihr diesen Brief und sagen Sie ihr, ich sei hier! – Ja, ja, lesen erst muß sie diese Worte, die ich schrieb, – dann will ich zu ihr! Eilen Sie, Herr Schnurr! Alles muß sich entscheiden, wenn sie den Brief gelesen! Wo ist sie? O, eilen Sie zu ihr!“
„Armer Herr Assessor!“ erwiderte Schnurr, indem er den Brief aus Theodor’s Hand zögernd annahm und leise nach der Thür des Nebengemaches ging.
Und plötzlich drehte sich der Schulrath um, entriß Schnurr’s Hand das Billet, steckte es durch die Thüre des Nebengemaches, die er nur so weit öffnete, daß er mit dem Arme hindurch konnte, und dann schnell wieder in’s Schloß drückte.
„O, warum wirfst Du ihn nicht lieber in’s Feuer, mein Vater? Laß mir den Brief! Rosa muß ihn haben! Schnell gewinnt sie durch ihn einen klaren Einblick in den Stand der Dinge, in mein Herz, in meine Liebe zu ihr!“
Er eilte auf das Nebengemach zu, um den Brief zu holen. Der Schulrath vertrat ihm den Weg, und als der Sohn dennoch nach der Thüre drängte, fiel der Vater dem Sohne an die Brust.
„Mein Vater, mein theurer Vater!“ rief Theodor, „ich sehe es, Du bist bewegt, Du bist in einen, schweren Kampfe mit Dir selbst! Du willst mein Glück – und doch, und doch! – O, gib mir den Brief, dann eile ich zu Rosa, – Vater, ich lasse nicht von ihr!“
„Und ich nicht von ihm!“ klang es durch die plötzlich sich aufthuende Thüre, und Rosa umschlang Vater und Sohn, die an der Brust sich lagen. „O, wie ich Dich liebe, Theodor, das weiß Dein Vater! Nicht wahr, Vater,“ fuhr sie fort, und fester umschloß sie mit ihren schwellenden Armen beide Männer, und blickte mit thränengefüllten Augen sie an, „nicht wahr, ich habe ihn lieb? Ich kann nicht von Theodor lassen? Und wie ich von ihm nicht lasse, so will ich mit ihm auch von Dir nicht lassen! Auch ich nenne Dich nun Vater, wie Theodor Dich nennt, und Theodor und ich lassen nicht von Dir!“
Thränen leuchteten jetzt in Aller Augen. Eine feierliche Pause trat ein. Umschlungen noch hielten sich alle Drei.
Schnurr aber hob hoch die Rosen empor und sprach: „So steht’s geschrieben: Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!“
Nicht lange mehr, da hob der Schulrath seine Hand empor und griff nach den Rosen. Er theilte sie unter Beide, er segnete Beide.
Sollen wir beschreiben, wie die nächsten Stunden verstrichen? Sollen wir das Glück schildern, das wie ein Paradiesstrom jetzt durch das Schulhaus rauschte? Wir brauchen das nicht.
Die idyllische Anmuth des Maingrundes wird noch nicht so viel besucht, als sie verdient. Die lieblichste Straße desselben, von Bamberg bis Schweinfurt, im Mittelalter wegen ihrer landschaftlichen Reize und der Milde ihres Klimas „Kleinwelschland“ genannt, eignet sich vorzüglich für Solche zum Aufenthalt, die einer warmen Sonne, einer reinen Luft und der Bewegung in einer durch Mannichfaltigkeit [525] und Abwechslung charakterisirten, einem fruchtbaren[WS 1] Garten gleichenden Gegend bedürfen.
Eine Stunde oberhalb Schweinfurt leuchtet an einer der lieblichen Stellen dieser Thalstrecke an der rechten Seite des Flusses und nur in kleiner Entfernung von dessen Ufer von mäßiger Höhe eines jener im edlen Baustyl unserer ritterlichen Vorfahren restaurirten Fürstenschlösser der Vorzeit, wie wir sie seit einigen Jahrzehnten, von fürstlicher Baulust zu neuem Leben geweckt, wie Phönixe aus ihren Trümmern sich erheben gesehen haben. Wer etwa auf der Werrabahn von Thüringen nach Franken gekommen ist, der hat beim Beginn jener an Natur- und Kunstreizen so reichen Bahnlinie im Neubau der Wartburg die Schöpfung des Großherzogs von Weimar, in der Mitte die verjüngte Burg Landsberg, die Schöpfung des Herzogs von Meiningen, und am Ausgang derselben dei stolze Veste Coburg im neuen alterthümlichen Fürstenkleide, die Schöpfung des Herzogs von Coburg, auf ihren grünen Bergkegeln begrüßt, der hat endlich unfern der Einmündung der königlich bayerischen Fortsetzung jener Bahn, der Strecke von Coburg bis Lichtenfels, in die bayerische Nordbahn das Auge an dem prächtigen Schlosse Banz, Sommersitz des Herzogs Max in Bayern, auf seinem waldigen Bergscheitel, geweidet. Bald darauf begrüßt er denn das fünfte dieser erneuten Fürstenschlösser, Schloß Mainberg bei Schweinfurt. Sein Berg ist mit Gärten und Weinbergen geschmückt, drei stolze Giebel erheben sich in einer Fronte, vor dem östlichen Eckgebäude ein kleinerer niederer Vorbau, und hinter dem Ganzen ragt ein viereckiger Thurm mit spitzem Dache. So erhebt sich die schimmernde Burg über dem am Mainufer hingestreckten Dörfchen Mainberg, etwa neunzig Fuß vom Flusse entfernt. Am Ufer laufen die 1830 vollendete Chaussee und neben dieser die von 1851 bis 1853 erbaute Eisenbahn mit der Telegraphenlinie.
Gleich den ersten vier genannten Bergschlössern wurde auch Schloß Mainberg von einem Fürsten in der ursprünglichsten Bedeutung dieses Wortes restaurirt und bis vor Kurzem bewohnt, von einem Fürsten der deutschen Arbeit, des Gewerbfleißes, des Handels und Verkehrs. Und er hatte sich aus eigener Kraft zu dieser Fürstlichkeit emporgearbeitet, die Krone wurde nur mit rastloser Thätigkeit, nur mit scharfsinniger Speculation, nur mit besonnener Beherrschung der Mittel errungen; der echte Solitär vom reinsten Wasser daran war aber das menschlich fühlende edle Herz des Mannes, ein Herz voll schöner Liebe für Alle, die ihm näher und ferner standen; ja man darf sagen, für die ganze Menschheit; voll brennenden Eifers für alles Gute, Wahre und Schöne, voll Enthusiasmus für den ruhigen Fortschritt des Menschenthums auf der Bahn der Erkenntniß zu materiellem Glück und seelischer Erhebung, und endlich voll großartiger Bescheidenheit und in sich selbst gefestigter Würde, die nie mehr Werth auf die eigene Persönlichkeit legte, als zur Förderung der guten Sache nöthig war. Der Wiederhersteller der Burg Mainberg war ein edler und bedeutender Mensch in der vollsten und umfangreichsten Bedeutung des Wortes; er war ein Mann voll deutschen Geistes und Gemüthes, eine Zierde seines engern Vaterlandes, einer der Edelsten und Besten unseres Volkes. Wäre er nur ein durch glückliche Speculation und Thätigkeit reich gewordener Mann gewesen, wir würden ihm die verdiente Ehre gönnen, und auch wir würden seinem Andenken die gebührende Achtung zollen; denn wir halten es mit dem Grundsatze: jedem Verdienste seine Krone! Die Ehrensäule, die wir ihm in diesen Blättern Angesichts der ganzen deutschen Welt in allen Ländern der Erde setzen, gilt dem geräuschlosen moralischen Streben und Wirken des Mannes, der nach des alten Terenz’ Ausspruch lebte und handelte: Ich bin ein Mensch und alles Menschliche geht mich an; dessen üppiger Geistesbaum auch Blüthe und Frucht des Gemüthes erzeugte; der nicht nur Ideen im platonischen Sinne hatte, sondern auch sein Leben und Schaffen mit strenger Selbstverleugnung darnach einzurichten verstand, und der endlich ein geistesfreier Mann der Zukunft war, wie wenige Mitlebende seines Standes und Gewerbes.
Von diesen seinen glücklich ausgeführten Ideen ist unstreitig die schönste und poetischste, die für den Besucher des Maingrundes interessanteste die geniale und großartige Vermählung der modernen Industrie mit der alten Romantik auf Schloß Mainberg. Auf der Wartburg, auf der Coburg, auf dem Landsberg, auf Banz findet ihr fürstlichen Luxus im Bunde mit der mittelalterlichen Romantik; auf Mainberg ist an die Stelle des Ersteren der deutsche Kunst- und Gewerbfleiß getreten, und wahrlich, ich denke, dieses in seiner Art einzige Bündniß steht den übrigen in nichts nach, es hat sogar den tröstlichen Blick auf die Zukunft des deutschen Volkes vor ihnen voraus. Denn diese Verbindung der menschlichen Vergangenheit mit der Zukunft, des alten Geistes des Ritterthums mit dem neuen der Industrie kann und wird eine fruchtbare sein, während jene immer nur eine interessante Curiosität ohne befruchtende Kraft für das Saatkorn der künftigen Weltgeschichte bleiben.
Dies ist für uns der Cardinalpunkt in dieser reizenden Sattler’schen Schöpfung.
Wie das der meisten Industriellen ist das Leben unseres Helden auf dem ruhmreichen Kampffelde des Fleißes und der gewerblichen Speculation nicht eine Reihe effectvoller Scenen und drastischer Wendungen. Flüsse, welche Wiesen und Fluren bewässern und nützliche Gewerke treiben, bilden selten prächtige Katarakte und Stromschnellen.
Johann Christian Wilhelm Sattler, am 13. Mai 1784 zu Hessen-Cassel als Sohn eines dort ansässigen Kaufmanns geboren, widmete sich nach den gut benutzten Schuljahren in hannöverisch Münden drei Jahre mit Fleiß der Erlernung des väterlichen Geschäfts und trat dann in derselben Stadt als Commis in eine andere Handlung ein, deren Chef in Verbindung mit einem andern Kaufmanne eine Bleiweißfabrik zu Niederwerrn ohnweit Schweinfurt besaß, und unsern Sattler als geschäftstüchtig und gewissenhaft erkannten jungen Mann mit der Geschäftsführerstelle bei diesem Fabrikwesen betraute. In dieser Eigenschaft oft nach Schweinfurt geführt, lernte er in Katharina, der geist- und gemüthvollen Tochter des rühmlich bekannten Kunstmalers Geiger, ein ihm seelisch verwandtes weibliches Wesen kennen, schätzen und lieben, und schloß mit ihr am 14. Februar 1809 den Ehebund, welcher fünfzig Jahre und einige Monate ein glücklicher und segensreicher war. Zehn Kinder aus demselben, unter der trefflichen elterlichen Obhut erwachsen, bildeten, mit Vater und Mutter an der Spitze, eine der liebenswürdigsten, mit allen Tugenden der Häuslichkeit geschmückten, echt deutschen Familie, in deren Mitte sich jedes gefühlvolle Herz wohl fühlte, das Veranlassung gefunden, in ihren gastfreundlichen Kreis zu treten.
Sein geschäftliches Wirken begann Wilhelm Sattler in Verbindung mit dem Apotheker Ruß aus Kamen in Westphalen in der Bereitung solcher chemischen Fabrikate, welche bei der damaligen Continentalsperre vorzugsweise Absatz versprachen. Der gemeinschaftliche Gewerbszweig wurde in einem erkauften Hause allmählich auf die Zubereitung von Malerfarben, Druckerschwärze, Weinsteinsäure etc. ausgedehnt, die nach mannichfaltigen Versuchen auf die Erfindung des jetzt so allgemein beliebten Schweinfurtergrüns [526] und des Perlsago’s aus Kartoffeln führte. Diese beiden neuen Artikel fanden bald einen ungeheuern Absatz. Auch die übrigen Fabrikate wurden von einem weit und weiter verbreiteten wohl verdienten Ruf weit über Europa und Amerika abgesetzt, und brachten die Sattlersche Firma auf alle Markplätze der civilisirten Welt. Die dadurch nothwendig gewordene Erweiterung der Fabrikanlagen wurde von 1815 bis 1834 zu verschiedenen Perioden mit Umsicht ausgeführt.
Zu Anfang des Jahres 1822 brachte Sattler das schon seit fünfzehn Jahren unbewohnte und allmählich zur Ruine verfallende Schloß Mainberg käuflich an sich, setzte es anfangs, so weit es seinem Zwecke dienlich, in baulichen Stand und errichtete darin eine Papiertapetenfabrik, die erste im Königreich Bayern, die in kurzer Zeit außerordentlich prosperirte.
Von den ferneren großartigen industriellen Etablissements Sattler’s sind hervorzuheben die wegen der damaligen Zollgrenze von Preußen in Langensalza in Thüringen in Gemeinschaft mit dem dortigen Handlungshause Winkel und Weickert 1826 errichtete Farben- und Sagofabrik, die in demselben Jahre in Schweinfurt hergestellte Zuckerraffinerie (in Verbindung mit den Kaufleuten Engelhardt aus Cassel und Wüstenfeld aus Münden), und endlich die 1829 mit Wüstenfeld aus Münden und Reuter aus Schweinfurt zu Aschach angelegte Steingutfabrik. Alle diese gewerblichen Institute stehen noch heute in erfreulicher Blüthe.
Bei dieser großartigen und außerordentlichen industriellen Tätigkeit fanden Sattler’s Energie, weise Zeiteinteilung und Menschenliebe doch noch Zeit, nach drei Seiten hin mit segensreichem Erfolge zu wirken, nämlich für das Wohl des Vaterlandes und der Heimathstadt, für das Glück und die Ausbildung seiner Familie und für seine eigene wissenschaftliche und humane Weiterbildung.
Als Landrath und langjähriger Gemeindebevollmächtigter, zuletzt eine geraume Zeit als Vorstand des städtischen Collegiums, sorgte und schaffte er unermüdlich für das Gemeinwohl Schweinfurts. Zur Betreibung des Zollanschlusses an Würtemberg und später an Preußen unternahm er viele Reisen nach München; auch als Sachverständiger mehrmals zu den Zollconferenzen beigezogen, sah er seine Brust für seine Verdienste nach dieser Seite hin mit der goldnen Civilverdienstmedaille geschmückt, König Ludwig fügte derselben später den Orden des heiligen Michael hinzu. Aber auch das Volk anerkannte und ehrte sein Wirken zum Besten des Gemeindewohls durch seine Wahl (1846) zum Landstande. Als solcher war er mit Erfolg besonders thätig, daß die projectirte Eisenbahn von Bamberg nach Würzburg über Schweinfurt geführt wurde, und redete der Judenemancipation mit warmer Humanität das Wort.
Als echter gemüthlicher Deutscher war seine Familie der Inbegriff seines höchsten Erdenglücks, und die ihn in ihrem Schooße schalten und walten gesehen haben, können seine geistige und seelische Regsamkeit, seine würdige Heiterkeit, seine hingebende Liebe und seinen alles Edle und Schöne in diesen geweihten Kreis hereinziehenden Hochsinn nicht genug rühmen. War er als Gewerblicher ein thätiger, als öffentlicher Beamter ein sorgsamer, als Menschenfreund ein besonnener, dem Flügelschlage des Zeitgeists ruhig folgender, so war er als Familienvater ein liebenswürdiger, in allen Wirkungskreisen aber ein verehrungswürdiger Mann.
Hervorzuheben und zu betonen ist, daß ihm eine an Geist und Gemüth ebenbürtige, allem Guten und Wahren holde, für alles schöne aber begeisterte, ungemein würdige, echt deutsche Hausfrau fünfzig Jahre lang zur Seite stand und mit ihm in Eintracht und Gemeinschaft nach dem gleichen hohen Ziele strebte, die blühende Mutter einer blühenden Kinderschaar, eine in Kunst und Literatur vielbewanderte, ja in beiden Reichen selbstständig schaffende wahrhaftige Edeldame – ein Glück, das in solcher Ausdehnung wenigen Sterblichen zu Theil wird.
Aber auch an seiner eignen Vervollkommnung arbeitete er mit rastlosem Eifer. Da erkannte er denn bald mit klarem Blick die erhabenen drei Disciplinen Religion, Staatskunst und Naturkunde als die drei Hauptäste des fort und fort jugendlich treibenden goldnen Lebensbaums, die in ihrem rüstigen Wachsthum den vierten, Geschichte, erzeugen. Und diesen dreien galt nun sein gesundes, redliches Forschen. Sein schlichter Sinn ließ sich dabei vom Glanze keiner Autorität blenden; er sah und prüfte mit eignem Auge, das, nicht vom Schulstaube der Gelehrsamkeit getrübt, ihn unbefangen auf die Seite trieb, wo alle redlichen, gesinnungstreuen, vorurtheilsfreien, edlen und hochherzigen Forscher der Gegenwart standen und stehen. Was diese als das Rechte und Wahre anerkannt und ausgesprochen hatten, das fand sein heller, prüfender Geist als wahr und recht bestätigt, und nun konnte seinen geraden selbstständigen Sinn nichts von der erkannten Wahrheit abbringen. Mit vielen dieser Männer stand er in brieflichem und persönlichem Verkehr, so mit Ronge und Moleschott. Doch hatte er sich den Geist des alten Wahlspruchs des Chilon: ne quid nimis, zu eigen gemacht und war ein Feind alles Ueberstürzens und aller Gewaltschritte, selbst in der besten Sache. Das sanfte Wesen des Geistes, die friedliche Macht der Ueberzeugung, aus redlichem Forschen hervorgegangen, galten ihm allein als die echten und rechten Besieger der alten Nachtschatten. So sprach er sich wohl offen zu Gunsten der freireligiösen Richtung, welche in Schweinfurt Platz griff, aus, erklärte aber bestimmt, daß er aus der Kirche, in der er geboren und aufgewachsen war, nicht austreten werde.
Durch Selbststudium hatte er es in vielen Wissenschaften, besonders in den Naturwissenschaften und in der Mechanik, zu bedeutenden Kenntnissen gebracht.
Für das Menschenleben in seinen tausenderlei Gestalten und Verwicklungen hatte er sich ein reines, unschuldiges Auge, ein treues, teilnehmendes Herz und einen billig und liebevoll urtheilenden Sinn zu erhalten gewußt. Aber er war ein in sich gefestigter Charakter und ein strenger Feind aller Gleißnerei, aller Faulheit, alles Egoismus und aller falschen Ruhm- und Genußsucht, Keine verschimmelte oder angemaßte Autorität konnte ihm imponiren. So war er der Freund und Rathgeber aller Bedrängten, die sich an ihn wandten, und gar vieler, denen stolze Scham Schweigen auferlegte. Er hat viel Kummer und Rath durch thatkräftige Hülfe gelindert, aber er that es mit jener stillen Würde, die weder auf der einen Seite das Zartgefühl, noch auf der andern die öffentliche Meinung verletzt. Und so suchte er weder Lob noch Dank, noch fürchtete er Tadel. Er war ein durchaus selbstständiger Mann, der nur nach eigner Ueberzeugung dachte und handelte. Einen schönen, fast rührenden Beweis seines kindlich reinen Sinnes lieferte seine ausgesprochene Ueberzeugung: er könne keinen Feind haben.
So war Wilhelm Sattler nach der Ueberzeugung und dem gleichstimmigen Ausspruch aller Braven, die ihn gekannt, geehrt und geliebt haben. Auf ihn paßte Hamlets schönes Wort: Er war ein Mann!
Burg Mainberg, deren Erbauungszeit geschichtlich nicht bestimmt werden kann, tritt im 13. Jahrhundert als Besitz des thüringisch fränkischen Dynastengeschlechts der Grafen, dann Fürsten von Henneberg auf, welche als Schutzherrn von Schweinfurt oft längere Zeit hier residirten. Im Bauernkriege verwüstet, dann noch schöner restaurirt, kam es kurz vor dem Aussterben des Henneberg’schen Fürstenhauses (1583) durch Kauf in den Besitz der Bischöfe von Würzburg (1542), wurde von dem berüchtigten Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Culmbach geschädigt und gab in dieser trüben Zeit die erste Veranlassung zur Ermordung des Bischofs Melchior von Würzburg und der bösen „Grumbach’schen Händel“. Die Fürstbischöfe hielten sich der Jagd in den reichen Waldungen wegen oft auf Mainberg auf, in dessen weitläufigen Kellern ihre bedeutenden Weinvorräthe lagerten, hatten aber oft Unfrieden mit dem nahen protestantischen Schweinfurt. Im 30jährigen Kriege hatte Mainberg als schwedisches Eigenthum viel zu leiden, gerieth dann in die Hände der kaiserlichen Generäle, die noch schlimmer dort hausten, kam nach dem westphälischen Frieden wieder unter bischöfliche Botmäßigkeit, und durch die Säcularisation des Bisthums (1803) an die Krone Bayern. Nur wenige Jahre Sitz eines Rentamts, stand Schloß Mainberg dann so gut wie leer; denn nur in einer schlechten Stube wohnte noch ein merkwürdiges Menschenpaar, ein Cabinets- und Dosenstück, der leibhaftige Zopfgeist des vorigen Jahrhunderts, ein alter Oberlieutenant des ehemaligen Landesausschusses, Namens Fuß, mit seiner alten Haushälterin, die Gott bei der Auflösung des heiligen römischen Reichs deutscher Nation vergessen zu haben schien, und würdige, schier gespensterhafte Insassen dieses öden, verfallenden Fürstenhauses. Dieser ehrwürdige Herr marschirte mit steifem Paradeschritt, in einem langschößigen scharlachrothen Soldatenrock mit blauem Kragen, ungeheuerm Zopfe, dreieckigen, goldbordirten, federgeschmückten Hute, kurzen schwarzsammtnen Beinkleidern, weißen Strümpfen und dreimal geschnallten Halbstiefeln, den langen Degen an der Seite, das stark bequastete spanische Rohr gravitätisch in der Hand, aus seinem Neste nach der nahen Stadt, mit dem Schlosse verfallend, [527] bis er 1811 seiner ihm vorangeeilten Zeit in den Tod folgte. Seine charakteristische Hinterlassenschaft bestand in einer Unmasse – falscher Zöpfe, die in einer großen Stube, nebeneinander aufgehangen, zwei Wände bedeckten und, aus lackirtem Leder mit einem Haarschwänzchen bestehend, als „theures Erbstück der Ahnen“, weil sich Niemand vorfand, der die Erbschaft sub beneficio inventarii antreten wollte, hängen blieben, bis sie elf Jahre später Wilhelm Sattler mit dem Schlosse käuflich erwarb. In diesen elf Jahren hausten nur Eulen, Ratten und Mäuse in den zusammenstürzenden Mauern, die einst von Fürstenglanz erfüllt gewesen waren. Von nun an beginnt die zweite Glanzperiode des Schlosses, vermittelt durch das Schweinfurtergrün, den Kartoffelsago und die Papiertapete. Wie merkwürdig und charakteristisch ist doch der Umstand, daß die einst fürstliche und fürstbischöfliche Herrlichkeit in den Zopf ausging, um nach der Eulen- und Rattenperiode durch die kunstsinnige Pietät des Industriellen der Neuzeit glänzender aus ihrem Grabe zu erstehen, als sie je gewesen!
„Das Alte sinkt, es ändert sich die Zeit
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“
Der eigentliche Genius dieser mit ungeheuern Kosten, die nur ein Sattler bestreiten konnte, verknüpften Resurrection war Frau Katharina, deren vom Vater ihr aufgeerbter Kunstsinn hier ein Feld schöpferischer Thätigkeit fand. Sie beschwor den ritterlichen Geist des Mittelalters, seine poetisch-artistischen Schätze wiederum in den neu geschmückten Räumen auszubreiten. So entstand unter ihrer pflegenden Hand allmählich eine reiche Bildersammlung, zu welcher die Gemälde ihres Vaters den Anfang bildeten, so eine sehr werthvolle und für den Kunstkenner und Alterthumsforscher wichtige Sammlung von alten Waffen, Rüstungen, Hausrath und andern Alterthümern, eine bändereiche, treffliche Bibliothek, und alle diese Schätze, verbunden mit der reizenden Lage und dem baulichen Schmuck des neuen Fürstenhauses und mit der gastfreundlichen Liebenswürdigkeit seiner Besitzer, erwarben diesem ehelichen Sitz der neuen Industrie und der alten Romantik einen so großen Ruf weit und breit, daß er der Wallfahrtsort unzähliger gebildeten Fremden geworden ist. Auch Könige und Fürsten weilten als Gäste unter diesem mit zwiefachem Reiz geschmückten hohen Dach, und deutsche Sängerchöre ließen schon oft, namentlich bei Gelegenheit des großen fränkischen Sängerfestes in Schweinfurt (1842) in diesen Räumen ihr kräftiges Lied erschallen.
Im obern Stockwerk befindet sich die große und berühmte Tapetenfabrik. Es ist für den poetischen Sinn des Sattler’schen Ehepaars bezeichnend, daß es nicht sämmtliche Lokalitäten des Schlosses zu industriellen Zwecken verwendete, wie ja in neuerer Zeit mit manchem alten Schlosse geschehen ist, sondern in einem großen Theile derselben dem Geiste der Vorzeit würdige Rechnung trug und, indem es das Nützliche förderte, zugleich das Schöne pflegte. So sind die Arbeit der Gegenwart, das Ziel der Zukunft und Kampf und Minne der untergegangnen Jahrhunderte unter diesem einen Dache friedlich, freundlich und würdig vertreten.
Während Frau Katharina restaurirte Bilder, Waffen und Rüstungen aufstellte, erfand sie neue geschmackvolle Tapetenmuster.
In seinen schönen patriotischen Hoffnungen als Landstand 1849 und 1850 getäuscht, zog sich Wilhelm Sattler auf sein Schloß zurück, begrüßte hier alles Schöne und Gute, das die trübe Zeit brachte, mit freudigem Hinblick auf die Zukunft, feierte hier mit seiner würdigen Gattin im Kreise ihrer zahlreichen Nachkommenschaft und vieler Freunde die goldne Hochzeit und starb hier nach kurzem, aber schmerzlichem Krankenlager am 15. Juni d. J., während die blutigen Loose der Gegenwart aus der eisernen Schicksalsurne in der Lombardei sprangen.
Wie der weise Sokrates trat er ruhig im Bewußtsein eines wohlgeführten Lebens vom Schauplatz seiner segensreichen Thaten ab. In einem einsamen waldbeschatteten Thale bei Mainberg ruht, seinem ausgesprochnen Willen gemäß, die Hülle des bescheidnen Mannes. Sein würdiges Denkmal ist Schloß Mainberg selbst, und sein Name wird, wenn er auf den Marktplätzen der Welt verklungen ist, für Jahrhunderte an den stolzen Bau geheftet sein und neben dem des berühmten Henneberger Fürsten, des Minnesängers Otto von Botenlauben, der glückliche Dichtertage an dieser Stelle genoß, und andrer fürstlicher Herren weltlichen und geistlichen Standes, die hier jagten und zechten, ehrenvoll genannt werden; ja wir hegen die nicht unwahrscheinliche Vermuthung, die Namen jener Herren werden im Andenken des Volkes verlöschen, der Name Wilhelm Sattler aber wird darin leuchten; denn jene genossen nur, dieser aber arbeitete auch hier und genoß dann den Lebensabend mit der Mäßigkeit eines Weisen.
Elektricität. – Reibt man eine Siegellack-, Harz- oder Glasstange mit Wolle, Seide oder Pelz, so hat sie dann die Eigenschaft, kleine Papierstückehen aus geringer Entfernung anzuziehen. Diese Kraft verdankt sie der erregten Elektricität, sie ist elektrisch geworden. Die Elektricität kann zwar in jedem Körper wahrgenommen werden , aber da sie leitungsfähig ist, da es auch schlechte und gute Elektricitätsleiter gibt, so gelingt es uns z. B. nicht, eine Metallstange, die wir in der Hand halten, elektrisch zu machen. Die entstehende Elektricität wird nämlich sofort durch unsern Körper abgeleitet, und nur dann können wir sie sammeln, wenn wir die Metallstange oder überhaupt jeden guten Elektricitätsleiter durch einen schlechten, z. B. durch einen Holz- oder Glasgriff, von unseren, Körper trennen. Es gibt zwei Arten von Elektricität, nämlich Harzelektricität, die durch Reiben von Harz mit Wolle oder Katzenfell, und Glaselektricität, die durch Reiben von Glas mit Wolle oder Seide entsteht. Erstere heißt auch negative, letztere positive. Jeder Körper enthält beide Arten von Elektricität, und dann ist er in seinem natürlichen Zustande, man bemerkt an ihm keinerlei elektrische Eigenschaften. Wird ihm jedoch durch Reiben irgend eine Art genommen, so bleibt ihm nur noch die andere, und diese zeigt sich durch ihre anziehenden Wirkungen. Es ist uns noch völlig unbekannt, was eigentlich das Agens ist, welches die elektrischen Wirkungen bedingt, obgleich diese, physikalisch wie chemisch, sehr ausgedehnt sind, denn besonders in letzterer Hinsicht sind sie es in dem Maße, daß man annahm, jede chemische Veränderung, Verbindung oder Zersetzung werde durch Elektricität hervorgerufen und bedingt.
Galvanismus. – Von der jetzt besprochenen, durch Reibung entstehenden, der Reibungselektricität, unterscheidet sich die Berührungselektricität, der Galvanismus. Diese von Galvani entdeckte und nach ihm benannte Kraft zeigt sich bei Berührung von verschiedenen Metallen, z. B. Zink und Kupfer. Es scheidet sich nämlich dabei, durch Einfluß einer unbekannten Ursache bedingt, im Zink positive, im Kupfer negative Elektricität ab, und werden mehrere derartige Metallplatten in geeigneter Weise zusammengestellt und verbunden, wie dies bei der Pelta’schen Säule und besonders bei den galvanischen Batterien der Fall ist, so kann man elektrische Ströme von großer Stärke erzeugen, die sowohl mehrere, sonst unmögliche chemische Zersetzungen bewerkstelligen, als auch sehr stark magnetisirend auf weiches Eisen einwirken. – Die Wirkungen dieser Kräfte zeigen sich in der Galvanoplastik und in besonders großartigem Maßstäbe in der elektrischen Telegraphie. Die Zoologie. – Unter allen organisirten Wesen stehen die Thiere obenan, und von ihnen ist wieder der Mensch das vollkommenste. Von diesem aus sinkt die Organisation mehr und mehr auf niedere Stufen herab, bis man auf eine Grenze kommt, wo Thier und Pflanze nicht mehr zu unterscheiden ist, wo man Individuen, die sogenannten Pflanzenthiere trifft, die zwar den Bau der Pflanzen haben, aber doch auch, allerdings nur sehr dürftiges, animalisches Leben zeigen. Die thierische organische Substanz besteht aus Schleimstoff, durch dessen Umwandlung die einzelnen Theile: Gefäße, Muskeln, Sehnen etc. gebildet werden, während die Knochen zum großen Theil unorganische Masse enthalten, die wir in der zum Düngen der Felder gebrauchten Knochenasche sehen. Im Allgemeinen unterscheiden [528] sich die Thiere dadurch von den Pflanzen, daß sie organisirte Wesen sind, welche freiwillige Bewegung, eine Mundöffnung und ein besonderes Verdauungsorgan, einen Magen, haben.
Am Körper der Thiere und zwar der höher organisirten, bemerkt man zunächst Nerven, Knochen, Knorpel, Muskeln, Sehnen, Häute, Gefäße, sogenannte anatomische Elementarorgane, welche sich zu Organen (Herz, Magen, Adern) vereinigt haben. Mehrere solcher Organe nun, die in naher Beziehung zu einander stehen, die einem und demselben Zwecke dienen, bilden ein organisches System. – Die Gesammtheit der Knochen bewirkt die äußere und innere Bewegung, sie bilden daher das Bewegungssystem. Das Herz, die Blutgefäße (Adern), die Lungen, die Luftröhre dienen zur Athmung und Circulation des Blutes, sie machen das Gefäß- und Respirationssystem aus. Durch das Ineinanderwirken des Magens, Darmcanals, der Leber, der Galle und der Milz wird das Verdauungssystem gebildet und durch die Geschlechtsteile das Generations- oder Fortpflanzungssystem. Sämmtliche Organe werden durch das Nervensystem belebt und empfindsam gemacht, und dieses hat seinen Hauptsitz im Gehirn und Rückenmark, von wo aus zahlreiche Fäden nach allen Richtungen hin ausgeschickt werden. Ein Theil dieser Nervenfäden dient dazu, dem Willen nachzukommen und die Bewegungen der Muskeln hervorzubringen, während der andere Theil die Sinneswerkzeuge bildet und empfindlich macht. Das höhere Thier hat fünf Sinne: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl.
Die genannten organischen Systeme, sowie das Nervensystem, zeigen in dieser Ausbildung nur die höchsten Thiere, nach und nach vereinfachen sie sich und dieses oder jenes fällt ganz weg. Nach allen möglichen Abstufungen finden wir dann Thiere ohne Knochengerüst; ohne irgend welche Ortsbewegungsorgane; mit darmartigen Säcken oder ästigen Luftcanälen anstatt der Lungen; Thiere, die nur aus einem einzigen häutigen Verdauungscanale bestehen, dessen Oeffnung mit Fangarmen besetzt ist; und solche, bei denen männliche und weibliche Geschlechtsorgane nicht auf zwei Individuen vertheilt sind, sondern auf einem sich befinden oder nur durch Eierstöcke repräsentirt sind; ferner Thiere, deren Nervensystem durch einige zerstreut liegende Nervenfäden gebildet wird, bis auch diese verschwinden.
Um die große Menge der Thiere übersehen zu können, werden sie nach ihren gegenseitigen Verwandtschaftsgraden in Classen, Familien, Ordnungen, Unterordnungen und Individuen eingetheilt, in Systeme geordnet. Solcher Systeme des Thierreichs gibt es mehrere, je nachdem dieser oder jener Eintheilungsgrund gewählt, diesem oder jenem Organe der Vorrang ertheilt worden ist. Das bekannteste System ist das von Linné, welches sämmtliche Thiere in folgende sechs Classen eintheilt: 1) Säugethiere, 2) Vögel, 3) Fische, 4) Amphibien, 5) Insecten und 6) Würmer.
Hierbei ist zunächst auf den Bau des Herzens und die Farbe und Temperatur des Blutes Rücksicht genommen.
Das Herz der Säugethiere und Vögel besteht aus zwei Herzkammern und zwei Vorkammern, und sie haben rothes warmes Blut, aber die Säugethiere bringen lebendige Junge zur Welt, während die Vögel Eier legen. Das Herz der Fische und Amphibien ist aus einer Herz- und einer Vorkammer gebildet, und sie besitzen rothes kaltes Blut, aber die Fische athmen durch Kiemen, die Amphibien durch Lungen. Endlich wird das Herz der Insecten und Würmer nur aus einer Kammer ohne Vorkammer gebildet, und sie haben weißliches kaltes Blut; während jedoch die Insecten Fühlhörner zeigen, bemerkt man bei den Würmern Fühlfäden. – Die Thiere jeder dieser sechs Hauptclassen theilte Linné wieder, meist nach äußern Merkmalen, in Ordnungen, so die Säugethiere nach dem Bau der Zähne, in sieben, die Vögel nach ihrem Aufenthaltsort, nach der Art ihrer Ernährung etc. in sechs, die Fische in zwei, Knorpel- und Grätenfische, die Amphibien ebenfalls in zwei, Reptilien (Frösche, Eidechsen, Schildkröten) und Schlangen, die Insecten nach Zahl und Bau der Flügel etc. in sieben und die Würmer in fünf Ordnungen: Eingeweide- und Weichwürmer, Muscheln (und Schnecken) Korallen und Pflanzenthiere, so daß er sämmtliche Thiere in 29 Ordnungen bringt.
Da Linné sein System zu einer Zeit schuf, wo die Kenntnisse über Anatomie noch sehr unvollkommen waren, so sah man später bald die Unzulänglichkeit desselben ein, und von den neueren, besonders auf anatomische Verhältnisse gegründeten Systemen ist hauptsächlich das von Cuvier zu bemerken. – Cuvier theilte zunächst sämmtliche Thiere in zwei Theile, in Wirbelthiere und wirbellose Thiere, wovon erstere mit einem Knochenskelett versehen sind, letztere nicht. Die Wirbelthiere bilden nach ihn, eine Hauptclasse für sich, während er die wirbellosen Thiere in drei andere Hauptclassen theilt, in Weichthiere, Gliederthiere und Räder- und Strahlenthiere. – Die Weichthiere zeigen eine äußerlich durchaus gleichförmige, weiche Körpermasse; die Gliederthiere hingegen haben einen Körper, der aus Gliedern oder gegliederten, beweglichen Stücken besteht, und bei den Räderthieren sind sämmtliche Organe rad- oder sternförmig oder strahlig um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt gelagert.
In die erste Classe, die der Wirbelthiere, gehören: Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fische; in die zweite Classe, die der Weichthiere: Kopffüßler (Tintenfisch, Meerpolyp), Flossenfüßler (Glasmuschel), Bauchfüßler (Schnecken), Kiemenfüßler (Austern, Teichmuschel, Riesenmuschel), Kopflose (Todtenkopfmuschel) und Rankenfüßler (Entenmuschel, Seetulpe); in die dritte Classe, die der Gliederthiere: Ringelthiere (Blutegel, Regenwurm), Krustenthiere (Krebse), Arachniden (Spinnen, Scorpione) und Insecten, endlich in die vierte Classe, die der Räderthiere: Sternthiere (Seeigel, Seestern) Eingeweidewürmer (Saug-, Band- und Blasenwürmer), Quallen (Medusen, Ohrenqualle), Polypen (Korallen, Armpolyp, Schwämme) und Infusorien. – Das System von Cuvier bringt also alle Thiere in 19 Classen, und es zählt nun hiervon wieder jede ihre Ordnungen, Unterordnungen und Individuen.
Die Zahl sämmtlicher jetzt lebender Thiere belauft sich auf ungefähr 106,900 Arten, wovon auf Wirbelthiere 18,570, auf Gliederthiere 70,500, auf Weichthiere 11400 und auf Räderthiere 6430 kommen.
Die Botanik. – Die Pflanzen werden gebildet aus Zellen und Gefäßen, und bestehen daher hauptsächlich aus Zellstoff, Holzfaser oder Cellulose. – Obgleich sie im Aeußern ziemlich verschieden von einander sind, so zeigen doch die meisten derselben, in Bezug auf Bau und Verrichtungen der einzelnen Theile, große Aehnlichkeit. – Sie sind im Allgemeinen zusammengesetzt aus den vier Hauptorganen: Wurzel, Stengel, Blätter und Blüthen, zu denen öfter noch verschiedene Nebenorgane, als Drüsen, Haare, Dornen etc. treten. Von den ersten, den Hauptorganen, dienen Wurzel, Stengel und Blätter zur Ernährung der Pflanze, es sind die Ernährungsorgane, während die Blüthen die zur Fortpflanzung nöthigen, die Fortpflanzungsorgane, enthalten. – Die Wurzel saugt die Nahrung aus dem Boden und ist zu diesem Zwecke an ihren äußersten Spitzen mit kleinen, schwammartigen Bläschen versehen. Der Stengel, meist aus langgestreckten Gefäßen gebildet, sendet seitliche Aeste aus und dient zur Fortleitung und theilweisen Ablagerung des Nahrungsstoffes, wodurch die Pflanze selbst vergrößert wird. Die Blätter sind zur Aufnahme der Kohlensäure der Luft bestimmt, wovon der Kohlenstoff in der Pflanze zur Bildung ihrer Substanz verbraucht, der Sauerstoff aber der Atmosphäre durch Aushauchen wieder zurückgegeben wird. Sonach sind es die Pflanzen, welche die Luft für Menschen und Thiere reinigen, zum Leben brauchbar machen, denn bliebe die Kohlensäure, die sich fort und fort wieder von Neuem erzeugt, stets in der Luft, so würde diese in kurzer Zeit unathembar werden, und alles thierische Leben müßte untergehen. Die Blüthen bestehen aus vier Theilen und zwar 1) aus dem äußersten, meist grün gefärbten Blätterkreise, dem Kelche, 2) aus dem meist bunten, der Blumenkrone, 3) aus den Staubgefäßen, die mehr oder weniger lange, dünne Fäden mit gelben Köpfchen, Antheren, bilden, und 4) aus den Pistillen, welche aus unten bauchig erweiterten, nach oben enger werdenden und an den Spitzen mit grünen Narben versehenen Röhren bestehen. Der bauchige Theil eines Pistills heißt der Eierstock, weil er die Eier enthält, der obere engere der Griffel. – Bei einer geringen Anzahl von Pflanzen kommen Staubgefäße und Pistille nicht in einer Blüthe vor, sondern sie sind in mehreren, auf einer oder verschiedenen Pflanzen, getrennt. Von den vier Theilen der Blüthe sind nur die zwei innersten, Staubgefäße und Pistille, die Fortpflanzungsorgane und zwar sind die Staubgefäße die männlichen, die Pistille die weiblichen.[WS 2]
Wenn ich nicht irre, hat der Großmeister des Humbugs, der einstmals vielgenannte Barnum, ein Buch über die Anzeige und über ihren großen Werth geschrieben. Zum wenigsten hat er darüber geschrieben und sich das Verdienst erworben, die Anzeige ihren verschiedenen nützlichen Seiten nach beleuchtet zu haben. Wenn ein Deutscher über einen solchen Gegenstand schriebe, so würde man sich schier darüber verwundern, denn es möchte ziemlich überflüssig erscheinen, über solch eine unbedeutende Sache nur zwei Worte zu verlieren. Wenn ein Engländer oder ein Amerikaner darüber ein Buch schreibt, so erscheint dies ganz natürlich, denn die Anzeige ist dort eine andere, als in Deutschland, und wenn sie hier vorzugsweise nur als ein unbedeutender Appendix zu den Zeitungen und in dem immer noch bescheidenen Quart- und Folioformat als Placat erscheint, so nimmt sie dort ganz andere Dimensionen an und hat sich mit solchem Raffinement ausgebildet, daß ihre deutsche Schwester sich in keiner Weise mit ihr messen kann. Die öffentliche Meinung ist eine Macht, die Anzeige ist es auch; wo erstere in ihrer ganzen Machtfülle erscheint, da steuert auch die letztere mit vollen Segeln. Daher erscheint die Anzeige nirgends eigenthümlicher und gewaltiger, als in England und Nordamerika, in den Staaten, wo man die öffentliche Meinung gewissermaßen als den Regulator der staatlichen Verhältnisse bezeichnen kann.
Die Anzeige tritt dort mit einer Prätension auf, wie man sie bei uns nicht kennt. Läßt sie sich hier beikommen, eine etwas anspruchsvollere Miene anzunehmen, so wendet man sich mit einer gewissen Verachtung von ihr ab. Sie darf bei uns nun einmal nicht über das bescheidene Terrain, das ihr angewiesen worden ist, hinausgehen, wenn sie nicht in ein übles Renommee kommen will. Die Anzeige hat bei uns recht respectable Vertreterinnen in der Presse; aber ein solches Organ besitzt sie doch nicht, wie die Times. Wer jemals die Times gesehen hat, der weiß, was es sagen will, von den Times vertreten zu sein. Was sind alle die anderen englischen Blätter im Vergleich zu den Times? Was sind ihnen gegenüber das Morning Chronicle, die Morning Post, der Morning Herald, der Star, der Advertiser u. s. w.? Die Times sind in den Händen von ganz England, weil sie immer den echten und wahren John-Bullismus vertreten, und dann, weil sie mit der Anzeige eine Ehe eingegangen sind, die für ganz England von ungemeiner Wichtigkeit ist. Die Anzeige ist es, welche die Times immer über dem Niveau der anderen Blätter erhalten wird, und daher werden wahrscheinlich auch die Times mit Old-England stehen und fallen.
Massenhaft sind oft die Anzeigen, welche Bücher bringen, auf deren Absatz man rechnen kann. Hinten und vorn bilden die Anzeigen nicht selten eine solche Emballage, daß man sich ganz natürlich fragt, ob das Buch nur der Anzeigen wegen da sei. Sind bei uns nur die Buchhändleranzeigen in diesem Falle in einer sehr mäßigen Weise üblich, so ist dies in England anders; jedermann hat ein Recht, in diesen Anzeigebüchern vor und hinter dem eigentlichen Buche sich und seine Waare auszubieten. Da empfehlen sich neben Papierhändlerinnen und Buchhändlerinnen Bijouteriewaarenhändler und Händlerinnen, Kleider- und Putzwaarenhändler, Agenten und Leihbibliothekare, Photographen und Lithographen, Milchhändler und Zahnärzte, Schneider und Hoteliers, Gewürzkrämer und Glaswaarenhändler, Privatlehrer und Apotheker, Bürstenbinder und Hutmacher, Butter- und Käsehändler u. s. w.. Alles bunt durcheinander. Die Anzeigen sind oft eben so stark als das Buch selbst. Auch hält man es für gut, sich mehrmals zu empfehlen, und so kommt es, daß einem manche Anzeige zweimal und dreimal aufstößt. Die Engländer sind viel zu speculativ, um sich mit etwas Halbem zu begnügen. Sie wissen, daß unter der Menge Anzeigen eine wohl verloren gehen kann; daher suchen sie gleich durch die Masse zu wirken. So wie sie ihre Pfunde nicht scheuen, um auf andern Gebieten mit großen Mitteln große Erfolge zu erzielen, so machen sie es auch mit den Anzeigen.
Sehen wir uns doch einmal eine solche Anzeige etwas genauer an. Da beginnt eine mit dem prätentiösen: „Was ist in einem Namen?“ Diese Frage beantworten die Herren Gebrüder Samuel durch eine Empfehlung ihrer Sydenhamhosen, indem sie sagen: „Mit den Sydenhamhosen verbindet man den vollkommensten Begriff eines reizenden, leichten, trefflich sitzenden Kleidungsstückes, unerreicht von allen früheren Versuchen in dieser Branche.“ Sie gewähren nach der Angabe der Gebrüder Samuel dem, der sie trägt, die größte Bequemlichkeit, und abgesehen davon ist auch ihre Billigkeit berücksichtigenswerth. Der Erfolg, den die Herren Samuel mit ihren Sydenhamhosen gehabt haben, hat sie übrigens kühn genug gemacht, auf diesem Felde der Entdeckungen noch weiter vorzugehen. Eine andere Anzeige mit der Ueberschrift: Facta, non verba! verkündigt ebenfalls eine Erfindung jener Herren, nämlich die des Sydenham-Ueberrockes, in dem sie eine glänzende Probe ihres Wissens in der Geometrie und Anatomie abgelegt zu haben glauben. Auch meinen sie mit dieser Erfindung ihr Motto: „Thaten, keine Worte!“ wahr zu machen. Gut so! Wenn man aus Deutschland nach England kommt, so will es einen bedünken, als ob die Herren selbst sich gelegentlich nicht so streng an ihre Devise hielten; indessen man muß bedenken, daß sie in England sind, und daß man dort vom Wortemachen andere Begriffe hat, als bei uns im bescheideneren Deutschland. Wir werden übrigens später noch einen Rivalen der Herren Samuel kennen lernen. Jetzt wollen wir uns noch einige andere Anzeigen besehen.
Da fragt Einer an: „Wer ist Ihr Hutmacher?“ und ladet dann das geehrte Publicum ein, seine Waare einmal zu versuchen. Noch ein Anderer fragt: „Wer ist Ihr Buchdrucker? – Warum zahlt man solche horrende Preise, da jede Art von Drucksachen beträchtlich billiger und besser gedruckt werden kann?“ – nämlich von dem Anzeiger selbst. Am Schlusse der ganzen Anzeige endlich kommt noch der Nachsatz: „Gesucht wird zum Druck eine Zeitung oder ein Magazin für einen ungewöhnlich billigen Preis.“
Um das Publicum Vertrauen zu den angekündigten Firmen fassen zu lassen, hält man es für gut, anzugeben, wie lange das Geschäft schon besteht, und daher findet man oft über oder in der Anzeige das Wort established mit der Jahreszahl, d. h. besteht seit so und so lange. Ein anderes Empfehlungsmittel ist die Angabe der hohen Protection, unter der das Geschäft steht. So empfiehlt Einer sein Geschäft als stehend unter der Protection des Adels und der Geistlichkeit von Brighton und der Grafschaft Sussex. Rowland und Sohn nehmen für ihre eleganten Waaren, zu denen auch das berühmte Macassaröl gehört, sogar die hohe Protection der Könige und der Aristokratie von ganz Europa in Anspruch. Eines der gesuchtesten Empfehlungsmittel ist der Name der Königin. Die große Königin muß es sich gefallen lassen, die Schutzgöttin von ganz England zu spielen, ganz abgesehen von dem Schutze, den sie dem Lande von Rechtswegen kraft ihrer Würde zu ertheilen hat. O du lieber Himmel, zu wie Vielem muß sie ihren Segen geben, die gute Königin! Hier kündigt sich Einer als Parfumeur der Königin und der ganzen königlichen Familie an; dort betreibt ein Anderer sein Haarkräuslergeschäft unter dem besonderen Schutze Ihrer Majestät, oder wenn es Ihre Majestät nicht sein kann, heißt es doch wenigstens S. K. Hoheit Prinz Albert. Noch ein Anderer verkauft Hüte und Handschuhe unter dem besonderen Schutze Ihrer britischen Majestät. Wird eine Gesellschaft gegründet, so muß sie Patrone haben; und den meisten Segen kann sie sich versprechen, wenn sie die Königin zur Protectorin hat. Wie oft begegnet Einem der Name der Königin, wenn man durch die Straßen Londons geht! Die gute Dame hätte sehr viel zu thun, wenn sie allem dem, wozu sie ihren Namen huldreichst hergegeben hat, ihr schützendes Auge zuwenden wollte. Glücklicher Weise für sie selbst ist sie in allen oder wenigstens in den meisten Fällen nur Aushängeschild. So wie man in Deutschland die privilegirten Hof- Tabaks-, Bier- und Schnaps-, Tinten- und Schuhwichsfabrikanten und Lieferanten hat, so hat man sie dort unter dem Namen Ihrer Majestät.
Die Anzeige befindet sich indessen in England nicht blos in den Zeitungen und andern Aushängeschildern, sondern sie ist überall. In den Eisenbahnwagen, in den Omnibussen, auf den Dampfschiffen, auf den Eisenbahnstationen sieht und hört man sie. Sitzt man im Waggon, so präsentirt sich einem gegenüber ein Mr. So und So, der einem gern glauben machen möchte, daß seine Handschuhe die besten und billigsten in der ganzen Welt seien. Er präsentirt sich einem nicht in Person, sondern hat es für gut befunden, seine [530] Adresse nebst einer Empfehlung seiner Waare an einem möglichst günstigen Platze im Waggon anbringen zu lassen. Steigt man in den Omnibus, so hat man die Ehre, auf dieselbe Weise die Bekanntschaft eines andern ehrenwerthen Gentleman zu machen, der eine Erfindung gemacht, deretwegen er zum mindesten auf den Dank der Mitwelt, wenn nicht gar auf Unsterblichkeit den gegründetsten Anspruch zu haben glaubt. Natürlich müssen die Herren dafür zahlen; wie nichts in London umsonst ist, so wird auch diesen Gewinn bringen sollenden Empfehlungskarten ein Plätzchen in der Front oder der Ecke, eines Wagens nur dann eingeräumt, wenn man dafür zahlt. Da es Jedermann so macht, so findet man darin auch nichts Sonderbares, sondern man würde den sonderbar finden, der es nicht so machte. Damit übrigens ja keine Gelegenheit versäumt werde, um sich zu empfehlen, so sind denn schließlich auch noch die Eisenbahnhöfe mit Anzeigen aller Art austapeziert worden. Man sieht aber auf den Eisenbahnen die Anzeigen nicht blos, sondern man hört sie auch. Die Zeitungsjungen trifft man fast an jeder Station. Punch, Illustrated London News, Morning-Post, Standard etc. tönt es in Einem fort, und Einer brüllt immer mehr als der Andere. Die Kehlen Mancher sind von dem fortwährenden Schreien so heiser geworden, daß es einem wirklich schwer werden sollte, die ursprüngliche Stimmung des Organs herauszufinden. Diese Jungen sind zuweilen höchst zudringlich, und ich bin überzeugt, mancher Fremde macht es so wie ich, er kauft ihnen etwas ab, um nur die unaufhörlichen Anpreisungen nicht in Einem fort hören zu müssen, und steckt dann das Gekaufte ganz ruhig in die Tasche. Die Zeitungsjungen leben von dem Capitale ihrer Stimmen und ihrer Zudringlichkeit, und es ist daher kein Wunder, wenn sie dasselbe recht ertragsreich zu machen suchen. Die Zeitungsläden suchen das lebendige Wort durch Breter zu ersetzen, auf denen der Inhalt der Zeitungen mit großen gemalten Buchstaben zu lesen ist. Ebenso machen es die Besitzer von Lesezimmern, die sofort an ihren großen Zeitungsinhaltsanzeigen zu erkennen sind.
Besonders charakteristisch für London und für die bedeutendsten Städte Englands sind die Austheiler von geschäftlichen Anzeigen aller Art in den Straßen. Wenn man von der City bis nach dem Westend durch Cheapside, Holborn, Oxford und Regent Street geht, so kann man sicher sein, daß man alle Taschen voll solcher Straßenliteratur hat. Von der Kleiderhandlung Moses und Comp. empfängt man gleich ein ganzes Büchelchen, das neben der Preisliste der Waaren auch einen Kalender und noch vieles Andere in Prosa und Versen enthält. Aus der Ankündigung von Mr. E. Albert, einem Chirurg und „mechanischen“ Zahnkünstler, erfährt man, daß der Verlust der Zähne eine Menge von Uebeln im Gefolge hat, die nur die ganz genau kennen, welche den Verlust eines der unschätzbarsten Güter der Natur bereits erfahren haben. Er hegt daher den Wunsch, denjenigen, welche die möglichst vollkommene Wiederherstellung ihrer Zähne, soweit sie durch Kunst möglich ist, wünschen, bekannt zu machen, daß sein System alle Vortheile der Nützlichkeit, Schönheit und Oekonomie hat, welche Erfahrung, Geschicklichkeit und Ausdauer in dieser Branche gewähren können. Das ist indessen noch nicht genug. Es folgen außerdem Bemerkungen über das Scurvy in the gums (Scorbut), eine Preisliste, durch die man belehrt wird, daß das, was bei Andern 40 Guineen kostet, von ihm für 20 gethan wird, und endlich eine Empfehlung seines Apollonion-Cements, der durch ganz England, Frankreich und den Continent berühmt sein soll. Mr. Albert mag ein Ehrenmann sein, ich bezweifle dies nicht. Er verspricht vielleicht Manches, was er nicht halten kann; aber er thut dabei nicht mehr und nicht weniger als viele Andere.
Doch laßt sehen, was verheißt der Nächste? Ah, das sind Messrs. Sloan und Comp., Mitglieder des königlichen Collegs für Wundärzte, 4 Argyle Place, Regent Street. Das sind ehrenwerthe Herren! Ich glaube, sie beschäftigen eine hübsche Anzahl von Londoner Bummlern, um Patienten unter die Hände zu bekommen. Sie sind vollkommen erzogene Mitglieder der Zunft: seit dreißig Jahren schon besteht ihr Geschäft und zwar mit dem größten Erfolge. Nachdem man alle die Fälle erfahren hat, in denen ihr Heilverfahren das erfolgreichste ist, heißt es am Schlusse: „In allen Fällen beliebe man sich rechtzeitig an die Herren Sloan und Comp. zu wenden, die ohne Eitelkeit oder Anmaßung entschieden behaupten können, daß, wo nur irgend menschliche Hülfe möglich ist, die Krankheit gehoben und die Cur glücklich von ihnen vollbracht werden wird.“ Und darunter der gewichtige Satz: „Nur im Falle einer Heilung braucht man zu bezahlen.“ Was könnte man in Deutschland Besseres wünschen, als eine Partie solcher Menschenfreunde, welche zum Glück der Welt so unendlich beizutragen im Stande sind? Ich sollte denken, die Herren müßten ganz mit mir einverstanden sein, wenn ich auch etwas zur Verherrlichung ihres Namens thue. Sie requiriren die Bummlerzunft Londons, um ihre menschenfreundlichen Gesinnungen jedwedem gedruckt in die Hand zu geben. Es ist nicht mehr als billig, daß man sich dafür dankbar bezeige, so gut, als man nur immer kann. Mache dich also auf, du leidende Menschheit, und pilgre nach London; man wird dir dort helfen, zum mindesten von deinem Gelde. Laß dich indessen das nicht so sehr dauern; denn du wirst gründlich curirt werden – von den Anmaßungen einer ausschweifenden Phantasie.
Derjenige, der London und seine Eigenthümlichkeiten kennt, geht an diesen gefälligen Gebern von allerhand Empfehlungskarten gleichgültig vorüber; er nimmt sich nicht mehr die Mühe zu warten, bis der Mann einen Zettel in seine Hand gedrückt hat. Der Fremde dagegen, dem das etwas Neues ist, verfehlt im Anfange nicht, sie gewissenhaft in seine Tasche zu stecken. Uebrigens erhält man diese Anzeigezettel nicht blos auf der Straße, sondern bleibt man vor einem Kleider-, Stiefel- oder andern Laden stehen, so erscheint auch sofort Jemand, der einem eine solche Empfehlungskarte überreicht und freundlichst einladet, von dem Geschäft gefälligst weiter Notiz nehmen zu wollen. Ja selbst durch die eisernen Gitter vor den Häusern findet die Anzeige Eingang. Da sieht man oft des Tages junge Leute mit einem Pack Papiere in der Hand Straße auf Straße ab rennen, die rasch eine Anzahl von Exemplaren einer Anzeige durch die Eisengitter oder in die an den Hausthüren angebrachten Briefkästen stecken und dann weiter eilen, um ganze Stadttheile so mit der Etablirung eines neuen Geschäfts oder eines vorgeblichen Ausverkaufes oder etwas der Art bekannt zu machen. Dem Straßenplacatwesen ist in London durch das kategorische: Klebt keine Zettel an! sehr Einhalt gethan. Dafür muß man sich aber die Austapezierungen der Omnibusse und Eisenbahnwagen gefallen lassen. Außerdem senden die Unternehmer von Londoner Sehenswürdigkeiten die wandelnden Placate aus. Wenn auch der Continent berechtigt sein sollte, sich die Ehre der meisten neuen Erfindungen beizulegen, die Erfindung der wandelnden Placate hat er gewiß nicht gemacht. Ich weiß nicht genau, ob vielleicht China einigen Anspruch auf die Ehre dieser Erfindung haben sollte; sonst aber wird man sicherlich John Bull dieselbe nicht streitig machen können. Und es ist eine kolossale Erfindung. Da gibt es Leute, die das ganze Royal Polytechnic Institution in Regent Street, oder Madame Tusseau’s Wachscabinet in Bakerstreet, oder den Globe in Leicestersquare vorn und hinten mit sich herumschleppen. Vorn hängt das Bret, welches den sehenswerthen Ort nennt, und hinten hängen alle die Sehenswürdigkeiten, die man zu sehen bekommen soll. Die interessanteste Ankündigung dieser Art, die ich sah, war die des Colosseum.
Ich ging eines Abends New Road hinab, da wandelte eine Anzahl von Männern daher, von denen ich anfangs nicht wußte, ob ich sie für die Anhänger einer abenteuerlichen Secte oder für den Vortrab eines hindostanischen oder birmanischen Fürsten halten sollte. Der vorderste hatte eine hoch in die Luft emporragende Laterne mit buntfarbigen Gläsern, und außerdem erkannte ich, als sie näher kamen, auf einem weißen Brete, das er vorn an der Brust trug, ein großes C; der zweite trug auf derselben Stelle den Buchstaben O; der dritte den Buchstaben L; der vierte endlich ließ keinen Zweifel mehr darüber walten, daß dies eine Ankündigung des Colosseum sein sollte. Vorn hatten die neun Mann jeder einen Buchstaben des Wortes, und auf der Tafel, die sie auf dem Rücken trugen, befand sich eine Specialisirung aller der Merkwürdigkeiten, die man dort zu sehen bekommen sollte. Sie wandelten so still die Straße entlang, daß sie wirklich einen unheimlichen Eindruck machten. Dann bogen sie um die Ecke; vielleicht war ihre Wanderung für heute beendet, vielleicht durchstrichen sie auch noch weiter die Straßen, um zu werben für die Casse des Colosseum.
Mit den Reizen von Vauxhall Gardens ist es vorbei. Man wird dort nicht mehr am Abend spazieren gehen; man wird dort nicht mehr tanzen; man wird nicht mehr feuerwerken; es wird keine Illumination und kein Freudenfest dort mehr geben. Die ganze Herrlichkeit von Vauxhall Gardens ist in den Staub gesunken, und den Londoner Dandies und den Schönen, die allabendlich [531] dort Triumphe feierten bleibt nichts davon als die süße Erinnerung der dort genossenen Freuden. Gut ist es, daß man wenigstens Cremorne Gardens hat; dort kann man sich von dem Schmerze über den Fall von Vauxhall Gardens etwas erholen. Und indem ich an alle die verschwundenen Reize von Vauxhall Gardens denke, da fällt mir auch ein Neger ein, der an den schönsten Tagen im Sommer mit einem kolossalen, viele bunte Felder haltenden Regenschirme, auf dem mehrfach die Worte: Heute Vauxhallgarten! angebracht waren, durch die Straßen Londons rannte. Alle Welt mußte den Neger mit dem gewaltigen Regenschirme sehen, und er wollte ja auch von allen gesehen sein, denn sowie im Garten vergnügungssüchtige Putzmacherinnen, junge Noblemen und lustige Clerks sich ein Rendezvous gaben, so sollten auch die Schillinge der Londoner und Fremden sich in der Casse des Unternehmers in größtmöglicher Anzahl zu einem gemüthlichen Stelldichein versammeln. Der Deutsche nennt das Schwindel; den Engländer kümmert das sehr wenig. Er würde, wenn es anginge, selbst den Teufel citiren, um Casse machen zu helfen.
Nachdem ich meine Beobachtungen Dick zugerufen, auf dessen
Vorbereitungen ich nicht achtete, sagte er mir, ich sollte die Reiter nicht
aus den Augen lassen, dann setzte er sich auf mein Pferd und sprengte
in den Grund aufwärts, dem Winde entgegen. Schon konnte ich
mit bloßen Augen die Reiter erkennen, die unschlüssig zu halten
schienen, da sie uns nicht wieder sahen, und einen Hinterhalt vermuthen
mochten, als Dick wieder angesprengt kam. Er hatte einen
Feuerbrand in der Hand und fuhr mit ihm über das dürre Gras,
das hinter ihm schon hell brannte. Das ganze Thal hinauf hörte
ich das Knistern des brennenden Grases.
„Zu Pferde! Fort, fort!“ schrie mir Dick zu, indem er absprang und den Mustang bestieg. Kaum saß ich aus meinem Pferde, so lief mir auch die Flamme, vom Winde getragen, schon entgegen. Mit Mühe erreichte ich die Höhe; auf dem Fuße folgte das Feuer.
„Es ist besser so, als daß Blut fließt!“ sagte Dick zu mir.
Noch hielt die Schaar der Indianer beobachtend in der Ferne. Unser Erscheinen erregte ihre Aufmerksamkeit; das Feuer mochten sie noch nicht bemerkt haben. Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Der Wind trieb das Feuer von der Seite auf uns zu. Wir konnten berechnen, daß bald ein Feuerstrom von einer halben Stunde Breite uns von unseren Verfolgern trennte, aber wie nach ihnen hin, rückte er uns nach. Dick war ungleich stärker als ich, und ich sah, wie sein Thier immer mehr ermattete, daß selbst das Knistern des Feuers seine abnehmenden Kräfte nicht steigern konnte. Ich sprengte an Dick heran, sprang vom Pferde und rief: „Ich weiche nicht von der Stelle, ihr wechselt denn mit mir. Mich trägt das Thier noch eher!“
Zum Unterhandeln war keine Zeit, Dick mußte mir nachgeben, denn noch einige Minuten, und wir waren vom Feuer eingeschlossen, das schon die Höhe vor uns ergriffen hatte und auf dem vertrockneten Grase mit furchtbarer Geschwindigkeit hinlief von Spitze zu Spitze, sich nicht die Zeit nehmend, den Halm anzugreifen. Dick war rasch auf meinem Pferde, ich folgte ihm auf dem Mustang. Ich hatte den Lasso gebrauchen müssen, um das Thier zum Stehen zu bringen, und hielt diesen noch in der Hand. Wir sprengten im Thale hin, um die Höhe vor uns noch zu gewinnen. Dick ritt schon herauf und ich wollte folgen, als plötzlich ein Indianer mir zu Seite erschien, überrascht wie ich. Aber ehe ich einen Schrei ausstoßen konnte, schwirrte sein Lasso über mir, und ich war gefangen.
Es war mir so vorgekommen, als hätte ich einen einzelnen Reiter dem Trupp vorauseilen sehen, und hätte ich diese Vermuthung Dick mitgetheilt, er hätte gewiß darauf geachtet. Früher als seine Gefährten hatte der Indianer das Feuer gesehen, auch ihm war, wie uns, nichts übrig geblieben, als die noch schmale Front zu umreiten, und er war so mit mir zusammengestoßen.
Ich wäre unrettbar verloren gewesen, denn selbst Dick’s Hülfe wäre zu spät gekommen, wenn ich nicht mich unwillkürlich gebückt und die Hand mit dem Lasso wie zur Abwehr in die Höhe gestreckt hätte. So wurde nur Hand und Lasso gefangen und der Ruck, der mich vom Pferde reißen sollte, wurde am Lasso gebrochen. Meine rechte Hand war mir wie zerbrochen, doch folgte kein zweiter Zug. Ich sah auf. Mein Caro hatte das Pferd zum Stehen gebracht, und ehe der Indianer diesen Feind abwehren konnte, riß ihn Dick’s Lasso vom Pferde. Ich übersah rasch die Verhältnisse. Im Augenblicke war ich von meinem Pferde herunter, hatte meine Hand frei gemacht und lief, den Lasso in der Hand, zum Pferde des Indianers und schwang mich auf dasselbe. Dick hatte schon seinen Lasso von dem betäubten Indianer losgemacht.
„Es ist doch ein Menschenkind, wenn auch ein Dieb und Räuber!“ rief er mir zu. „Wirf ihm den Lasso von Deinem Pferde zu, da kann er sehen, was er uns eingebrockt hat.“
Der Indianer war schon erwacht aus seiner Betäubung, so wie die Schlingen des Lasso sich lösten. Obgleich verwundert über unser Benehmen, verstand er doch unsere Meinung und erkannte die Gefahr. Er setzte sich auf den Mustang, und wir überließen ihn seinem Schicksale.
Wir glaubten keine andere Wahl zu haben und sprengten die Höhe hinauf und durch die Flammen hindurch. Sie hatten noch keine Gewalt. Nur leicht versengt waren an den Füßen der Pferde die Haare. Drüben war das Gras weniger trocken, und wir waren gerettet. Dicht vor uns hielten Ben und Harry, die unser Zurückbleiben beunruhigt hatte. Sie waren Zeugen des Kampfes gewesen und hatten schon gefürchtet, zu spät zu kommen. Um so größer war die Freude, die sich aber nur in einem Händedrucke und wenigen Worten kund geben konnte, denn, wenn auch langsam, so folgte uns doch das Feuer, und wir mußten eilen, aus seiner Nähe zu kommen.
Ich hatte mich nicht getäuscht, als ich mein Pferd tauschte. Mein jetziges Thier hätte mir bald den Fuchs vergessen machen können. Ziemlich gleich beritten, erreichten wir gegen Abend ein kleines Gehölz mit einer Quelle und waren sicher. Zur Vorsicht umritten wir die eine Seite, von der das Feuer drohte und ließen für den schlimmsten Fall, daß der Wind sich drehte, einen Gürtel von mehreren Fuß zwischen uns und dem Feuer, der ihm schwer zu überschreiten gewesen wäre. Das Gehölz selbst war noch frisch und grün, obgleich unverkennbare Spuren darauf hindeuteten, daß frühere Prairiebrände doch nicht, ohne Schaden anzurichten, an ihm vorüber gegangen waren.
Als wir uns zur Nachtruhe einrichteten, schlugen die Hunde an. Wir griffen zu den Büchsen. Ueber die Prairie ritt der Indianer, den wir zurückgelassen hatten, auf dem Mustang auf uns zu. Er machte Zeichen, daß er in friedlicher Absicht komme. Mit dem Scharfsinn des Indianers hatte er erkannt, daß wir seinen Tod nicht wollten, und er uns auch jetzt vertrauen könne. Ben ging ihm entgegen.
„Es ist der Häuptling der Comanches, die uns folgen,“ sagte Ben. „Er ist mit Mühe dem Feuer entgangen und todmüde. Sollen wir die Schlange bei uns aufnehmen?“
„Kommt er in Frieden, so soll er auch Frieden haben!“ sagte Harry und ging ihm entgegen. Ich folgte Harry, und wir reichten ihm zum Willkommen die Hand. Er stieg vom Pferde. Das arme Thier war furchtbar verbrannt und selbst der Wilde war nicht ohne Brandwunden fortgekommen, obgleich man an seinem gleichgültigen Wesen es nicht abmerken konnte. Er trat so leicht und sicher auf, als ob nicht die Sohlen seiner Füße mit Brandblasen bedeckt wären. Wir leiteten ihn zu unserem Lager, und Dick war bald beschäftigt, ihm seine Füße mit zerquetschten Kräutern, die er mit Ben gesucht, auf’s Sorgfältigste zu verbinden.
Unterdessen war die Nacht hereingebrochen und brachte uns ein furchtbar schönes Schauspiel. Die ganze Prairie vor uns stand in Flammen. So weit wir sehen konnten - ein Feuermeer. Auf und ab wogte es, Welle auf und nieder. Hier faßte der Wind in die Flamme hinein und hochauf züngelte sie, ließ Leuchtkugeln steigen und zerstob in tausend und aber tausend Funken. Dort schien sie zu erlöschen, um im Augenblick wieder mit neuer Wuth in Flammen und Flämmchen zu züngeln. Hin und wieder riß der Wind die schwarze Decke ab und spielte mit der Asche in der Luft, einen Anblick gewährend, wie das schmelzende Gold ihn zeigt,
[532] wenn auf einen Moment die Haut über demselben zerreißt. Die Prairie schien dann schmelzendes Gold zu sein. Mir war der Anblick neu, und ich war ihm ganz hingegeben, während die Andern sich mit dem Indianer beschäftigten und sich über die zu treffenden Maßregeln berieten. Dieser selbst schien ganz theilnahmlos und nur bemüht, seine Schmerzen zu unterdrücken, die trotz der Linderung, welche ihm der Verband gegeben, nicht unbedeutend waren. Ich hatte die Wache gegen Morgen und bemerkte, daß er erst um diese Zeit, als ich ihm den letzten Verband anlegte, ob aus übermäßiger Erschöpfung oder erstem Nachlassen der Schmerzen, entschlummerte.
Unsere Vorsicht war nicht überflüssig gewesen, denn bis an unsern Weg schlich sich das Feuer in der Nacht heran, und ich hatte Mühe, es davon abzuhalten, daß es ihn nicht überspränge. Endlich brach sich die Gewalt des Feuers am Morgenthau. Wie sah aber der Morgen die grünende, wogende Prairie an? Unbeschreiblich traurig ward ich, als ich dies weite, große, schwarze Aschenfeld sah. Wir hatten nichts von den jagenden und fliehenden Büffelheerden sehen können, die weit vor uns geflohen waren, da wir das Feuer angelegt hatten, aber ich sah hier die Weide von Millionen Thieren als Asche vor mir. Wie vielen mochte sie den Tod gebracht haben! Das Alles, um unser Leben zu retten!
Wir hielten eine Berathung über das Schicksal des Comanches. Er schien es zu ahnen. Er streckte Harry die Hand entgegen und sagte: „Conanha ist Dein Freund. Er ist ein Häuptling, und seine Krieger werden ihn bald finden. Aber Ihr zieht seine Straße, zieht Ihr in Frieden?“
„Da haben wir’s,“ sagte Dick, „wir sind auf dem Wege nach des Löwen Höhle.“
„Die Prairie ist weit, und viele Wege sind auf ihr. Wir ziehen bis an den Rand der Wüste den geraden Weg!“ antwortete Harry.
„Gut, und was will mein Bruder da?“
„Conanha wird es nicht verstehen. Wir wollen das Land kennen lernen.“
„O,“ sagte der Comanche bitter, „den Weißen ist das Land jenseits der Berge zu klein geworden, sie wollen auch die Prairie für sich!“
„So ist es! Der Comanche weiß nur den Büffel zu jagen und den Reisenden aufzulauern, aber der Weiße kann den Boden bearbeiten und die Erde aufschließen. Will Conanha uns aufhalten, will er verhindern, daß unser Dampfroß bis an die Felsengebirge jagt? Hat der Comanche die Macht, welche die Mohawks, die Osagen, die tausend Stämme im Osten nicht hatten? Hat Conanha nie gehört, daß wir den Missisippi zwingen und den Missouri bewältigt haben? Hat er nie von den Wasserfällen gehört, von denen Eure Alten mit Grausen erzählen, und über die wir Brücken bauten? Wir werden uns einen Weg durch die Prairie bauen, und die Büffel sollen das Dampfroß schnauben hören, und Conanha wird es nicht hindern. Glaubt das mein Bruder?“
Anfangs wollte Conanha ergrimmt auffahren, mit steigendem Interesse hörte er zu, dann fragte er: „Und wo hat mein Bruder seine Krieger?“
„Ich will erst sehen, dann sende ich sie!“ erwiderte Harry.
„Und die rothen Leute?“
„Wir werden ihr Land bezahlen, und sie werden unser Geld nehmen. Wir wollen nur einen Weg, und der ist schmal. Aber wenn Ihr nur Büffel jagen und Pferde rauben wollt, so wird auch die Prairie bald nicht mehr Euer sein. So wird’s kommen, Conanha, so will es der große Geist!“
„Es wird so!“ sagte der Comanche ernst, „so sagen unsere Weisen auch. Aber der Comanche kann nur leben, wie seine Väter, er wird untergehen mit den Büffeln auf der Prairie. – Aber mein Bruder ist auf dem Wege zum Lager Conanha’s. Sein junger Krieger hat Conanha das Pferd genommen – er mag es behalten, denn er hat ihn nicht wollen verbrennen lassen, und der Alte hat Conanha zu Boden geworfen, er hat seinen Scalp nicht genommen, nun ist er Euer Freund, er will Euch in seinem Lager sehen.“
„Was können wir Besseres thun?“ sagte Harry, „wir gehen mit.“
Wir beriethen uns über die Art und Weise, ihn fortzuschaffen, ohne unsere Wehrhaftigkeit aufzugeben, denn dies schien den erfahrenen Jägern die beste Sicherheit gegen die Tücken der Indianer. Es wurde beschlossen, daß er Ben’s Roß besteigen sollte. Conanha schlug diesen Antrag entschieden aus.
„Will mein junger Bruder mir sein Pferd leihen? Ich werde ihn lehren, es zu reiten, und ehe die Sonne im Mittag steht, sind meine Krieger bei uns, dann hat er es wieder. Die Krieger der Comanches kann kein Feuer schrecken.“
Ich ließ ihm sein Pferd und Dick nöthtigte mir meinen Fuchs auf. Wir wollten den Comanche auf sein Pferd heben, aber er weigerte sich. Er pfiff, und sein Pferd stand an seiner Seite. Er sprach einige Worte zu ihm, und es legte sich vor ihm nieder, so daß er bequem ohne unseren Beistand sich aufsetzen konnte. Conanha ritt an Harry’s Seite, Ben führte den Zug, und Dick und ich machten den Schluß. Trotz Ben’s Ungeduld ging die Reise nur langsam vorwärts, denn Harry richtete sich ganz nach Conanha und dieser schien keine Eile zu haben.
Dick verdoppelte seine Wachsamkeit und schüttelte oft unruhig den Kopf über die Langsamkeit unseres Vorgehens, und er hätte doch am meisten zu leiden gehabt, da er zu Fuß war.
„So viele Pfade die Prairie durchkreuzen, so viele Wege geht der Indianer. Aber unter allen Rothäuten sind die Comanches die verschlagensten und listigsten. Wie wir aus dieser Lage herauskommen, das mag Gott wissen. Ich möchte am liebsten dem Hunde eine Kugel durch den Kopf jagen und mich auf das Pferd setzen, dann wüßte ich, wie ich Euch weiter führte. Wenn es sein muß, brauchen wir ein fünfzig Comanches in der Prairie nicht zu fürchten, und einige Bäume hinter uns, könnten fünfhundert um uns heulen. – Vom Fort sind sie ausgezogen, um diese Hunde bei den Pani’s zu suchen am Red River, und diese sind am Canadian und werden ihnen im Rücken sein, ehe sie es denken. Was gilt’s, sie haben sich bis auf den Weg nach Santa Fé gewagt und einen Zug Reisende aufgehoben. Gewiß sind wir nur von dem Haufen bemerkt, der die Straße nach Osten zu recognoszirte, andere Haufen sind nach den anderen Richtungen hin gesandt, auch vielleicht zur Jagd, und nur ein kleiner Rest ist zur Bewachung des Lagers zurückgeblieben, das nur auf die Rückkehr der Krieger wartet, um den Heimweg anzutreten. Und die Beute muß groß sein, sonst würde der Häuptling sich nicht so weit an uns heran gewagt haben; es muß etwas Besonderes sein, sonst hätte er nicht vom Lager gesprochen. Daß mir sein Versteck kennen, weiß er, und ich fürchte, er weiß mehr, als uns lieb ist. Dann hilft ihm aber keine Freundschaftsversicherung!“ Das war der Inhalt der Gespräche Dick’s.
Gegen Mittag machten wir Halt. Einen großen Eindruck mußten Harry’s Reden auf den Wilden gemacht haben, das sahen wir aus der großen Achtung, mit der er ihm entgegen kam. Mit seiner Berechnung und großer Menschenkenntniß hatte dieser ihn behandelt, und so eine geistige Gewalt über den Comanche erhalten, die wunderbar gewesen wäre, wenn sich diese Erscheinung nicht auch im Leben wiederholte. Der Häuptling war immer ein Fürst, fürstliche Gedanken für sein Volk, für dessen Zukunft hatte Harry in seiner Seele geweckt, nachdem er alle seine gewohnten Gedanken ihm über Bord geworfen. Harry hatte ihn auf den Unterschied zwischen Mexicanern und Amerikanern aufmerksam gemacht; er hatte die Thatsachen sprechen lassen, daß es den Comanches eben so wenig möglich wäre, wie den andern Wilden, dem Andrängen der Amerikaner zu widerstehen, die ihnen als einzelne Jäger schon unbesiegbar gewesen wären, aber nur, weil sie die Hülfsmittel der Intelligenz ihrer Landsleute hinter sich hätten. Die Thatsache war unleugbar, daß alles Anstürmen der Wilden nicht vermocht hatte, einen Pflug zurückgehen zu lassen. Hatte der Pflug einmal den Boden aufgerissen, so war er den Wilden verloren, denn selbst die amerikanische Regierung war machtlos über diese kühnen Lichter der Wälder, Harry hatte dem Wilden, der jeden Fleck der Prairie kannte, gesagt, wo die Kohle zum Feuern des Dampfkessels gegraben, wo das Erz zu Pflug und Spaten, dem Wilden gefährlicher, als Büchse und Bowiemesser, aus der Erde geholt werden würde. Er hatte ihm die Orte in der Prairie gezeigt, die zuerst zu Ansiedlungen benutzt werden müßten, weil sie am geeignetsten. Dabei hatte er nie unterlassen, dem Häuptlinge Mittel und Wege, auf die Natur und Denkweise seines Volkes begründet, anzugeben, diesem selbst diese Vortheile zu wahren, da es nicht darauf ankäme, wer sie bennutze, sondern daß sie benutzt würden.
- ↑ Siehe Nr. 33.